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Yves Patak

 

Himmel und Hölle

Karma gefällig?

 

1. Auflage 2012 Tredition Verlag, Copyright © 2012 by Yves Patak
2. Auflage 2017 CreateSpace Verlag, Copyright © 2017 by Yves Patak

Alle Rechte beim Autor. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm, elektronische oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer oder sonstiger Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Miladinka Milic - www.milagraphicartist.com

Die Handlung und die Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden, toten oder untoten Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig. Nur Ionel und Shanty gibt es wirklich. Rein fiktiv wiederum sind jegliche Anspielungen auf gängige Praktiken und die Charaktere meiner geschätzten Kollegen aus der Zürcher Schönheitschirurgenszene, und auch die hier geschilderte Hedona-Klinik ist ein Produkt meiner Fantasie.

ISBN 978-1-4664-4997-8
e-book formatting by bookow.com

Für Aida und Cédric -
meine Engelchen und Teufelchen

Danksagung

Dank gebührt meiner Familie, die mich inspiriert und mein Leben täglich bereichert. Ein ganz besonderer Dank über Zeit und Raum gilt auch Christian Morgenstern, Ephraim Kishon, Edgar Allan Poe und Stephen King – sie alle haben mich beflügelt und bei diesem Werk unterstützt.
Last not least ein muchas gracias an Karin Vial, deren literarisches Feingefühl meine belletristischen Rohdiamanten erst richtig zum Strahlen bringt.

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Inhaltsverzeichnis

Die Zeichnung -
Sonntag, 15.30 Uhr

Wie der Mann aus der Coca Cola-Werbung trat Marcel Dumont aus der grandiosen Villa hoch über Zürichs Goldküste. Er blieb stehen und biss genüsslich in den leuchtend roten Apfel, den er sich wie jeden Sonntag per Autokurier aus dem Thurgau hatte bringen lassen. Den Kopf hoch erhoben genoss er die Frühlingssonne auf seinem sportlich gebräunten Antlitz. Was für ein verdammt perfekter Tag! Sein prüfender Blick schweifte über die herrliche Gartenanlage. Etwas weiter vorne, vor dem West-Flügel der Villa, polierte Miroslav, der serbische Gärtner, eine mannshohe Bronzestatue. Der bejahrte Serbe betrachtete eingehend eine verfärbte Stelle an der Nase der Statue, spuckte in seinen Putzlappen und begann eifrig das dunkle Metall zu polieren. Dumont verzog einen Mundwinkel. Wird langsam Zeit, dass ich mir einen Schweizer Gärtner suche. Der Kerl hat ja keine Ahnung, was so ein Giacometti kostet! Mit gerunzelter Stirn schaute er zu Miroslavs fünfjähriger Enkelin hinüber, die auf dem weiß bekiesten Vorplatz spielte. Nimm einen Ausländer, und schon hast du seine ganze Familie im Haus.

Dumont seufzte und biss von neuem in den Apfel. Seine pantergrünen Augen wanderten vom weitläufigen, makellos getrimmten englischen Rasen zum palmengesäumten Schwimmteich, von den weiß und lila blühenden Glyzinien am Pavillon zur Marmorstatue der Circe – und ruhten schließlich stolz auf dem knallgelben Lamborghini-Cabriolet. Ein Brillant mit 450 PS. Ein Anflug von Schadenfreude schlich sich in sein Lächeln. Und beinahe geschenkt… Hatte er doch wenige Tage zuvor Herrn Kessler, den alternden CEO von Lamborghini Schweiz, den er vom Golfplatz her kannte, dabei ertappt, wie dieser sich im Niederdorf gerade aus einer Schwulensauna schlich. Dumont hatte blitzschnell reagiert, die Szene mit seiner Handy-Kamera für die Nachwelt festgehalten und Kessler noch am selben Tag das Bild als MMS geschickt. Mit besten Grüßen, versteht sich. Kurz darauf bot ihm der – wohlgemerkt verheiratete – CEO einen brandneuen Lamborghini Countach zum halben Preis an. Und nicht irgendeinen Countach – nein, ein Cabriolet! Das einzige in der Schweiz! Er hatte Kesslers Stimme anhören können, dass dieser Blut und Wasser schwitzte. „Eine einmalige Gelegenheit, Doktor Dumont. Eine inoffizielle Promotion, für ganz spezielle Kunden – Sie wissen schon…“

Dumont hatte verstanden.

Tja, ich bin eben der Götter liebstes Kind! Gemütlich schlenderte Dumont auf den gelben Boliden zu. Nachdem er eine Stunde zuvor sein neustes Spielzeug liebevoll gewaschen und poliert, nachdem er geduscht und seinen Körper im Spiegel ausgiebig bewundert hatte, stand er nun in einem legeren Leinenanzug in der milden Nachmittagssonne und streichelte liebevoll über die schnittige Kühlerhaube. Er warf einen Blick auf die goldene Patek Philippe an seinem Handgelenk. Alle Zeit der Welt. Lässig warf er den angebissenen Apfel über die Mauer auf den Rasen der Stuckis. Er hielt inne, überlegte kurz, bückte sich nach einem faustgroßen Stein im nahen Blumenbeet und warf diesen hinterher. „Mal schauen, wie das eurem Rasenmäher schmeckt, ihr Rentner-Zombies!“

Noch während er das letzte Wort sprach, verspürte er einen brennenden Stich im Nacken. „Autsch!“

Er klatschte eine Hand auf die schmerzende Stelle, doch da war nichts. Misstrauisch blickte er zu Miroslavs Enkelin herüber. Ob diese Göre ein Blasrohr versteckt hält? Doch das Mädchen spielte friedlich mit den Kieselsteinen.

Dumonts Blick fiel wieder auf den in der Sonne glänzenden Lamborghini, und sofort kehrte das für weibliche Wesen unwiderstehliche Lächeln auf seine Lippen zurück. Summend ging er zum Wagen, schlüpfte in den engen Schalensitz, drehte den Zündschlüssel und ließ den mächtigen Motor zu seinem Pläsier mehrmals laut aufheulen. Welch majestätischer Klang von Geld und Potenz! Er drückte auf einen Knopf, und lautlos öffnete sich das Dach des Rennwagens. Mit dem würdevollen Schnurren eines Fahrzeugs, das zum Neiderwecken bestimmt zu sein schien, glitt der Lamborghini über das Kopfsteinpflaster der Auffahrt auf das schmiedeeiserne Tor zu. Unvermittelt trat Dumont auf die Bremse. Was zum Teufel...? Verdutzt stellte er den Motor ab. Er hatte richtig gesehen: auf der Gartenseite des Zufahrtswegs – innerhalb seines Grundstücks! – hatte jemand mit farbiger Kreide auf das Pflaster gekritzelt. Verärgert stieg er aus dem Wagen.

„Hatixe!“ rief er. „Hierher!“ Ängstlich kam das magere Mädchen herbeigeschlichen. Er starrte sie durchdringend an. „Hast du meine Einfahrt mit diesem idiotischen Graffito besudelt?“

„Nein, Herr Dumont“, piepste sie und nestelte verschüchtert an ihrem fleckigen Rock herum.

Doktor Dumont. Weißt du überhaupt, was ein Graffito ist?“

„Nein, Doktor Dumont.“

„Gibt Probläm?“ Besorgt schlurfte Miroslav in seinen Gummistiefeln zu ihnen herüber.

„Ja!“ rief Dumont zurück. „Großes Probläm! Und zwar, wenn du nicht sofort zu deiner Arbeit zurückkehrst. Dafür bezahl ich dich nämlich. Wie du siehst, hat es der Giacometti immer noch nicht drauf, sich selbst zu polieren. Und ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl, wenn ich bitten darf! Dieses Kunstwerk kostet mehr, als du in zwanzig Jahren verdienst!“

Mit verschlossenem Gesicht schlurfte der Gärtner wieder davon, während Hatixe furchtsam vor Dumont stand.

„Okay“, sprach Dumont gedehnt. „Hör zu. Wer auch immer es war, ich will dass diese Sauerei weg ist, wenn ich zurückkomme! Kann ich mich darauf verlassen?“

Das Mädchen nickte. Tränen traten ihr in die Augen, und schnell lief sie zu ihrem Großvater. Höchste Zeit, dieses ausländische Gesocks in die Wüste zu schicken, dachte Dumont ärgerlich. Er bückte sich und betrachtete die Zeichnung aus der Nähe. Jemand hatte mit roter und blauer Kreide so etwas wie ein längliches Gittermuster auf das Kopfsteinpflaster gemalt. Kein Gitter… eine Kinderzeichnung. Ein Spiel! Der Name lag ihm auf der Zunge. Er richtete sich auf, ging langsam um die Zeichnung herum – und blieb abrupt stehen.

Ich hab’s: Himmel und Hölle!

Er starrte auf das Hüpfspiel. Ein unerklärliches Frösteln überkam ihn. Im untersten Feld, vor seinen Füssen, stand in einem Rechteck das Wort ERDE. Es folgten, teils übereinander, teils nebeneinander, quadratische Felder mit den Ziffern 1 bis 9. Zuoberst, wiederum in einem Rechteck, das Wort HIMMEL, im Feld gleich darunter HÖLLE.

Nachdenklich kratzte sich Dumont am Nacken. Die kleine Serbengöre geht doch erst in den Kindergarten, grübelte er, die kann noch gar nicht schreiben. Und Miroslav, der würde es wohl kaum wagen, die Einfahrt seines Arbeitgebers zu beschmieren. Also wer...?

Er überlegte, wie ein Kind es hätte schaffen können, in seinen durch Mauern und ein hohes Tor beschützten Garten einzudringen. Und woher sollte ein solches Kind überhaupt kommen? In dieser Umgebung wohnen nur alte Geldsäcke und Dinks. Er bückte sich und fuhr mit dem Finger über einen der Striche. Seine Fingerkuppe färbte sich pulvrig rot. Tatsächlich, Kreide. Wahrscheinlich Schulkreide.

Hastig erhob er sich und schaute sich verstohlen um. Miroslav und seine Enkelin hatten sich entfernt und putzten jetzt gemeinsam die Statue der Circe jenseits des Schwimmteichs. Niemand beobachtet mich… Wie aus einem Zwang hüpfte Dumont auf einem Bein los, auf das Rechteck mit der Aufschrift ERDE, dann, den Nummern folgend, von einem Quadrat auf das nächste, bis er das mit HÖLLE gekennzeichnete Feld erreichte. Als er sich mit einem letzten Sprung in das Feld HIMMEL retten wollte, blieb sein Schuh irgendwie in der HÖLLE kleben.

„Scheisse!“

Stolpernd schaffte er es gerade noch, sich am eisernen Tor festzuklammern. Für einen schrecklichen Moment glaubte er, ein höhnisches Lachen zu hören. Dann sah er die Möwe, die ungewöhnlich tief über sein Grundstück hinweg flog. Mistvieh, dachte er während er sich an einer der Metallstangen aufrappelte. Er schaute sich um. Sein linker Mokassin stand unschuldig auf dem Höllenfeld. Mit gerunzelter Stirn bückte Dumont sich nach dem Schuh, fast erwartend, dass dieser auf einem unsichtbaren Leim festklebte. Doch der Schuh ließ sich ohne jeden Widerstand aufheben. Warum zum Henker bin ich bloß steckengeblieben? Kopfschüttelnd schlüpfte er in den Schuh und ging rasch zum Wagen zurück. Der Regen wird das Geschmiere schon wegwaschen. Irgendwie erschien ihm diese Aussicht außerordentlich wichtig. Erneut ließ er den Motor an, drückte auf die kleine Fernbedienung neben dem Schalthebel, und das schmiedeeiserne Gartentor schwenkte leise summend zur Seite. Die Bergstraße hinab zur Stadt hin war menschenleer. Durch das offene Verdeck blinzelte er in die Sonne und zog eine Sonnenbrille aus der Brusttasche seines Anzugs. Weit unter ihm glänzte der Zürichsee wie ein riesiger, blauweißer Spiegel.

„Ein Tag, um Helden zu zeugen!“ rief Dumont zum azurblauen Himmel empor. Oder zumindest, um den dazugehörigen Akt mal wieder mit einem richtigen Naturtalent zu praktizieren... Er dachte an Jannike. An ihre unendlich langen Beine. Ihre nach Kenzo-Parfum duftende Haut. Sein Lächeln wurde lüstern. Jannike, hochbezahltes Modell für Triumph-Unterwäsche, war eine Vorzeige-Schwedin der teuren Kategorie. Verheiratet, doch stets verfügbar, sobald ihr Mann auf Geschäftsreise ging, was häufig der Fall war. So kühl sich die Schwedin in den Hochglanzmagazinen präsentierte, so heiß erglühte sie unter Dumonts sachkundiger Berührung. Seit er Jannikes hübsche Wangenknochen kurz vor Weihnachten chirurgisch noch weiter perfektioniert hatte, hatten sie sich in lockeren Abständen zu schweißtreibenden Schäferstündchen getroffen – wenn die Zeit knapp war, bisweilen auch zu Schäferminütchen.

Der heutige Nachmittag jedoch gehörte ganz ihnen. Es gibt nichts Prickelnderes, sann Dumont und bog mit quietschenden Reifen um eine Kurve, als Frauen zu verschönern, um danach das perfekte Produkt zu genießen! Er warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Hey, die neue Ray Ban passt ja irre zu meinem Gesicht! In bester Stimmung drückte er auf das Gaspedal, und der Lamborghini donnerte den Hügel hinunter Richtung Seestraße.

Dr. Marcel Dumont, prominenter Schönheitschirurg an der renommierten Hedona-Privatklinik am See, war in Gedanken schon ganz bei Jannike und nicht im Geringsten daran interessiert, sich und sein Leben zu hinterfragen. Doch selbst wenn sein von Vorfreude und Testosteron benebeltes Gehirn klarer gewesen wäre, hätte er an jenem Tag – einem Tag, der für das Zeugen von Helden maßgefertigt schien – noch nicht einmal ahnen können, dass sein Leben in Kürze zum Spielball jener Mächte werden würde, an die er nie geglaubt hatte.

Aus der Vogelperspektive beobachtete ihn ein Paar strahlend blauer Augen.

Der Engel -
Montag, 8.00 Uhr

„Skalpell.“

Mit sicherer Hand führte Dumont die scharfe Klinge über die Haut der Frau, einer friedlich in Narkose liegenden Monegassin.

Vom Haaransatz der Schläfen hinter dem Ohr vorbei bis in den behaarten Kopfhautbereich. Tja, auch Verwandtschaft mit dem Fürsten schützt vor Falten nicht... Aus den Lautsprechern der sterilen Musikanlage klang leise Van Morrisons ‚Moondance‘.

„Kauter.“

Rasch verödete er ein paar blutende Gefäße. Hinter seiner konzentrierten Fassade rechnete er geschwind zusammen, was ihm das Face-Lifting bringen würde. Drei Stunden Arbeit, 12‘000 Franken, davon 7000 für mich... macht eine Woche Wellness in einem Luxus-Bungalow mit Tamara auf den Seychellen... oder doch lieber Heli-Skiing mit Shanya in den Rocky Mountains? Vorsichtig löste er die Haut vom Fettgewebe.

„Tupfer.“

Dumonts Augen richteten sich wie Scheinwerfer auf die hübsche OP-Schwester. „Sagen Sie mal, Veronika, haben Sie heute Abend schon was vor?“

Hinter der Mundmaske war ihr überraschtes Erröten kaum zu erkennen. „Nun ja, ich – “

„Marcel“, unterbrach Dr. Walter Simmen, der Dumont assistierte. Durch die dicke Hornbrille warf ihm der ältere Arzt einen mahnenden Blick zu. „Verschon die gute Veronika. Sie hatte gestern mit mir Spätdienst, und ich glaube kaum, dass sie heute Abend mit dir durch die Karaoke-Bars ziehen will.“

Hinter der Maske lächelte Dumont leise. Wie von allein arbeiteten seine Hände flink und geschickt an der Verjüngung der schlafenden Patientin. „Wollen Sie heute Abend tatsächlich früh ins Bett, Veronika?“ Er reichte ihr den blutigen Tupfer zurück.

„Eigentlich schon“, sagte sie, unsicher, ob in seinen Worten eine Doppeldeutigkeit mitschwang. „Wie Dr. Simmen sagt, ich bin ein wenig – “

„Es ist eben so“, warf Dumont mit unnachahmlichem Charme ein, „dass ich zwei Tickets für das Norah Jones-Konzert im Kaufleuten habe. Ist so ‘ne Art Privatvorstellung, nur etwa dreihundert Leute. Eigentlich wollte ich mit meiner Mutter hinfahren, aber nun hat die Ärmste sich eine Gürtelrose eingefangen und muss daheim bleiben. Da dachte ich mir, dass Sie vielleicht Lust hätten?“

„Norah Jones?“ Hinter Veronikas Maske zeichnete sich die Kontur eines weit offenen Mundes ab. „Sie meinen die Norah Jones? Und Sie wollen mich mitnehmen?“

„Nun ja, wenn Sie zu müde sind, möchte ich Sie natürlich nicht bedrängen.“

„Zu müde? Sie machen Scherze! Für Norah Jones würde ich meine Katze hergeben!“

„Dann haben wir ein Date?“

„Marcel!“ Tadelnd zog Simmen die buschigen Augenbrauen zusammen, während Veronika heftig nickte.

„Das ist ja voll abgefahren, Dr. Dumont, ich meine… wow!

„Marcel.“

„Sie sind ein Engel! Danke! Oh mein Gott!“ Ein leises Quietschen drang hinter Veronikas Maske hervor.

Dumont zwinkerte Simmen zu. „Es gibt doch nichts Schöneres, als einen jungen Menschen so zum Strahlen zu bringen – nicht wahr, Walter?“ Gekonnt legte Dumont ein Lächeln in seine Stimme. „Veronika, würden Sie mir bitte das Skalpell reichen?“

„Das Skalpell... oh natürlich, das Skalpell!“ Vor Aufregung ließ die OP-Schwester das Messer beinahe fallen. Dumonts Augen streiften die beiden verheißungsvollen Wölbungen unter Veronikas grüner OP-Schürze. Dieses appetitliche Yum Yum Girlie schreit doch förmlich danach, heute noch vernascht zu werden.

„Zwischen Wunschdenken und Selbsttäuschung liegt nur ein winziger Schritt“, meldete sich auf einmal eine griesgrämige Stimme. Eine männliche Stimme – übernächtigt und ausgesprochen humorlos klingend. Abrupt hob Dumont den Kopf und blickte gereizt zu Simmen hinüber. „Walter?“

„Ja?“

Wie war das eben?“

Unter der OP-Mütze runzelte Simmen die Stirn. „Dass Veronika vom Nachtdienst müde ist?“

„Nein, gerade eben!

Drei fragende Augenpaare richteten sich nun auf Dumont. Selbst Lundgren, der ebenso hochgewachsene wie wortkarge Anästhesist, guckte befremdet. Dumont schüttelte kaum merklich den Kopf und setzte die Klinge wieder an. „Vergiss es.“ Bin wohl auch etwas übermüdet.

„Klar bist du übermüdet, bei deinem Lebensstil!“ murrte die humorlose Stimme. „Schon die alten Chinesen wussten, dass zwanghafte und übermäßige Unzucht die Lebensgeister schwächt. Übrigens, wenn ich du wäre, würde ich nicht an jener Stelle schneiden. Genau unter deiner Klinge befindet sich nämlich der Fazialisnerv.“

Dumonts Hand erstarrte mitten in der Bewegung. Unschlüssig ließ er das Skalpell einen Millimeter über der Haut schweben. Dann setzte er das Messer einen Zentimeter weiter unten an, durchtrennte die Haut und präparierte mit größter Vorsicht die darunter liegenden Schichten. Eine Welle der Übelkeit umspülte seine Eingeweide. Jene Stimme... sie hatte Recht! Um ein Haar hätte ich der Monegassin den Gesichtsnerv durchtrennt!

Die freudlose Stimme dozierte unbeirrt weiter. „Als namhafter Schönheitschirurg solltest du ein Gespür für anatomische Normvarianten haben. Indes, deine Überheblichkeit lässt dich nachlässig werden.“

Dumont schluckte trocken. Hätte mich die Stimme nicht gewarnt, müsste sich die Frau fortan einen Golfschläger in den Mundwinkel schieben, um wieder lächeln zu können. Aber wer, zum Teufel…?

Brüsk klatschte er das Skalpell in Veronikas wartende Hand. Seine Augen richteten sich in offenem Misstrauen auf den Anästhesisten. Lundgren kontrollierte gerade den Blutdruck der Patientin.

„Sag mal, Sven…“ wandte sich Dumont an den Schweden, „besuchst du vielleicht gerade einen Bauchrednerkurs?“

„Was meinen?“

„Fast hatte ich eben das Gefühl, ich hör da eine seltsame Stimme?“

„Hat doch niemand nix gesagt!“ wehrte sich Lundgren. „Marcel, geht dir nicht gut?“

Mit zunehmendem Argwohn starrte Dumont jeden Einzelnen des OP-Teams an. Aus den Boxen im Hintergrund schmachteten jetzt die Scorpions ‚Still loving you‘. Ob die Stimme aus dem Radio kam? Eine Art Interferenz? Oder irgendein blöder Jux? Aller Augen ruhten nun auf Dumont – Veronikas veilchenblaue besorgt, Simmens skeptisch, Lundgrens beleidigt.

„Hier!“ meldete sich die nörgelnde Stimme ungeduldig. „Rechts. Neben deiner Schulter.“

Ruckartig schaute Dumont in die genannte Richtung, und ein Röcheln entrang sich seiner Kehle. Über seiner Schulter schwebte – kaum größer als ein Goldhamster, der Männchen macht – ein bleicher Engel! Ein Engel mit schütterem Haar und randloser Brille. Für mehrere Sekunden vergaß Dumont zu atmen. Ich glaub, ich krieg die Krise...

„Marcel?“ Simmens Augenbrauen waren jetzt eine einzige, buschige Linie. „Soll ich Bimmler rufen, dass er für dich übernimmt? Du bist ja blasser als ein Mozzarella.“

„Walter“, flüsterte Dumont, als könnten ihn die beiden anderen so nicht hören, „siehst du da was?“ Er nickte in die Richtung seiner rechten Schulter. Simmens Blick schweifte zu Schwester Veronika, die zu Dumonts Rechten neben dem Instrumententisch stand, dann zu Dumonts Hals.

„Also, wenn du den Knutschfleck meinst...“

„Nein, über meiner Schulter!“

„Über deiner... Schulter.“ Simmen sprach nun im betont ruhigen Redestil eines Psychiaters, der einem nervlichen Wrack gegenübersteht. „Was sollte ich denn dort sehen, Marcel?“

„Wohl erkenne ich die Zeichen“, seufzte der Engel. „Ich komme offenbar ungelegen. So führe dein Werk hier zu Ende, wir unterreden uns dann später. Und verschon den Fazialisnerv!“

Mit einem leisen Puff! löste sich der Engel in einem weißen Wölkchen auf. Verstört blinzelnd schaute sich Dumont im OP-Saal um. Niemand scheint das Geringste gesehen zu haben!

„Marcel?“ wiederholte Simmen. Seine Körpersprache ließ klar erkennen, dass er gleich – ungeachtet Dumonts nächster Worte – Verstärkung anfordern würde.

„Es ist nichts“, brummte Dumont. Dann, gereizt: „Die OP-Lampe blendet mich! Veronika, richten Sie das Licht doch besser aus, Herrgott noch mal!“

„Sofort, Dr. Dumont. Marcel...“

Ich schlafe zu wenig, dachte Dumont irritiert, während er mit ungewohnter Zögerlichkeit weiteroperierte. Heute Abend vernasche ich noch Veronika, und danach lege ich mal ‘ne Pause ein. Kein Sex, kein Alkohol, keine Drogen. Mindestens drei Tage lang.

Unwirsch riss sich Dumont im Umkleideraum die Plastikhaube vom Kopf und das durchgeschwitzte OP-Hemd vom Leib. Vier Stunden für ein lausiges Facelifting! Stirnrunzelnd betrachtete er sich im Spiegel. Langsamer als jeder Assistenzarzt! Sein Blick glitt über seinen muskulösen Oberkörper, und sein Ausdruck wurde milder. Prüfend ließ er einen Finger über seinen Waschbrettbauch gleiten. Ein Körper wie Tarzan – und das mit vierundvierzig!

„Okay“, erklärte er dem Mann im Spiegel versöhnlich, „du hattest einen kleinen Durchhänger – aber du bist immer noch der Champ!“

Gerade als er den Umkleideraum verließ, kam ihm Colomba, die füllige Pathologieassistentin, in ihren Birkenstock-Clogs entgegen. Sie erspähte ihn und beschleunigte ihren Schritt. „Doktor Dumont!“ Ihr mächtiger Busen wippte auf und ab, während sie ihm auf stämmigen Beinen entgegentrabte. Auch das noch, dachte Dumont. Ein Königreich für eine Tarnkappe!

„Schönen Montagmorgen, mein Lieblingsdoktor!“ Sie wedelte mit einem rosaroten Formular in der Luft herum, ihre Augen anbetungsvoll auf sein Gesicht geheftet. „Ich habe hier noch den Histologie-Bericht von dem Hauttumörchen, das Sie Señora da Silva letzten Freitag rausgeschnitten haben. Ist bloß ein Histiozytom.“

„Señora wie viel…?“

„Sie wissen schon, die Frau des peruanischen Diplomaten. Ich dachte, ich bringe Ihnen den Bericht gleich persönlich, vielleicht könnten wir ja nebenher in der Kantine einen Kaffee – “

„Danke, Colomba“ unterbrach sie Dumont, riss ihr das Blatt aus der Hand, starrte mit leerem Blick auf ihren ausgeprägten Oberlippenflaum und überflog schließlich den Bericht, während Colomba ihn verstohlen anhimmelte.

Aufgrund undurchsichtiger Subventionierungen durch die Kosmetikindustrie verfügte die Hedona-Klinik als einzige Schönheitsklinik der Schweiz über eine hauseigene Pathologieabteilung, in der nicht nur Gewebsproben untersucht, sondern auch kosmetische Studien an auserwählten Leichen durchgeführt wurden, welche wiederum vom nahen Universitätsspital stammten. Das Budget reichte allerdings nur für einen einzigen Pathologen, der vor allem durch kongressbedingte Abwesenheit glänzte und das Terrain wiederum Colomba, der einzigen Pathologieassistentin, überließ. Diesem Umstand verdankte Dumont die wiederkehrenden und unvermeidlichen Begegnungen mit ihr, die allmählich vom lästigen Groupie zur bedenklichen Stalkerin vorzurücken schien.

Er reichte ihr das Formular zurück und wandte sich zum Gehen. Colombas leises Räuspern ließ ihn innehalten.

„Ähm, Doktor Dumont? Ich wäre übrigens die ganze Woche frei.“ Die im Kontrast zu ihrem Körpervolumen unfair dünnen Lippen verzogen sich zum Zerrbild eines verführerischen Lächelns. „Nur für den Fall, dass ich Sie mal mit meiner Eigenkreation verwöhnen dürfte: Spaghetti Kay Scarpetta – in Anlehnung an meine Lieblings-Gerichtsmedizinerin. Natürlich nur, wenn Sie nicht zu beschäftigt sind.“

In deinen Träumen, Walross! „Klar, Colomba. Ich schau nachher gleich in meiner Agenda nach. Rufen Sie mich nicht an, ich rufe Sie an, okay? Sie wissen, dass ich beim Operieren niemals gestört werden darf.“

Er zwinkerte ihr zu, und sie hob kichernd eine Hand vor den Mund. Dann schwenkte sie einen tadelnden Zeigefinger. „Aber nicht, dass Sie mich wieder vergessen! Sonst denke ich allmählich, dass Sie mich absichtlich links liegen lassen.“

„Nicht doch, Colomba.“ Dumonts Lächeln war ein knappes Zucken des Mundwinkels. Mit einer ausladenden Geste sah er auf die Uhr. „Es ist einfach dieser verdammte Stress. Sie wissen ja, die Promis stehen bei mir an als gäbe es Freibier, ich bin bereits bis Ende Jahr ausgebucht. Aber sobald ich eine freie Minute finde, sind Sie und Ihre Spaghetti bei mir zuoberst auf der Liste!“

Colomba quiekte leise. „Das haben Sie aber schön gesagt! Ich warte dann mal auf Ihr Telefon... tüdelü!“ Mit der wunderlichen Eleganz einer Elefantenkuh trabte sie in ihren Birkenstock-Clogs davon. Dumonts finsterer Blick folgte ihr. Da kannst du warten, bis die Taliban sich zum Katholizismus bekennen! Mit Mühe riss er sich vom Wackeln ihres kolossalen Hinterteils los und eilte zur nächsten OP.

Dschingis Khan -
Dienstag, 13.38 Uhr

Die mehr als großzügige Terrasse der Hedona-Klinik schmiegte sich wie ein langgezogenes, eckiges Hufeisen um das Gebäude. Der westliche Hauptteil, etwa fünfzig Meter lang, verlief parallel zum nahen Seeufer und gab den Blick auf eine spektakuläre Kulisse frei, während die nördlichen und südlichen Terrassenabschnitte in ruhigen Sackgassen endeten, auf denen man zu jederzeit eine gewisse Privatsphäre fand. Auf dem sonnenüberfluteten Westteil räkelte sich Dumont in einem der großen Korbsessel, in der Hand eine Lucky Strike. Bereits hatte die erschreckende Episode mit dem – Engel? – zu verblassen begonnen. Reine Übermüdung. Da können einem die Nerven schon mal einen Streich spielen.

Auf einem Teakholz-Liegestuhl neben ihm lag, massiv wie das Double von Luciano Pavarotti, sein deutscher Berufskollege und Freund Dr. Dirk Westermann und genoss wie Dumont den strahlend schönen Frühlingstag. Der vierschrötige Chirurg und ehemalige Hamburger Meister im Kugelstoßen balancierte eine Flasche Cola Light auf dem Bauch und schaute durch seine gelbe Sonnenbrille zum gleißend hellen Zürichsee hinüber.

„Du hast sie flachgelegt, stimmt‘s?“ Westermanns Worte waren eher eine Feststellung als eine Frage.

„Wen denn?“ fragte Dumont mit Unschuldsmiene.

„Die Gerüchteküche munkelt, dass gestern die kleine Veronika Prakovic die glückliche Gewinnerin in der Dumont’schen Liebeslotterie war.“

„Ach ja, die OP-Schwester! Süßes Ding!“ Versonnen betrachtete Dumont die bläulichen Rauchschwaden, die von der Spitze seiner Zigarette in die warme Luft kreiselten. „Nun ja, technisch gesehen hat eher sie mich flachgelegt. Ein erstaunliches Mädchen. Anfangs schüchtern wie ein Rehkitz, beinahe schon verklemmt – doch nach neunzig Minuten Norah Jones und einer Flasche Dom Perignon entpuppte sie sich als wölfische Lolita im Schafspelz!“

„So, so!“

„Oh ja! Da war plötzlich Feuer in ihren Lippen und Lava in ihrem Honigtöpfchen. Dirk, in der kleinen Sahneschnitte schlummert ein richtiges Raubtier!“

„Hmm!“ brummte Westermann. „Gegen dich war Casanova ein Schattenparker mit Kastrationsängsten.“ Durch die gelben Gläser warf er seinem Freund einen prüfenden Blick zu. „Wäre es nicht langsam an der Zeit, dich nach einem neuen Hobby umzuschauen? Nichts gegen die Wonnen des Fleisches, aber dank dir läuft in unserer Klinik die halbe weibliche Belegschaft mit gebrochenem Herzen rum. Was sich kaum positiv auf die operative Qualität auswirken dürfte, oder?“

Selbstgefällig zog Dumont an der Lucky Strike. „Mach mal nicht auf Moralapostel. Steht dir nicht. Zudem missachtest du das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Wenn ich all die flotten Bienen abweise, macht sie das unglücklicher als wenn ich ihnen zumindest einen flüchtigen Augenblick meiner Zeit und Liebe schenke.“

„Liebe!“ stieß Westermann hervor. „Heilige Euphemia, da verwechselt wohl jemand Liebe mit Körperflüssigkeiten.“

Dumont grinste. „Ich mag’s nun mal feucht-fröhlich!“

„Schön für dich. Pass mal lieber auf, dass du keine Sackratten kriegst, compadre. Wär’ nicht das erste Mal.“

Westermann setzte die Cola-Flasche an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck. „Marcel, du kennst mich. Ich bin der Letzte, der dir Vorträge hält. Aber du legst nicht nur die Schwestern flach, sondern auch die Hälfte deiner Patientinnen.“

„Die knackige Hälfte.“

„Mal im Ernst. Du treibst es sogar in der Klinik mit ihnen. Ritscher ist wahrscheinlich der einzige, der davon noch nicht Wind bekommen hat. Manchmal denke ich, dass du versuchst, dem Ennui erfolgreicher Lebemänner zu entgehen, indem du den Ärger förmlich suchst.“

Dumont verzog den Mund. „Du bist ja schon mitten drin, mir Vorträge zu halten! Zigarette?“ Er warf seinem Freund die Packung zu. Westermann fing sie und legte sie auf den niedrigen Clubtisch.

„Ach komm schon, Dirk, du musst das locker sehen. Wenn ich es mit meinen Patientinnen treibe, dann läuft das unter Qualitätssicherung – ist doch der beste Beweis, dass sowohl ich wie auch die Ladys mit dem OP-Resultat restlos zufrieden sind. Die Intimität fördert zudem das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin.“

Westermann verdrehte die Augen. „Wie schaffst du es bloß, mit fast fünfundvierzig immer noch dauergeil zu sein wie ein mexikanischer Zuchtbulle?“

Dumont drückte seine Zigarette im Aschenbecher auf dem Clubtisch aus. „Das ist multifaktoriell, mein Lieber. Zum einen hab ich mir – im Gegensatz zu dir – nicht durch Spitzensport und Steroide die Eier zugrunde gerichtet. Dann wären da meine Gene, sowie der regelmäßige Genuss von Beefsteak Tatar und schottischem Whisky. Aber ehrlich gesagt bringt mich auch mein neuer Lamborghini und eine Linie kolumbianischer Schnee mächtig in Fahrt.“

Westermann bekreuzigte sich in gespielter Resignation. „Herr, lass Abend werden über uns.“

Zwei junge Krankenschwestern – eine lockenköpfige Mulattin und eine schlaksige Brünette – schlenderten an den beiden Männern vorbei über die Terrasse. Beide warfen Dumont verstohlene Blicke zu.

„Hey, Mary!“ rief Dumont der Kaffeebraunen zu. „Hübscher Anhänger!“

Mary strahlte und fasste sich an das Jadeamulett. „Danke Dr. Dumont. Hab ich letzte Woche zum Geburtstag bekommen!“

„Sie hatten Geburtstag? Na, da gratuliere ich doch zu diesem Tag der Freude – mit Verspätung, aber von Herzen!“ Er zwinkerte ihr zu. „Mary, Sie haben bei mir einen Wunsch frei!“

„Echt?“ Trotz ihres dunklen Teints schien Mary zu erröten. „Oh fein! Ich meine, cool!“ Leise kichernd gingen die jungen Frauen weiter. Sobald sie außer Hörweite waren, zündete sich Dumont eine frische Zigarette an, nahm einen genüsslichen Zug und wandte sich an seinen Freund.

„Mexikanischer Zuchtbulle, sagst du. Ich werde dir mein Geheimnis verraten. Mein Stammbaum belegt, dass ich einer der letzten lebenden Nachkommen von Dschingis Khan bin. Daher auch das Tundra-Grün meiner Augen. Biologisch gesehen ist mein Geschlechtstrieb also ein Kulturerbe.“

„Au Backe.“ Westermann leerte mit einem Zug seine Cola-Flasche. „Genetisch oder nicht, sei einfach vorsichtig. Ein gebrochenes Frauenherz ist ein unberechenbares Organ. Und ein gehörnter Ehemann ein nachweislich lebensverkürzender Risikofaktor.“

Dumont warf einen Blick auf seine Uhr. „Apropos Organ, ich muss los.“ Geschmeidig schwang er sich aus dem Korbsessel. „Muss noch dem Hängebusen aus Milano zwei Airbags einbauen und der Berliner Marlboro-Lady die Runzeln aus dem Gesicht planieren.“

„Wenn dich deine Patientinnen hören könnten, würden sie dich in einem Fass voll Botox ersäufen.“

Dumont lächelte schelmisch. „Wie sagte Jessica Rabbit so schön: ‚Ich bin nicht schlecht, ich wurde nur so gezeichnet.‘“

Auf dem Weg zum OP-Saal kam Dumont am Schwesternzimmer vorbei. Durch die nur angelehnte Tür drangen weibliche Stimmen. Sieh an, das Zicken-Nachmittagsprogramm hat begonnen. Unbemerkt blieb er hinter der Tür stehen und lauschte. Hatte da gerade jemand seinen Namen erwähnt? Mal schauen, was die kessen Miezen über mich zu berichten wissen...

„Der? Den nähme ich nicht vor die Tür gehustet! Und wenn er mir seine Zuhälterkarre schenken würde.“ Das war Martha, ihrer Topffrisur wegen von allen Cleopatra genannt.

„Ach, komm schon!“ widersprach Mary. Ihre Stimme wurde schwärmerisch. „Er sieht aus wie Johnny Depp, hat eine Stimme wie Elvis, und seine Hände… ich steh total auf seine Hände!“

Die Kleine hat Geschmack, grinste Dumont.

„Und wie er küsst“, ließ Veronika die Bombe platzen. „Einfach himmlisch!“ Dumont konnte beinahe hören, wie die anderen beiden Schwestern scharf einatmeten. Das klatschsüchtige kleine Luder! dachte er amüsiert. Hat wohl in der Schule gefehlt, als der Begriff ‚Diskretion‘ erläutert wurde!

„Was?“ Mary klang schockiert und wissbegierig zugleich. „Du hast doch nicht etwa, äh, mit ihm...?“

Eine kurze Pause folgte, und Dumont stellte sich vor, wie Veronika mit geröteten Wangen nickte und dabei strahlte wie ein Maikäfer. „Er hat mich gestern zum Norah Jones-Konzert eingeladen! Könnt ihr euch das vorstellen? Er hatte die coolsten Plätze in der Private Lounge, und alle kannten ihn! Der Mann ist im Kaufleuten voll der VIP, und wir haben eine ganze Flasche Dom Peli-, Pelgi... also, von diesem teuren Champagner getrunken!“

„Nein!“ riefen Mary und Cleopatra unisono.

„Doch! Und als Norah Jones ‚Turn me on‘ sang, legte er mir sanft eine Hand auf den Schenkel, und als ich dasselbe tun wollte, hab ich aus Versehen zwischen seine Beine gegriffen, und ich sag euch, dieser Kerl hat einen – “

„Solche Gespräche zu belauschen ist äußerst unmanierlich“, brummte eine mürrische Stimme direkt in Dumonts Ohr. Der Arzt unterdrückte einen Aufschrei und wich überstürzt von der Tür zurück. Vor ihm schwebte, die Hände wie zum Gebet gefaltet, der Engel mit der randlosen Brille.

Holy Shit!“ flüsterte Dumont. Mit hektischen Bewegungen versuchte er, den Engel wie ein lästiges Insekt zu verscheuchen, doch der Götterbote wich der wedelnden Hand mühelos aus. Entgeistert lehnte sich Dumont mit dem Rücken gegen die Wand. Wahnvorstellungen! dachte er bestürzt. Ich leide an Wahnvorstellungen!

„Bedaure“, widersprach der Engel in schulmeisterlichem Ton. „Die Sache ist leider etwas komplexer. Wir müssen uns unterhalten.“ Er warf einen missbilligenden Blick zum Schwesternzimmer. „Nicht hier. Zuviel Weibsvolk. Lass uns in dein Büro gehen.“

Mary streckte ihren Lockenkopf hinter der Tür hervor, und ihre kakaobraunen Augen weiteten sich. „Dr. Dumont! Stehen... stehen Sie schon lange hier?“

„Nein, Mary“, flunkerte Dumont und schaffte es, ein Lächeln auf seine Lippen zu zwingen. „Warum, habt ihr Hübschen etwa über mich getratscht?“

„Natürlich nicht!“ Mary schüttelte heftig den Kopf, den Blick zu Boden gerichtet. „Veronika hat uns gerade von, äh, von ihren Ferien erzählt.“

„Ach ja, Ferien... hätte ich auch wieder mal nötig.“ Aus den Augenwinkeln schielte Dumont zur Seite. Der Engel saß auf der Türklinke, seine Finger ungeduldig gegen die Tür trommelnd. Dumont warf einen betonten Blick auf sein Handgelenk. „Du meine Güte, die Zeit rennt! Muss vor der nächsten OP noch dringend was erledigen. Vergessen Sie nicht, Mary, Sie haben bei mir noch einen Wunsch frei!“

Bevor sie etwas erwidern konnte, hastete er durch den langen Korridor zur Treppe, hinauf zu seinem Büro im zweiten Stock, während der Engel mit verschlossener Miene neben ihm her schwebte. Dort angekommen verriegelte Dumont die Tür, ließ sich in den protzigen Chefsessel fallen, schloss die Augen und massierte sich mit den Handballen die Schläfen. Das Herz pochte ihm bis zum Hals. Scheissegal, ob das ein Burnout- Syndrom oder ein LSD-Flashback ist – wenn ich jetzt die Augen aufmache und einen Engel sehe, werde ich schreien!

„Ach herrje, bist du melodramatisch!“ seufzte der Engel. Dumont riss die Augen auf und umklammerte in stillem Entsetzen die Armlehnen. Der Himmelsbote stand vor ihm auf dem Schreibtisch, die Arme verschränkt, ein weißgekleidetes Miniaturbild des Vorwurfs. „Glaub mir, ich finde die ganze Angelegenheit genau so wenig erquicklich wie du. Lass uns also diese peinigende Mission so schnell wie möglich hinter uns bringen.“

„Mission?“ Verständnislos musterte Dumont den Engel, der ein winziges Seidentuch aus seinem Gewand gezaubert hatte und sich mit präzisen kleinen Kreisbewegungen die Brille putzte. Der Himmelsbote trug eine knöchellange, griechisch anmutende Tunika, die Dumont an einen altmodischen Pyjama erinnerte. Auf dem Rücken wogten wie träge Federfächer zwei Flügel, die kleinen Füße steckten in abgewetzten Jesussandalen. Dumont musste mehrmals zum Sprechen ansetzen.

„Was zum – “

„Keine Gotteslästerungen!“ unterbrach ihn der Engel. „Und ersparen wir uns zeitraubende Vorreden. Also kurz und bündig: Nein, du bist nicht verrückt, und mir ist verflixt wenig Zeit gegeben, dich davon zu überzeugen.“

‚Verflixt?‘ Dumont stöhnte innerlich auf. Ein solches Wort würde ich nicht einmal im Alptraum denken! Das kann unmöglich eine Halluzination sein!

„Oh, welch Trübsinn“, murrte der Engel im Tonfall des geübten Querulanten. „Hier stehe ich einmal mehr und predige zu den Gehörlosen! Aber was hatte ich schon erwartet? Hatte ich wirklich zu hoffen gewagt, an eine einsichtige Seele zu geraten? Nein, denn dann wäre meine Präsenz hier ja wohl kaum von Nöten!“

Nie mehr Partydrogen, gelobte sich Dumont. Verstohlen rollte er auf seinem Bürosessel vom Schreibtisch weg. Hätte nie gedacht, dass ein Flashback so verdammt realistisch sein kann… Eine lebensgroße Marmorstatue der Venus von Milo versperrte ihm den Fluchtweg. Der Engel warf einen Blick auf den nackten Busen der Statue und schürzte missbilligend die Lippen.

„Du kannst nicht vor mir fliehen, Marcel. Genauso wenig wie vor deinem Gewissen. Wohl kann ich deine zweifelnden Gedanken lesen. Dennoch ist es zwingend, dass du meinen Worten lauschest, um deine unsterbliche Seele vor dem Schlimmsten zu bewahren!“

Oh Kacke, dachte Dumont mit wachsender Bestürzung. Kann es wirklich sein, dass ein Teil meines Unterbewusstseins sich so geschwollen ausdrückt?

„So sehr du die Wahrheit leugnen möchtest“, fuhr der Engel fort, „ich bin echt. Und ich bin gekommen, dir die rettenden Worte kundzutun. Denn um dein Karma ist es traurig bestellt.“

‚Karma?‘ Dumont blinzelte mehrmals. Alles klar. Plan B tritt in Kraft. Er rollte zum Schreibtisch zurück und begann, eine Schublade nach der anderen aufzureißen. „Wo ist es... wo ist es denn... ah – hier!“ Er zog eine weiß-gelbe Schachtel mit dem Aufdruck Temesta aus der untersten Schublade, drückte eine Tablette aus der Blisterpackung, steckte sie in den Mund und schluckte sie trocken.

„Welch Torheit!“ rief der Engel. „Mit Beruhigungspillen wirst du dich meiner nicht entledigen! Ich komme später wieder, und dann will ich dich nüchtern und einsichtig sehen. Werde endlich erwachsen!“

Mit einem leisen Puff! verschwand der Engel in einer weißen Wolke. Für mehrere Sekunden saß Dumont wie versteinert in seinem Sessel und starrte auf die Stelle, wo eben noch der Engel gestanden hatte. Dann griff er zum Telefon.

„Hallo, hier Dumont. Ich hätte gerne einen Termin bei Dr. Kaposy... ja, es ist dringend.“