Cover

Über dieses Buch:

Als die Nachlasspflegerin Friedelinde Engel zu dem Haus einer Toten geschickt wird, um deren Erbe zu regeln, erwartet sie nichts Außergewöhnliches. Im Keller der Toten findet Friedelinde jedoch eine zweite Leiche. Die zerbrechliche Frau selbst kann den kräftigen Mann unmöglich dort hinuntergebracht haben, doch wer sonst? Während der Kripo-Beamte Nicolas Sander bei seinen Ermittlungen im Dunkeln tappt, führt Friedelindes Suche nach den Erben der Frau in ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte zurück. Hängen die zwei Fälle zusammen? Friedelinde und Sander müssen Hand in Hand arbeiten, um die Schuldigen zu finden … und Hunderten Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen.

Der fesselnde Auftakt zur neuen Krimi-Reihe um die eigenwillige Nachlasspflegerin Friedelinde Engel und Kripo-Ermittler Nicolas Sander.

Über die Autorin:

Angela Lautenschläger arbeitet seit Jahren als Nachlasspflegerin und erlebt in ihrem Berufsalltag mehr spannende Fälle, als sie in Büchern verarbeiten kann. Ihre Freizeit widmet sie voll und ganz dem Krimilesen, dem Schreiben und dem Reisen. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in Hamburg.

Bei dotbooks erscheinen die Bände ihre »Engel und Sander«-Reihe sowohl als eBook- als auch Printausgaben:

»Stille Zeugen«

»Geheime Rache«

»Tödlicher Nachlass«

»Blindes Urteil«

»Gerechte Strafe«

»Brennende Angst«

»Stummer Zorn«

Ebenso erscheint bei dotbooks ihre »Sommer und Kampmann«-Reihe als eBook- und Printausgaben:

»Kalter Neid«

»Blendende Gier«

Weitere Bände sind in Planung.

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Originalausgabe November 2015

Copyright © der Originalausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Philipp Bobrowski

Titelbildgestaltung: © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96148-039-5

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Angela Lautenschläger

Stille Zeugen

Ein Fall für Engel und Sander

dotbooks.

Kapitel 5

Es war beinahe halb drei, als Friedelinde in die Einfahrt zu ihrem Elternhaus fuhr. Sie hatte im Staatsarchiv einiges herausgefunden, Urkunden kopiert und sich Notizen gemacht, die sie noch zusammenfügen musste. Sie schloss den Wagen nicht ab und läutete an der Haustür, auch wenn sie einen Schlüssel hatte, aber ihr Vater öffnete nicht. Sie ging ums Haus herum und erblickte ihn durch das Fenster im Wohnzimmer. Drinnen sah es aus, als sei eine Bombe in Johannes Engels Haus eingeschlagen und hätte alle Papiere aus Regalfächern und Schubladen geholt und im ganzen Raum verteilt. Zaghaft klopfte sie an die Scheibe. Ihr Vater sah auf und musterte sie, als brauche er eine Weile, um sich an sie zu erinnern. Er öffnete die Terrassentür. »Hallo, Liebes, komm rein.«

Friedelinde setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. »Ist was passiert?«

»Wie?« Ihr Vater nahm die Lesebrille ab.

»Oder anders gefragt: Was ist passiert?«

»Ach so, das meinst du. Ich hab nach Karten vom Wittmoor gesucht, und dann sind mir die Bücher über Duvenstedt und den Duvenstedter Brook in die Hände gefallen, und ich hatte ja auch einige Ausgaben vom Heimat Echo aufbewahrt, und dann waren da auch noch deine Schulaufsätze …«

Friedelinde sank erschöpft auf einen Stuhl. »Ist gut, Papi.« Sie legte ihren Autoschlüssel auf den Tisch. »Darf ich fragen, ob du was gefunden hast?«

Ihr Vater setzte die Brille wieder auf und kniete sich vor einen besonders chaotisch aussehenden Haufen auf dem Teppich. »Ja, und zwar hier – nee.« Er beugte sich vor, um einen anderen Stapel zu erreichen. »Oder war’s hier? Nein, auch nicht. Weißt du, ich wollte bei der Gelegenheit gleich mal Ordnung schaffen.«

»Ja, ich denke, du bist da auf einem guten Weg, allerdings wollte ich wissen, ob du etwas über das KZ im Wittmoor gefunden hast.«

Ächzend erhob sich Johannes Engel wieder. »Natürlich. Liegt doch alles vor deiner Nase.«

Friedelinde zog den Stapel Papier auf dem Esstisch zu sich heran. Sie hielt eine Karte des Wittmoors in der Hand und einen kleinen Prospekt, auf dem ein großer Fels abgebildet war. »Was soll das sein?«

»Wir müssen los. Nimm das mit.« Johannes Engel war bereits im Flur und zog sich Schuhe an.

Er saß schon in ihrem Wagen, als sie nach draußen kam. Gehorsam ließ sie sich den Weg weisen. Nachdem sie ein Wohngebiet am Ortsrand durchquert hatten, endete die Straße in einer Sackgasse.

Friedelinde stellte den Wagen auf einem Grünstreifen ab. »Was genau machen wir hier?«

Ihr Vater schloss die Augen und atmete tief durch. »Erst mal tief durchatmen.«

Friedelinde verzog das Gesicht und schnupperte. »Okay, hab ich. Und jetzt?«

Ihr Vater warf ihr einen missbilligenden Blick zu und marschierte los. Seufzend folgte Friedelinde ihm. In ihrer Kindheit hatte es regelmäßig Sonntagsspaziergänge gegeben, und sie hatte sie gehasst. Viel lieber hätte sie ferngesehen oder mit ihren Freundinnen telefoniert, aber mitgehen war Pflicht gewesen. Nach zwei Stunden strammen Marschierens war die Belohnung ein Stück Kuchen gewesen. Friedelinde bezweifelte, dass ihr Vater ihr heute auch Kuchen anbieten würde. Nachdem sie eine Weile lustlos hinter ihm hergestapft war, sah sie sich um und versuchte, sich anhand der Beschreibung von Gernot Hagemann zu orientieren, was ihr nicht besonders gut gelang. Von ihrem Vater war bald nichts mehr zu sehen, und er dachte offenbar auch nicht daran, auf sie zu warten.

»Papa!«

Sie verstand die Antwort ihres Vaters, der aus ihrem Blickfeld verschwunden war, kaum.

»Papa!« Außer Atem holte sie ihn ein. »Hör mal. Das ist wirklich alles unheimlich interessant hier, aber ich muss unbe…« Friedelinde sah sich interessiert um. »Hier ist ja eine Weggabelung. Dann müssen wir jetzt rechts, nein links. Und dann muss irgendwo ein Tümpel sein, und da …« Johannes war den Weg bereits nach links weitergegangen und blieb vor einem Tümpel stehen.

»Da ist er ja.«

»Hm.«

Das dunkle Wasser lag unbewegt vor ihnen. Es hatte fast den Anschein, dass es kein Wasser, sondern eine zähflüssige dicke Masse war. An einigen Stellen ragten Birkenstümpfe hervor, nur am Rand blühten einige Pflanzen. Und dahinter lag das Moor, auf langen dünnen Stängeln wogten kleine weiße Wolken. Ein ruhiges friedliches Bild.

»Das ist Wasserschierling«, erklärte Johannes.

»Was?«

»Na das. Du stehst genau davor.«

»Was? Dieses blühende Unkraut?« Friedelinde holte den Text aus ihrer Tasche, den die Polizei in Arthur Goldschmidts Mantel gefunden hatte. Sie las ihn laut vor.

»Was ist das für eine furchtbare Anklage?«, fragte Johannes.

Friedelinde setzte ihn ins Bild. »Ja, und es klingt doch ganz klar nach einem Bericht aus einem KZ, findest du nicht?« Friedelinde sah sich um. »Und wo ist jetzt verdammt noch mal eines gewesen?«

Johannes warf ihr einen ernsten Blick zu. »Komm!«

Wenig später standen sie vor dem Felsen, den Friedelinde auf dem Prospekt gesehen hatte. Es war jedoch kein Fels. Es war ein Gedenkstein, umrankt von Efeu, der die Inschrift in der Mitte des Steins umschloss.

»Das ist alles, was von dem KZ übrig geblieben ist.« Johannes fasste Friedelinde an der Schulter. »Komm.«

»Ehrlich, Papa«, flüsterte Friedelinde wenig später und hielt ihren Vater zurück. »Ich will da nicht rein.«

»Nun stell dich doch nicht an. Du bist doch eine erwachsene Frau.«

»Ja schon, aber ich war auch mal klein.«

»Also wirklich.« Johannes machte sich los und klopfte an die Tür des windschiefen Reetdachhäuschens. Vielleicht war der Bewohner nicht zu Hause. Oder schon tot. Alt genug war er schließlich. Aber ihre Hoffnung ging nicht in Erfüllung. Nach einer Weile waren schlurfende Schritte zu hören und die Tür wurde geöffnet. Vor ihnen stand ein hagerer, gebeugter alter Mann mit tiefen Furchen im Gesicht. Er war alt geworden, aber unverkennbar Friedelindes früherer Grundschuldirektor. Freundlich lächelnd gab er Johannes die Hand. »Herr Engel.« Er wandte sich Friedelinde zu. »Und das ist dann wohl Ihre Tochter.« Er hielt ihre Hand für Friedelindes Geschmack einen Moment zu lang mit seinen knochigen Händen fest und musterte sie intensiv. »Noch habe ich keine Erinnerung an Sie, aber das kann ja noch kommen. Bitte treten Sie ein.«

Friedelinde konnte es dem Mann nicht verdenken, dass er sich nicht an sie erinnerte, schließlich war sie während ihrer Schulzeit weder durch besonders gute Leistungen noch durch andere Fähigkeiten hervorgetreten. Und die Grundschule hatte sie vor beinahe dreißig Jahren verlassen. Herr Lorenz hatte schon früher in diesem Häuschen gewohnt, über das sich die Schüler lustig gemacht hatten, aber es war nie jemand drinnen gewesen. Vielleicht hatten sie sich einfach nicht getraut.

Der alte Mann lotste sie durch einen winzigen Flur in einen Wohnraum, dessen unebener Boden mit grün gestrichenen Schiffsplanken ausgelegt war. Rundherum standen deckenhohe Bücherregale an den Wänden, und auf Tischen und Sitzgelegenheiten lagen Bücherstapel oder aufgeschlagene Bücher.

»Mein Studierzimmer. Nehmen Sie Platz, wenn Sie welchen finden. Ich bin sofort zurück.« Der alte Mann schlurfte hinaus, und Johannes schaufelte alte Zeitungen und Zeitschriften von einem kleinen zweisitzigen Sofa.

»Du hast mir nicht gesagt, dass du unseren Besuch angekündigt hast!«, flüsterte Friedelinde vorwurfsvoll.

»Sonst hättest du ja doch nur Theater gemacht«, antwortete Johannes ungerührt. »Und wenn es eine Koryphäe der Duvenstedter Geschichte gibt, dann ist es Herr Lorenz.«

Friedelinde betrachtete ihre Umgebung misstrauisch. »Wenn du meinst.« Sie schwieg schnell wieder, denn die Rückkehr ihres Gastgebers kündigte sich durch Geschirrklappern an. Johannes ging dem Mann entgegen und nahm ihm das Tablett ab, auf dem Tassen und Teekanne hüpften. Friedelinde schob einige Papiere auf einem altersschwachen Tischchen beiseite, damit Johannes das Tablett abstellen konnte.

»Ich bin extra noch mal los, nachdem Sie angerufen haben, und habe ein paar Kekse besorgt. So etwas habe ich gar nicht mehr im Haus, seit meine Frau tot ist.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Seitdem vergesse ich auch hin und wieder, etwas zu essen. Nun ja, greifen Sie zu.«

Johannes schenkte Tee ein, und Friedelinde nahm einen Schokoladenkeks.

»Ich glaube, ich hatte Sie damals in der 3a. Heimatkunde und Deutsch«, sinnierte der ehemalige Direktor und rieb sich das schlecht rasierte Kinn.

»Ja, stimmt.« Friedelinde unterdrückte einen Hustenanfall. Der Mann hatte ein phänomenales Gedächtnis.

»War eine nette Klasse damals, auch wenn Sie sich nicht ein einziges Mal die Mühe gemacht haben, uns Lehrern einen Streich zu spielen. Na ja, ist lange her. Was kann ich denn nun für Sie tun?« Er wandte sich an Johannes. »Sie hatten gesagt, Ihre Tochter interessiert sich für das ehemalige KZ im Wittmoor?«

»Richtig.« Johannes reichte Herrn Lorenz eine Tasse Tee. »Erzähl doch mal«, forderte er Friedelinde auf.

»Ja, also, ich bin auf der Suche nach der wahren Identität einer Frau, die unter falschem Namen gelebt hat. Ich vermute, dass sie diese neue Identität nach dem Krieg angenommen hat, als viele Menschen ihre Ausweispapiere in den Kriegswirren verloren hatten. Diese Frau hat die Gelegenheit genutzt und eine Geschichte über ihre Flucht aus Ostpreußen ersonnen.«

Der ehemalige Schulleiter schenkte mit zittriger Hand Tee nach. »Hab ich alles in der Zeitung gelesen.« Er warf Friedelinde einen prüfenden Blick zu. »Hätte Sie gar nicht wiedererkannt, so ohne Mütze. Und was war das jetzt mit dem toten alten Mann in der Truhe?«, fragte Lorenz.

Friedelinde öffnete den Mund, aber Herr Lorenz winkte ab. »Geht mich ja gar nichts an, und deshalb sind Sie ja auch nicht da.«

»Möglicherweise doch, aber dazu komme ich noch. Ich erzähle erst mal weiter, wenn es in Ordnung ist.«

»Ist in Ordnung. Sie müssen entschuldigen, ich bin viel allein, und da gibt man immer selbst den Ton an.«

»Diese Frau, die sich Hannelore Weber genannt hat, hat einen jungen Mann dazu gebracht, sie hier ins Wittmoor zu begleiten, und zwar an den kleinen Teich in der Nähe des Gedenksteins. Sie hat …« Friedelinde brach ab, als plötzlich eine Veränderung mit dem alten Mann vor sich ging. Plötzlich hörte er auf zu zittern, sein Kopf versteifte sich, und er bekam große Augen.

Friedelinde sprang auf. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Herr Lorenz wirkte ärgerlich. Er scheuchte Friedelinde mit wedelnden Handbewegungen zurück auf ihren Platz. »Erzählen Sie weiter.«

Zögerlich nahm sie wieder Platz.

»Die Frau hat sich zu dem kleinen Tümpel bringen lassen. Und dann?« Herr Lorenz klang ungeduldig.

»Und dann hat sie dort Wasserschierling gepflückt und den alten Mann in der Truhe vergiftet. Also, nicht in der Truhe, sondern sie hat ihn vergiftet und ihn dann in die Truhe gelegt.«

»Die Frau kannte sich also hier aus, wie?« Lorenz klang lauernd.

»Vermutlich, und wir dachten, dass Sie vielleicht eine Idee haben, zumal dieser Mann aus der Truhe ein ehemaliger KZ-Insasse war. Dass Sie vielleicht wissen, was sie hier gemacht hat. Es gab doch hier das KZ.«

Der alte Mann winkte ab. »Ja, ja, ich verstehe schon. Was wissen Sie über diese Frau?«

»Ich weiß nicht allzu viel«, erklärte Friedelinde. Sie zog ihre Akte aus der Tasche und schlug sie auf. Dabei fiel ihr das Jugendfoto von Hannelore Weber aus der Personalakte der Bank in die Hände. »Ich habe dieses Foto hier.«

Sie reichte Lorenz das Foto über den Tisch, der es mit seiner von Gicht geplagten Hand entgegennahm. Aufmerksam betrachtete er das Bild. »Holen Sie mir da drüben mal die Chronik aus dem Regal.«

Friedelinde warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu, der sie ebenfalls ratlos ansah.

»Dort drüben. Das grüne!« Lorenz deutete ungeduldig auf ein Regal.

Friedelinde fand in dem Regal oberhalb des Schreibtischs die Chronik. Lorenz setzte seine Lesebrille auf und fand nach kurzer Zeit die gesuchte Seite.

»Die Lupe!«, befahl er.

Friedelinde, die sich eben gesetzt hatte, sprang wieder auf und holte die Lupe aus der Schreibtischschublade.

Aufmerksam studierte Lorenz durch das Vergrößerungsglas ein abgedrucktes Foto im Buch. »Ja, ich denke, das ist sie.«

»Wie?« Friedelinde war elektrisiert.

»Ja, kommen Sie mal her.«

Friedelinde und Johannes erhoben sich und sahen ihm über die Schultern.

»Hier.« Lorenz wies auf ein Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigte einen großen breitschultrigen Mann in SS-Uniform, neben ihm eine hübsche Frau, die blonden Haare geflochten um den Kopf geschlungen. Der Mann trug die Haare exakt gescheitelt, mit Brillantine ordentlich gekämmt und oberhalb der Ohren großzügig ausrasiert. Seine Augen wirkten kalt, sein Mund war eine zusammengekniffene Linie. Und vor dem Paar stand, auf jeder Schulter eine Hand eines Elternteils – Hannelore Weber. Oder vielmehr die Frau, die als Hannelore Weber durchs Leben gegangen war. Sie war etwas jünger als auf dem Foto aus der Personalakte der Bank, aber die Lücke zwischen den Schneidezähnen war deutlich zu erkennen. Friedelinde beugte sich vor, um die Bildunterschrift erkennen zu können.

Heinrich Markmann mit seiner Frau Louise Markmann, geb. Henningsmeier, und Tochter Elsa wenige Wochen vor Auflösung des KZ Wittmoor.

Herr Lorenz legte die Lupe auf den Tisch und nahm die Lesebrille ab. Mit einem zufriedenen Lächeln kaute er auf einem Brillenbügel. »Sie haben der Aufklärung deutscher Geschichte in Duvenstedt einen Dienst erwiesen«, stellte er fest. »Niemandem, auch mir nicht, ist es bisher gelungen, die Spur dieser Frau wiederzufinden.« Er kniff kurz die Augen zusammen. »Das bestätigt meine Theorie, dass auch Schüler mit durchschnittlichen Noten es im Leben weit bringen können.«

Ein zweifelhaftes Kompliment, das Friedelinde angesichts ihrer Entdeckung mit Humor nahm.

»Und wie war das jetzt mit Heinrich Markmann?«, fragte Johannes Engel neugierig.

Lorenz klappte den Bildband, der auf seinem Schoß lag, zu. »Heinrich Markmann war dieser Typ Mann, der beruflich keineswegs erfolgreich war und dem der Eintritt in die NSDAP den Weg in lukrative Ämter ebnete.« Herr Lorenz trank einen Schluck Tee, ehe er fortfuhr. »Heinrich Markmann war nicht von hier. Er ist 1900 geboren, von mehreren Schulen geflogen und hat eine Metzgerlehre im Betrieb seines Vaters abgebrochen, weil die beiden ständig Streit hatten. Er hat sich dann mehr schlecht als recht durchgeschlagen, auch mit finanzieller Unterstützung seiner Mutter.« Lorenz rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Hinter dem Rücken des Vaters. Nachdem er dann zunächst in einigen der damals noch verbotenen Organisationen Mitglied gewesen war, ist er in die NSDAP eingetreten und hat eine recht niedrige Mitgliedsnummer erhalten. Mit 28 Jahren ist er dann in den Preußischen Landtag eingezogen und hat als Mitglied ohne abgeschlossene Ausbildung und ohne Studium das erste Mal ein eigenes Einkommen bezogen. Kurz darauf hat er geheiratet und im nächsten Jahr wurde seine Tochter geboren.«

»Elsa Markmann«, sagte Friedelinde tonlos.

Lorenz nickte. »Genau.«

»Markmann hat dann eine politische Karriere in der NSDAP hingelegt und 1940 den Auftrag erhalten, in den alten verrotteten Gebäuden der stillgelegten Torfverwertung Wittmoor ein KZ einzurichten.«

Lorenz strich mit seinen arthritischen Fingern über den Bildband. »Zunächst waren nur zwanzig Gefangene inhaftiert, und die Gebäude eigentlich nur Ruinen. Die hygienischen Zustände waren katastrophal, und die Häftlinge sind in den kalten Wintern mit dem dünnen Zeug am Leib beinahe erfroren. Viele sind gestorben, aber es kamen immer neue.«

Er sah in betretene Gesichter. »Ich denke, es ist Zeit für einen Schnaps. Sind Sie so gut?« Er deutete auf eine Anrichte mit schief eingehängten Türen, aus der Friedelinde drei Schnapsgläser und eine Flasche herausnahm. Nachdem sie sich gestärkt hatten, fuhr er fort.

»In einer derartigen Umgebung, unter der Erziehung eines sadistischen Vaters, kann man es dem jungen Mädchen beinahe nicht verübeln, dass es einen schlechten Charakter entwickelte. Bei der Dorfjugend war sie nicht beliebt, allein schon wegen ihres Vaters, der von den Duvenstedtern gefürchtet wurde. Deshalb hat sie sich wohl darauf verlegt, Inhaftierte zu piesacken.«

Friedelinde dachte an Arthur Goldschmidts Text, in dem er berichtet hatte, wie Elsa Markmann den ausgehungerten Häftlingen eine möglicherweise von ihr vergiftete Suppe vorgesetzt hatte. Er hatte darin dieselbe giftige Pflanze erwähnt, mit der er später von ihr vergiftet worden war. Möglicherweise war die Suppe damals tatsächlich vergiftet gewesen. Die Todesursache eines Häftlings wäre sicher nicht untersucht, geschweige denn verfolgt worden.

»Ich nehme an, es waren jüdische Häftlinge?«, fragte Johannes mit belegter Stimme.

»Ja, natürlich Juden, aber auch Homosexuelle und sogenannte Politische wie Mitglieder der KPD und der SPD. Sogar Zeugen Jehovas waren darunter, aber Markmann hat gezielt dafür gesorgt, dass ihm hauptsächlich die jüdischen Häftlinge zugewiesen wurden, und zwar diejenigen, die ein gewisses Vermögen vorzuweisen hatten. Es gibt nicht wenige Grundbücher von Häusern in allerbester Lage, in denen auf die Eintragung des jüdischen Eigentümers der Name Markmann folgt. Daneben hat er sich auch an ihrem Geld und dem Hausstand bereichert.«

Herr Lorenz sah Friedelinde und Johannes an. »Er hat es offenbar so toll getrieben, dass es selbst den oberen Nazis zu bunt wurde. Sie haben das KZ 1942 wieder geschlossen, und Markmann wurde auf einen Büroposten versetzt. Nach dem Krieg haben die Amerikaner ihn inhaftiert und sein Vermögen eingezogen. Es heißt, er habe sich in der Haft erhängt.«

»Sie glauben das nicht?«, fragte Johannes.

Lorenz sah ihn aus klaren Augen an. »Habe ich nie geglaubt. Es gab damals zu viele Unverbesserliche, die ihren alten Kameraden geholfen haben, eine neue Existenz aufzubauen.« Er wandte sich Friedelinde zu. »Und nachdem ich jetzt gehört habe, dass sogar seine Tochter diesen Weg gewählt hat, glaube ich es noch viel weniger.«

»Kein Wunder, dass sie sich eine neue Lebensgeschichte ausgedacht hat.«

»Aber wieso hat sie das getan?«, fragte Johannes. »Sie war die Tochter.«

»Ja, und genau diese Stellung hat sie ausgenutzt. Diese Frau war sadistisch. Du hast ja gehört, was Herr Lorenz gesagt hat, und ich habe dir vorgelesen, was Arthur Goldschmidt aufgeschrieben hat.« Sie nahm den Text aus der Tasche und las ihn noch einmal vor. Als sie schloss, erhob sich Herr Lorenz schwerfällig und ging zu einem Regal hinüber. Mit seinen gekrümmten Fingern fuhr er die Buchrücken entlang. Er zog eines heraus, blätterte im Inhaltsverzeichnis und blieb an einer Zeile hängen. Er schob die Lesebrille auf die Stirn. »Was sagten Sie, wie heißt der Mann?«

»Goldschmidt. Arthur Goldschmidt.«

»Ja, der war Insasse hier.«

»Er hatte eine Nummer auf dem Unterarm eintätowiert.«

»Ja, die 326.« Herr Lorenz klappte das Buch zu. »Ist er der vergiftete Mann in der Tiefkühltruhe?«

Friedelinde nickte. »Man weiß nicht, ob sie ihm und den übrigen Häftlingen damals Wasserschierling gab. Diesmal hat sie es mit Sicherheit getan.«

»Er hat doch sicher weitere Aufzeichnungen über seinen Aufenthalt im Wittmoor gemacht.« Herr Lorenz kehrte auf seinen Platz zurück. »Daran wäre ich natürlich sehr interessiert.«

»Vermutlich hat er das, aber der Helfer von Hannelore Weber hat alles verbrannt, was er an Unterlagen dabei hatte.«

Lorenz rieb sich das Kinn. »Das ist ärgerlich. Aber die Leute vergessen immer, dass das Vernichten von Papieren nicht zu einem Vergessen führt.« Er tippte sich an die Schläfe. »Hier drin ist alles gespeichert, das kann niemand löschen, außer dem Tod. Deshalb ist es so wichtig, dass wir es unseren Kindern erzählen, damit die Erinnerung wach bleibt.«

Johannes nickte. »Ich habe auch noch nie viel von dem Gerede gehalten, dass irgendwann einmal Schluss sein muss mit den alten Geschichten.«

»Nein, das ist im wahrsten Sinne des Wortes zu kurz gedacht, zumal das Kriegsende knappe siebzig Jahre zurückliegt. Das ist weniger als ein durchschnittliches Menschenalter.«

»Und es haben jedenfalls bis vor Kurzem auch noch zwei an diesem Vorfall Beteiligte gelebt.«

Herr Lorenz wirkte beinahe gerührt. »Meine Liebe, ich freue mich wirklich, dass Ihre Suche Sie zu mir geführt hat. Ich würde darüber gern in unserem nächsten Heimatboten berichten. Meinen Sie, Sie können mir diesen Text des Herrn Goldschmidt zur Verfügung stellen?«

»Natürlich. Ich schicke Ihnen eine Kopie. Darf ich Sie auch um einen Gefallen bitten?«

»Natürlich.«

»Darf ich mir die Chronik ausleihen? Ich würde mir gern die Seiten über die Familie Markmann kopieren. Ich fürchte nämlich, ich habe ein Problem.«

»Ah ja, und welches?«

»Ich muss Elsa Markmanns Erben suchen. Und ich hoffe, dass ihre Angehörigen damals nicht ebenfalls untergetaucht sind und unter falschem Namen leben.«

Lorenz reichte ihr die Chronik. »Wenn Sie wollen, forsche ich ein bisschen für Sie. Elsas Mutter stammte von hier. Vielleicht finde ich was heraus.«

Friedelinde bedankte sich und versprach, Herrn Lorenz bald wieder aufzusuchen, um neue Erkenntnisse gegen die Chronik einzutauschen. Sie war ein gutes Stück weitergekommen, aber ihre neueste Erkenntnis stellte sie auch vor das Problem, wie sie die Wandlung von Elsa Markmann in Hannelore Weber nachweisen sollte. Ein Foto dürfte dafür nicht ausreichen.

Sie mussten lange läuten, ehe der Türsummer erklang. Als sie schließlich vor Ingeborg Broeschkes Wohnungstür standen, war die noch geschlossen. Am Türknauf hing eine kleine Papiertüte mit dem Aufdruck einer Apotheke. Sander drückte noch einmal entschlossen auf den Klingelknopf neben der Tür, die nach einer Weile geöffnet wurde. Ingeborg Broeschke war nicht wiederzuerkennen. Ihr Haar stand wirr von ihrem Kopf ab. Sie blickte Sander aus zusammengekniffenen Augen an. Der Flur hinter ihr war dunkel.

»Sie sind’s.« Sie verschwand in der dunklen Wohnung.

Sander nahm die Tüte vom Türknauf und betrat von Gernot gefolgt die dunkle Wohnung.

»Frau Broeschke?« Sander fand sie in der Küche. Sie hielt den Wasserkocher in der Hand und überlegte offenbar, was sie damit anstellen sollte.

»Kann ich Licht machen?« Sander deutete ihr Seufzen als Zustimmung. »Setzen Sie sich mal hin. Ich mach Ihnen einen Tee.« Er schob die Frau auf die Eckbank, auf der Gernot schon saß. Sie trug ein knöchellanges weißes Nachthemd mit langen Ärmeln, an dessen Bünden sie herumzupfte. »Ich hab vorhin was genommen, als sie weg waren, und seitdem geschlafen.« Ihr Blick wanderte zur Wanduhr. »Wie spät ist es?«

»Gleich sieben.«

Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Dann habe ich fast neun Stunden geschlafen.«

»Wo steht der Tee?«

Sie deutete auf den Hängeschrank über dem Geschirrspüler.

Sander entschied sich für Johanniskrauttee. Beruhigt schließlich die Nerven. Gernot inspizierte derweil den Inhalt der Tüte. »Beruhigungs- und Schlafmittel«, stellte er fest.

Wieder ein Seufzen. »Ich kann nur mit Schlaftabletten zur Ruhe kommen.« Sie starrte auf den Tisch. »Ganz kurz habe ich darüber nachgedacht, mehr zu nehmen als nötig, aber dann habe ich festgestellt, dass mein Vorrat nicht ausreicht.«

Als Reaktion auf diese Worte steckte Gernot die Schachteln zurück in die Tüte und stellte sie neben sich auf die Bank.

»Keine Sorge. Ich habe es mir anders überlegt. Ich möchte gern wissen, was mit meinem Sohn passiert ist. Er kann mir ja jetzt keine Überwachung mehr vorwerfen.« Sie umschloss mit beiden Händen den Becher, den Sander ihr hinstellte.

»Ich habe heute Nachmittag den Direktor meiner Schule angerufen und ihm gesagt, dass ich morgen wieder zur Arbeit erscheinen werde. Ich kann am besten damit umgehen, wenn ich einen geregelten Tagesablauf habe. Es nützt ja nichts, wenn ich jeden Tag Tabletten nehme und den Tag verschlafe.« Sie hob den Teebeutel aus dem Becher und versenkte ihn wieder darin.

»Frau Broeschke, müssen wir eigentlich Ihren Exmann unterrichten?«

Sie nickte und wickelte das Band des Teebeutels um den Zeigefinger. »Ja, er muss wohl wissen, dass sein Sohn tot ist. Wissen Sie, er lebt in Österreich, hat noch einmal geheiratet und zwei kleine Kinder. Oliver war sein Ältester.«

Sie schob den Becher von sich und verschwand im Flur. Kurz darauf kehrte sie mit einem Notizbuch zurück. »Hier, das ist seine Adresse, und da steht auch seine Telefonnummer.«

Sander notierte die Angaben in dem Notizbuch, das Gernot ihm hinschob.

»Frau Broeschke, wir sind noch mal zurückgekommen, um nach Ihnen zu sehen. Und wir wollten Sie bitten, Ihren Sohn zu identifizieren. Das können wir Ihnen leider nicht ersparen.«

»Auch, wenn Sie keine Zweifel daran haben, dass er es ist?«

Sander nickte.

»Natürlich.« Sie trank den heißen Tee in kleinen Schlucken aus. »Ich gehe kurz ins Bad, dann können wir los.«

Sander hielt sie auf, als sie die Tür erreicht hatte. »Frau Broeschke. Ich möchte Ihnen noch mal die Frage stellen, ob Sie Ihren Sohn gestern Abend aufgesucht haben.«

Sie sah ihn mit wirrem Blick an. »Es gibt Zeugenaussagen, wonach Sie gestern Abend dort gesehen wurden.«

Sie kniff die Augen zusammen, dann wandte sie sich ab und verschwand im Bad.

»Oh Mann«, sagte Gernot.

Erstaunlicherweise stand Ingeborg Broeschke kurz darauf angekleidet und ordentlich frisiert vor ihnen. Aber auf dem Weg in die Gerichtsmedizin schwieg sie.

Dr. Horneckers Stimme scholl durch die gefliesten Räume, als sie die Gerichtsmedizin betraten. Sander entschuldigte sich bei Frau Broeschke für das respektlose Verhalten. Er ließ sie in Gernots Obhut neben einer traurigen Grünpflanze bei der Sitzgruppe auf dem Flur zurück und schob die Tür zum Obduktionssaal auf. »Doc, wir haben hier die Mutter von Oliver Broeschke im Schlepptau. Meinen Sie, Sie könnten aus Respekt vor den Lebenden und den Toten Ihr Temperament im Zaum halten?«

»Das sind meine Hallen, und wem es hier nicht passt, der soll wieder gehen!«, polterte der Gerichtsmediziner, und Sander war froh, die Schiebetür hinter sich wieder geschlossen zu haben.

»Was ist denn der Anlass für Ihren Unmut?«

»Na, sehen Sie sich die Schweinerei hier doch mal an! Wir sind eine gerichtsmedizinisches Institut und keine Gärtnerei!« Dr. Hornecker deutete auf seinen Assistenten, der auf der Waage, mit der üblicherweise das Gewicht von Organen ermittelt wurde, etwas Schwarzes abwog, das Sander nach näherem Hinsehen als Muttererde erkannte. Tatsächlich sah es aus, als topfe ein Gärtner am Pflanztisch Setzlinge um. Drei Blumenkästen standen dort, es gab drei Erdhaufen und mehrere verkrumpelte Pflanzenwurzeln. Der Assistent strahlte.

»Interessant. Ist das ein Hobby von Ihnen? Die Pflanzenwelt? Ich frage nur, weil Sie ja schon auf der Suche nach dem Wasserschierling ein Faible für Botanik entwickelt haben.«

Der Hornecker schnaubte empört.

»Ich hab was rausgefunden«, erklärte der Assistent, der seinen aufgebrachten Chef offenbar nicht fürchtete.

»Und was?«, blökte der. »Dass der Tote seine Blumen nicht regelmäßig gegossen hat?«

»Das sind die drei Blumenkästen von Broeschkes Balkon«, fuhr der Assistent ungerührt fort. »Dieser hier links ist der, der mit ihm abgestürzt ist.« Er deutete auf zwei größere und einen kleineren Erdhaufen. »Das hier ist die Muttererde aus den drei Kästen. Auf dem linken Haufen die aus dem abgestürzten Kasten einschließlich dem, was die Spurensicherung vom Bürgersteig zusammengefegt hat. In den beiden Kästen, die noch am Balkongitter hingen, waren die Pflanzenwurzeln. Wenn Sie mich fragen, die Begonien vom vorletzten Jahr. Fraglich, ob man die noch mal hinkriegen würde.«

Dr. Hornecker schnaubte erneut, hörte aber aufmerksam zu.

»In dem abgestürzten Kasten waren keine Pflanzenwurzeln.« Der Assistent streifte die Erde von den Händen.

»Aha. Das sind ja Erkenntnisse«, knurrte Dr. Hornecker.

»Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus?«, fragte Sander.

»Broeschke hat Erde unter den Fingernägeln gehabt. Kommen Sie mal mit.« Er führte Sander und Dr. Hornecker, der gespielte Missbilligung zur Schau stellte, aber ganz offensichtlich neugierig geworden war, zu seinem Laptop auf dem Schreibtisch. Sander verstand von den komplizierten Rechenoperationen nichts, aber die Simulation, die etwas zeigte, das von irgendwo abstürzte und auf dem Boden aufschlug, sagte ihm was.

Dr. Hornecker wurde ärgerlich. »Kannst du uns das Theater vielleicht mal erklären?«

»Kein Problem. Bin schon dabei. Broeschke ist bäuchlings auf dem Bürgersteig aufgeschlagen, der Kopf zeigte zum Haus. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat er mit dem Rücken am Balkongeländer gelehnt, ehe er gestürzt ist.« Der Assistent blickte freundlich in die Runde. »Aber wie kommt dann die Blumenerde unter seine Nägel? Wenn er rücklings gestürzt ist, hatte er keine Gelegenheit, in den Balkonkasten zu greifen. Ergo, muss er vorher in den Kasten gegriffen haben.«

»Ergo?«, wiederholte Dr. Hornecker.

Der Assistent lockte sie mit dem Zeigefinger zurück zum Wiegetisch. »Auf dem Boden des Balkons waren Erdspuren vorhanden. Und wenn Sie mich fragen, hatte der Broeschke in dem einen Kasten etwas versteckt und hat es herausgeholt, und zwar bevor er vom Balkon gestürzt ist.«

Sander versetzte ihm einen Hieb aufs Schulterblatt. »Klasse Mann. Broeschke ist auf den Balkon gegangen. Er hat mit bloßen Händen etwas aus dem linken der drei Blumenkästen ausgegraben, was er vorher dort versteckt hatte, und zwar nachdem die Pflanzenwurzeln entfernt waren. Dabei ist etwas Erde auf den Boden des Balkons gefallen. Und dann hat er das, was er ausgegraben hat, jemandem ausgehändigt. Aber offenbar mehr oder weniger freiwillig, denn sonst hätte er sich anschließend doch nicht entspannt rückwärts ans Geländer gelehnt.«

»Oder der Mörder hat ihm den ausgegrabenen Gegenstand aus der Hand genommen, Broeschke gegen das Geländer geschubst und drübergestoßen. Der hatte ja ein paar Promille im Blut. War vielleicht nicht so schwer, so besoffen, wie der war.«

»Wie viel Promille?«

»Zwei Komma eins«, schnaubte Dr. Hornecker.

»Und wenn er sich grad umgedreht hatte, war er vielleicht nicht optimal orientiert«, steuerte der Assistent bei.

»Das mag schon sein, aber wenn er vorher demjenigen nicht nur das Versteck gezeigt, sondern vor dessen Augen das Versteckte herausgeholt hat, wird der ihn doch bedroht haben.« Sander seufzte. »Von dem, was drinnen war, haben wir keine Spur, wie?«

Der Assistent schüttelte traurig den Kopf. »Leider nein. Muss aber schon ein gewisses Volumen gehabt haben. Also mehr als ein USB-Stick beispielsweise.«

»Echt gute Arbeit«, lobte Sander.

Dr. Hornecker vertrug es gar nicht, dass sein Assistent gelobt wurde. »Wir haben aber keine Druckmarken an Broeschkes Oberkörper gefunden, die die Theorie stützen, dass er gestoßen wurde.«

»Dann war es eben eine Schusswaffe«, grübelte Sander. »Was weiß denn ich. Runtergefallen ist er ja nun mal. Was war denn nun die Todesursache?«

»Dachte nicht, dass Sie sich dafür überhaupt noch interessieren«, entgegnete der Gerichtsmediziner eingeschnappt. »Milzriss, zahlreiche Knochenbrüche und Schädelbasisbruch. War es das dann?«

»Nicht ganz.« Sander deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Die Mutter steht noch draußen.«

Dr. Hornecker wandte sich ab. »Das macht der Klugscheißer hier.« Er ließ die Tür zu seinem Büro hinter sich zufallen.

Sie brachten die Identifizierung hinter sich. Anschließend fuhren Sander und Gernot Ingeborg Broeschke nach Hause. Auf der Rückfahrt ins Präsidium setzte Sander Gernot über die neuesten Erkenntnisse der Gerichtsmedizin in Kenntnis.

»Ich wundere mich, dass du, knallharter Polizeibeamter, der du bist, so rücksichtsvoll mit Broeschkes Mutter umgehst. Die Nachbarin hat ausgesagt, dass sie sie am Abend gesehen hat, und sie leugnet es.«

»Am Abend ja, aber nicht am nächsten Morgen, als Broeschke umkam.«

»Und wenn Broeschke ihr am Vorabend etwas geklaut und im Balkonkasten versteckt hat, das sie sich am Morgen zurückholen wollte? Sie stand gestiefelt und gespornt in der Tür, als wir sie aufgesucht haben.«

»Sie wollte ja auch zur Arbeit. Heißt natürlich nicht, dass sie nicht vorher schon bei ihrem Sohn gewesen sein kann. Stimmt natürlich.«

»Außerdem wäre eine solche Vertrauensperson die einzige, von der Broeschke sich ohne Waffengewalt dazu bringen lassen würde, ihr den Rücken zuzudrehen, sein Versteck zu verraten und das Geklaute wieder rauszurücken.«

»Jaha. Was schlägst du vor? Soll ich umdrehen und sie verhaften?«

»Muss nicht sein. War nur mein Beitrag zum Brainstorming«, antwortete Gernot entspannt.

Im Präsidium erwartete sie Gabler mit der Nachricht, dass Sandra Karasek zur Vernehmung erschienen sei. Die junge Frau saß in dem kleinen Warteraum, der spärlich mit einem Tisch und vier Stühlen möbliert war, und in dem es keinen Aschenbecher gab. Sie war auf diese moderne Art und Weise gekleidet, bei der man ein geblümtes knielanges Röckchen über einer Jeans trug. Sander hatte nie verstanden, was der tiefere Sinn dieser Bekleidungsweise war. Sie machte nicht besonders attraktiv und setzte die Trägerin dem Verdacht aus, sie sei nicht in der Lage, sich richtig anzuziehen. Oder sie habe sich im Dunkeln angezogen. Ihre Zigarette war halb aufgeraucht. Die Aschefahne drohte auf den Boden zu fallen, aber sie achtete nicht darauf. Sander nahm eine trübsinnige Grünpflanze vom Fensterbrett und hielt sie ihr hin. Vermutlich war es nicht das erste Mal, dass jemand die Flora derart missbrauchte.

»Rauchen ist hier verboten.«

Sie warf ihm nur einen bösen Blick zu.

»Bitte folgen Sie mir.«

Gernot saß schon wieder an seinem Arbeitsplatz und tippte am PC. Seine Windjacke hing über der Stuhllehne.

»Setzen Sie sich.«

Sie nahm mit missmutiger Miene Platz.

»Wie geht es Ihnen?«

Die Frage schien sie zu überraschen. »Wieso?«

Sander seufzte. »Reine Höflichkeit. Sie müssen nicht antworten. Sie sind letztes Mal so schnell verschwunden.«

Es war faszinierend, wie sie sich bemühte, ein gelangweiltes Gesicht aufzusetzen. »Musste mal an die frische Luft.«

»Dem Kollegen sagten Sie, Sie müssten zur Uni.«

»Der Weg dorthin geht durch die frische Luft.«

Sander, der bisher entspannt zurückgelehnt am Tisch gesessen hatte, richtete sich auf. »So, Frau Karasek. Jetzt passen Sie mal auf. Sie brauchen sich hier nicht gänzlich unbeteiligt zu geben. Wir untersuchen den Mord an Ihrem Lebensgefährten, und ich wundere mich, dass Sie sich so wenig kooperativ zeigen. Wir unterhalten uns nicht mit Ihnen, weil Sie mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig gefahren sind, sondern weil Sie die Lebensgefährtin des Toten sind. Und lassen Sie es mich mal so sagen, die nächsten Angehörigen kommen häufig als Täter in Betracht.«

Sandra schob die Hände unter die Oberschenkel und machte eine verschlossene Miene. »Ich war überhaupt nicht da.«

»Dann erzählen Sie mal, wie sich der Tag abgespielt hat. Der Tag vor der Nacht, in der Ihr Freund starb.«

Gernot räusperte sich.

Sander zog eine Grimasse. »Bitte.«

»Ich bin so gegen sieben abends weggegangen.«

»Und davor? Wie ist der Tag verlaufen?«

»Ja, mein Gott. Wir sind aufgestanden, Oliver ist tagsüber weg gewesen, dann kam er wieder, wir haben uns kurz gezofft, und dann musste ich schon los zur Arbeit.«

»Worüber haben Sie sich gestritten?«

»Meine Güte, er hat eben immer gedacht, ich würd ihn bescheißen.«

»Können Sie das etwas genauer ausführen? Wie genau haben Sie ihn beschissen?«

Sie stöhnte genervt auf. »Ich habe ihn nicht beschissen.« Sie rollte mit den Augen. »Wenn man mal einen anderen Mann ansieht, ist das doch noch kein Bescheißen, oder?«

»Und wen haben Sie so genau angesehen?«

»Einen Typen halt.« Sie zuckte zusammen, als Sander mit beiden Handflächen auf die Tischplatte schlug. »Karsten Lehmann«, sagte sie leise.

»Geht doch. Ist er ein Kommilitone oder ein Freund von Oliver?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Woher kennen Sie ihn?« Sander klang genervt.

»Hab ihn in der Bar kennengelernt, in der ich arbeite.«

»In der Havanna-Bar.«

»Ja, er saß am Tresen, und wir sind ins Gespräch gekommen.«

»Woher wusste Oliver von Ihnen beiden? Hat er sie zusammen gesehen oder hat es ihm jemand gesteckt?«

Sie sah gelangweilt aus dem Fenster und hob die Schultern. »Weiß nicht.«

»Und zwischen Ihnen und diesem Karsten Lehmann war ein bisschen mehr als nur ansehen? Haben Sie darüber mit Oliver gestritten? Sind Sie vielleicht nachts nach Hause gekommen und haben den Streit weitergeführt? Oliver ist auf den Balkon raus, weil er frische Luft brauchte, und Sie haben ihm einen Stoß versetzt, und schon war die Situation geklärt?«

Während er gesprochen hatte, hatte Sandra sich ihm wieder zugewandt, und die Empörung über diese Unterstellung war ihr deutlich anzusehen. Und zu hören. »Ey sag mal, spinnst du? Ich bring doch den Olli nicht um!«

»Sie. Spinnen Sie.«

»Ja, Scheiße Mann!«

»Wir werden Ihr Alibi in der Bar überprüfen. Dann wissen wir, ob Sie an dem Morgen einfach mal kurz um die Ecke waren oder tatsächlich direkt von der Arbeit gekommen sind.«

»Bin ich nicht.« Sie sprach sehr leise.

»Bitte?«

»Ich bin nicht direkt von der Arbeit gekommen! Klar?«

Sander hasste schrille keifende Stimmen und schloss für einen Moment die Augen. »Sollen wir Herrn Lehmann fragen? Sagen Sie uns seine Adresse.« Als es still blieb, öffnete er die Augen wieder. Zu seiner Überraschung hatte sich ihre vorwurfsvolle Miene in eine weinerliche gewandelt. »Was ist?«

»Muss das sein?«

»Muss es. Wir sprachen bereits darüber. Sie als direkte Angehö…«

»Und müssen Sie auch in der Bar …?« Sie vergoss tatsächlich eine Träne. »Ich bin noch nicht so lange da, und wenn dann die Polizei auftaucht …«

»Seien Sie versichert, dass wir diskret vorgehen. Wir wollen denen ja nichts erzählen, sondern etwas von ihnen wissen. Seit wann arbeiten Sie denn in der Bar?«

»Knapp drei Monate, und der Job ist gut bezahlt.«

»Was ist eigentlich mit Ihrem eigenen Studium?«

»Was soll damit sein?«

Die Frau regte ihn einfach nur auf. Er hatte große Lust, sie mal so richtig durchzuschütteln. Sie schien das zu ahnen.

»Hab ich ein bisschen runtergefahren. Mach zurzeit nur das Nötigste. Muss mich neu orientieren.«

»Und in welche Richtung wollen Sie sich orientieren?«

Sie betrachtete ihre nicht sehr ansehnlichen Fingernägel, deren Nagellack abgesplittert war. »Mal sehen. Irgendwas, bei dem man Geld verdient.«

Sander schüttelte fassungslos den Kopf. »Was sind denn Ihre Studienfächer?«

»Kommunikationsdesign und Politik.«

»Wissen Sie, woran Oliver gearbeitet hat? Haben Sie sich über Ihre Studiengänge ausgetauscht?«

»Wir haben uns damals an der Uni kennengelernt. Ist Lichtjahre her. Damals haben wir uns gegenseitig geholfen und so. War aber zuletzt nicht mehr so doll. Er hat an seiner Magisterarbeit gesessen.«

»Kennen Sie das Thema?«

Sie hob die Schultern. »Keine Ahnung.«

Sander spürte ein Kribbeln am ganzen Körper. Er musste unbedingt raus hier, ehe er etwas Unüberlegtes tat. Er stand auf. »Gut, dann sagen Sie meinem Kollegen bitte noch die Adresse von Herrn Lehmann, danach können Sie gehen.«

Er ging auf den Flur und trat beherzt gegen den Getränkeautomaten. Danach ging es ihm schon besser.

Friedelinde war nach dem Besuch bei dem pensionierten Schulleiter noch mit ihrem Vater in ihr Elternhaus gefahren. Das Chaos in Johannes’ Wohnzimmer hatte sich zwischenzeitlich nicht selbst beseitigt, aber sie waren beide zu aufgewühlt, um sich mit Friedelindes eher mittelmäßigen Schulaufsätzen zu befassen oder alte Zeitungen zu sortieren. Stattdessen hatten sie die Frage diskutiert, welchem glücklichen Zufall sie es zu verdanken hatten, dass der Text über den Vorfall im KZ nicht auch dem Feuer des Gärtners zum Opfer gefallen war. Schließlich waren sie zu dem Schluss gelangt, dass Arthur Goldschmidt zur Vorbereitung seines Gesprächs die entsprechende Seite aus der Aktentasche genommen und in seine Manteltasche gesteckt hatte, um Hannelore Weber mit dem Text zu konfrontieren. Sie waren sich darüber einig gewesen, dass Hannelore Weber sich davon nicht hätte beeindrucken lassen. Und sie hatten bedauert, dass so viele ungelesene und vermutlich unwiederbringliche Dokumente vernichtet worden waren. Denn nachdem der Urheber nicht mehr lebte, war der Inhalt jetzt für immer verloren. Darüber war es spät geworden. Erst nach dem Abendessen war sie aufgebrochen und gegen dreiundzwanzig Uhr nach einer viertelstündigen Parkplatzsuche nach Hause gekommen.

Schon als sie die Eingangstür aufschloss, spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie reckte sich und hielt die Türglocke fest, ehe sie die Tür leise schloss. Auf Zehenspitzen tappte sie durchs Büro, ohne Licht anzumachen. Sie sah einen Lichtschein aus der Küche, der aber nicht von einer Taschenlampe herrührte. Er blieb gleichmäßig und bewegungslos. Vorsichtig warf sie einen Blick um den Türpfosten herum in die Küche.

»Warum machst du kein Licht, verdammt noch mal!«, schimpfte sie erleichtert.

»Hier drinnen ist Licht.« Von Pablo waren nur der dunkle Schopf oberhalb der Kühlschranktür und seine Finger zu sehen, die die Tür festhielten. »Du hast überhaupt nichts Ordentliches zu essen.«

Friedelinde entkorkte ihre letzte Flasche Rotwein und schenke zwei Gläser voll. »Dann trinken wir eben was.« Sie reichte Pablo ein Glas.

Das letzte Mal, als ihr Nachbar den Schlüssel für Notfälle benutzt und ihre Wohnung geentert hatte, hatte er mächtig Ärger mit Marie gehabt.

»Was ist los?« Friedelinde wollte das Deckenlicht einschalten, weil es stockdunkel war, nachdem Pablo den Kühlschrank geschlossen hatte, aber er hielt sie davon ab.

»Nicht!«

»Was?«

»Kein Licht!«

»Wer ist hinter dir her?«

»Keiner, es ist nur so, dass Marie nicht wissen soll, dass ich hier bin«, murmelte er. Er setzte sich auf die Arbeitsplatte.

»Ah, ich verstehe. Es geht um dieses Event in Schweinchenrosa.«

»Was?«

»Ach nichts.«

»Hat Marie schon mit dir über die Hochzeit gesprochen?«

Friedelinde, die gerade einen Schluck Wein getrunken hatte, verschluckte sich und prustete. »Entschuldige.«

»Alles in Ordnung?« Pablo guckte misstrauisch.

»Ja, ja. Natürlich.« Friedelinde trocknete sich und den Küchentisch ab. »Mit dir auch?«

»Wie?«

»Vergiss es, Pablo. Das Leben wäre leichter, wenn wir Licht hätten.«

»Hm. Marie macht mir Angst.«

»Mir auch. Sie hat alles bis ins kleinste Detail geplant.« Ihr entging nicht Pablos fragender Blick. »Hat sie mit dir nicht über eure Hochzeit gesprochen?« fragte sie ängstlich.

»Na ja. Ich hatte ihr ja den Heiratsantrag gemacht und dann haben sich die Dinge plötzlich verselbstständigt.« Er ruderte mit den Armen. »Überall liegen Listen und Zettel herum und Bücher, ständig ruft jemand an und will die Länge des Brautkleids bestätigen und die Blumen und die Rede und das Menü und die Gäste. Ich wollte doch nur heiraten«, sagte er traurig.

Friedelinde unterdrückte ein Gähnen. Das Leben ging immer weiter. Heute Vormittag hatte sie sich noch mit Tod und Verderben befasst, und jetzt mit dieser Hochzeit. »Kompromiss«, sagte sie. »Entschuldige, ich bin müde. Du kannst auf dem Sofa schlafen, aber du musst mit Marie sprechen. Ich habe schon versucht, ihr klarzumachen, dass das Ganze eine Nummer zu groß wird, aber sie wünscht sich nun mal eine schöne Hochzeit.«

»Ich doch auch. Mit dir und den Jungs, meine Eltern kommen, Maries Eltern kommen. Das ist doch wirklich schon ein großes Fest. Wenn ich nicht aufpasse, lädt sie noch die Queen ein.«

Friedelinde leerte ihr Glas und stellte es in die Spüle. »Zu spät. Sie hat sie schon eingeladen.«

»Witzig. Hast du vielleicht noch was im Tiefkühlfach, was ich mir auftauen kann?«

»Bestimmt, bedien dich. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Friedelinde verbrachte einen Teil des Wochenendes mit Arbeiten und den Rest bei Elvira. Am Montag übernahm sie eine weitere Nachlasssache, in der sie den ganzen Vormittag über unterwegs war, und die ihr den Anblick einer noch nie da gewesenen Wohnform bescherte: In einer karg möblierten Einzimmerwohnung hatte der Verstorbene einen Berg von zwei Metern Durchmesser und einem Meter Höhe aus leeren Wein- und Schnapsflaschen aufgetürmt, der selbst Herrn Heine, der die Wohnung räumen sollte, überraschte. Den Vormittag über erledigte sie alles Notwendige und kehrte am Spätnachmittag ins Büro zurück, wo sie sich mit der Zeitung und einem Hamburger an ihren Schreibtisch setzte.

Sander atmete tief durch, ehe er vor Friedelindes Bürotür trat. Ihm war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, ihr gegenüberzutreten, zugleich freute er sich darauf, sie wiederzusehen. Er riskierte einen vorsichtigen Blick durch die Glastür. Sie saß am Schreibtisch und starrte nachdenklich in die Zeitung.

Es war ein Scheißtag gewesen, genauso wie das Wochenende, und die ganze Zeit über hatte er Sehnsucht nach Maren gehabt. Hatte er gedacht, aber wenn er ehrlich war, hatte er sich auch danach gesehnt, Friedelinde wiederzusehen. Mit ihren Ermittlungen waren sie bisher nicht richtig weitergekommen. Zwei Tage lang hatten sie Broeschkes Freunde vernommen und in seinem Umfeld ermittelt, aber aus den vier Saufnasen, in deren Gesellschaft Broeschke zuletzt gewesen war, war noch nicht einmal herauszukriegen gewesen, wie ihre Verabredung mit Oliver Broeschke überhaupt zustande gekommen war.

Na, Frauen halt