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Alex Blank

Blutbeutel einer Vampirin





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Blutbeutel einer Vampirin

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Eine Woche vor der Vampirismus Epidemie

 

„Ach komm schon Ralf, du weißt, ich könnte keinem Zwerg etwas zuleide tun.“

„Trotzdem darfst du nicht in anderer Leute Garten rumhängen. Erst recht nicht in dem von Olaf.“

„Ich schwör‘s dir, mit deinem Kollegen stimmt was nicht! Als er mich vorgestern mitgenommen hat, hab ich genau gesehen, dass seine Augen rot geworden sind! Ich denk mir sowas nicht aus, glaub mir, so viel Langeweile hab ich jetzt auch wieder nicht.“

„Wieso sollte ich dir glauben, wenn nicht einmal dein Bruder dir glaubt?“

Viktor ließ den Kopf hängen. Inzwischen war er vom Hinterhof auf die Rückbank des Streifenwagens verfrachtet worden und trat den allzu bekannten Weg an.

Sonst, wenn das Gesetzt seine Wege kreuzte, sah man seinen Bruder, den schlechtesten Schmieresteher aller Zeiten, mit wehenden Fahnen davonlaufen. Nur heute war er nicht mitgekommen, weil eine an der er schon lange dran war endlich angebissen hatte, und er Viktor auch wirklich nicht glaubte.

Aber die roten Augen ließen Viktor keine Ruhe. Nach einer schlaflosen Nacht und einem Tag voller anderer Augen, die ihm plötzlich auch verändert vorkamen, hatte er sich bei Einbruch der Dunkelheit, hinter dem Haus von Olaf versteckt. Dort konnte er hinter einem Busch durch die bodenlangen Fenster ins Wohnzimmer spähen. Beobachten, ob er etwas Ungewöhnliches tat. Schweben oder an der Zimmerdecke kleben. Oder auch nur zuerst die Milch in die Schüssel kippen und dann die Cornflakes reingeben. Irgendetwas, egal was, da musste etwas sein. Aber leider war der auserkorene Busch wohl spärlicher bewachsen als gedacht und Ralf erschien, noch bevor er eine Bewegung im Haus erkennen konnte. Dafür waren seine Arme von Büschen zerkratz und ein unschuldiger Stein mit Hundescheiße beschmiert, in die er getreten war.

Regen fing an zu prasseln und Ralf machte die Scheibenwischer an. Sie waren alt, laut und hinterließen Schlieren. Am Rückspiegel baumelte ein gelbes Bäumchen. Viktor beugte sich nach vorn und krallte sich ins Gitter, um besser gehört zu werden. „Probierst du einen neuen Duft aus?“ Ralf legte ihm schon zwei Jahren keine Handschellen mehr an, aber Viktor hatte dieses Mal auch so nicht vor wegzulaufen. Ein Polizist war genau das, was er gerade zum ersten Mal in seinem Leben brauchen könnte. „Also bist du offen für Neues. Das ist gut! Vielleicht hat Olaf eine neue Droge gefunden, irgendwo an einem Tatort und sich gedacht, hey was ist das, probieren schadet nicht, wir müssen doch auf dem neusten Stand bleiben und hat was weggeschnüffelt? Wieso nicht? Er wechselt sein Bäumchen fast jeden Monat. Wer weiß was er noch drauf hat? Oder er hat unabsichtlich in einer Fabrik was eingeatmet. Und das hat ihn total verändert, innerlich, im Gehirn, und die Augen sind das einzige Anzeichen dafür? Wer weiß schon was es für Fortschritte in der Scene gibt, also ich kenne mich ja auf dem Gebiet nicht so gut aus, vielleicht kann er jetzt im Dunkeln sehen oder sowas, hörst du mir überhaupt zu?“ Viktor erzählte ihm noch seine anderen Theorien bis sie auf dem Revier vorfuhren.

 

Er kam zu den anderen in die Ausnüchterungszelle. Da es mitten in der Woche war, waren es nur die üblichen zwei Verdächtigen.

„Tach Holger, was geht Igor“, grüßte Viktor und drehte sich wieder zu Ralf um, der klimpernd abschloss. Die beiden murmelten zur Antwort: „Tach“ und „sadknies“ was halt die Fresse bedeutete und dösten weiter.

Einen letzten Versuch startete Viktor noch und sagte so eindringlich wie möglich: „Ralf, ich meins ernst. Du musst das untersuchen, nimm eine Blutprobe oder sowas, das ist doch nicht normal.“

„Halt endlich den Mund, bevor ich von dir eine Blutprobe nehme.“

Viktor wollte grinsen, doch dann gefror ihm jede Regung im Gesicht, als er für einen Wimpernschlag, dasselbe rote Leuchten wie bei Olaf in Ralfs Augen sah.

 

 

 

Aus kontrollierter Ausbeutung wurde unkontrollierte Ausblutung.

 

In nur einer einzigen Nacht, bei einem koordinierten Schlag, gaben sich Vampire der Öffentlichkeit zu erkennen. Angefangen mit der Wandlung eines Rothschilds, endete jedes hohe Amt in den Händen eines Vampires.

Eine neue Zeitrechnung begann.

Natürlich bemühten sich die Blutsauger ihre Blutbeutel vor der Ausrottung zu bewahren. Jegliche Verhütungs- und Rauschmittel wurden verboten. Krankenhäuser gebührenfrei und so gut besetzt, wie nie zuvor. Jeder Einwohner musste wöchentlich zur Blutspende. Und sie gingen freiwillig, in der Hoffnung es würde Tote verhindern. Aber trotzdem sank die Zahl der Lebenden stetig, und die der Untoten nahm unkontrollierbar zu.

 

 

 

 

1 Berlin

 

 

 

Eines wusste Viktor ganz sicher: Das, was Frauen am meisten in dieser gottverdammten Welt liebten, war Geld.

Während digitale Zahlen ihre Bedeutung für Vampire behielten, änderte sich die Währung der verbliebenden Menschen schlagartig auf Silber. Silber war das Einzige, das so etwas wie Sicherheit nahe kam – die Möglichkeit zu fliehen und sich in eine vermeintlich vampirfreie Stadt einkaufen zu können. Denn Silber verdeckte den Eigengeruch eines Menschen und verbrannte das Virus des Vampirismus.

Doch wenn man sein Leben lang chronisch blank war, mussten Muskeln den Anschein von Sicherheit erwecken. Also rollte sich Viktor in seinen bunt gepunkteten Boxern vom Bett und machte die Liegestütze im Takt des Liedes aus seinem Radiowecker. Dabei stemmte er sich mit den Fingern vom Boden ab, die sich seiner Meinung nach am besten zum Augenauspiksen eigneten. Dann rappelte er sich auf und kritzelte eine Notiz, bevor er sie wieder vergessen würde. `Sowas wie eine Halskrause erfinden wegen empfindlichste Stelle´ Sein Schreibtisch war übersäet mit mehr oder weniger ordentlich sortierten Plänen. Er hatte sich bereits einige Monate nach dem Ausbruch damit abgefunden, dass niemand der Stadt helfen würde. Also würden sie sich selbst helfen müssen.

Dann schlurfte er über das verblassende Holzlaminatmuster des Linoleums den Flur entlang. Vorbei an der geschlossenen Tür seines älteren Bruders, der sich über die noch immer laut laufende Musik beschwerte, und der offenen Tür seiner Eltern, auf deren Bett die schwieligen Füße seines Vaters unter der blumigen Decke hervor ragten. Dieser würde sich erst von der Stelle bewegen, wenn er nüchtern wurde und dann auch nur um diesen unerträglichen Zustand wieder zu ändern.

Quer im vergilbten Rahmen der Badezimmertür steckte eine schwarze Reckstange. Während Viktor dieses Hindernis mit einigen aufwärmenden Zügen überwand, um sich die Zähne putzen zu dürfen, stellte er sich vor, dass er nur auf diesem Wege den Drachen erschlagen und die junge Frau retten konnte. Jungfrauen im heiratsfähigen Alter waren schließlich noch vor den Drachen ausgestorben, woran auch er wohl nicht ganz unschuldig war. Die Vorstellung von fliegenden Feuerspeiern machte ihm außerdem weniger Schokolade in der Buxe als die von Vampiren.

Auf dem Boden lag ein weißer BH mit Kirschen drauf, den er auffischte und in den Wäschekorb warf. Sein Deo musste er sich zwischen unzähligen Pflege- und Schminkartikeln heraussuchen. Die Haare, die ihm vorne bis an die Augenbrauen hingen, kämmte er sich mit etwas Wasser auf den Händen zurück.

Im Wohnzimmer saßen wie jeden Samstagmorgen seine zwei jüngeren Schwestern, aßen Cornflakes und sahen sich Trickfilme an. Auf dem Couchtisch stand auch eine angefangene Dose Sguschonka, die beiden schlürften an einem morgen schon mal eine halbe Dose von dem süßen Zeug weg, während ihm spätestens nach zwei Löffeln übel wurde. Die Fenster waren weit zum Lüften geöffnet.

Er wuschelte beiden kurz durch die Haare, wobei er ihren Schlägen lässig auswich und ging dann zum Kühlschrank. Dort holte er sich zwei Scheiben Mortadella heraus und parkte sie auf einem Stück Brot. Der Generator steckte noch im Gurkenglas mit destilliertem Wasser, also war das heutige Silberwasser noch nicht fertig. Er nahm das Glas von Gestern aus dem Regal und trank den Rest aus. Dann stellte er es zu den anderen benutzten Würstchen- und Erbsengläsern und den Deckel zu den Deckeln.

Ein zögerliches Stimmchen ertönte hinter ihm. „Vik?“ Katharina war die mutigere der beiden Schwestern.

„Nein.“ Er biss in sein Brot, drehte sich zu ihnen um und lehnte sich kauend an die Küchentheke.

„Ach komm schon, bitte!“ Swetlana setzte ihren Hundeblick auf.

Viktor gefiel es ganz und gar nicht, dass die beiden langsam in die Pubertät kamen. Sie waren zweieiige Zwillinge und von den vier Geschwistern war Katja die einzige, die nach Mutter kam. Die anderen drei waren hellhaarig und kantig wie der Vater. Während sie dunkelbraune Locken und weiche Gesichtszüge hatte.

„Nur für eine Stunde, bitte!“, bettelte sie weiter. Ohne einen ihrer Brüder durften sie nicht aus dem Haus, dabei hatten sie sich gerade zum tausendsten Mal in diesen einen Typen vom Nachbarblock verknallt.

„Er wird euch doch eh wieder eine Abfuhr erteilen und dann heult ihr wieder zwei Jahre ...“. Ewigkeiten waren für ihn immer zwei Jahre. Schließlich hatte er bisher nur eines in der neuen Welt überlebt. „Außerdem seid ihr eh viel zu jung, um an Jungs zu denken.“

Sweta ließ sich von Spongebob ablenken, der gerade auf Wikinger traf, doch Katja blieb auf Kurs: „Wir leben genauso lange in dieser kranken Scheiße wie du!“

Sweta murmelte: „Da haben Frauen sich gerade emanzipiert. Nur durch diese Wände ist das nicht gedrungen.“

Viktor fuhr fort: „Wir haben wieder Verhältnisse wie vor hundert Jahren, also habt ihr keine eigene Meinung.“

„Vor hundert Jahren gab es keine Vampire.“

„Das wissen wir nicht, ok? Wieso steht ihr überhaupt so auf den Kung Fu Typen?“

„Nur weil er Chinese ist, heißt es nicht, dass er Kung Fu kann.“ Katja verdrehte die Augen, während Sweta anfing an den Fingern abzuzählen: „Er ist witzig und intelligent“-„So schlau kann er nicht sein, wenn er als einziger Chinese noch in der Stadt ist. Guckt weniger Animes, mehr Spongebob und geht nicht raus.“ Er wischte sich die Mortadella-Finger an der Hose ab und verließ die Wohnung, während die beiden genervt zurück blieben.

Er vertraute Ihnen, meistens taten sie das, was er sagte, aber mit Jungs war das immer eine ganz andere Sache. Er hoffte nur sein Bruder war inzwischen wach um einen Ausbruch an Hormonen zu verhindern. Viktor hatte nach der heutigen Nachtschicht vom Sonnenaufgang bis elf geschlafen. Sein Bruder würde später ein Nachmittagsschläfchen einlegen und die nächste Nacht wache stehen.

Die bewährten Schuhe abgenutzt, der Blick umso geschärfter, trat er aus dem Blockhaus nach draußen. Eigentlich liebte er Abendluft zum Joggen, aber seit Vampire offen auf den Straßen spazieren gingen, musste alles vor Sonnenuntergang erledigt und die Familie in der Wohnung verbarrikadiert werden.

Trotz des Tageslichtes war die Straße vor Viktor fast menschenleer. Nur eine junge Mutter eilte, mit ihrem Kind im Schlepptau, auf der anderen Seite an ihm vorbei. Die vor Angst geweiteten Augen des kleinen Mädchens starrten ihm hinterher und er versuchte weniger bedrohlich auszusehen. Die meisten Wohnungen der Häuserblocks waren verlassen und mit zerschlagenen Fenstern der Witterung ausgesetzt. Er und seine Leute hatten schon lange alles Nützliche gelootet. Hatte es nachts nicht geregnet, bekam man am Morgen all die Kunstwerke der Nachtaktiven zu sehen. Hier, breit gestreute Spritzer mit der Blutlache eines eiligen Frischlings, dort einige einzelne Tropfen eines Älteren, der etwas von seiner Arbeit verstand. Zwar wurden die Straßen noch vor Sonnenaufgang von den Leichen befreit, doch niemand machte sich die Mühe mal feucht drüber zu wischen.

Er war erst zwei Blocks weit gekommen als das Handy in seiner ausgeleierten grauen Jogginghose klingelte.

Ina, zeigte sein Display. Sie vermisst mich schon so früh am Morgen, dachte er und musste schmunzeln. „Hey Süße.“

„Hi, keine Zeit für Begrüßungen, ich muss Val helfen ihre Party vorzubereiten. Also da der Sonnenuntergang heute früher ist, müssen wir schon um fünf anfangen. Ich bin meeega gestresst, du musst mir helfen.“

Er kannte Val nicht einmal, aber da er erst seit zwei Wochen mit Ina zusammen war und sich noch darauf freute sie wieder zu sehen, blieb ihm nichts anderes übrig. „Klar, was soll ich machen...“

Viktor atmete einmal tief durch, machte auf dem Absatz kehrt und erhielt die To-do Liste noch bevor er den Autoschlüssel hervorkramte.

 

Von unzähligen morgendlichen Erwachen traumatisiert, beachtete Viktor nur noch mäßig geschminkte Frauen. Ina tat ihm oft den Gefallen, doch für die Party ihrer Freundin hatte sie sich aufgestylt. Ina war definitiv die hübscheste, mit der er je ausgegangen war. Immer wenn sie sich sahen, fingen ihre Augen an zu leuchten und er versuchte nicht die ganze Zeit über zu grinsen, wie einer der sein Glück nicht fassen konnte. Sie hatte ihre Wimpern schwarz umrandet und die blonden Haare geglättet. Das schwarze Glitzerkleidchen betonte das viele Holz vor der Hütte. Sie ging auf ihn zu und er kam nicht umhin ihre Knöchel in den Heels kritisch zu mustern: „Du siehst aus wie leichte Beute.“

Sie lächelte und kam dicht an sein Ohr heran: „Nur für dich.“

Doch Viktor blieb standhaft und fuchtelte fast schon streng mit dem Zeigefinger in die Richtung ihrer Füße: „Ich verbiete dir sowas zu tragen.“

Ina lachte leise und zupfte an den Schnürsenkeln seines Kapuzenpullis: „Ich verbiete dir sowas zu tragen!“

Jetzt musste er das Grinsen doch raus lassen und erwiderte: „Hey, im Ghetto ist das immer noch der letzte Schrei und wird es wohl auch immer bleiben.“

Die Gardinen des Hauses waren geschlossen um den Schein nächtlicher Stimmung zu wahren, die Musik laut. Immer mehr von Inas und Vals Freunden, drängten hinein und es wurde voll. Chips knackten unter ihren Schuhen und sie vergaßen nicht zu trinken. Tanzten eng umschlungen, schwitzten, hatten Spaß und trotzdem checkte Viktor regelmäßig die Uhrzeit auf seinem Handy. Sein bester Kumpel, der mit ihm in Onkel Wolldas – Vollgas Autowerkstatt arbeitete, hatte ihm Ina vorgestellt. Er wusste nicht warum, aber bei ihr hatte er dieses Gefühl, als könnte sie die Richtige sein...

„Lass uns frische Luft schnappen.“ Ina zog ihn lächelnd, an der Hand hinter sich her und Viktor konnte nicht anders als ihrem kleinen wackelnden Hintern zu folgen.

Draußen auf der Veranda war es frisch und kühl, und es roch nach nassem Laub und Erde. Beide atmeten tief durch, bis ihnen die dunklen Wolken am Himmel auffielen. Das Haus lag abseits der Stadt und wurde von einem großen Garten umgeben. An der Straße stand eine schwarze Limousine. Ihre Lichter waren an, den Motor konnte er zwar nicht hören, aber es sah so aus, als würde sie auf jemanden warten.

Dann hörten sie plötzlich Schreie aus dem Haus. „Scheiße.“ Viktor griff sofort nach hinten und holte seine Waffe aus dem Hosenbund. Er sah von Inas panischem Blick zur Eingangstür zurück und fluchte weiter: „Fuck. Die Sonne ist doch gar nicht unten!“

Ina schlüpfte zitternd aus ihren hohen Schuhen. „Bitte, bring mich nach Hause, du darfst da auf keinen Fall wieder rein!“

Viktor war unentschlossen, dann hörten sie Schüsse. „Ok, sie haben jemanden mit einer Knarre, los.“ Er nahm ihre Hand in seine Linke und sie liefen zu den Stufen, die hinunter auf den Gehweg führten. Schlagartig, mit einem harten Ruck, wurde ihm Inas Hand entrissen, sein Fuß trat daneben, er verlor das Gleichgewicht und stolperte die letzten zwei Stufen zu Boden. Er klammerte die Finger krampfhaft um den Griff seiner Waffe. Eher würde er sich die Hand brechen, als sie loszulassen. Viktor blieb auf dem Rücken liegen und zielte auf das, was ihm als Erstes ins Auge sprang.

Ina wurde an den Haaren festgehalten. Sein Magen verkrampfte sich. Die Vampirin stand so hinter ihr, dass er nur auf die Hälfte ihres Gesichtes zielen konnte. Zu nah an Inas Kopf. Zu gefährlich. Sein Herz raste, aber er ließ die Waffe nicht sinken.

„Abend“, grüßte das Monster grinsend. Ein spitzer Fangzahn blitzte ihr über die Unterlippe.

Die Schreie und verzweifelt beiseitegeschobenen Gardinen, eingeschlagenen Fenster und Blutspritzer an den Scherben, nahm Viktor nur unbewusst wahr. Es musste eine ganze Horde sein, denn noch niemand der Partygäste hatte es aus der Tür ins Freie geschafft.

Viktor ließ Ina nicht aus den Augen, diese wagte es nicht sich zu bewegen. Tränen, schwarz vom Make-up, fingen an über ihre Wangen zu laufen.

„Warum seid ihr draußen…“, überlegte das Monster laut. „Wollte gerade sowieso jemand von euch Schluss machen? Soll ich mit dem Opfer anfangen, damit es aufhört zu weinen?“ Die Vampirin machte ein trauriges Schmollmundgesicht, als würde sie es bedauern.

Sie schien selbst noch jung zu sein, Viktor schätzte ihr Äußeres auf zwanzig. Er versuchte seine Stimme gefährlich und tief klingen zu lassen, aber sie brach und er musste sich zwischen den Sätzen räuspern: „Das sind Holzkugeln. Du fängst mit niemandem von uns an.“

Ihre Lippen verzogen sich zu einem überraschten Lächeln, die Fangzähne verschwanden. „Oh, aber ich würde sie töten, bevor du mich erschießen kannst.“

„Und dann würde ich dich erschießen. Oooder, du nimmst, was du lebend kriegen kannst.“

„Und das wäre?“

„Mich.“ Er hatte nicht gezögert.

Zum ersten Mal musterte sie ihn aufmerksam. Er hätte sich auch aus dem Staub machen können.

Viktor trug lässige Jeans, gelbe Chucks und ein grünes Shirt unter dem offenen, braunen Hoodie.

Er erkannte ihren Blick, denn so checkten ihn die Mädels meistens ab. Er hatte entschieden, dass das Monster vor ihm nicht viel älter war, als es aussah. Also könnte sie noch naiv genug sein.

„Ok, wenn du die Waffe fallen lässt“, sagte sie.

„Versprochen?“, hakte er nach. Wobei er einen Scheiß auf ihr Wort gab, aber er wusste wie das für sie klang.

Und wie erwartet ging das neue Lächeln tiefer, sie fand ihn süß. „Versprochen.“

Viktor stand vorsichtig auf und ließ die Waffe fallen. Endlich lösten sich ihre Krallen aus Inas Haaren und die Vampirin kam hervor. Als er die beiden so nebeneinander sah, fand er, dass sie nicht unterschiedlicher hätten sein können. Ina war süß und gleichzeitig sexy, während er sich bei der anderen nicht wundern würde, wenn sie eine Spraydose aus dem Ausschnitt fischen, auf den Boden rotzen und sich hinhocken würde um etwas so philosophisches wie ein Kätzchen auf den Asphalt zu sprühen. Oder einen pseudo emo Spruch wie: Life sucks.

Langsam kam sie die Stufen zu ihm hinunter geschlendert. Sie trug auch Chucks - schwarze, und verwaschene löchrige Jeans mit einem dünnen schwarzen Pulli - V Ausschnitt. Sie war ihm nicht unähnlich. Vielleicht würde er hier sogar lebend rauskommen, also ließ er seinen Blick nicht von ihr ab und hoffte, Ina würde von alleine auf die Idee kommen wegzulaufen.

Dann stand sie vor ihm und sah zu ihm hoch. Er schluckte und legte seinen Kopf zur Seite in den Nacken, bot ihr seine Halsschlagader an, ohne den Blick abzuwenden. Im Augenwinkel hatte sich Ina noch immer nicht bewegt, er hatte sie für klüger gehalten.

Die Kleine vor ihm presste grinsend die Lippen aufeinander. „Mir gefällt deine Einstellung, aber ich kann das Silber in deinem Blut riechen.“

Fast hätte er erschrocken zu Ina gesehen, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Warum lief sie nicht?! Nun musste Plan C greifen. Er löste den Schalter im Handgelenk, was einen Holzpflock aus dem Ärmel in seine Hand hervorschnellen ließ. Sein Bruder hatte mit ihm Monate daran gearbeitet. Viktor packte die Vampirin an der Schulter und zielte auf ihr Herz. Sie zuckte nur kurz zusammen, trotzdem hielt ihn irgendetwas auf. Schnell atmend, wanderte sein Blick zwischen ihren beiden Augen hin und her, während die Spitze des Pflocks ihre Brust durch den Pulli berührte. Erst konnte er sein Zögern nicht begreifen, doch dann wurde ihm klar, dass er das nicht tun konnte. Nicht, weil sie ihn ansah, als würde es ihr nichts ausmachen, sondern weil sie nicht alleine war und die anderen ihr Blut sofort riechen würden. Ein Vampir bewegte sich doppelt so schnell wie ein durchschnittlicher Mensch. Im Kampf, mit einer guten Waffe hatte ein ausgebildeter Kämpfer eine Chance. Die meisten Vampire waren vorher normalos. Aber es lohnte sich nicht zu versuchen wegzulaufen. Und so wusste er nicht recht, wie es weiter gehen sollte.

Ihre Schulter fühlte sich wie die eines normalen Menschen an. Auch wenn sie sich von Blut ernährte, war sie irgendwann ein normales Mädchen gewesen. Ihre braunen Augen blickten unschuldig zu ihm hoch. Sie tat scheinbar nichts und doch zog sie ihn in ihren Bann. Mit einem Mal hatte er keine Angst mehr vor ihr und verspürte das dringende Bedürfnis seine Arme einfach sinken zu lassen, seine Knie wurden weich. Während etwas anderes an ihm hart wurde. Und je länger er in ihre dunklen Augen sah, desto energischer schien der Drang zu werden ihre Hände auf sich haben zu wollen.

Viktor blinzelte und versuchte bei Verstand zu bleiben: „Ina, verschwinde von hier, sofort.“

Endlich erwachte sie aus ihrer Starre und lief los. Dann fiel ihm die Stille auf. Sein Blick glitt zur Eingangstür und die Hand der Vampirin an seinen Holzpflock. Sie riss ihm diesen aus der Hand und warf ihn beiseite. Die Tür schwang auf und prallte klappernd gegen die Hauswand. Die Vampirin biss die Zähne zusammen und drehte sich um. Zwei Männer kamen heraus. Der Erste war um die vierzig, schlank und hatte schwarzes mittellanges Haar. Der Zweite war um die dreißig, groß, muskulös und blond. Ihre Schuhe hinterließen rote, schmatzende Abdrücke auf dem knarrenden Holzboden. Viktor wusste, auch wenn er es noch schaffen sollte, sie mit dem zweiten Pflock von hinten zu erstechen, gegen die beiden hatte er keine Chance. Die Vampire musterten ihre Freundin und deren Opfer freudlos, ungläubig, seltsames ahnend. Viktor konnte nicht einschätzen, ob die Brünette ihn selbst töten würde, oder gerne teilte.

Deswegen war es dumm sich zu verlieben. Die eigene Familie musste immer der erste und letzte Gedanke sein. Er wusste, Ina konnte nichts dafür und doch, wäre er ohne sie nicht in dieser Lage. Wie sollte seine Familie ohne ihn überleben?

Dann trat die Vampirin einen Schritt zur Seite, wippte wie ein unschuldiges Schulmädchen, ließ die Arme nutzlos baumeln und wies auf Viktor. „Ihr sagt doch immer, ich bräuchte einen eigenen Blutbeutel – ich nehme den da.“