Gerd Rudolf

Wie Menschen sind


Eine Anthropologie
aus psychotherapeutischer Sicht

Prof. Dr. med. Gerd Rudolf

E-Mail: gerd.rudolf@med.uni-heidelberg.de

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Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für T. und H.,
die mir gezeigt haben, wie Menschen sind


Vorwort

Aussagen über den Menschen finden sich in allen psychologischen, philosophischen, kulturwissenschaftlichen und implizit in medizinischen Abhandlungen. Auch alle Romane, Novellen, Theaterstücke und Filme beschreiben Menschen in für sie typischen Situationen. Lesefreudige finden in ihrem Bücherschrank Titel wie „Beschreibung des Menschen“ (Blumenberg), „Modelle vom Menschen“ (Hampden-Turner), „Dialog über den Menschen“ (Bitter), „Annahmen über den Menschen“ (Fahrenberg), „Wer erklärt den Menschen?“ (Könnecker) und andere mehr. Wieso kann die Frage nach dem Menschen nicht abschließend beantwortet werden? Weil offenbar jede Antwort neue Fragen entstehen lässt; weil jede neue Erfahrung in anderen Lebensabschnitten neue Aspekte des Themas in den Vordergrund rückt; weil das Jetzt der gesellschaftlichen Entwicklung, des angehäuften Wissens, der technologischen Möglichkeiten immer wieder „neue Menschen“ hervorbringt, die sich von dem alten Adam und der früheren Eva merklich unterscheiden und zugleich „das Ende des Menschen“ (Fukuyama) befürchten lässt.

Als Psychotherapeut, der über knapp fünf Jahrzehnte hinweg Menschen zugehört hat, habe ich zunehmend gelernt, das Gehörte erst einmal aufzubewahren und wirken zu lassen, ohne es gleich zu verstehen, erklären und bewerten zu müssen. Aus solchen Eindrücken werden im Laufe der Zeit Zusammenhänge deutlich und die Konturen und Entwicklungslinien eines menschlichen Lebens treten hervor. Vor diesem Erfahrungshintergrund habe ich ein Berufsleben hindurch versucht, Krankheitsbilder zu konzeptualisieren, diagnostische Verfahren zu verbessern, Therapievorgänge zu beforschen und diese Themen in Büchern so allgemeinverständlich wie möglich und so wissenschaftlich wie nötig darzustellen.

In dem vorliegenden Buch sollen möglichst viele Bilder von Menschen betrachtet werden, wobei psychotherapeutische Erfahrungen einfließen, aber nicht das eigentliche Thema sind. Ich möchte versuchen, ein allgemein menschliches oder auch therapeutisches Verstehen mit spezifisch humanwissenschaftlichen Erklärungen zu verknüpfen. Damit wird ein Thema aufgegriffen, das in meiner Abschiedsvorlesung (Rudolf 2004) unter dem Titel „Modelle vom Menschen“ angesprochen wurde. Dabei ging es um die Frage, auf welche Menschenbildmodelle sich die moderne Medizin bezieht und welchen Beitrag die Psychosomatik dazu leisten kann. Das Thema wurde später (Rudolf 2010) unter dem Begriff „Menschenbildannahmen“ aufgegriffen und ansatzweise systematisiert.

Ziel der Menschenbildbetrachtung ist kein Expertenwissen, sondern ein selbstreflexives Wissen, das zum Selbstverständnis ebenso wie zum Verstehen des anderen beiträgt. Psychotherapeuten kann dies zum Aufbau der „therapeutischen Haltung“ verhelfen, die für das Gelingen einer Behandlung mindestens so wichtig ist, wie die therapeutischen Techniken.

Ein hochgestecktes Ziel könnte es sein, Stücke einer Anthropologie zusammenzutragen, die auch für Psychotherapeuten brauchbar ist. Der Hinweis auf „das Versuchen“ legt es nahe, den Text als Essay zu verstehen und nicht als methodisch-wissenschaftliche Abhandlung. Dazu gehört auch, dass man sich, wie Enzensberger sagt, „der Gedanken der anderen bedienen muss, weil die eigenen sich sonst im Kreise drehen“. Die Gedanken der anderen sind häufig in Büchern niedergelegt, in glücklichen Momenten können sie auch in Gesprächen auftauchen. Alles Wichtige zu würdigen, was schriftlich zum Thema vorliegt, ist unmöglich. Ich beziehe mich auf solche Bücher, die mich auf jene geheimnisvolle Art, wie Bücher das tun, als Leser gesucht und mir geholfen haben, festgefahrene Gedanken in Gang zu bringen, einen Überblick zu versuchen und im Schlusskapitel zu einem ernst gemeinten Fazit zu kommen, das hoffentlich nicht zu pathetisch klingt.

Noch schwerer zu würdigen sind jene, die nicht mit ihren Schriften, sondern mit persönlichen Äußerungen Einfluss genommen und Unterstützung gegeben haben, so danke ich Freunden, Kolleginnen und Kollegen, Angehörigen und Patienten. Sie bilden eine lange Reihe der mir wichtigen Menschen, die bei meinen erstaunlichen kleinen Enkeln beginnt und im Vergangenen bis zu den ebenso bewunderten Vorsokratikern fortgeführt werden kann. Eine Ausnahme der persönlichen Nennung sei erlaubt, sie betrifft H. Horn, mit der ich seit vielen Jahren alles Wichtige gemeinsam bedenken darf. G. Rehwinkel hat wie schon in früheren Projekten beim Schreiben immer neuer Entwürfe Geduld bewahrt und Kompetenz bewiesen, wofür ich auch ihr herzlich danke. Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Bertram und Frau Becker vom Schattauer Verlag, die nach mehreren Fachbüchern nun auch diese Schrift freundlich aufgenommen und kompetent gestaltet haben.

Heidelberg, im Februar 2015

Gerd Rudolf

Inhalt

1 Einleitung: Bilder vom Menschen

2 Der animalische Mensch

2.1 Leiblichkeit

2.2 Der triebhafte Mensch

2.3 Oralität

2.4 Analität

2.5 Der aggressive Mensch

2.6 Der sexuelle Mensch

2.7 Die Einstellung zur Sexualität in der Gegenwart

2.8 Der biologische Hintergrund

2.9 Sexuelle Identitäten

3 Der emotionale Mensch

3.1 Emotionale Verständigung

3.2 Frühe Bindung

3.3 Liebe und Begehren

3.4 Konflikthafte Liebe

3.5 Dyadische Liebe

4 Der denkende Mensch

4.1 Sprechen und Denken

4.2 Erklärendes, sinngebendes und vorstellendes Denken

4.3 Schwierigkeiten und Begrenzungen des Denkens

5 Das selbstreflexive Denken

5.1 Die Fähigkeit zur Selbstreflexion

5.2 Die Evolution des selbstreflexiven Subjekts

5.3 Die Entwicklung des Psychischen bei Kindern und in der Phylogenese

5.4 Das Subjekt in der Sorge um sich selbst

5.5 Die Steuerung des Selbst in verschiedenen Kulturen

6 Der religiöse Mensch

6.1 Die Suche nach dem Sinn

6.2 Die Entwicklung religiöser Überzeugungen

6.3 Freuds Verständnis der Religion

6.4 Das Mythische

6.5 Religiöse Einstellungen

6.6 Religiosität und Spiritualität

6.7 Das Angebot der Religionen

7 Der moralische Mensch

7.1 Prinzipien des Handelns

7.2 Tugenden

7.3 Das Böse

7.4 Zur Entwicklungspsychologie der Moral

8 Der gesellschaftlich geprägte Mensch

8.1 Die soziodynamische Betrachtungsweise

8.2 Menschenbilder verändern sich

8.3 Entwicklungslinien der jüngeren Vergangenheit

8.4 Das Subjekt in einer gemachten Welt

8.5 Die wissenschaftlich optimierte Welt

8.6 Die private und berufliche Welt

8.7 Kindheit und Erziehung

8.8 Die gesundheitliche Situation des „neuen Menschen“

8.9 Zeitlichkeit, Krankheit und Tod

8.10 Der Blick auf das gesellschaftliche Ganze

9 Der kultivierte Mensch

9.1 Bereiche des Kulturellen

9.2 Bedeutung der Kunst

9.3 Innere Bilder, Sprache und künstlerische Gestaltung

9.4 Zur Psychologie des Schriftstellers

9.5 Die Beziehungserfahrungen des Autors und sein Menschenbild

9.6 Leo Tolstoi: Frühe Verluste und lebenslange Sehnsüchte

9.7 Thomas Bernhard: Biografische Katastrophen und desolate Beziehungen

10 Menschenbilder in der Psychotherapie

10.1 Der gesellschaftliche Rahmen der Psychotherapie

10.2 Exkurs: Die Seele oder die Psyche

10.3 Psychotherapie als Sinnkonstruktion

10.4 Der Zugang zum Menschen in den therapeutischen „Schulen“

10.5 Psychotherapie und Religiosität

10.6 Die Situation der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie (TP)

10.7 Humanistisches Menschenbild: Möglichkeiten und Schwierigkeiten

10.8 Auf dem Weg zur Wissenschaftlichkeit

11 Anthropologische Erweiterungen

11.1 Bisherige anthropologische Ansätze

11.2 Erweiterungen der Psychodynamik durch das Verständnis der „Grenzsituation“

11.3 Therapeutische Zielsetzung

12 Viele Menschenbilder – eine Anthropologie

12.1 Das biologisch Vorgegebene

12.2 Das zu Entwickelnde

12.3 Kulturelle Möglichkeiten

12.4 Das mitmenschlich Bezogene und soziokulturell Verankerte

12.5 Fazit: Freiheit und Begrenzung

Literatur

Quellenverzeichnis

001.tif

1 Einleitung: Bilder vom Menschen

„Wir tragen Bilder vom Menschen in uns und wissen von Bildern, die in der Geschichte gegolten und geführt haben.

Der Kampf der Menschenbilder geht in uns um uns selbst. Wir haben Abneigung gegen und Neigung zu Bildern, die uns in einem Menschen begegnen. An ihnen orientieren wir uns wie an Vorbildern und Gegenbildern.“

K. Jaspers (1974)

Menschen haben ein großes Interesse an Bildern, auf denen Menschen zu sehen sind. Jeder Besuch im Museum bestätigt dieses Interesse. Seit es eine darstellende Kunst gibt, das heißt seit einigen Tausend Jahren, spielen Menschendarstellungen eine wichtige Rolle. Sie faszinieren ihre Beschauer, die merkwürdig versonnen vor steinzeitlichen Idolen, vor mittelalterlichen Gemälden oder vor Picassos Frauenportraits stehen. Jedes Bild erscheint wie eine eingefrorene Handlung, eine Geschichte, die im Kopf des Betrachters vollendet werden muss. Man denkt dabei auch an den, der die Geschichte erzählt hat, indem er das Bild malte, denn Bilder sind zugleich auch Portraits ihrer Schöpfer, wie Gauguin sagt. Das von uns betrachtete Portrait verknüpft sich für uns mit dem des Malers. Darüber hinaus sehen wir darin Züge von uns vertrauten Menschen, wir suchen und finden Ähnlichkeiten mit denen, die wir gut zu kennen glauben. Auf älteren Bildern erscheinen die Menschen manchmal fremd, rollenhaft, verkleidet, sodass der Beschauer sich fragt, welche wirklichen Menschen sich dahinter verbergen. Auch das kennzeichnet das Bild von Menschen, dass sie als etwas erscheinen, etwas darstellen oder vorspielen können und doch jemand anderes sind. Generell sehen wir, wenn wir jede Art von Bildern betrachten, nicht nur eine konkret abgebildete Person, sondern etwas von der menschlichen Natur an sich, vom menschlichen Sein, wie der Maler Lucian Freud sagt (Gayford 2011). Schließlich sehen wir stets auch etwas, das uns gefällt, gleichgültig lässt oder abstößt, das heißt, wir begegnen unseren Wertungen.

Auch wenn reale Menschen einander begegnen, stellt sich die Frage: Wer ist dieser andere, der mir gegenübertritt? Die spontane Einschätzung erfolgt innerhalb von Millisekunden. „Ist der andere mir vertraut oder fremd, attraktiv oder abstoßend, wohlwollend oder bedrohlich?“ Die Antwort entscheidet über grundsätzliche Reaktionen wie erfreute Annäherung oder vorsichtige Distanzierung, neugieriges Interesse oder Mobilisierung von defensiver Aggression. Dort, wo es um den ersten Eindruck geht, wird das animalische Erbe wirksam. Alle Lebewesen müssen aus Überlebensgründen sehr rasch entscheiden, ob bei Begegnungen Annäherung, Kampf oder Flucht angemessen ist. Dabei stützen sie sich auf lebensgeschichtliche Erfahrungen, aber auch auf angeborene biologische Reaktionsmuster. Die Faszination des Gesichts ist dem Menschen biologisch eingeprägt. Bereits das Neugeborene schaut gespannt auf das mimische Dreieck, das aus Augen Nase und Mund gebildet wird. Eric Kandel (2012) verweist auf neurobiologische Untersuchungen, die nachweisen, dass bestimmte Hirnareale auf die Wahrnehmung dieser, für den emotionalen Ausdruck eines Menschen so bedeutsamen Bereich spezialisiert sind und dass diese bereits früh im Leben aktiviert werden.

Ein Weiteres kommt hinzu. Wer den anderen ansieht und versucht, sich ein Bild von ihm zu machen, wird zugleich auch selbst gesehen. Er kann sich fragen, wer bin ich in den Augen des anderen, welches Bild gebe ich ab? Das fragen sich womöglich die Jugendlichen, die sich in der U-Bahn pausenlos selbst und gegenseitig fotografieren und die Bilder einander zumailen. Das wirkt wie Selbstverliebtheit, dient aber wohl eher der Selbstvergewisserung: „Wer bin ich in meiner äußeren Erscheinung und meinem inneren Wesen? Sehen die anderen mich, wie ich gerne wäre oder wie ich wirklich bin?“. Wer auf den anderen schaut, sieht immer auch auf sich selbst. Das Sehen und Gesehenwerden spielen ineinander. Die Wahrnehmung des Menschen durch Menschen ist zwangsläufig ein intersubjektives Geschehen. Für den Philosophen Hans Blumenberg (2006) ist es ein Wesensmerkmal des Menschen, sichtbar zu sein. Wer sich dessen bewusst wird, dass er gesehen werden kann, gelangt zwangsläufig zur Selbstsicht, zur Reflexion. Sich ein Bild zu machen von Menschen und ein Bild von sich selbst, gehört zu den humanspezifischen Eigenschaften. Im Versuch, den anderen zu verstehen, macht man sich zwangsläufig ein Bild von ihm. So ist die Welt zu allen Zeiten voll von Menschenbildern, seien sie konkret, gezeichnet, gemalt oder fotografiert oder seien es im übertragenen Sinne Vorstellungsbilder in den Köpfen der Menschen.

Der Begriff „Menschenbild“ wird meist im übertragenen Sinne verwendet. Er meint nicht nur einen Eindruck von dem Gegenüber, das mir real begegnet, dessen Bild ich anschaue oder dessen Anamnese ich erhoben habe. Es schließt auch all die vielfältigen Vorannahmen ein, die man sich bis dahin vom Wesen des Menschen gemacht hat: So sind Menschen beschaffen; das sind ihre Eigenschaften und Fähigkeiten; das sind ihre typischen Erfahrungen in bestimmten Lebensabschnitten; so stellen sich ihre häufigen Schwierigkeiten dar; dies sind ihre Umgangsweisen mit Lebensproblemen.

Menschenbilder sind in hohem Maße Ausdruck von Grundüberzeugungen und damit weltanschaulich begründet. Der Terminus Weltanschauung, so wie er in Kants „Kritik der Urteilskraft“ erwähnt ist, bezeichnet das, was der Einzelne durch seine Sinne von der Welt zu fassen vermag und wie er diese Eindrücke für sich persönlich sinnhaft zusammenfasst. Mittlerweile ist der Begriff sehr viel weiter gefasst und umgreift letztlich alle ethischen, politischen, religiösen Leitauffassungen vom Leben und vom Menschen und von der Welt als einem Sinnganzen, so heißt es im Brockhaus Philosophie (2009). Insofern kommt in der Weltanschauung auch das jeweils eigene Wertesystem zum Ausdruck. Sich weltanschaulich zu verorten, entspricht einem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung.

Am leichtesten gelingt uns ein Zugang zum Bild des anderen für solche Menschen und Lebensbedingungen, die wir aus eigener unmittelbarer Erfahrung kennen. Wenn es sich dagegen um Menschen aus fremden Regionen oder fernen Zeiten handelt, können wir eine sichere Vorstellung nur von einigen, grundsätzlichen Aspekten des Menschen gewinnen: Menschen wachsen heran, sie sammeln Erfahrungen, sind emotional auf andere bezogen und von Leidenschaften bewegt, sie können lieben und hassen, schöpferisch tätig sein, sie müssen sich mit ihrem Tod abfinden und versuchen, dem Geschehen ihres Lebens einen Sinn zu geben. Was sich darüber hinaus in Menschen unter fremdartigen Lebensbedingungen ereignet, dort wo sie in uns unbekannten klimatischen, politischen, religiösen Bedingungen existieren, bleibt uns notwendigerweise fremd. So gehört es zu unseren Menschenbildern, dass wir sie zum Teil aus der allgemeinen Vertrautheit mit Menschen ableiten, zum anderen Teil aber trotz weitgehender Unvertrautheit mit ihrer Lebenswirklichkeit nach unseren Vorstellungen konstruieren. Wir haben nur eine vage Vorstellung davon, was es bedeutet, in einer asiatischen Großstadt oder als Indianer im Amazonasgebiet zu leben. Das Gleiche gilt für zurückliegende Epochen. Es ist schon schwierig, sich in das Leben unserer Großeltern vor dem Ersten Weltkrieg hineinzudenken, obgleich wir davon persönliche Berichte haben und Darstellungen der Literatur und Kunst kennen. Was es aber bedeutet, in der Renaissance zu leben oder in einem mittelalterlichen Kloster oder als römischer Bürger, entzieht sich unserer Vorstellung weitgehend, da wir das Lebensgefühl jener Zeit, die Weltanschauung, das Körpererleben, die Selbstvorstellungen, die Zukunftserwartungen nicht aus unmittelbarem Erleben kennen. Darüber hinaus können wir beobachten, dass z. B. die Vorstellungen, die man sich im 19. Jahrhundert vom Mittelalter oder von der Antike gemacht hatte, stark von Wunschvorstellungen der Epoche mitbestimmt waren und aus heutiger Sicht fragwürdig erscheinen. Das heißt, dass unsere Bilder von fernen, fremden Menschen notwendigerweise aus unserem eigenen Erleben heraus konstruiert sind. Wir sollten also unsere Erkenntnismöglichkeit nicht überschätzen.

Ferner muss man annehmen, dass Menschenbilder stark durch die Lebenserfahrung des Einzelnen, z. B. durch seine soziale und speziell berufliche Situation gefärbt sind. Vermutlich entwerfen Menschen, die in der Wirtschaft tätig sind, andere Menschenbilder als solche, die in sozialen Bereichen arbeiten, Studenten haben vermutlich andere Vorstellungen als Langzeitarbeitslose, wahrscheinlich auch Frauen tendenziell andere als Männer.

Ein einzelner Autor hat keine andere Möglichkeit, als die Dinge aus seiner Perspektive und Erfahrung zu untersuchen. Es ist die Sichtweise eines älter Gewordenen, der von jungen Jahren bis heute in einem sozialen Feld praktisch und wissenschaftlich tätig war, als Psychiater, Psychosomatiker, Psychotherapeut. Das engt den Blick ein auf Menschen, die als Patienten Hilfe suchen und eine therapeutische Unterstützung benötigen. Gleichwohl ist das kein uninteressanter Ausschnitt aus der Gesellschaft, denn deren aktuelle Spannungen und Widersprüche sowie die in der zurückliegenden Geschichte erlittenen Verletzungen kommen in den psychischen Störungen der Patienten besonders deutlich zum Ausdruck. Von da ausgehend stellt sich den im psychosozialen Bereich Tätigen stets auch die Frage, welches die wünschenswerte Richtung einer therapeutischen Entwicklung sein könnte.

Psychotherapeuten brauchen Menschenbilder als Landkarten des Psychischen, um auf ihrem Weg durch die innere Welt ihrer Patienten eine Orientierung zu haben. Natürlich besitzen und verwenden sie bereits solche Karten, sie werden ihnen in ihrer Ausbildung oder Fortbildung zur Verfügung gestellt. Diese Karten sind mehr als nur Orientierungshilfen, meist handelt es sich um umfangreiche Weltmodelle, entnommen aus den gesammelten Werken der jeweiligen Gründerpersönlichkeiten, dadurch ehrfurchtgebietend und glaubwürdig und in besonderer Weise haltgebend für den, der sie gläubig akzeptiert. Wenn man die verschiedenen psychotherapeutischen Landkarten des Menschlichen vergleicht, werden freilich rasch auch ihre Unterschiede erkennbar. Es liegen verschiedene Überzeugungen von dem zugrunde, was den Menschen ausmacht, das heißt, sie basieren auf unterschiedlichen Anschauungen der Welt und des Menschen.

Wir werden uns zunächst darauf beschränken, Bilder vom Menschen zu sammeln und anzuschauen und uns später vergleichend mit diesen Entwürfen beschäftigen. Wir tun das in dem Bewusstsein, dass die Bilder zunächst flächig zweidimensional, also vereinfacht erscheinen. Aber, wie der Philosoph Tugendhat (2010) sagt, verweisen sie zugleich auf eine darunterliegende Tiefe. Diese Tiefendimension der Bilder ist es, die uns zunehmend beschäftigen wird.

Wenn man solche Bilder betrachtet, wird man spontan einen bestimmten „Sinn“ erschließen. Gabriel (2013) spricht von Sinnfeldern, er hält das Erschließen eines Sinns für eine menschentypische, gleichsam ontologische Kategorie, wobei der Vorgang des Erschließens prinzipiell nie abgeschlossen ist. Nach der Wahrnehmung der Bilder und der Annahme ihrer Sinnhaftigkeit wird es erforderlich sein, das anzuschließen, was Tugendhat (2007) das „für Menschen so charakteristische Phänomen der Überlegung“ nennt. Es beinhaltet die Fähigkeit, nach Gründen (rationes) zu fragen und damit Vernunft und Rationalität zur Erklärung des Geschehens einzusetzen. Menschen verfolgen damit das Ziel, sich das Wesen eines Phänomens denkend zu vergegenständlichen. Das heißt zugleich, es in der Sprache der Worte zu fassen. Es wird die anmutungshafte vieldeutige Sprache der Bilder in die eindeutigere Begriffssprache übertragen. Auf dieser Grundlage können Wissenschaftler jeglicher Disziplin die sprachlich definierten Phänomene gewissermaßen gegen den Strich der sinnhaften Anmutung bürsten und sie unter Verwendung ihrer speziellen Methodik untersuchen. Als Ergebnis solcher Bemühungen entwickeln Wissenschaftlicher unter Umständen neue, abstraktere Bilder, komplexe Modelle von Funktionen, Strukturen, Entwicklungslinien, Systemen, Dynamiken etc. Damit wäre der Schritt getan von den unmittelbar einleuchtenden Bildern menschlichen Erlebens (Bilder, die eine naive Sinninterpretation enthalten) zu deren rationalen Hintergründen, für die der Wissenschaftler Erklärungsmodelle entwickelt.

Auf einer nochmals darunter liegenden Ebene lassen sich die rational bedenkbaren Bereiche zu größeren Komplexen verweben, die in Begriffen wie „das Wesen des Menschen“, „das menschliche Dasein“, „die Natur des Menschen“, „die menschliche Existenz“ gefasst und nun philosophisch reflektiert werden können. Damit wäre im Sinne Tugendhats die Tiefendimension der Bilder angesprochen.

Wir würden unser Verständnis des Menschen sehr einengen, wenn wir auf einen dieser drei Aspekte verzichten würden: Die oberflächliche, Sinn zuschreibende Wahrnehmung vermittelt uns vorläufige evidente Vorstellungen und Einstellungen. Sie erscheinen uns gerade deshalb so evident, weil wir sie selbst aus unserer Anschauung der Welt heraus gestaltet haben. Diese vorgestellten Bilder sind immer auch Teil unserer Weltvorstellung und Wertvorstellung.

Die Ebene der rationalen Erklärungen, die nach den Regeln unterschiedlicher Humanwissenschaften erfolgen, ist in der Lage, Gründe, Ursprünge, regelhafte Zusammenhänge und Erklärungsmodelle zu entwickeln. Die folgende philosophische Ebene ist keineswegs so nebulös, wie sie manchen scheint, auch sie bietet sehr konkrete Verständnishilfen an, wie später gezeigt werden soll. Es genügt jedoch nicht, sich die Welt vordergründig evident zu machen und sie rational zu erklären und philosophisch zu reflektieren, es ist abschließend auch notwendig, sich dazu wertend einzustellen, das heißt, moralische Konsequenzen zu ziehen.

Ein Philosoph, der mein Verständnis des Themas besonders befördert hat, ist Karl Jaspers. Vielleicht habe ich ihn aus lokalpatriotischen Gründen gewählt, weil er, 70 Jahre vor meiner Tätigkeit in der Heidelberger Universitätsklinik, ein Haus weiter in der Psychiatrie gearbeitet hat. Er war ursprünglich kein studierter Philosoph, sondern Mediziner und Psychiater, dann einige Jahre Lehrstuhlinhaber für Psychologie, ehe er in die Philosophie berufen wurde. Vielleicht ist dieser Werdegang eine Erklärung dafür, dass seine philosophischen Schriften immer auch die psychologische Seite des Menschen einbeziehen und daher die Verbindung dieser beiden Disziplinen verdeutlichen. Darüber hinaus ist seine persönliche Haltung in den wechselvollen Zeiten der Naziherrschaft, der Nachkriegszeit und der jungen Bundesrepublik außerordentlich eindrucksvoll in ihrer Bereitschaft, aktuelle Themen nicht nur wissenschaftlich und philosophisch zu bearbeiten, sondern in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation auch persönliche und politische Verantwortung zu übernehmen. Sein Philosophieren erfolgt nicht in einer kontemplativen Weltferne, es ist immer auch konkret psychologisch auf die Situation des Menschen bezogen und gelangt letztlich zu ethischen Einstellungen und politischen Handlungskonsequenzen.

Abschließend sei kurz skizziert, welche thematische Ordnung sich beim Sammeln der Menschenbilder ergeben hat. Wir beginnen auf der biologisch-animalischen Seite mit dem einzelnen Menschen und seinen Motiven, Bedürfnissen und Triebimpulsen (Kap. 2). Hier genügt zunächst eine Ein-Personen-Psychologie. Mit der Einführung der Emotionalität (Kap. 3) treten kommunikative Aspekte hinzu und damit die wechselseitigen interpersonellen Verflechtungen; sie erfordern zu ihrer Beschreibung eine Zwei-Personen-Psychologie. Später (in Kap. 8) wird betont werden, dass Menschen nicht nur in Dyaden leben, sondern in sozialen Gemeinschaften. Das erfordert, über das Bisherige hinaus, eine sozialpsychologische Betrachtung der Wechselbeziehungen zwischen dem Einzelnen und dem sozialen Ganzen, wobei auch hier emotionale Prozesse eine zentrale Rolle spielen. Zum Thema des Einzelnen und seines Bezugs zur äußeren Welt gehört auch das erklärende Denken (Kap. 4). Zugleich eröffnet sich an dieser Stelle der Zugang zu einer ganz andersgearteten weiteren Dimension, sie betrifft nicht mehr die äußere, sondern die innere Welt, die durch das selbstreflexive Denken zugänglich wird (Kap. 5). Diesem Punkt wird besondere Aufmerksamkeit zuteil, sowohl was seine Entwicklung in der jüngeren Menschheitsgeschichte betrifft, als auch was die Konsequenzen für das nunmehr selbstreflexive menschliche Subjekt angeht. Es entwickelt Sinnstrukturen philosophischer oder religiöser Art (Kap. 6) und moralische Normen des Handelns (Kap. 7). Es bewältigt die Spannung zwischen seinen triebhaften, emotionalen und beziehungsgerichteten Bedürfnissen einerseits und seinen wertbesetzten Sinnkonstruktionen andererseits, indem es Kultur schafft (Kap. 9). An dieser Stelle werden die Beispiele von Schriftstellern betrachtet und dabei untersucht, wie das Menschenbild in ihrer künstlerischen Produktion mit der eigenen grundlegenden menschlichen Erfahrung zusammenhängt. Da vieles von dem bisher Diskutierten aus psychotherapeutischen Erfahrungen stammt, wird in Kapitel 10 das Thema des Menschenbildes in der Psychotherapie in den Mittelpunkt gestellt. In Kapitel 11 folgt der Versuch, psychotherapeutische und philosophisch-anthropologische Konzepte einander anzunähern. Ein Vorschlag zum möglichen Verständnis heutiger Menschen beschließt die Sammlung in Kapitel 12.

002.tif

2 Der animalische Mensch

„Nun, dann möchte ich den Einfallsreichtum des Schöpfers oder wahlweise der Evolution loben; denn der Idee, gleich mehrere Geschlechter zu erfinden, verdanken wir doch erstaunliche An- und Aufregungen.“

H. M. Enzensberger (2013)

Wir beginnen die Betrachtung der Menschenbildaspekte auf der biologischen Seite. Sie ist dem Menschen, ähnlich wie allen anderen Lebewesen faktisch vorgegeben. Die körperliche und neurobiologische Grundausstattung garantiert dem Einzelnen zahllose Fertigkeiten, das Erleben von Lebendigkeit und Funktionslust, aber auch die Erfahrung von Entbehrung und Schmerz. Darüber hinaus sind Menschen als soziale und kulturelle Wesen eingebunden in Normen, Regeln, Gebote, Verbote und Idealvorstellungen, die ihr biologisches Wesen in kulturelle Formen gießen. Die reflexive Fähigkeit des Menschen lässt ihn alles das bewusst erleben. So ist die biologische „Natur“ des Menschen kaum je allein zu fassen, sie wird immer erfahren im Kontext selbstreflexiven und soziokulturellen Bewertens.

Damit öffnet sich für den Menschen eine Welt der unüberbrückbaren Widersprüche und unlösbaren Konflikte. Es entsteht eine Spannung zwischen dem vitalen Verlagen nach körpernaher Lebensfreude auf der einen Seite und unvermeidbaren Erfahrungen von Enttäuschung, Leid und schwierigen Lebenssituationen. In einem späteren Abschnitt (Kap. 8) wird zu diskutieren sein, wie diese Thematik von den gegenwärtigen Menschen unserer Soziokultur erlebt und verarbeitet wird.

In vielen Kulturen herrschte die Überzeugung, dass der Mensch von den Göttern abstamme oder zumindest von diesen erschaffen wurde. Auch in der jüdisch-christlichen Kultur, die unsere abendländische Welt nachhaltig geprägt hat, galt der Mensch als von Gott nach seinem Ebenbild geschaffen und damit als die Krone seiner Schöpfung. Da diese Schöpfungsmythen letztlich von Menschen erzählt und aufgeschrieben wurden, darf die Einschätzung, der Mensch sei Gott ähnlich, als eine Selbstidealisierung oder Wunschvorstellung verstanden werden. Wenn die Erschaffung des Menschen nicht, wie die Kreationisten glauben, vor wenigen tausend Jahren stattgefunden hat, sodass der Mensch sich seither kaum verändert hat, sondern wenn er sich im Laufe von Millionen Jahren allmählich aus der verwandten Tierwelt heraus entwickelte, dann fällt zunächst weniger seine göttliche als seine animalische Natur ins Auge.

Menschen sind animalisch im Blick auf ihre evolutionäre Entwicklung aus der Gattungsgruppe der Prähominiden und Hominiden heraus, die mit den tierischen Primaten große genetische Übereinstimmung aufweisen. Auf das Ganze der Entwicklung des Lebendigen gesehen, sind Menschen relativ neu auf der Welt und sie teilen ein biologisches Erbe mit vielen Tiergattungen, aus denen heraus sich im Laufe von einigen Millionen Jahren etwa 20 hominide Gattungen entwickelt haben, die außer der zuletzt vor 200.000 Jahren erschienenen Gattung Homo sapiens alle ausgestorben sind.

Was heißt das für das Menschenbild? Es bedeutet, dass der Mensch im Grunde eine kognitiv und motorisch weiterentwickelte Tierspezies ist, sodass ein populärer Buchtitel, wie „Der Affe in uns“ durchaus ergänzt werden könnte („das Pferd, der Vogel, das Reptil, die Fruchtfliege in uns“). Das biologische System Mensch mit seinen Stoffwechselvorgängen, neuronalen Prozessen, seiner Motorik, seinen Sinnesorganen, seiner Fortpflanzung weist weitgehende Übereinstimmungen mit vielen Tierarten auf. Deshalb wird auch ein Großteil der medizinischen Forschung an Tieren vollzogen. Eine Poliklinik für Haustiere ist nicht viel anders eingerichtet als eine für Menschen; die benutzten Geräte und verabreichten Medikamente sind weitgehend vergleichbar. Wer an der Geburt eines Säugetiers teilnimmt, registriert die Parallele zu einer menschlichen Geburt. Es handelt sich um ein sehr animalisch anmutendes Geschehen, voll von körperlicher Anstrengung, Schreien, Blutungen, Abgang von Kot und Urin, aber gerade dadurch auch voll von wilder Lebendigkeit und emotionaler Bewegung. Ebenso ist das Ende des Lebens, der Tod eines Verunglückten oder schwer erkrankten oder alten Menschen häufig von diesem animalischen Ringen geprägt. Die Existenz des Menschen vom Eintritt in das Leben bis zu seinem Ende ist durch die animalische Körperlichkeit determiniert. Lediglich das Ausmaß der selbstreflexiven Bewusstheit des Menschen für diese Vorgänge macht den Unterschied zum Tier aus. Freilich wissen wir über die Bewusstheit tierischen Erlebens wenig Genaues.

2.1 Leiblichkeit

Beim Menschen bestimmt die biologische Ausgestaltung des Körperlichen die menschliche Lebendigkeit, die verspielte Körperlichkeit eines Kindes, die ungebärdige körperliche Vitalität von Jugendlichen, die jederzeit erotisierbare Körperlichkeit von jungen Erwachsenen, die Suche nach körperlicher Nähe zwischen Eltern und Kindern oder die sexuelle Faszination bei Paaren, die körperlichen Einschränkungen des Älterwerdens, die oft schmerzerfüllte körperliche Hinfälligkeit von Kranken. Alles dies ist freilich verknüpft mit der menschentypischen Selbstwahrnehmung, dem Blick auf die eigene Person und den eigenen Körper und dem bewussten Erleben der eigenen Leiblichkeit, was bekanntlich bedeutet, zugleich einen Körper zu haben und leiblich zu sein.

Was tut der Körper, wonach verlangt es ihn? Leiblichkeit ist von Anbeginn des Lebens auf Intersubjektivität angelegt, auf Annäherung und Abgrenzung, auf Kommunikation und emotionales Erleben. So ist umgekehrt die frühe Beziehungserfahrung eine vorwiegend leibliche; Merleau-Ponty spricht von „Zwischenleiblichkeit“. Die Dichotomie von leiblicher und psychischer Person hat eine gewisse Künstlichkeit; ein Begriff wie „embodied self“ soll die Integration betonen.

Wenn das anfangs auf Nähe und Interaktion ausgerichtete Kind größer wird, verlangt es vor allem nach Bewegung, sei es mit den Händen (Handlung), sei es Fortbewegung über die engeren Grenzen hinweg, seien es spielerisch-lustvolle Bewegungen. Der spezifische Bewegungsdrang hat die frühen Menschen veranlasst, sich über die ganze Erde auszubreiten, von Afrika über Asien bis nach Amerika. Auf vergleichsweise simplen Wasserfahrzeugen haben sie alle Meere durchfahren und Australien, Hawaii, die Osterinseln besiedelt. Unterwegs zu sein, auf der Suche nach dem Unbekannten, womöglich Besseren, gehört zu der animalischen Seite des Menschen. Heute werben Fitness-Center mit dem Slogan „Leben ist Bewegung“ und bieten den bewegungseingeschränkten Stadtmenschen ihre Laufbänder an. Sportlichkeit, Fitness und Wellness sind Aspekte animalischer Körperlichkeit heute, während eine „Körperkultur“ die Ausgestaltung des Körpers durch spezielles Training, operative Eingriffe, Piercing, Mode zum Gegenstand hat. Hier geht es weniger um das animalische Erleben der Körperlichkeit als vielmehr um die kulturtypische körperliche Ausgestaltung von körperlicher Identität und um das Beziehungsangebot an andere Menschen. Fortbewegung ist nicht das einzige motorische Bedürfnis des Menschen, ebenso intensiv ist der Antrieb, die Hände zu benutzen, das heißt zu handeln, vorhandene Objekte zu behandeln, neue Objekte herzustellen, sie spielerisch und instrumentell zu verwenden. Das erscheint schon weniger animalisch, weil es außer den Primaten nur wenige Tiere gibt, die dieses Interesse und die Fähigkeit weiterentwickelt haben.

2.2 Der triebhafte Mensch

Die biologische Nähe des Menschen zu den Säugetieren oder Wirbeltieren ist unübersehbar, auch mit allen anderen Tierklassen gibt es Übereinstimmungen was die Muskulatur, den Kreislauf, die Haut, das Verdauungssystem, die Hormone, die Fortpflanzung, vor allem aber das neuropsychologische System betrifft. Um die biologische Nähe von Mensch und Tier zu verdeutlichen, wird immer wieder zitiert, dass die genetische Ausstattung von Menschen und höheren Affen fast identisch ist (zu 98,7 %). Das Menschenspezifische wird dadurch nicht infrage gestellt, aber unübersehbar trägt der Mensch speziell in seiner körperlich-vitalen Seite viel Tierähnliches in sich. Dieses ist allerdings unter dem Einfluss des reflexiven Bewusstseins und der kulturellen Normen einer mehr oder weniger erfolgreichen Steuerung zugänglich. Das Animalische liegt unter einer vergleichsweise dünnen Decke des kultivierten Verhaltens, von dort bricht es leicht durch und muss dann immer wieder gesteuert, notfalls verdrängt werden. Im bürgerlich konservativen Wien am Ende des 19. Jahrhunderts hat Freud auf diesen skandalösen Punkt aufmerksam gemacht. Wie das Kind in „des Kaisers neue Kleider“ hat er offen ausgesprochen, dass die vermeintlichen Prunkgewänder des Kaisers nicht verbergen können, dass er darunter animalisch nackt ist. Freud war nicht der einzige, der zu jener Zeit diese Feststellung traf, in Schnitzlers Novellen und Theaterstücken wird das zerstörerisch Sexuelle offen zum Thema, ebenso wie in den Gemälden von Klimt oder Schiele (Kandel 2012).

Innerhalb des Animalisch-Körperlichen hat die psychoanalytische Konzeption eine Reihe von bedürfnisgeleiteten Aktivitäten hervorgehoben, die für das Verständnis psychischer Entwicklung und psychischer Problematik von besonderer Bedeutung sind. Es sind die großen Motivationssysteme der Oralität, der Aggressivität und der Sexualität. Dabei handelt es sich um weitgehend durch Stoffwechselprozesse bzw. durch Hormone gesteuerte, biologische Abläufe, die im subjektiven Erleben als Triebwunsch, als körperliches Bedürfnis oder Begehren erfahren werden.

Mit Freud und der Psychoanalyse wurde zunächst das Thema der sexuellen Triebnatur des Menschen in die öffentliche Diskussion gebracht. Darüber hinaus hat die Barbarei des Ersten Weltkriegs die potenzielle Aggressivität und Destruktivität des Menschen erneut deutlich gemacht. Die beiden großen Themen Sexualität und Aggression waren zu allen Zeiten starke Motive menschlichen Handelns, allerdings meist verborgen hinter ideologischen Rationalisierungen, Rechtfertigungen und Verleugnungen. Im psychoanalytischen Kontext wurden sie in ihrer Triebnatur interpretiert. Dadurch wurde die bis dahin auf das Geistige und Seelische zentrierte und idealisierte Menschennatur und die damit verbundenen Wertvorstellungen infrage gestellt.

Das Angedeutete lässt schon erkennen, dass das Animalische im Menschen nicht triebhaft hervorbricht, so wie eine Katze die Maus frisst oder ein Hund einen anderen begattet oder ein Affe den Nachwuchs des Nebenbuhlers totbeißt. Das Animalische wird für den Menschen dadurch zum Problem, dass es mit seinen kulturellen Wertüberzeugungen kollidiert oder sich mit ihnen auf komplizierte Weise verbindet. Der Mensch begegnet nicht einfach dem Tier in sich, er wird durch das andrängende Animalische in seinem Anspruch, den er als Mensch an sich hat, massiv irritiert. Er erlebt Dr. Jekyll und Mr. Hyde gleichzeitig in sich. Die Entwicklungsaufgabe, diese Seiten in sich zu integrieren, war Menschen zu allen Zeiten bewusst. Der psychoanalytische Erklärungsansatz hat besser zu verstehen gelehrt, was es mit den verschiedenen Triebaspekten auf sich hat, wie sie entwicklungsgeschichtlich entstehen, wie sie sich das Leben hindurch entfalten, welche Rolle sie in der innerseelischen Dynamik spielen. Bei der Betrachtung der animalischen menschlichen Natur stößt man immer wieder auf die historischen Gegebenheiten der Soziokultur, die dem Menschen eine zweite Natur geworden sind. Biologische und sozialpsychologische Einflüsse sind stets verwoben und können nur künstlich voneinander getrennt betrachtet werden. Daher bekommt man die menschliche Natur nicht unverfälscht zu Gesicht, weil wir das, was wir wahrnehmen, notwendigerweise durch die Brille der Soziokultur sehen.

Das Bild vom Menschen ist geprägt von idealisierenden Vorstellungen, wie er sei oder wie er zumindest zu sein habe, nämlich edel, hilfreich und gut, gottesebenbildlich, von Verstand und Vernunft geleitet, mitmenschlich, solidarisch, verantwortungsbewusst etc. Die animalisch-körperliche Seite als solche tut dem keinen Abbruch, das Tierisch-Biologische ist selten das wirklich Böse. Diese Seite wird in unserer Gesellschaft sogar als das Natürliche, das Gesunde gesehen und ansatzweise idealisiert (Bio!), während die aktuellen kulturellen Bedingungen des Zusammenlebens, der Arbeitswelt, der Technik, des Zeitmanagements als potenziell krankmachend eingeschätzt werden. Diagnostische Selbstzuschreibungen wie Mobbing oder Burnout bringen zum Ausdruck, dass die individuelle Leistungsfähigkeit und Funktionsfähigkeit von Menschen durch kulturtypische Bedingungen überfordert werden und zu körperlichen oder emotionalen Zusammenbrüchen führen können. Dass man den biologisch-körperlichen Gegebenheiten unter den aktuellen Zivilisationsbedingungen schwer gerecht werden kann, zeigen unter anderem die Quoten der Essstörungen mit massivem Übergewicht, die in allen westlichen Ländern explosionsartig angestiegen sind und vielfältige körperliche Erkrankungen nach sich ziehen.

Andererseits haben es die kulturellen Errungenschaften der Hygiene, der modernen Medizin, der guten Ernährung bewirkt, dass die Sterblichkeitsrate in allen Altersstufen drastisch reduziert wurde, sodass das Gros der Menschen ein hohes Alter in relativ guter Gesundheit erlebt.

2.3 Oralität

Der traditionelle psychoanalytische Blick richtet sich bevorzugt auf die Triebproblematik der Sexualität und Aggressivität, das Thema der Oralität war stets in Gefahr, übersehen zu werden. Dabei ist das Thema biologisch fundamental. Die Stoffwechselsituation der meisten Tiere und des Menschen ist so, dass sie mehrmals täglich trinken und essen müssen. Bei fehlender Nahrung können vorübergehend Körpersubstanzen, z. B. Muskulatur und Fettdepots abgebaut werden, ehe das Stoffwechselsystem zusammenbricht. Bei fehlender Flüssigkeitszufuhr tritt bereits nach wenigen Tagen der Tod ein. Regelmäßig Nahrung zu finden für sich selbst, für die eigene Gruppe und speziell für die eigenen Nachkommen, war bis zum Beginn der industriellen Nahrungsproduktion ein zentrales Motiv aller Menschen, geleitet von dem Hungergefühl, das rasch quälend werden kann. Regelmäßig satt zu werden war seit jeher ein Privileg für wenige. Die Übrigen mussten das essen, was sie gejagt, angebaut, an Vorräten angelegt oder im Tauschhandel erworben hatten oder sie mussten hungern. Klimawechsel verursachten immer wieder Missernten und aus diesen resultierten Hungersnöte. So war der Mensch die meiste Zeit hindurch das hungrige Tier, das einen großen Teil seiner Zeit damit verbrachte, Essbares zu gewinnen und es zuzubereiten. Das bedeutete mitunter auch, dass um die vorhandenen Nahrungsmittel und Futterplätze gekämpft werden musste, und dass andere um das, was sie haben, beneidet werden konnten. Die orale Triebdynamik ist also geprägt vom hungrigen Habenwollen, vom Neid auf das, was andere haben und von der Gier der Einverleibung im wörtlichen und übertragenen Sinne.

Suchttendenzen

Es kann im Sinne einer neurotischen Entwicklung geschehen, dass das Sichaneignen und Sicheinverleiben keine satte Zufriedenheit, kein Genughaben erzeugt, sondern die Gier verstärkt, sodass immer mehr erstrebt und verschlungen werden muss. Orale Bedürfnisse können Ersatz werden für fehlende Zufriedenheit, Selbstbewusstsein und Gefühl des Geliebtwerdens. Das gierige Essen steht für das Auffüllen der Leere, für die Beruhigung der Affektspannung, wie es z. B. bei der Bulimie der Fall ist. Dadurch gewinnt das Geschehen suchtartige, selbststimulierende und selbstschädigende Züge. Oralität hat auch eine explizit aggressive Komponente. Im menschlichen Zusammenleben wurde dieser Aspekt von Gefräßigkeit mehr und mehr durch kulturelle Regeln überformt, die das Essverhalten bestimmen. N. Elias (1976) beschreibt, wie dieser Zivilisationsprozess hierzulande im späten Mittelalter einsetzt, also erst vor vergleichsweise kurzer Zeit in Kraft gesetzt wurde.

Hier und heute geht es in den westlichen Ländern nicht mehr primär um die Nahrungssuche im wörtlichen Sinne, aber nach wie vor ist Oralität ein zentrales Motiv. Im gesellschaftlichen Zusammenhang ist die Rede von der „Gier der Märkte“. Hier hat der Hunger nach immer größeren Gewinnen zu krisenhaften Entwicklungen und massiven Einbrüchen des wirtschaftlichen und sozialen Systems geführt. Da das Konsumieren, speziell das sich steigernde Konsumverhalten der Bevölkerung einen Motor unserer wirtschaftlichen Entwicklung darstellt, muss die Werbung das ständige Gefühl des Habenwollens stimulieren. Sie suggeriert dem potenziellen Kunden: „Das will ich haben, das hole ich mir.“ Die Möglichkeit, jederzeit Kredit zu haben, um orale Wünsche zu befriedigen, wurde durch die Einführung der Scheckkarte eröffnet. Das führte bekanntlich dazu, dass viele Menschen ständig Dinge für Geld erwerben, das sie gar nicht haben, und dass sie nach ihrer Insolvenz wieder dort ankommen, wo die orale Dynamik ihren Ausgang nahm. Maaz (2013) sieht in dieser Tendenz, über die eigenen Verhältnisse zu leben und Schulden zu machen, den Ausdruck einer die Gesellschaft beherrschenden narziss- tischen Gier. Hier wird die Oralität, wie bei allen Arten der Sucht, missbraucht, um andere Bedürfnisse zu stillen.

Mittlerweile ist das gesellschaftliche Leben untergründig stark durch orale Kategorien determiniert, Gewinn und Verlust werden ständig gegengerechnet: Was kostet Genuss, was kostet Gesundheit, was kostet Mobilität, was kostet Altersbetreuung? Alles soll möglichst wenig kosten und denen, die dort investieren, möglichst viel Gewinn einbringen.

Die orale Dynamik wird oft als solche nicht gesehen, sie ist weniger spektakulär als die offene Aggressivität, aber ihre langfristige Destruktivität ist erheblich. Letztlich führt die gierige Haltung des „Je mehr desto besser“, das heißt die Maßlosigkeit bei einzelnen Menschen und Gesellschaften, zu selbstdestruktiven Prozessen. Eigentlich würde der Umgang mit oralen Bedürfnissen die Fähigkeit des Maßhaltens, der vorausschauenden Planung und des Einteilens erfordern, nicht selten auch die Notwendigkeit des Verzichtens, aber diese Vorstellungen sind in der aktuellen Wertewelt kaum repräsentiert.

Aus Anlass einer der vielen Lebensmittelskandale, der letztlich auch wieder auf betrügerische Gewinnmaximierung in der industrialisierten Lebensmittelwirtschaft zurückgeht, verweist eine Glosse in der FAZ auf den Wunschtraum nach oraler Unmittelbarkeit (R. Bingener, FAZ 23.02.13): „In einer Zeit, da weder die Erlösung noch künftige Rentenzahlungen sicher scheinen und sich auch das Denken als fehlbar und manipulierbar erwiesen hat, besinnt sich der Mensch auf das Naheliegendste: auf sein Essen … Scheint es doch mittlerweile für viele Menschen kaum Erfüllenderes zu geben, als hingebungsvoll zu dünsten, zu blanchieren und zu karamellisieren … mit der Evidenz einer Mousse au Chocolat, kann es selbst der Satz des Pythagoras nicht aufnehmen … Die Küche ist ein warmer Kachelofen für die Seele.“ Freilich ist, so zeigt der Autor auf, die regressive Sehnsucht nach einer guten, unverfälschten Oralität des Essens unerfüllbar unter den Bedingungen einer globalisierten Nahrungsmittelindustrie, in deren schwer überschaubaren Ablaufketten sich immer wieder einzelne Produzenten finden, die ihren Hunger nach überhöhten Gewinnen dadurch stillen, dass sie den Verbrauchern billige, schlechte, manchmal auch gefährliche Substanzen in die Nahrung mogeln (z. B. Hormone und Antibiotika ins Fleisch, Chemikalien ins Milchpulver, Glykol in den Wein, Industrieöl in das Speiseöl). Verglichen damit ist die Lasagne vom gedopten Reitpferd noch relativ harmlos.

Das Geschenk

Oralität bezeichnet im passiven Sinne den Wunsch, etwas zu bekommen, vorzugsweise als Geschenk, das überrascht und erfreut. In unserer Kultur gilt Weihnachten als ein Fest, bei dem einer versucht, dem anderen etwas zu schenken, das ihm Freude macht. Das zu realisieren war zu Zeiten des allgemeinen Mangels leichter als in der Gegenwart des Konsumzwangs. Die Winterzeit um Weihnachten herum markierte früher eine Zeit des Mangels; in der dunklen Jahreszeit fehlte es an Licht, ebenso an frischen Nahrungsmitteln und an ausreichender Wärme. Die vorchristlichen Feste und das christliche Weihnachten inszenierten die Hoffnung auf ein neues Leben. Die Weihnachtsgeschichte versinnbildlicht, wie auch unter kärglichen Bedingungen neues Leben zustande kommt, wie die Kräfte der Natur – Ochs und Esel – die einfachen Menschen – die Hirten – sowie die übernatürlichen Kräfte – die Sterne, die Magier – zusammenwirken und das bedrohte Leben des Neu- geborenen schützen. Das ist der Hintergrund, vor dem sich Familien an Weihnachten zu einem Ritual zusammenfinden. Sie zünden Lichter an, versichern sich ihres Zusammengehörigkeitsgefühls, indem sie versuchen, sich wechsel