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MATJAŽ BARBO

DIE BEDEUTUNG IN DER MUSIK UND
DIE MUSIK IN DER BEDEUTUNG

Aus dem Slowenischen von
Metka Wakounig

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Übersetzt mit Unterstützung der Forschungsagentur der Republik Slowenien
(http://www.arrs.gov.si/en/)

Matjaž Barbo: Die Bedeutung in der Musik und die Musik in der Bedeutung
Aus dem Slowenischen von Metka Wakounig.
Wien: HOLLITZER Verlag, 2017

Titel der Originalausgabe: Pomen v glasbi in glasba v pomenu
© Znanstvena založba Filozofske fakultete Univerze v Ljubljani, 2015

© HOLLITZER Verlag, Wien 2017

HOLLITZER Verlag
der HOLLITZER Baustoffwerke Graz GmbH

Alle Rechte an der deutschsprachigen Ausgabe vorbehalten.

ISBN 978-3-99012-416-1

INHALT

Einleitung

1. Die musikalische Bedeutung

1.1. Die Musik als natürliche Sprache

1.2. Die Illusion der unmittelbaren sinnlichen Erkenntnis

1.3. Die Identität der Musikbedeutung

1.4. Musik als Universalsprache

2. Musik als Objekt

2.1. Greifbarkeit der Musik

2.2. Musik und Eigentum

2.3. Die Materialität von Musik im Internet

3. Musik und ihre Interpretation

3.1. Performative und hermeneutische Interpretation

3.2. Interpretation und Authentizität: Eigenwille oder Werktreue?

3.3. Die historisch informierte Aufführungspraxis

3.4. Konzert oder Aufnahme – die Musikphänomenologie auf dem Prüfstand

4. Die Musik und das Unendliche

4.1. Die Kunstreligion, das Unendliche und die Musik

4.2. Die Ästhetik der Kunstreligion

4.3. Die Musik als Metapher für Zeit und Raum

5. Musik in den Bedeutungen

5.1. Bewertung von Musik in Referenzkontexten

5.2. Die Erfahrung von Musik als autonomer Ausdruck

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

EINLEITUNG

Der vorliegende Text ist gedacht als Einführung in eine sehr komplexe Frage des Musikverstehens, der Enthüllung ihrer Bedeutungen und der Dechiffrierung verschiedener Bedeutungskontexte, die die Musik definieren und darüber hinaus nicht nur ihren Inhalt, sondern auch ihre ästhetische Überzeugungskraft bestimmen. Das Musikhören stellt uns immer vor ein unerklärliches Paradoxon: Jede ästhetisch überzeugende Musik wirkt auf uns wie eine unmittelbare Sprache der Klänge, wie eine von jeher verständliche Sprache, die unser Inneres unmittelbar anspricht, weswegen sie uns zur Gänze einnehmen und uns mit ihrer deutlichen Überzeugungskraft so beeinflussen kann wie keine andere Ausdrucksart. Die musikalische Sprache ist direkt, tiefgründig und klar, wenngleich wir den inhaltlichen Charakter ihrer Botschaft nicht genau bestimmen können. Außerdem scheint es, dass sie Menschen verschiedener Kulturen, Ethnien, Sprachen, Altersgruppen oder gar sozialer Schichten mit derselben Intensität ansprechen kann. Es scheint, dass sie durch ihre Überzeugungskraft und Suggestivität kulturelle und gesellschaftliche Grenzen überschreitet, dass sie die Sprache der universellen Brüderlichkeit ist, verbunden in der Sehnsucht nach dem Schönen an sich. So offenbart sich die Musik als die Sprache der Schönheit, bereinigt aller inhaltlich konkreter Zutaten, bar irgendeiner ideellen oder gar ideologischen Bürde, sogar ohne Verbindung zu jeglicher Gegenständlichkeit, zu natürlichen oder menschlichen Strukturen um uns herum. Als Ausdrucksform übertrifft sie also die scheinbare Begrenztheit von Literatur, Malerei, Bildhauerei oder Architektur und agiert als Sprache der reinen Schönheit, die wohl gerade deshalb so grundlegend suggestiv und tiefgründig mitteilend ist.

Jedoch ist zugleich zu beobachten, dass es musikalische Ausdrucksarten gibt, die uns wenig bis gar nichts sagen, und dass uns bestimmte Musikgattungen überhaupt nicht berühren. Sogar Musik, die Hörer inspiriert, mit denen wir uns zwar ein gesellschaftliches oder kulturelles Umfeld teilen, bedeutet einem selbst nichts, sie stößt uns womöglich sogar ab und ist uns zuwider. Als wäre ihre Bedeutung – im Gegensatz zu den Hörern, die sich daran erfreuen – für einen selbst unverständlich und vernebelt. Und umgekehrt: Musik, die uns gefällt, kann nicht einmal einige unserer Freunde überzeugen, geschweige denn kulturell entfernte Hörer. Dieser Widerspruch wird besonders deutlich, wenn sich das eigene Verhältnis zu einer bestimmten Musik verändert, vor allem, wenn man sich den Genuss an der Musik langsam und schrittweise erarbeitet hat. Darum sagt man über so manche Musik häufig, sie sei zu anspruchsvoll oder zu kompliziert, da man weiß, dass ihre Wirkung auch von der Anstrengung, Konzentration oder sogar Vorbereitung des Hörers darauf abhängig ist. Erst dadurch kann sie in ihrer vollen Pracht erstrahlen, und die ästhetische Erfahrung könnte man am ehesten mit dem Gefühl eines Alpinisten vergleichen, dem trotz schrecklicher Entbehrungen und Mühen – oder vielleicht gerade deswegen – an seinem Ziel eine unvergleichliche Erfahrung maßloser Schönheit zuteilwird. Es scheint, dass beispielsweise – für die Mehrheit der Durchschnittshörer zwar völlig unverständlich – Fans der alten Musik oder Liebhaber moderner Strömungen, Sammler alter Platten und Opernkenner, die unzählige Kilometer weit reisen, nur um eine neue Inszenierung zu sehen oder einen bestimmten Sänger zu hören, etwas Ähnliches eint.

Man kann folglich wohl sagen, dass der musikalische Ausdruck doch nicht so direkt zugänglich ist, sondern sich in den geflochtenen Systemen ihrer Sprache verbirgt. Einerseits geht es natürlich um mehr oder weniger erkennbare konnotative Bedeutungssignale, welche die Musik mit ihrer Umwelt verbinden: Musik kann Kindheitserinnerungen wecken, ruft Bilder einer idyllischen Welt hervor, durchdringt uns mit sinnlicher Wonne, löst unangenehme Assoziationen aus, man kann sie mit dem Marschieren feindlicher Mächte oder mit angenehmen Tanzrhythmen assoziieren, sie versetzt uns in exotische Länder oder erhebt uns zu Höflingen, sie kann sogar eine Geschichte erzählen oder eine Landschaft malen … Musik hat also auch eine „unmusikalische“ Bedeutung, die aus ihrer Erzählung manchmal mehr, manchmal weniger deutlich hervortritt.

Andererseits verbirgt sich die Bedeutung der Musik in ihren eigenen Strukturen – nicht nur in jenen, die kryptografisch eine Bedeutung verschleiern, wie zum Beispiel den Namen eines Freundes des Komponisten, in Intervalle gegossene Buchstaben eines lateinischen Gebets, eine in den Tonnamen verborgene Signatur des Komponisten oder eine per Taktzahl angedeutete Assoziation. Dies gilt umso mehr für musikalische Strukturen, die eine gewisse Vollkommenheit der Ordnung aufweisen – von Tonverhältnissen, die den wohlüberlegten Regeln von Zahlenproporzen folgen, bis hin zu harmonischen Strukturen, Funktionsverbindungen, Systemen zur Erzeugung und Lösung von Spannungen, bis zum Melodiebogen und harmonischen Rhythmus, vor allem aber bis hin zu endlosen Möglichkeiten motivischer und thematischer Vernetzungen, symmetrischer Musikformen, rondoartiger Wiederholungen, dialektischer Gegensätze in der Sonate, Variationsfärbungen etc. Als würde die Ordnung der musikalischen Struktur von sich aus auch die reine musikalische Überzeugungskraft der musikalischen Sprache gewährleisten. Nicht nur, dass die Faszination für einen komplexen kontrapunktischen Satz oder die Begeisterung über ein verdichtetes Schema motivischer Verbindungen in ästhetischen Genuss übergeht, mehr noch: Es scheint, dass die Ordnung selbst (wenngleich als „Eintracht des Zwieträchtigen“) die Quelle des Genusses sowie die Zusicherung dessen ist, was man schlicht als „musikalische Überzeugungskraft der Musik“ bezeichnen kann.

Die Pythagoreer und die gesamte Boethius’sche Tradition nach ihnen leiteten die Erklärung für die musikalische Wirkung ganz klar aus der Verbindung des menschlichen psychosomatischen Gefüges mit den Naturgesetzen ab. So logisch und überzeugend ihr Zeugnis auch sein mag, es kann niemals empirisch bewiesen werden – vor allem wegen des wandelbaren und ausweichenden Charakters sowohl der Musik als auch der menschlichen Reaktion darauf. Außerdem kommen immer wieder Zweifel an der Sinnhaftigkeit des rationalen Zugangs zu einem so stark gegen die Sinne ausgerichteten Objekt auf, und zugleich wächst mit dem Misstrauen die Angst, dass ein unverhältnismäßig rationaler Eingriff die elementare menschliche Reaktion auf die Musik entweihen oder gar verunmöglichen könnte, sodass wir beim Musikhören der Möglichkeit der Gänsehaut oder Augustinus’ „Freudentränen“ beraubt werden.

Und so kehren wir an den Anfang unserer Überlegungen zu Musik, ihrer Bedeutung, ihrem Sinn und Wert zurück; zu Überlegungen, die die Musik seit ihrem Aufkommen begleiten. Wir kehren zurück in den ewigen Kreislauf des Gegensatzes von einerseits vernunftmäßiger Fassbarkeit, rationaler Bestimmbarkeit und gedanklicher Möglichkeit der Analyse von Musik sowie andererseits ihrer irrationalen Ungreifbarkeit, sinnlicher Freude, klanglicher Glückseligkeit und rhythmischer Wonne. Dem Kreisen um diese Fragen widmet sich der vorliegende Text. Der Autor macht sich nicht die Illusion, das Paradoxon auflösen zu können. Im Gegenteil, durch die Überlegungen über die musikalische Bedeutung und über die Musik in Bedeutungskontexten wird dieses Paradoxon sogar noch verstärkt.

1. DIE MUSIKALISCHE BEDEUTUNG

1.1. DIE MUSIK ALS NATÜRLICHE SPRACHE

Wenn ich spräche, daß ich an einer Rede keinen Gefallen finden könnte, die ich nicht begreife: so würde mein Geständnis keinem sonderbar klingen. Sobald ich aber ebendieses von einem musikalischen Stück sage, so wird man mir sogleich antworten: „Halten Sie sich denn, mein Herr, für einen so guten Kenner, daß Sie den Wert einer feinen und sorgfältig ausgearbeiteten Musik mit dem Gefühle wollen beurteilen können?“ Ja, ich erkühne mich darauf zu antworten: „Ja! Denn hier soll man eben fühlen. Ich verlange weder die Töne auszurechnen, noch ihre Verhältnisse, in denen sie nun entweder untereinander, oder auch mit dem Gliedmaße, mit dem wir sie vernehmen, stehen mögen. Ich rede hier weder von den leisen Erzitterungen, noch von der Schnellung der Saiten, noch von dem mathematischen Verhältnisse. Ich überlasse den theoretischen Gelehrten diese tiefsinnigen Spitzfindigkeiten, die für die Musik weiter nichts sind, als für die feineren grammatischen Anmerkungen oder die Dialektik für die Rede sind, deren Wert ich fühlen kann, ohne mich in solche umständliche Untersuchungen einzulassen. Die Musik redet durch Töne mit mir. Diese Sprache ist mir natürlich. Verstehe ich sie nicht, so hat die Kunst die Natur mehr verderbet, als vollkommner gemacht. Eine Musik muß man eben so beurteilen, als ein Gemälde. Daran erblicke ich Züge und Farben, deren Sinn ich verstehe, deren Sinn mir schmeichelt und mich rühret. Was würde man wohl von einem Maler sagen, der sich daran begnügen ließe, daß er kühne Züge und einen Haufen Farben (gesetzt, daß diese Farben auch noch so lebhaft wären) auf die Leinewand kleckse, ohne daß sie mit gewissen bekannten Gegenständen einige Ähnlichkeit hätten? Die Anwendung davon läßt sich von selbst auf die Kunst machen. Es findet sich nicht die geringste Ungleichheit dazwischen; und wenn sich noch eine findet, so dienet sie mehr, meinen Beweis zu befestigen, als umzustoßen. (Batteux, 1770)

Mit Charles Batteux Schriften wurde die Musik, die vorher den Freien Künsten (artes liberales) zugehörig galt, endgültig Teil der Schönen Künste (les beaux arts). Die Musik musste, um Seite an Seite mit den anderen les beaux arts stehen zu können, einen Teil ihres Wesens opfern, gemäß dem sie zuvor definiert worden war – sie musste sich von der Vorstellung verabschieden, als Teil der artes liberales die Naturgesetze zu erkennen und ihnen zu folgen. Jene Wissenschaften beziehungsweise Künste, die sich mit Zahlen beschäftigt hatten (neben Musik noch Arithmetik, Geometrie und Astronomie), definierten Musik nämlich als etwas, das die Gesetze der Übereinstimmung des menschlichen psychosomatischen Gefüges mit Zahlenverhältnissen erkennt, nach denen nicht nur unser Inneres und Äußeres bestimmt wird, sondern auch alles, was uns umgibt.

Ihre Aufgabe war also die Herstellung der „wahren Harmonie“, die wohlklingende Verflechtung von musikalischen Proporzen, Tonsystemen, Intervallen, metrischen Formen, rhythmischen Impulsen, horizontalen Abfolgen und vertikalen Einklängen.

Natürlich kündigte sich der Umbruch in der Wahrnehmung von Musik als Bekennerin des Schönen und nicht des (vor allem) Geordneten schon jahrhundertelang an. Grundsätzlich kann man feststellen, dass der Exkurs in die Geschichte der Musikideen nichts anderes bietet als ein Plätschern der immer gleichen oder ähnlichen Gedanken, denen im Laufe der Zeit manchmal mehr, manchmal weniger Bedeutung zukommt. Und doch bedeuten Batteux’ Ausführungen den Umbruch, der in großem Maße das Empfinden und Verstehen von Kunst bis heute definiert. Die Musik musste sich mit der Inklusion in das System der Schönen Künste somit insbesondere all jenen Anforderungen beugen, nach denen auch die anderen Künste definiert werden. Sie musste vor allem die Lücken in der Bestimmung ihrer semantischen Bedeutung und ihrer unmittelbaren sinnlichen Wirkung füllen, in ihrer Ausdrucksfähigkeit musste sie sich über die Mitteilungsfähigkeit ihrer Sprache der wörtlichen Narration annähern und ihrer Suggestivität zufolge der bildnerischen Kunst ähnlich werden. An Letzterer hat sich Batteux allerdings ein wenig die Finger verbrannt, da er die spätere Entstehung der nichtfiguralen Kunst nicht vorhersah beziehungsweise als sinnlos zurückwies: „Was würde man wohl von einem Maler sagen, der sich daran begnügen ließe, daß er kühne Züge und einen Haufen Farben (gesetzt, daß diese Farben auch noch lebhaft wären) auf die Leinewand kleckse, ohne daß sie mit gewissen bekannten Gegenständen einige Ähnlichkeit hätten?“ Und dennoch trifft es zu, dass gerade diese Entwicklung ein System der Schönen Künste ermöglichte, das sich selbst seinen Bedeutungs- und Wertrahmen gibt.

Als Maßstab der künstlerischen (bzw. ästhetischen) Überzeugungskraft der Schönen Künste bediente sich Batteux – und nach ihm eine ganze Generation Kunsttheoretiker – ihrer Wirkung. Auf diesen Aspekt wurde in der Musiktradition seit jeher ganz besonderes Augenmerk gelegt. Die gesamte mittelalterliche Musiktheorie begann nach Boethius’ Vorbild zuerst mit einem Lobgesang auf ihre außergewöhnliche Macht. Von allen Schönen Künsten prahlte die Musik zweifellos am berechtigtsten mit ihrer Geschichte, in der es nicht an mythologischen, biblischen und anderen legendären Berichten über ihre Macht bei der Beruhigung von Stürmen, der Zähmung wilder Bestien, dem Bezwingen von Kampfgelüsten und sogar – wie bei Orpheus – bei der Umkehr des Schicksals mangelte. Vor allem aber wurde ihre Macht bei der Harmonisierung des Inneren des Menschen hervorgehoben. Diese Tradition inspirierte Musiker dazu, in der Sehnsucht nach den in der Vergangenheit besungenen Auswirkungen von Musik ähnliche Struktur- und Ausdrucksmuster zu suchen. Den berühmtesten Versuch der Wiederbelebung antiker Modelle stellte die Monodie dar, aus der die Barockoper hervorging, und mit ihr blühte jene Musik auf, die auch Batteux hörte und die zum Ausgangspunkt seiner Interpretationen wurde.

Obwohl Batteux höchstwahrscheinlich um die bewundernswerte Gehirnakrobatik, aus der die Musik von Bachs Polyphonie hervorging, wusste oder sie zumindest erahnte, nahm er in seiner Ästhetik lieber den Standpunkt von Bachs Söhnen ein, die ihm auch generationsmäßig näher waren. Uns nützt es also „weder die Töne auszurechnen, noch ihre Verhältnisse“, wir haben weder etwas „von der Schnellung der Saiten, noch von dem mathematischen Verhältnisse“, meint Batteux. „Ich überlasse den theoretischen Gelehrten diese tiefsinnigen Spitzfindigkeiten“, schreibt er schlicht und verzichtet somit auf jede tiefergehende Überlegung, die die ausgereifte Musiktheorie begründen würde. Musik ist eine Sache des Zuhörens, sie „redet durch Töne mit mir. Diese Sprache ist mir natürlich. Verstehe ich sie nicht, so hat die Kunst die Natur mehr verderbet, als vollkommner gemacht“, fügt er im Geiste der Rousseau’schen Enzyklopädischen Tradition hinzu. Letztere fand nämlich auf der Suche nach dem harmonischen Einklang des Menschen mit sich selbst und der Natur Zuflucht bei der altertümlichen Tradition, in der sie nach Spuren einer natürlichen Sprache suchte, die gerade wegen ihrer naturgegebenen Unmittelbarkeit den Menschen am stärksten beeinflussen würde. Dabei übersah man die Tatsache, dass das Argument jenem bis aufs Haar glich, mit dem der Kreis der florentinischen Renaissance-Enthusiasten ein gutes Jahrhundert zuvor die scheinbar gekünstelte Renaissancepolyphonie abgelehnt und sie ausgerechnet durch die Affektsprache ersetzt hatte, von der sich Batteux’ Generation nunmehr abwandte. Diese ließ sich auf einen offenen Kampf mit der verdichteten Komplexität des Barocksatzes ein, an deren Stelle sie eine musikalische Sprache einfacher Harmonieverbindungen, melodischer Tonfolgen und in die grundlegende Quadratur des Satzes eingegebene Strukturperiodika stellte. Wie schon oft zuvor brandete der Lauf der Musikgeschichte erneut im Geiste der hervorgehobenen ursprünglichen Einfachheit und Unmittelbarkeit auf.

So wie Malerei, Bildhauerei oder Architektur nur über den Blick wirken können, über die Sinne, die – ähnlich wie in der Kochkunst – als einzige tatsächlich auf uns wirken, kann auch die Musik nichts anderes als vor allem eine „Sache des Zuhörens“ sein. Man kann nur über die unmittelbare auditive Wahrnehmung ihren Effekt erkennen, der in der Folge der einzige Maßstab für ihren (ästhetischen) Wert sein kann. Es handelt sich um die „Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis“ (perfectio cognitionis sensitivae), wie Batteux’ Zeitgenosse Alexander Gottlieb Baumgarten es in seiner Begeisterung über die Schaffung des ästhetischen Systems der Schönen Künste nannte:

„Die Ästhetik (als Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.“ (Baumgarten, Aesthetica, 1750, 1)1

Ähnlich wie beim Verstand, der uns zur Wahrheit führt, definiert Baumgarten die sinnliche Wahrnehmung als unerlässliche Bedingung für die Erkenntnis des Schönen (Luhmann, 2000, 322). Die sinnliche Wahrnehmung ist nicht nur ein Hilfsmittel zur Erkenntnis ästhetischer Perfektion, sondern ist an sich vollkommen. Könnte man zur wahren Schönheit der Musik also nicht ausschließlich über das Zuhören gelangen, so würde dies ihre Unnatürlichkeit, Künstlichkeit und Missbildung beweisen. Soll sie schön sein, muss musikalische Sprache ausschließlich über ihre natürlichsten Ausdrucksmittel wirken, d. h. über das Ansprechen der Sinne; alles andere ist in der Kunst müßig und unpassend. Wenn die Kunst die Anstrengung des Verstandes erfordert, hat dies nichts mit ihrer ästhetischen Überzeugungskraft zu tun, sondern betrifft nur ihre „handwerkliche“ Seite, die ausschließlich für jene „theoretischen Gelehrten“ interessant ist, die sich mit der „Schönheit“ in der Kunst überhaupt nicht beschäftigen.

Zur gleichen Zeit entwickelte der englische Empirismus eine skeptische Zurückhaltung gegenüber der generellen Anerkennung der Absolutheit der sinnlichen Erkenntnis, die an sich nicht vollkommen und exkludierend sein kann. Francis Hutcheson spricht von dem „inneren Sinn“ (internal sense), der ihm zufolge der Quell des Genusses und der Schönheit ist (1725). Über diesen Sinn rufen manche Objekte Ideen des Schönen hervor, doch ihr Aufkommen ist weder bestimmt durch das Wissen über das Objekt noch durch das Interesse oder den Wunsch, den es erweckt. Hutchesons Ansicht ist „rein“ ästhetisch, er leugnet die Bedeutung der rationalen Erkenntnis und sagt Kants „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ oder Schopenhauers Leugnung der Willensfreiheit voraus.

Dabei widerstrebte der „zur Natur zurückkehrenden“ Generation der Rationalisten des 18. Jahrhunderts die freie und offene demokratische Sichtweise, der zufolge jede sinnliche Erkenntnis von derselben Relevanz und Gültigkeit sei. David Hume führte somit das Korrektiv der „wahren Richter“ (true judges) ein, d. h. Kritiker, die über „starke Sinne, vereint in feinem Empfinden, verbessert durch Übung, vollendet im Vergleich und von allen Vorurteilen bereinigt“2 verfügen. Also wird – unabhängig vom Grad der natürlichen Unmittelbarkeit – auch innerhalb der Schönen Künste, die den Menschen mithilfe der an sich vollkommenen sinnlichen Erkenntnis in der Wahrnehmung des Schönen vereinnahmen, deutlich, dass die Künste (und mit ihnen die Musik) nur begrenzt auf uns einwirken. Wir nehmen immer nur einen Teil der Schönheit der Kunst wahr, und Vorurteile, ungeschliffene Empfindungen, fehlende Praxis und begrenzte Vergleichsmöglichkeiten verstellen unseren Blick darauf.

Obwohl also Hume – ähnlich wie Baumgarten oder Batteux – vom Begriff der unmittelbaren sinnlichen Erkenntnis ausgeht, weist er andererseits auf ihre Begrenztheit und Unvollkommenheit hin und macht sogar indirekt auf ihre Illusion aufmerksam.

1.2. DIE ILLUSION DER UNMITTELBAREN SINNLICHEN ERKENNTNIS

Auf dem Internetportal YouTube findet man mehrere Versionen des Giulio Caccini zugeschriebenem (1551–1618) Ave Maria, gesungen von Andrea Bocelli.3 Hinsichtlich der Anzahl der Klicks, Kommentare und Likes kann man sagen, dass diese Musik auch bei Hörern (in diesem Fall auch Zusehern) beliebt ist, die sonst eher populäre Musikgattungen bevorzugen.

Die Verbreitung einer Aufnahme sowie die Spezifizität werfen mehrere Fragen zu den Kriterien auf, wegen derer die erwähnte Aufnahme beliebt ist – oder auch nicht.

Eines der Grundkriterien ist zweifelsohne ein ästhetisches: bedingt allein durch sinnliche Erkenntnis, definiert durch das unmittelbare Hörerlebnis. Sofern möglich, werden alle äußeren Faktoren weggedacht, die das ästhetische Urteilsvermögen beeinflussen (unsere Prädispositionen, unser Befinden, unsere Vorurteile, unsere Belesenheit, Erziehung, unser kulturelles Umfeld …), und man überlässt sich der Musik, die als reines Hörerlebnis Genuss, Gleichgültigkeit oder Widerwillen im Zuhörer auslöst.

Obwohl man sich womöglich nicht eingestehen will, dass äußere Faktoren das ästhetische Urteilsvermögen beeinflussen, ist nicht zu leugnen, dass das Hörerlebnis von wesentlich anderem Charakter sowie Bedeutung und somit auch anderem Wert ist, wenn es von einer visuellen Inszenierung begleitet wird. Besonders deutlich wird dies bei der erwähnten Videoaufnahme Bocellis, bei der das visuelle Element klar im Vordergrund steht: eine vollendete visuelle Produktion, die mithilfe von richtiger Beleuchtung, ständigem Kamera- und Perspektivenwechsel, mit Betonung auf den Ausdruck des Sängers, Gestik und sogar Mimik des Dirigenten, mit dem Spiel der Instrumentalisten sowie mit der Visualisierung des Sakralen oder sogar Mystischen des Veranstaltungsortes, mit dem Fokus auf das Marienbild u. Ä. eine besondere Atmosphäre herbeizaubert, durch die die ästhetische Aussage- und Überzeugungskraft von Bocellis Interpretation zweifellos untermauert werden.

Darüber hinaus kann der Gesang eines blinden Sängers wie Bocelli in uns Emotionen wie Mitgefühl oder Mitleid auslösen, aber auch Bewunderung für seinen Wagemut, seine Courage und seinen Optimismus, was unsere vollständige ästhetische Wahrnehmung von Musik bestimmt ebenso beeinflusst.

Wie stark das visuelle Element zum ästhetischen Erleben von Musik beiträgt, wissen alle großen Musikproduzenten und Plattenfirmen, die mit geeigneten Marketingstrategien glamouröse Instrumentalisten, jugendliche und attraktive Solistinnen, verträumte Dirigenten oder entrückte Komponisten auf den Markt bringen.

Beispielhaft dafür sei Nigel Kennedy genannt, dessen Punkimage ganz gezielt ein breites Publikum anspricht und in großem Maß dazu beigetragen hat, dass sein Album Vivaldi: The Four Seasons (English Chamber Orchestra) aus dem Jahre 1989 mehr als zwei Millionen Mal über den Ladentisch ging und noch heute als eines der meistverkauften Alben der sogenannten „klassischen“ Musik gilt.

Auf dem Portal ClassicFM schrieb Kennedy: „Man kann die Musik toter Komponisten spielen, aber es muss nicht so aussehen, als wäre man noch immer auf ihrem Begräbnis.“4

Darum scheint Kennedys Albumtitel Just listen … mit Konzertaufnahmen von Tschaikowski und Sibelius geradezu paradox autoprovokativ, basiert doch ein großer Teil seines Erfolges unbestreitbar auf dem spezifischen interpretativen Zugang, der durch seine unkonventionelle Kleidung, seine auffällige Frisur sowie seine charakteristische Gestik hervorgehoben wird. Dadurch akzentuiert er im Grunde zur Gänze einen gewissen musikalischen Nonkonformismus sowie Eindringlichkeit und Eigenart seiner Interpretationen, die – wiederum durch den Effekt, den sein Erscheinungsbild auf das Publikum hat – die Hörer in Scharen anziehen.

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Abb. 1: Nigel Kennedy (Quelle: www.flickr.com, © Guillaume Laurent)

Auch auf der Suche nach einem geeigneten Konzertsaal sind nicht nur dessen akustische Eigenschaften von Bedeutung, sondern – womöglich sogar in gleichem Maße – die Sicht auf die Bühne. Ein eingeschränktes Blickfeld kann große Probleme u. a. bei der Organisation von Konzerten in ansonsten akustisch hervorragenden Kirchen bedeuten. Bei Klavierrezitalen nehmen die Hörer gerne auf jener Seite des Auditoriums Platz, die einen Blick auf die Hände des Pianisten bietet, genauso wie einige Hörer die Sitze hinter dem Orchester schätzen, da sie so den Dirigenten sehen können. Nicht zuletzt sind die Eintrittspreise für jene Sitzplätze, die zwar ein ungestörtes Hörerlebnis, aber eine schlechte Sicht auf die Bühne bieten, stark reduziert.

Es stimmt, dass in Bocellis Fall eine technisch und somit auch visuell etwas veraltete Produktion ebenso berechtigt stört und aus diesem Grund ein wesentlicher Faktor für die Ablehnung der Darbietung ist. Und dennoch bekräftigt diese Tatsache zusätzlich die Bedeutung, die die Visualität für unsere ästhetische Wahrnehmung hat.

Auch die Popularität einer Darbietung – die Anzahl der Likes bzw. Klicks eines Videos von beispielsweise Bocellis Gesang – kann unser ästhetisches Urteil zweifellos stark prägen. Es ist eine Tatsache, dass durch eine allgemeine Reaktion auf eine musikalische Darbietung – seien es tosender Applaus, Zurufe oder Pfiffe – die Intensität unseres musikalischen Erlebens zunimmt. Auf Konzerten oder in der Oper wird man oft Zeuge lauter Ausrufe der Bewunderung seitens des Publikums, wobei diese Reaktionen teilweise auch durch kulturelle Unterschiede geprägt sind. Stürmische Rufe des Opernpublikums im neapolitanischen Süden unterscheiden sich selbstverständlich gänzlich vom vornehmen nordländischen Applaus. Allseits bekannt ist das Schreien, Kreischen, sogar Ohnmachtsanfälle wegen fanatischer Begeisterung auf Popkonzerten. Sehr ähnliche Reaktionen auf Musiker sind mindestens schon seit den Auftritten von Liszt oder Paganini Mitte des 19. Jahrhunderts dokumentiert, wo man von hysterischen Ausfällen vor allem des weiblichen Publikums lesen kann. Auch Beethoven kannte diese euphorischen Reaktionen seiner begeisterten Bewunderer, jedoch stand er diesen kritisch gegenüber: „Das ist es nicht, was wir Künstler wünschen – wir verlangen Applaus!“ (Scott, 1965, 42)

Sogar Elemente der scheinbar „reinen“ ästhetischen Reaktion auf Musik, zum Beispiel Gänsehaut, Rührung, Freude und Ähnliches, können zumindest teilweise die Folge einer Masseneuphorie sein, die wir bei einer musikalischen Darbietung beobachten können. Andererseits kann massenhafte Beliebtheit auch ein Grund dafür sein, dass uns eine bestimmte Musik unangenehm oder zuwider ist – was unser Argument natürlich nur bestätigt.

Auch der finanzielle bzw. symbolische Wert eines Kunstprodukts kann unser ästhetisches Urteil stark beeinflussen. Das prächtige Orchester, Bocellis berühmter Name, die ausladende Konzeption und die teure Produktion beeinflussen unsere Rezeption unweigerlich. Obwohl man oft hört, dass ein kleines solistisches Musikstück denselben ästhetischen Wert hat wie eine umfangreiche und gewaltige Schöpfung, gibt es Unterschiede, die ihren ästhetischen Wert beeinflussen. Selbst Schubert, einer der größten Meister der musikalischen Miniatur, stellte 1824 reumütig fest, dass er nichts Besonderes geschrieben habe: „Ich habe seit der Oper nichts componirt, als ein paar Müllerlieder“, schreibt er in einem Brief an Franz von Schober.5 Heute gelten seine Kunstlieder, Klaviermusik und Kammermusik mit Fug und Recht zu den wertvollsten Juwelen der Musikgeschichte, obwohl sie sich der persönlichen Meinung des Komponisten zufolge nicht wirklich mit einer erfolgreichen Oper oder Sinfonie messen können. Wenngleich man aus diesen Worten Schuberts persönliche Bescheidenheit herauslesen könnte, ist es zweifellos so, dass seine Meinung ein allgemeines ästhetisches Prinzip widerspiegelt, das nicht nur in einer vergangenen Epoche aktuell war.

Natürlich gilt grundsätzlich, dass beispielsweise der Preis eines Gemäldes seinen ästhetischen Wert unmittelbar widerspiegeln sollte. Besonders bezeichnend wird dieser Zusammenhang durch Beispiele illustriert, in denen der Wert eines Gemäldes drastisch fällt, wenn Experten feststellen, dass es sich um eine Fälschung handelt. Obwohl man also vom selben Werk erwarten würde, dass es davor und danach denselben ästhetischen Genuss bietet, ist die ästhetische Überzeugung und mit ihr der ökonomische Wert des Kunstwerks abhängig von seiner Originalität bzw. einem gewissen historischen Wert, die beide wesentliche Bestandteile des ästhetischen Urteils sind – obwohl sie natürlich nicht an die unmittelbare sinnliche Erkenntnis gebunden sind.

Dasselbe gilt auch für die historische Einordnung eines Werks. Obwohl viele Rezipienten nicht wissen, wann beispielsweise Joseph Haydn lebte, bildet die Vorstellung, dass sein Werk in einer zeitlich entfernten Epoche entstand, eines der wesentlichsten Merkmale eines ästhetischen Urteils. Die Idee der historischen Distanz stellt beim Hören von Haydns Sinfonien zweifellos einen der Eckpfeiler ihres ästhetischen Genusses dar – und ist nicht zuletzt für jene Hörer, die nichts für diese Art der Musik übrig haben, schon a priori der Grund ihrer Abneigung.

Dasselbe gilt für Caccinis Ave Maria, bei dessen Rezeption das Entstehungsdatum ein wesentlicher Faktor ist. Und genau das war das Skandalöse am Betrug des praktisch unbekannten russischen Komponisten Vladimir F. Vavilov, der in den 1970er Jahren seine stilistisch historische Komposition unter Caccinis Namen veröffentlichte. Die Nichtauthentizität von Vavilovs Werk kann somit den ästhetischen Genuss, den man beim Hören von Bocellis Gesang verspürt, in seinen Grundfesten erschüttern, und sei er noch so hervorragend. Man könnte natürlich an der Vorstellung über die Unabhängigkeit des ästhetischen Urteils, das sich nur auf die Überzeugungskraft einer konkreten Darbietung eines Werks stützt, das unmittelbar auditiv wahrgenommen wird, festhalten. Doch ein derartiges Beispiel relativiert die Glaubwürdigkeit solch eines Standpunktes vollständig.

Selbstverständlich trifft es auch zu, dass ein hoher ökonomischer Wert eines Kunstwerks zugleich seinen ästhetischen Wert oder sogar ein Niveau des „ästhetischen Genusses“ definieren kann, auch wenn man das noch so gerne leugnen möchte. Ein hochgepriesenes Werk findet allein schon wegen seines Preises Bewunderer. Der ästhetische Genuss wird somit durch die Erkenntnis bestärkt, dass es sich um eine besonders wertvolle Schöpfung handelt. Ein handfester Beweis dafür sind die Menschenmassen vor Leonardos Mona Lisa im Louvre.

Der Wert eines Kunstwerks kann also sowohl finanziell als auch im Sinne eines allgemeinen historischen oder kulturellen Werts gemessen werden. Die Tatsache, dass zum Beispiel die ersten Opern – auch wenn sie nicht erhalten sind – besonders hohes „ästhetisches“ Ansehen genießen, obwohl deren unmittelbare sinnliche Erkenntnis natürlich nicht möglich ist, wirkt widersprüchlich. Dasselbe gilt unter anderem auch für die Darbietung eines Werks auf einem zwar wertvollen alten Instrument, das aber in schlechter physischer „Form“ ist.