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KLAUS GIETINGER, geb. 1955, Sozialwissenschaftler, Drehbuchautor und Regisseur. Er schrieb und inszenierte diverse Tatort-Filme. Bei Nautilus erschienen Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung Rosa Luxemburgs (2009) und Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere (2009). Im Januar 2018 wurde der von ihm und Margot Overath unter Mitarbeit von Uwe Soukup gedrehte Dokumentarfilm Wie starb Benno Ohnesorg – Der 2. Juni 1967 für den Grimme-Preis 2018 nominiert. Klaus Gietinger lebt in Saarbrücken.

KLAUS GIETINGER

NOVEMBER
1918

DER VERPASSTE

FRÜHLING

DES 20. JAHRHUNDERTS

MIT EINEM VORWORT VON KARL HEINZ ROTH

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Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2018

Originalveröffentlichung

Erstausgabe März 2018

Umschlaggestaltung

Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Personenregister: Jette Groß

Autorenporträt Seite 2:

© Matthias Becker

(Allgäuer Zeitung)

ePub ISBN 978-3-96054-076-2

Inhalt

Vorwort von Karl Heinz Roth

Einleitung

Kurze Geschichte der
Geschichte der Novemberrevolution

Neueste Forschungen

Die Vorgeschichte

Der Erste Weltkrieg – Zweierlei Arbeiterbewegung

Das Ja zum Krieg

Krieg

Die Situation der arbeitenden Klassen im Ersten Weltkrieg

Die Massen gegen den Krieg

Die Vorbereitung der Revolution

Aufstand

Revolution – Frühling im November?

Der 9. November 1918

Der zweite Tag – 10. November 1918

Frühling?

Das Bündnis

Die Regierung der Volksbeauftragten

Die OHL plant den Bürgerkrieg – mit Wissen Eberts

Die Heimkehr der Fronttruppen

Reichsrätekongress – Der Sommer der Demokratie?

Die Weihnachtskämpfe

Der Aufbau konterrevolutionärer Freikorps

Der Januaraufstand

Die Liquidierung des Aufstandes

Das Köpfen der Revolution

Die Wahlen

Die zweite Revolution – Frühling im Frühling?

Januar – März 1919

Massenstreiks

Räterepublik Bremen

Die zweite Revolution in Berlin – Der zweite Frühling der Hauptstadt?

Das braune Band des Herbstes – Konterrevolution

März 1919 – Mai 1919

Straßenkampf

Schießbefehl

Matrosenmord

Räterepublik Bayern – Der letzte Frühling?

Versailles – Die Quittung

Verfassung – Frühling mit Frost

Putsch – Generalstreik – Winter

Spaltung

Fazit

Der vergessene Frühling 100 Jahre später

Anmerkungen

Quellen

Literatur

Bildnachweise

Abkürzungsverzeichnis

Danksagung

Personenregister

Vorwort

In den letzten Jahren haben einige Nachwuchshistoriker wichtige neue Forschungsergebnisse zu Einzelaspekten der Novemberrevolution veröffentlicht. Dadurch hat sich unser Wissen über die beteiligten Akteure, Ereigniskonstellationen und Organisationen wesentlich verbessert. Die »vergessene Revolution« hat neue Konturen und Kanten bekommen, und manche Gewichte haben sich verschoben. Wer die neueren Quelleneditionen und Untersuchungen durchmustert, bekommt einen nachhaltigen Eindruck davon, welche Lernprozesse bei den durch Krieg, Hunger und Ausbeutung zur Verzweiflung getriebenen Unterklassen abliefen, und wie sie eineinhalb Jahre lang immer wieder neu ansetzten, um die alten Herrschaftsstrukturen zu überwinden und eine friedliche, selbstverwaltete und sozial gerechte neue Gesellschaft aufzubauen.

Warum ist dieser Aufbruch gescheitert? Warum gelang es den deutschen Arbeiter- und Soldatenräten nicht, die alten Gewalten auszumanövrieren? Selbstverständlich haben sich jüngere Historiker auch diese Frage vorgelegt und sie in den von ihnen untersuchten Teilgebieten reflektiert. Sie haben die Unentschlossenheit, die mangelnde Koordination und die fehlende Weitsicht der Akteure herausgearbeitet – so etwa das Versagen des Revolutionsausschusses während des Berliner Januaraufstands, das Fehlen einer zielgerichteten politischen Praxis bei den herausragenden Persönlichkeiten des Umsturzes oder den allzu obsessiven Blick der Revolutionären Obleute auf legitimierende Rätekongresse. Allen diesen Studien ist auch das Erschrecken über das exzessive Ausmaß der konterrevolutionären Gewalt anzumerken, mit denen die kollektiven Subjekte des Umsturzes konfrontiert waren. Dieses Phänomen war jedoch überall zu beobachten, und zwar mit ständig wachsender Intensität. Es musste somit fundamentale strukturelle Ursachen geben, die sich den Historikern jedoch aufgrund ihrer begrenzten Sichtweisen und Fragestellungen nicht erschlossen hatten. Die tieferen Ursachen des Scheiterns der deutschen Revolution können offensichtlich erst dann entschlüsselt werden, wenn wir die gegeneinanderstehenden Kräfteverhältnisse der revolutionären Nachkriegskrise vom November 1918 bis Frühjahr 1920 in den Blick nehmen.

Genau hier setzt die vorliegende Studie Klaus Gietingers an. Sie schließt die Lücke, die zwischen dem durch die neuen Forschungen erweiterten Wissensfundus und den bis heute weitgehend tabuisierten Rahmenbedingungen entstanden war, und war somit überfällig. Wir verdanken sie nicht zufällig einem Autor, der sich seit langem mit der spezifischen Dynamik der deutschen Konterrevolution auseinandersetzt.

Klaus Gietinger gibt einen konzentrierten Überblick über die wesentlichen Etappen der eineinhalbjährigen revolutionären Nachkriegskrise, die zu Unrecht auf ihren Auftakt von Anfang November 1918 verkürzt wird. Dieser Auftakt war in der Tat außergewöhnlich. Alles begann mit dem Aufstand der Matrosen der Kriegsflotte, des Herzstücks des kaiserlichen Militärapparats. Nachdem sie ihre Standorte unter Kontrolle gebracht hatten, schwärmten die Aufständischen – überwiegend zum Kriegsdienst gezwungene Industriearbeiter – ins Reichsgebiet aus. Sie befreiten in der ersten Novemberwoche ihre Mitstreiter aus den Militärgefängnissen und Zuchthäusern, schlossen sich mit den ArbeiterInnen der Industriezentren und Bahnknotenpunkte zu Arbeiter- und Soldatenräten zusammen und bauten in Berlin die Volksmarinedivision auf. Bei Gietinger können wir das Auf und Ab des darauf folgenden revolutionären Prozesses nachlesen, der bis zum Frühjahr 1920 andauerte: die Umsturztage am 9. und 10. November in Berlin; die Weihnachtskämpfe um das Berliner Schloss; den Januaraufstand als gescheiterter zweiter Anlauf der von riesigen Massendemons -trationen beflügelten Revolutionären Obleute, des linken Flügels der USPD und der inzwischen gegründeten KPD; die kurzlebige Sozialistische Republik Bremen; die Massen- und Generalstreiks im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland im Februar/März 1919; den im blutigen Terror erstickten Berliner Generalstreik Anfang März 1919; die Bayerische Räterepublik vom März/April 1919 und die Märzrevolution 1920 als letztes Aufbäumen im Anschluss an den Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch. Dabei scheute sich die wieder eingesetzte Regierung nicht, gegen die Aufständischen dieselben Truppenverbände einzusetzen, die gerade gegen sie geputscht hatten.

An diesem Schlusspunkt des revolutionären Zyklus tritt das wesentliche strukturelle Moment seines Scheiterns besonders krass zutage: Die politischen Entscheidungsträger und Koordinatoren der Konterrevolution waren Spitzenvertreter der Sozialdemokratie. Wie Gietinger nachweist, hatten sie sich von Anfang an gegen den von wesentlichen Teilen der SPD-Basis mitgetragenen revolutionären Aufbruch gestemmt. Schon am 10. November 1918 hatte Friedrich Ebert, als führender Exponent des Rats der Volksbeauftragen, einen strategischen Pakt mit der Obersten Heeresleitung (Wilhelm Groener) geschlossen, und wenige Tage später war dieses Bündnis durch ein Abkommen zwischen der Gewerkschaftsführung (Carl Legien) und der Rüstungsindustrie (Hugo Stinnes) sozialpolitisch untermauert worden. Auf dieser Grundlage entfaltete sich eine intensive Kooperation zur Eindämmung und Niederschlagung der sozialrevolutionären Dynamik auf allen Ebenen, die die seit Kriegsbeginn beschleunigte Integration der überwiegenden Mehrheit der Funktionsträger der Arbeiterbewegung in die Machtstrukturen einer »total« entfesselten Kriegführung auf eine qualitativ neue Stufe hob. Dabei unterliefen der Bündniskonstellation Generalität-Arbeiterbürokratie zunächst erhebliche Fehler, so etwa beim gescheiterten Putsch gegen die Einberufung des Reichsrätekongresses oder bei den Berliner Weihnachtskämpfen. Aber ihre Exponenten waren lernfähig und verständigten sich auf die Anwendung exzessiver Gewaltmethoden und systematischen Terrors. Seit dem Januaraufstand hatten es die Massen der ArbeiterInnen mit einer entfesselten Soldateska zu tun, die Panzer, Flugzeuge, Artillerie und Minenwerfer im Stadtkampf einsetzte und sich schließlich seit der Niederschlagung des Berliner Generalstreiks vom März 1919 auf einen Schießbefehl stützen konnte, der einen durch die in den zentralen politischen Gremien agierende SPD-Führung und später auch die SPD-Fraktion der Weimarer Nationalversammlung gedeckten Freibrief zum Massenmord darstellte. Gietinger zeigt, welch ungeheuer demoralisierende Wirkung dieser durch die Sozialdemokratie gedeckte Weiße Terror auf die arbeitenden Klassen ausübte. Er sieht darin zu Recht eine politisch-militärische Konstellation, der die Organisationsansätze und Akteure des revolutionären Aufbruchs nicht gewachsen waren. Was hier geschah, war in der Tat ungeheuerlich: Ein sozialdemokratischer Minister (Gustav Noske) hatte einen durch seine Parteiführung gedeckten Schießbefehl erlassen, der die Kontinuität zu den deutschen Kolonialmassakern zu Beginn des Jahrhunderts und zu den während des Ersten Weltkriegs begangenen Kriegsverbrechen herstellte. Jetzt wurde auch die eigene Bevölkerung Opfer eines enthemmten Vernichtungswillens. Gedeckt wurde dieses Vorgehen durch alle politischen Führungsgremien. In ihnen hatte die Mehrheitssozialdemokratie eine unangefochtene Monopolstellung erlangt, nachdem die an ihnen beteiligten USPD-Vertreter aus ihnen ausgetreten bzw. ihre Kooptation in sie abgelehnt hatten. Das Einschwenken der Mehrheitssozialdemokratie auf ihren staatsterroristischen Kurs wurde somit durch schwere politische Fehler auf der Seite der seit 1916 von ihr abgespaltenen Unabhängigen Sozialdemokraten erleichtert.

Im vorliegenden Buch kommen auch die langfristigen Auswirkungen des Triumphs der deutschen Konterrevolution zur Sprache. Die zumindest zeitweilige Schwächung des deutschen Militarismus konnte nach Lage der Dinge nur noch durch die siegreichen Entente-Mächte erzwungen werden. Das konterrevolutionäre Bündnis zwischen der Generalität und der Sozialdemokratie löste sich nur unter dem Druck von außen auf. Militärischer Widerstand gegen den Versailler Vertrag und seine Abrüstungsbestimmungen war nicht möglich, und damit wurde eine im Juni 1919 nochmals erwogene Militärdiktatur unter den Galionsfiguren Noske und Ebert hinfällig. Stattdessen scheiterte ein Staatsstreich der Militärs gegen ihre bisherigen politischen Partner (der Kapp-Lüttwitz-Putsch). Nun gingen die Wege tatsächlich auseinander, aber die Kampftruppen des Weißen Terrors existierten untergründig weiter und wurden zusammen mit den sie finanzierenden Rüstungsmagnaten zu Keimzellen des Faschismus und eines erneuerten militärischindustriellen Komplexes, der auf einen Revisionskrieg zusteuerte und nur auf seine Chance wartete, die Weimarer Republik zu zerstören.

Angesichts dieser auch weltgeschichtlich weitreichenden Folgen des gescheiterten deutschen Frühlings stellt sich die Frage, inwieweit es sich bei dem nach dem Matrosenaufstand zustande gekommenen Übergewicht der politisch-militärischen Konterrevolution um ein singuläres Ereignis gehandelt hat. Die deutsche Revolution war in eine weltweite Umsturzbewegung eingebettet. Ihr unmittelbarer Auslöser waren die Entbehrungen des Kriegs, gegen die die Unterklassen – die zum Militär gepressten Bauern und Industrieproletarier und ihre Familien an den »Heimatfronten« – seit 1916/17 zu revoltieren begannen. Dabei formierten sich in Russland, den USA und auf dem gesamten europäischen Kontinent – auch in mehreren neutralen Ländern – breite soziale Massenbewegungen, die sehr schnell mit den Kräften der Konterrevolution konfrontiert waren. In den USA wurde ein vor allem von revolutionären Syndikalisten initiierter und gegen den Kriegseintritt gerichteter Streikzyklus 1917 blutig unterdrückt, und eine nach Kriegsende in Gang gekommene Massenstreikbewegung – die größte der bisherigen US-amerikanischen Arbeitergeschichte – wurde mit offenem Terror und der Massenausweisung rebellischer MigrantInnen beantwortet. In Russland kam es dagegen im Februar 1917 zum Sturz des Zarismus und zur Bildung einer Übergangsregierung, die die sozialrevolutionären Prozesse – Massendesertionen, Betriebsbesetzungen und die Enteignung des Großgrundbesitzes durch Bauern und Bauern-Arbeiter – nicht zu kanalisieren vermochte. Durch den Oktoberumsturz der Bolschewiki wurden diese Errungenschaften zunächst institutionell verankert, dann aber durch gravierende innen- und außenpolitische Fehlentscheidungen und ein gegen die Massenbedürfnisse gerichtetes Modernisierungskonzept in Frage gestellt. Da sich die Bolschewiki zudem im März 1918 im Ergebnis der Verhandlungen von Brest-Litowsk einem separaten Friedensdiktat der Mittelmächte unterwarfen, vergaben sie die Chance einer gesamteuropäischen Ausweitung der sozialen Umwälzungen. Die Folge war die Entfesselung eines von den Entente-Mächten unterstützten Bürgerkriegs, wobei die Bolschewiki den Weißen Terror mit exzessiv gewalttätigen Methoden beantworteten, nachdem sie mit Hilfe einiger zu ihnen übergelaufener Generalstabsoffiziere eine eigene Armee aufgebaut hatten.

Das waren die wesentlichen internationalen Rahmenbedingungen, mit denen die Akteure und Widersacher der kontinentaleuropäischen Umsturzbewegungen seit dem Herbst 1918 konfrontiert waren. Die Habsburg-Monarchie löste sich von selbst – »von oben« – in ihre Nationalstaaten auf: Österreich durchlief eine sozialreformerische Parametrisierung, die der Arbeiterbewegung erheblichen Terraingewinn einbrachte. In Ungarn spitzte sich die Entwicklung dagegen zu und kulminierte im März 1919 in einer sozialistischen Räterepublik, die fünf Monate später durch eine von innen und außen gestützte Konterrevolution blutig erstickt wurde. Zu dieser Zeit triumphierte der Weiße Terror aber auch in Spanien, und ein Jahr später begann in Italien der Generalangriff der Großgrundbesitzer-Milizen und der faschistischen Kampfbünde auf die Landarbeiterbewegung und die Arbeiterräte. Überall sollte die sozialrevolutionäre Initiative so schnell und so brutal wie möglich vernichtet werden, um die Internationalisierung der von den russischen Soldaten, Arbeitern und Bauern eröffneten Perspektive – Frieden, Land, Arbeiterkontrolle und kollektive Selbstbestimmung – zunichte zu machen. Das war der reale Kern der »Bolschewismus-Psychose«, auf die Klaus Gietinger in seiner Arbeit immer wieder hinweist.

Der internationale sozialrevolutionäre Aufbruch der Jahre 1917 bis 1921 scheiterte somit fast überall am entschlossenen Auftreten der Konterrevolution. Selbst die politischen und sozialreformerischen Zugeständnisse – allgemeines Wahlrecht, Achtstundentag, Ausbau der sozialen Sicherungssysteme – waren häufig nur eng befristet und wurden bald wieder zurückgenommen; sogar mehr oder weniger direkte Übergänge zur Institutionalisierung der Konterrevolution waren – etwa in Ungarn und Italien – zu beobachten. In den USA setzte sich eine rigide Open-Shop-Politik durch, die mit extrem restriktiven Einwanderungsbestimmungen kombiniert war, und in Sowjetrussland begann die Rote Armee 1920/21 offen, gegen die um ihre sozialen Errungenschaften kämpfenden Bauern und Arbeiter vorzugehen.

Der Winter, der sich in Deutschland zu Beginn der 1920er Jahre wieder ausbreitete, war somit kein Ausnahmephänomen. Und doch gab es ein strukturelles Merkmal, das in allen anderen Szenarien der revolutionären Nachkriegskrise fehlte: das uneingeschränkte Paktieren der deutschen Sozialdemokratie mit der militärischen Konterrevolution und ihre gemeinsame Frontstellung gegen die Unterklassen. In dieser Hinsicht stand die deutsche Sozialdemokratie völlig allein da – so allein wie im Juli/August 1914, als sie alle Angebote ihrer Schwesterparteien in Frankreich und anderswo in den Wind schlug und einen transnationalen Generalstreik gegen die Entfesselung des Ersten Weltkriegs verhindert hatte.

Als Klaus Gietinger vor acht Jahren bei der Edition Nautilus seine wegweisende Studie über Waldemar Pabst, die militärische Schlüsselfigur der deutschen Konterrevolution, veröffentlichte, schlug ich der Historischen Kommission der SPD in meinem Vorwort vor, den Namensgeber ihrer Parteistiftung durch eine allseits respektierte andere Führungspersönlichkeit zu ersetzen. Ich stieß auf lebhafte Ablehnung. Aber die Erinnerungskultur ist ein recht langsames Gefährt, und die Novemberrevolution muss in ihr erst noch ihren Platz finden. Deshalb möchte ich an dieser Stelle meinen Vorschlag auf Umbenennung der Friedrich-Ebert-Stiftung erneuern und um eine weitere Empfehlung ergänzen. Wie wäre es, wenn die Historische Kommission ein Handbuch mit den Kurzbiografien aller jener 4500 bis 5000 Menschen, die unter der Mitverantwortung der SPD dem Weißen Terror der Jahre 1918 bis 1920 zum Opfer fielen, herausbringt? Und wenn sie dazu auch noch die Adressen der Nachkommen ermittelt, dann wäre es dem Parteivorsitzenden möglich, sie – bei gleichzeitiger Überreichung eines Widmungsexemplars – um Entschuldigung zu bitten.

Karl Heinz Roth, im November 2017

»Wenn die Wahlkampfstrategen der CDU/CSU die SPD jetzt auch nur in die Nähe von Gewalttätern rücken, verletzen sie damit die Ehre einer Partei, deren Mitglieder in ihrer über 150-jährigen Geschichte immer von links- und rechtsaußen bedroht, verfolgt und umgebracht wurden. Die SPD ist die einzige Partei in Deutschland, die keine Belehrungen im Kampf gegen Terroristen braucht – egal, ob sie von links oder rechts kommen.«
Sigmar Gabriel, Außenminister der BRD, am 11. Juli 2017, nach dem G20-Gipfel in Hamburg

Einleitung

»Und die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in wenigen Jahren zustande.«1 Die Prophezeiung von Karl Marx und Friedrich Engels, 1848 im Kommunistischen Manifest mit Chuzpe verkündet, erfüllte sich zu ihren Lebzeiten nicht. Weder im selben Jahr des ersten deutschen bürgerlichen Revolutionsversuches noch später. Im Gegenteil, die Eisenbahn wurde entscheidend für die Planung eines Weltkrieges. Die deutsche Militärführung und die deutsche Reichsleitung sahen 1914 in der Eisenbahn das wichtigste Mittel, um einen Angriffskrieg zu gewinnen, von dem sie wussten, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Weltkrieg führen würde. Mit nicht zu überbietender Arroganz glaubten die deutschen Militärstrategen, dass die russischen Eisenbahnen wesentlich schlechter seien als die deutschen und daher die Mobilisierung des gigantischen deutschen Militärapparates, eines Massenheeres von Millionen Soldaten und Abertausenden Kriegswaffen, wesentlich schneller vonstatten ginge als die des russischen. Und daher wollte man in einem Blitzkrieg erst die französische Armee im Westen schlagen, um dann die Russen im Osten niederzuwalzen. Siegestrunken – aufgrund des raschen Vormarsches durch Belgien – reiste in der Nacht vom 16. auf den 17. August 1914 die gesamte deutsche Machtelite, die Generäle, der Kanzler, die Regierung und der Kaiser – nur die Kapitalisten fehlten, die aber hatten die Fahrpläne gemacht – in einem einzigen Zug von Berlin ins neue Hauptquartier der Obersten Heeresleitung (OHL) nach Koblenz.2 Kein Verschwörer lag am Bahndamm und sprengte die Strecke, wie es Anarchisten vergeblich mit dem Niederwalddenkmal, der riesigen Richtung Frankreich drohenden Germania-Statue, bei Rüdesheim, gut 50 Kilometer südlicher und 30 Jahre zuvor, anlässlich dessen Einweihung versucht hatten3 – das Pulver war nass geworden.

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Abb. 1 Niederwalddenkmal

Das der deutschen Militärs 1914 war trocken. Und einige Bohemiens und Anarchisten meldeten sich im August 1914 freiwillig4 – im Gegensatz zu den meisten deutschen Arbeitern, die, entgegen überholter Geschichtsschreibung, gar nicht begeistert waren über die Fahrt nach Paris, zu der es für Millionen von Soldaten keine Rückfahrkarte mehr brauchte.

Doch das Kalkül ging nicht auf. Die russischen Eisenbahnen waren schneller und besser als vermutet, und die deutschen Bahnen blieben vor Paris stecken.

Der entstandene Zweifrontenkrieg weitete sich zum Krieg mit Fronten in aller Welt. Hier erfüllte sich eine andere Prophezeiung, 1887 von Friedrich Engels gemacht: »Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen.«5

Tatsächlich war, vier Jahre nachdem die ersten deutschen Militärzüge Richtung Belgien und Frankreich gerollt waren, im Herbst 1918 dieser Weltkrieg für die deutschen Armeen nicht mehr zu gewinnen. In Frankreich saßen inzwischen außer französischen, englischen, australischen, indischen, burmesischen und afrikanischen auch immer mehr US-amerikanische Soldaten in Zügen und rollten an die Front.

Da setzte die OHL Anfang November 1918 einen Zivilisten in einen Zug. Der rollte sehr langsam – wie von der französischen Militärführung befohlen – durch verwüstetes Kriegsgebiet und brachte den Zentrumsabgeordneten Matthias Erzberger an einen ihm unbekannten Ort im Wald, den die deutschen Militäreisenbahnen nie erreicht hatten: Compiègne. Dort musste er den Waffenstillstand – im Auftrag der Regierung und der deutschen Obersten Heeresleitung – unterzeichnen.

Zur gleichen Zeit machten sich Tausende blau gekleidete deutsche Matrosen mit roten Fahnen in grünen Zügen auf den Weg von den Küstenstädten, die sie in einer Revolte in ihre Gewalt gebracht hatten, in alle Winkel des Reiches und verbreiteten in Windeseile ihre Botschaft: »Nieder mit dem Krieg, nieder mit dem Kaiser!« Es schien sich das zu erfüllen, was Marx und Engels 1848 prophezeit hatten: Die Eisenbahn transportierte eine Revolution, und zwar nicht in wenigen Jahren, sondern in wenigen Tagen. Die Massen in München unter Führung von Kurt Eisner (7. November 1918) und die Massen in Berlin unter Anleitung der Revolutionären Obleute (9. November 1918) brachten das zustande, was Engels 1887 prognostiziert hatte: »Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt.«6

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Abb. 2 Unterzeichnung des Waffenstillstands – Nachinszenierung für den Bayerischen Rundfunk

Die Kronen purzelten tatsächlich, in Deutschland, in Österreich, in Ungarn und zuvor schon in Russland. Und die deutschen Matrosen, die deutschen revolutionären Massen, hauptsächlich SPD-Anhänger, schienen tatsächlich zu siegen. Die alten Mächte, die alten Militärs wirkten entmachtet. Und der liberale Publizist Theodor Wolff sah gar am Tag danach, am 10. November 1918, »die größte aller Revolutionen«7.

Geblieben sind 99 Jahre danach Verdrehungen und Verschüttungen. Von Umsturz ist die Rede und von Zusammenbruch. Oder einfach vom Kriegsende.

So erwähnt der ehemalige DDR-Dissident Markus Meckel (SPD) 2017 in einem Interview über das Kriegsende 1918 die Revolution, die wesentlich zum Kriegsende beigetragen hat, mit keinem Wort. Und Gerd Krumeich, Historiker und Gegner Fritz Fischers (Griff nach der Weltmacht), wagt es gar, in der FAZ die Lüge vom Dolchstoß aufzuwärmen.8 Eine Lüge, die die Herren der OHL, General a. D. Erich Ludendorff und Generalfeldmarschall a. D. Paul von Hindenburg, in den 20er Jahren verbreitet hatten: Der Krieg, den sie selbst im September 1918 als verloren erklärt hatten, sei gar nicht verloren gewesen und die Revolutionäre in der Heimat, ja sogar die SPDFührung, der nichts ferner lag, hätten die Front von hinten erdolcht. Nur deswegen habe Deutschland die Waffen strecken müssen. Auch Krumeich verdammt 2017 »die Revolutionäre« des Novembers 1918, weil »die Kriegssituation nicht völlig aussichtslos gewesen« sei. Was absurd ist angesichts der militärischen Stärke der USA, die der Historiker mit keinem Wort erwähnt.

Ursache solcher Historiker-Verdammung ist die grundsätzliche Furcht der gegenwärtig als Wertegemeinschaft kaschierten neuen deutschen Volksgemeinschaft vor Revolutionen. Missachtet wird in solcher Gesellschaft der Deutsche Bauernkrieg von 1525, und stiefmütterlich behandelt die bürgerliche Revolution von 1848. Stattdessen schreibt man sich das friedliche Hambacher Fest von 1835 aufs Panier, eine Marginalie im Vormärz dieser Revolution. Nur nicht die Barrikadenkämpfe 1848 in Berlin, Wien, Leipzig und anderswo hervorkehren, nur nicht den Kampf der Badischen Revolutionsarmee gegen die preußische Armee erwähnen. Und schon gar nicht, dass der König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., im März 1848 in Berlin seine Mütze vor den »für die Sache der Freiheit Gefallenen«9 hatte ziehen müssen. Lieber das Schloss wieder aufbauen, von dessen Balkon aus er sein Volk nicht mehr beruhigen konnte und zum Angriff geblasen hatte. Aufstand – auch demokratisch motivierter – ist unpassend in Deutschland.

Selbst die sogenannte friedliche Revolution von 1989/9010, die – sieht man sich die Tausenden von zusätzlichen Kfz-Toten auf der Straße an – gar nicht so unblutig war11, wird nur als Wende bezeichnet.

Und die deutsche Revolution von 1918, die die entscheidende des 20. Jahrhunderts hätte werden können, war zu ihrem 90. Jahrestag 2008 praktisch vergessen. Keine Doku, kein Doku-Drama, keine Talkshow und kein Nico-Hoffmann-Melodram dazu.

Dabei war diese Revolution tatsächlich ein Aufbruch. Ein Aufbruch nach dem bis dahin schrecklichsten Krieg der Menschheitsgeschichte. Ein Aufbäumen gegen eine Herrschaft, die diesen Krieg wesentlich verursacht hatte. Die herrschenden Klassen in Deutschland: die Reichsregierung, der Kaiser, der Adel, die Schlotbarone, die Junker, nicht zu vergessen die moderne Bourgeoisie der Chemie- und Elektroindustrie und die Militärs sowie die technische Intelligenz und fast alle Kulturschaffenden mit Einfluss. Fatal an der Sache war, dass die leitenden Männer der Arbeiterbürokratie, die Führer der SPD und der Gewerkschaften, diesen Krieg bis zum Schluss mitgetragen hatten und bis zum Schluss tragen wollten. Friedrich Ebert, der Parteivorsitzende, soll in Tränen ausgebrochen sein, als er im Oktober 1918 erfuhr, dass der Weltkrieg für das Deutsche Reich verloren war. Der Krieg hatte die Arbeiterbewegung gespalten, und genau diese Spaltung war der Todesstoß für die Novemberrevolution. Die einen wollten der Herrschaft, die diesen Krieg wesentlich verursacht hatte, die Rechnung präsentieren – dies waren die Massen. Die anderen, die Arbeiterbürokraten, die mit ihrem Apparat großen Einfluss in den Betrieben und in der Gewerkschaftsbasis hatten, wollten genau dieses mit einem Bündnis mit jener Herrschaft, insbesondere den Militärs, verhindern. Die russische Oktoberrevolution von 1917 war für beide dabei ein merkwürdiger Fixpunkt. Für die Arbeitermassen in Deutschland hatten die Räte, die 1905 in der ersten – gescheiterten – russischen Revolution entstanden waren und die sich schon im Februar 1917 in großer Zahl spontan erneut gebildet hatten, Vorbildcharakter. Sie wollten nach dem großen Völkerschlachten zuallererst Frieden, ein besseres Leben und erhofften sich dies von der Demokratie, der Sozialisierung und der Zerschlagung des Militarismus. Die Arbeiterbürokratie, die SPD-Führung wie die Gewerkschaftsspitzen, fürchtete sich nicht nur vor dem totalen Umsturz, vor der Umwertung aller Werte, dem radikalen Ende der jetzigen Militär-, Junker-, Kartell- und Bourgeoisieherrschaft in Deutschland, mit der sie sich so komfortabel arrangiert hatten, sondern sie fürchteten sich vor den eigenen Massen, denen sie, als autoritäre Charaktere, Emanzipation absprachen. Massen, die sie mittels der »Heerstraße der parlamentarischen Beratung«12 regieren wollten, damit diese alternativlos nur eines wählten: Kapitalismus mit sozialer Garnitur. Als die arbeitenden Massen mehr wollten, kam es innerhalb weniger Wochen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen der SPD-geführten Regierung mit großen Teilen ihrer (inzwischen ehemaligen) Anhänger. Der Terror der Bolschewiki machte der SPD-Führung Angst und war gleichzeitig willkommener Vorwand, um selbst blutigen Massenterror gegen die sich aus Enttäuschung über ihre Führer radikalisierenden Massen zu organisieren. Die Dynamik des November 1918 weist dabei weit über diesen Monat (und Deutschland) hinaus.

Diese Revolution hat zwei entscheidende Phasen, Phasen der Radikalisierung. Nach dem Frühling kommt gleich der Herbst. Einen Sommer gibt es hier nicht (und auch deswegen ist diese Revolution vergessen). Die erste Phase reicht vom November 1918 bis Januar 1919 – sie enthält einen kurzen Frühling Anfang November, aber schon Anfang Dezember beginnt der Herbst, und spätestens im Januar formiert sich massiv die Gegenrevolution. Die zweite Phase beginnt im Februar 1919, ein zweiter Frühling, eine zweite Revolution scheint möglich, doch umso schlimmer wird der zweite Herbst, der zur gleichen Zeit die zweite Revolution überlagert und buchstäblich im Massenterror tötet. Dies geht bis zum Mai 1919. Ein dritter Frühling nach einem konterrevolutionären Putsch, dem Kapp-Putsch 1920, führt erneut zu Massakern, Massakern der von den Massen geretteten Regierung an diesen Massen.

Wir haben es bei diesem verpassten Frühling, wie gesagt, mit zwei Bewegungen zu tun. Zum einen die der radikaldemokratischen Massenbewegung gegen den Krieg hin zur sozialistischen Massenbewegung: die Rätebewegung. Und die der arbeiterbürokratischen Unterstützer des Krieges, die über die Zusammenarbeit mit den alten militärischen Mächten und aufgrund abbröckelnder Wählerschaft schließlich zum Staatsterror schritten.

Dies geschah unter dem Beifall der alten herrschenden Eliten, der neuen und alten Kapitalisten, der Junker, des Adels, des Bürgertums, des Kleinbürgertums, fast der ganzen, auch der alten sozialdemokratischen Presse, der Liberalen, großen Teilen der konservativen Intellektuellen und – eher widerstrebend – Teilen der eigenen SPD-Anhänger, eben all jener, die das mythische »Augusterlebnis« des Kriegseintritts 1914 kurzzeitig zu einer Weltkriegsaggressionseinheit, ja Welteroberungsgemeinschaft zusammengeschweißt hatte. Nur noch Deutsche. Man könnte es auch als »zweites Augusterlebnis« oder als »Frühjahr der Konterrevolution« bezeichnen. Die nationale Erhebung einer radikalen Volksgemeinschaft, deren militärischer Arm die neuen Freikorps aus alten und neuen uniformierten Kampfmaschinen bildeten, die einen Terror produzierte, den es bis dahin im Innern des Deutschen Reiches nicht gegeben hatte und der den Grund bereitete für die 14 Jahre später folgende Naziherrschaft.

Das unmittelbare Ergebnis war die Weimarer Republik, eine ungeliebte, verkorkste parlamentarische Demokratie mit verkorkster Verfassung sowie auf Rache sinnende Herrschende in Wirtschaft, Verwaltung und Militär, die den selbstverschuldeten verlorenen Krieg ihren zeitweiligen Verbündeten in den Arbeiterbürokratien gekonnt anlasteten und auf eine neue Diktatur mit neuer militärischer Weltmacht und Krieg hinsteuerten. Die angebliche Schmach von Versailles 1919 tat ihre Wirkung bis weit in die linken Parteien hinein.

Das Scheitern der Novemberrevolution 1918/19 als basisdemokratischer Revolution der Massen ist historisch zwar keine hinreichende Bedingung für Nazideutschland, Holocaust und Zweiten Weltkrieg gewesen, aber eine notwendige. Dabei hätte alles anders kommen können.

Kurze Geschichte der Geschichte der Novemberrevolution

Der 100. Jahrestag dieser Revolution wird hoffentlich eines bewirken: sie dem Vergessen zu entreißen. Denn die Novemberrevolution 1918 ist der vergessene Frühling des 20. Jahrhunderts. Das Vernichtungswerk der Nazis, das sich immer auf diese Revolution bezog, der Hitler-Putsch im November 1923, mehr noch der November 1938 mit dem staatlich organisierten deutschlandweiten Judenpogrom und dem folgenden Massenmord schaffte es, die erste erfolgreiche Demokratiebewegung in diesem Land aus der Erinnerung der Deutschen zu tilgen. Obendrein – was für ein Zufall – tat der November 1989 mit dem Ende der DDR, der letzten Ausgeburt des verpassten Frühlings, ein Übriges.

Was die Beurteilung der deutschen Revolution von 1918/19 durch Historiker angeht, gibt es seit Ende des Zweiten Weltkrieges im Westen und dann in der vereinten Republik auch zwei Strömungen, die sich immer wieder abwechseln, von denen die eine immer wieder alte Kamellen anbietet, die andere immer wieder Neues hervorbringt, auch wenn sie partiell Täuschungen unterlegen sein sollte.13

In der BRD gewann in den 50er Jahren die These von der Abwehr des Bolschewismus durch die SPD-Führer die Oberhand. Sie stützte sich auf alte Mythen, die im Bürgertum und der Sozialdemokratie kursierten, seit Wladimir Iljitsch Lenin und die Bolschewiki die Duma, das russische Parlament, vertrieben hatten und ihre Herrschaft mit Terror festigten.

Vorherrschend war die weit verbreitete Ansicht, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die revolutionären Massen, die USPD und die KPD, alle unter dem Begriff »Spartakisten« über einen Kamm geschoren, wollten in Deutschland eine Herrschaft wie Lenin und Trotzki und später Stalin in Russland errichten. Dies wurde noch verfestigt durch die DDR-Geschichtsschreibung, welche den Einfluss von Spartakus und KPD stark übertrieb.

Doch schon Ende der 50er Jahre entdeckten jüngere Historiker wie Peter van Oertzen, Eberhard Kolb und Ulrich Kluge die Räte und bedauerten die verpassten Chancen. Die 68er nahmen sich die Räte gar zum Vorbild. Ende der 80er kam es schon vor dem Ende der Sowjetunion und der DDR zum Rollback, der sich nach dem Untergang des »Realsozialismus« dann noch verstärkte. Frühere Ebert-kritische Historiker wie Winkler ruderten zurück und sahen 1918/19 durch die alternativlose Politik von Ebert et al. einen Bürgerkrieg verhindert.14

Nach der Jahrtausendwende sind dann zwei sich überlagernde Entwicklungen zu beschreiben: Die eine treibt den Rollback auf die Spitze, angeführt von Christopher Clarks Die Schlafwandler, wo massenwirksam die Regierungen Deutschlands und Österreich-Ungarns zu Unschuldslämmern mutieren und der Erste Weltkrieg im Wesentlichen durch Serbien, Russland, Frankreich und Großbritannien verursacht wird.15 Dem schlossen sich zahlreiche deutsche Historiker an und fühlten sich endlich befreit von früher deutscher Verantwortung für ein Massenmorden, das vom deutschen Wesen gar nicht ausgegangen sein konnte.

Eine zweite Entwicklung ist dagegen erfreulich: Junge Historiker entdecken die Räte neu, verhelfen den basisdemokratischen Massen wieder zu ihrem Platz in der Geschichte und machen klar, welch Jahrhundert-Frühling hier möglich gewesen wäre.

Neueste Forschungen

Seit über 30 Jahren beschäftige ich mich als Sozialwissenschaftler mit der Novemberrevolution.16 Ausgewertet wurden hier neben bekannten und bisher meist unbenutzten Quellen17 einschlägige Sekundärliteratur sowie die neuesten Arbeiten von Volker Ullrich (2009), Ottokar Luban (2009), insbesondere aber die junger Historiker: Ralf Hoffrogge (2008/2013), Dietmar Lange (2012), Axel Weipert (2013), Florian Wilde (2013), neuere Sammelbände von Alexander Gallus (2010) und von Ulla Plener (2009/2013) und zudem die Arbeit des irischen Historikers Mark Jones (2017), der wichtige Thesen meines Buches Der Konterrevolutionär (2008) bestätigt. Last but not least: Joachim Käppner (2017), Wolfgang Niess (2017), Sebastian Zehetmair (2017).

Diese Arbeiten haben neue Aspekte zur Novemberrevolution hervorgebracht. Sie führen einerseits zur Neubewertung des Terrors, der durch den Pakt SPD/OHL entstand. Sie zeigen aber auch, dass die Räte eine große historische Chance hatten.

Die Vorgeschichte
Der Erste Weltkrieg – Zweierlei Arbeiterbewegung

Das Ja zum Krieg

»Der Krieg ist unausrottbar in der Gesellschaft der Warenproduktion, welche nicht bloß Klassengegensätze, sondern auch nationale Gegensätze erzeugt. (…) Den Krieg zu beseitigen gibt es nur ein Mittel, die Gegensätze zu beseitigen, die ihn erzeugen. Das können nur die Arbeiter, das kann nur die Sozialdemokratie.«18

Seit ihrer eigentlichen Gründung 1875 forderte die SPD die Demokratisierung des Militärwesens und damit – so hoffte man – die Verhinderung imperialistischer Kriege. Preußischer Militarismus und Sozialdemokratie schienen unüberwindliche Gegensätze. Von Parteitag zu Parteitag wurde die Formel von der Volkswehr, dem Milizsystem, wiederholt. Von Anfang an war diese Formel jedoch nicht pazifistisch und schloss – obwohl der Proletarier laut Marx und Engels kein Vaterland hatte – Verteidigungskriege nicht aus.

Mit den Jahren machte die Partei eine Wandlung durch. Zwar wurden immer noch die Militärvorlagen im Parlament abgelehnt, aber man wollte nicht länger vaterlandsloser Geselle sein. Schon von Anbeginn tat sich die Schwachstelle der sozialdemokratischen Militärpolitik auf: die »Vaterlandsverteidigung«.

Der Parteivorsitzende Bebel, vom Schreckgespenst des russischen Zarismus getrieben, hatte 1904 den berühmten Ausspruch getan, »dass selbstverständlich die Sozialdemokraten die Flinte auf den Buckel nehmen würden, wenn es sich darum handelte, Deutschland vor wirklichen Gefahren zu bewahren«.19 Als Burgfriedenspolitik mit den Herrschenden war das nicht gemeint, sondern als Verteidigung »nicht für, sondern gegen Euch«.20 Und meinte mit »Euch« die Herrschenden des Deutschen Reiches. Doch der Wind drehte sich weiter: Gustav Noske sagte 1907 bei seiner Jungfernrede im Reichstag: »Wir sind selbstverständlich der Meinung, dass es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, dafür zu sorgen, dass das deutsche Volk nicht von irgendjemand anderem an die Wand gedrückt wird (…) Wenn ein solcher Versuch gemacht werden sollte, dann würden wir uns selbstverständlich mit ebenso großer Entschiedenheit wehren, wie das nur irgendeiner der Herren auf der rechten Seite des Hauses tun kann.«21

Der tosende Beifall der Bürgerlichen und der Reaktion war ihm sicher. Vergessen das Erfurter Programm und seine Erklärung des Krieges als dem Kapitalismus immanent. Das »deutsche Volk« war plötzlich wichtiger als der Proletarier und musste verteidigt werden. Kein Klassenkampf mehr, sondern jetzt doch Burgfrieden. Gleichzeitig wurde hier schon die Zusammenarbeit mit den »Herren auf der rechten Seite« angekündigt.

Bebel nahm Noske gegen Kritik, u a. von Rosa Luxemburg, in Schutz und stimmte der Rede – im Prinzip – zu. Noskes Meinung fand immer mehr Anklang in der Parteiführung. Nicht umsonst bezeichnete sein Freund Ebert die Rede später als »Programmrede der deutschen Sozialdemokratie für den Weltkrieg«22.

Liebknecht setzte die antimilitaristische Agitation der Jugend dagegen: »Wer die Jugend hat, hat die Armee«23. Rosa Luxemburg plädierte für den Internationalismus: »Verweigerung der Rüstung zu Lande und zu Wasser … die militärische Organisation … demokratisieren … Jugenderziehung … Propaganda des Milizsystems, Massenversammlungen, Straßendemonstrationen« und »Massenstreik!«24

Nur mit sich immer mehr steigernden Aktionen, die »in eine entscheidende revolutionäre Massenaktion« münden sollten, sei der Krieg in imperialistischen Zeiten zu verhindern.25 Massenstreiks als Mittel gegen den Krieg.

Auch Bebel hatte noch im Dezember 1905, nach der ersten Marokkokrise und unter dem Eindruck der Russischen Revolution, im Reichstag mit Generalstreik im Kriegsfall gedroht: »Was das russische Volk seinem Herrscher gezeigt hat, […] das können unter Umständen auch die westeuropäischen Völker ihren Herrschern zeigen. […] Die Völker lassen sich in keinen Krieg mehr hetzen; darauf können Sie sich verlassen.«26

Doch schnell ruderte er zurück. Hatte man auf dem Jenaer Parteitag der SPD 1905 dem Massenstreik – allerdings nur als Abwehrmaßnahme gegen eine eventuelle Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts im Reich27 – zugestimmt, war die Parteileitung in einer Geheimvereinbarung mit der Gewerkschaftsführung davon wieder abgerückt. Mit dieser politischen Streikphobie setzten sich die deutschen Sozialdemokraten, sehr gegen den Widerstand der Linken in der SPD, von den französischen Sozialisten ab. Auf dem Stuttgarter Sozialistenkongress 1907 sprachen sich Jean Jaurès und seine Genossen für den Massenstreik aus.28 Gustave Hervé plädierte sogar für Militärstreiks (auch Massenfahnenflucht) plus Aufstand.29 August Bebel lehnte sowohl den Vorschlag Jaurès’ als auch denjenigen von Hervé ab, hauptsächlich, weil er die Existenz der SPD gefährdet sah. Bebel glaubte, dass die Sozialisten einen Angriffsvon einem Verteidigungskrieg unterscheiden könnten.30 Hervé kritisierte dies heftig: »Wenn aber einmal zwischen Großmächten ein Krieg ausbrechen wird, dann entfacht die übermächtige kapitalistische Presse einen solchen Sturm des Nationalismus, dass wir nicht Kräfte genug haben, um dem entgegenzutreten. Dann ist es zu spät mit eurer ganzen feinen Unterscheidung.« Und er sah die Wandlung der SPD: »Aber jetzt seid ihr nur noch Wahl- und Zahlenmaschinen (Heiterkeit), eine Partei mit Mandaten und Kassen. Mit Stimmzetteln wollt ihr die Welt erobern. […] Jetzt ist die ganze Sozialdemokratie verbürgerlicht und Bebel ist unter die Revisionisten gegangen, indem er uns heute gesagt hat: Proletarier aller Länder, mordet euch! (Große Unruhe).«31 Rosa Luxemburg übersetzte simultan, nannte Hervé aber ein »Enfant«, ein »Enfant terrible«, weil er für einen Aufstand plädiert habe, ohne dass eine revolutionäre Situation vorhanden sei. Auf Massenstreik und »Ausnutzung des Krieges zur Beschleunigung des Sturzes der Klassenherrschaft« wollte sie allerdings nicht verzichten und musste sich damit »auch leider gegen Bebel wenden«.32 Ihr gelang es, unterstützt von Julius Martow und Lenin, die damals trotz erfolgter Spaltung der russischen Sozialdemokratie in Menschewiki und Bolschewiki noch zusammenarbeiteten, einen Resolutionsentwurf durchzubringen, der die Tür zum Massenstreik bei Kriegsgefahr offen ließ.33 Doch der Parteivorstand hatte diese Tür längst, in Übereinstimmung mit der Gewerkschaftsführung, zugeschlagen.

Und die »Lustigen Blätter« dichteten nach Noskes Reichstags-Jungfernrede:

»Hervé will Soldatenstreik

Liebknecht spricht so ähnlich

Ledebour zeigt sich dem Heer

Auch nicht sehr versöhnlich […]

Aber dennoch, Mut! nur Mut!

Lasst’s euch nicht verdrießen

Denn wir wissen absolut:

Noske der wird schießen!«34

Einer ging noch weiter. Der ehemals linke Gewerkschaftsführer Gustav Bauer führte im November 1913 aus: »Die Kriegsfrage ist kein prinzipielles, sondern ein taktisches Problem. Es gilt für das Proletariat der einzelnen Länder abzuwägen, ob der Krieg Vorteile bringen könne oder nicht und danach ist ihr Verhalten einzurichten.« Es gab nach Bauer nur noch zwei Formen von Kriegen: nützliche und unnütze. Krieg musste zudem vom Proletariat akzeptiert werden, weil es nicht unterscheiden konnte, wer Angreifer und Verteidiger war.

Bauer kündigte hier den Herrschenden – er wusste, dass Spitzel im Publikum saßen – an, dass man sich auf ihn und andere SPD-Führer würde zukünftig verlassen können.35

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Abb. 3 Rosa Luxemburg und Kostja Zetkin, ca. 1907

Die »Schiefe Ebene«, die Rosa Luxemburg wenige Monate vorher auf dem Parteitag in Jena entdeckt hatte, eine Bahn, »auf der es keinen Halt mehr gibt«36, sollte zur Talfahrt ins Massengrab werden.

Mit dem Tod Bebels 1913 und der Übernahme der Macht in der Partei durch den neuen Parteivorsitzenden Friedrich Ebert war der rechte Flügel um Philipp Scheidemann, Eduard David, Carl Legien, Wolfgang Heine, Carl Severing, Gustav Bauer, Wilhelm Keil und nicht zu vergessen Gustav Noske in der Überzahl. Denn Hugo Haase, der zweite Vorsitzende, hatte wenig Einfluss und kam gegen Ebert nicht an.