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Titel

Unsichtbares
Komitee
Der kommende
Aufstand
Aus dem Französischen übersetzt von Elmar Schmeda

 

 

 

Edition Nautilus

Impressum

Lektorat: Hanna Mittelstädt |

Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien 2007 unter dem Titel L’insurrection qui vient bei La Fabrique éditions, Paris. © La Fabrique éditions. Der deutschen Übersetzung liegt die erweiterte Neuauflage vom Juli 2009 zugrunde. |

© 2010 für die deutsche Ausgabe: Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg | Schützenstr. 49 a | D-22761 Hamburg | www.edition-nautilus.de | Alle Rechte vorbehalten |

Umschlaggestaltung Maja Bechert,Hamburg, www.majabechert.de |

Deutsche Erstausgabe August 2010 |

Druck & Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg | 5. Auflage Dezember 2010 | Print: ISBN 978-3-89401-732-3 | eBook: ISBN 978-3-86438-020-4 (ePub) | ISBN 978-3-86438-021-1

Unter welchem Blickwinkel...

Unter welchem Blickwinkel man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ausweglos. Das ist nicht die unwichtigste ihrer Eigenschaften. Denen, die unbedingt hoffen wollen, raubt sie jeden Halt. Diejenigen, die vorgeben, Lösungen zu besitzen, werden auf der Stelle widerlegt. Es besteht Einverständnis, dass alles nur noch schlimmer werden kann. »Das Künftige hat keine Zukunft mehr« ist die Weisheit einer Epoche, die hinter ihrer Fassade extremer Normalität auf dem Erkenntnisstand der ersten Punker angekommen ist.

 

Der Kreis der politischen Vertretung schließt sich. Von Links bis Rechts ist es dasselbe Nichts, das Champion-Posen einnimmt oder Unschuldsmienen aufsetzt, sind es die gleichen Gondelköpfe, die ihre Reden gemäß den neuesten Funden der Werbeabteilung austauschen. Diejenigen, die noch wählen, machen den Eindruck, nur noch die Urnen sprengen zu wollen, indem sie aus reinem Protest wählen. Wir beginnen zu durchschauen, dass in Wirklichkeit gegen die Wahl selbst weiter gewählt wird. Nichts von allem, was sich präsentiert, ist auch nur im Entferntesten auf der Höhe der Situation. Selbst in ihrem Schweigen scheint die Bevölkerung unendlich viel erwachsener als all die Hampelmänner, die sich zanken, um sie zu regieren. Ein x-beliebiger Chibani1 aus Belleville ist in seinen Worten weiser als jeder unserer sogenannten Führer mit all seinen Erklärungen. Der Deckel des sozialen Kessels wird dreifach gesichert verschlossen, während der Druck im Inneren unaufhörlich steigt. Seit Argentinien beginnt das Gespenst des Que se vayan todos! ernsthaft in den führenden Köpfen zu spuken.

 

Der Brand vom November 20052 wirft noch immer seinen Schatten auf jedes Bewusstsein. Diese ersten Freudenfeuer sind die Taufe eines Jahrzehnts voller Versprechungen. Das Medienmärchen von den Vorstädten-gegen-die-Republik verfehlt zwar nicht seine Wirksamkeit, aber es verfehlt die Wahrheit. Brandherde haben sich bis in die Stadtzentren verbreitet, sie wurden systematisch verschwiegen. Ganze Straßen von Barcelona haben aus Solidarität gebrannt, ohne dass irgendjemand davon etwas wusste außer ihren Bewohnern. Und es stimmt nicht einmal, dass das Land seitdem aufgehört hätte zu lodern. Man findet unter den Angeklagten die verschiedensten Profile, die kaum etwas anderes als der Hass auf die existierende Gesellschaft vereint, jedenfalls nicht die Zugehörigkeit zu einer Klasse, Rasse oder einem Wohnviertel. Die Neuartigkeit liegt nicht in einer »Revolte der Vorstädte«, die schon 1980 nicht neu war, sondern im Bruch mit ihren herkömmlichen Formen. Die Angreifer hören auf niemanden mehr, weder auf die großen Brüder, noch auf den örtlichen Verein, der eigentlich den Normalzustand wieder herstellen soll. Kein SOS Racisme wird seine krebsartigen Wurzeln in eben dieses Ereignis senken können, einzig die Ermüdung, die Verfälschung und das Medien-Omerta haben so tun können, als ob sie es beenden. Diese ganze Serie von nächtlichen Anschlägen, anonymen Angriffen, Zerstörungen ohne Geschwafel hat das Verdienst gehabt, die Kluft zwischen der Politik und dem Politischen so weit wie möglich zu öffnen. Niemand kann ehrlicherweise die volle Ladung an Offensichtlichkeit dieses Angriffes leugnen, der keine Forderung formulierte, keine andere Botschaft als die der Drohung, und der mit der Politik nichts zu schaffen hatte. Man muss blind sein, um all das nicht zu sehen, was an rein Politischem in diese entschlossene Negation der Politik eingeht; oder nichts wissen über die autonomen Bewegungen der Jugend seit dreißig Jahren. Als verlorene Kinder hat man die ersten Nippfiguren einer Gesellschaft verbrannt, die nicht mehr Beachtung verdient als die Pariser Monumente am Ende der Blutigen Maiwoche3 – und die das weiß.

 

Für die gegenwärtige Situation wird es keine soziale Lösung geben. Zunächst weil das vage Konglomerat von Milieus, Institutionen und individuellen Blasen, das man ironisch »Gesellschaft« nennt, keine Konsistenz hat, außerdem, weil es keine Sprache mehr für die gemeinsame Erfahrung gibt. Und man teilt keine Reichtümer, wenn man keine Sprache teilt. Es hat ein halbes Jahrhundert Kämpfe um die Aufklärung gebraucht, um die Möglichkeit der Französischen Revolution zu schaffen, und ein Jahrhundert Kämpfe um die Arbeit, um den furchterregenden »Wohlfahrtsstaat« hervorzubringen. Die Kämpfe schaffen die Sprache, in der man die neue Ordnung spricht. Nichts Ähnliches heute. Europa ist ein geldloser Kontinent, der heimlich bei Lidl einkaufen geht und low cost reist, um überhaupt noch zu reisen. Kein einziges der »Probleme«, die in der sozialen Sprache formuliert werden, lässt in ihr eine Lösung zu. Die »Frage der Renten«, die der »Prekarität«, der »Jugend« und ihrer »Gewalt« können nur im Raum stehen bleiben, während man das immer unfassbarere Zur-Tat-Schreiten polizeilich verwaltet, das von diesen Fragen verdeckt wird. Man wird es nicht schaffen, die Tatsache zu verschönern, dass die Alten, die von ihren Leuten verlassen wurden und nichts zu sagen haben, für schändliche Preise den Hintern abgewischt bekommen. Diejenigen, die auf kriminellen Wegen weniger Erniedrigung und mehr Gewinn gefunden haben als in der Gebäudereinigung, werden ihre Waffen nicht niederlegen, und das Gefängnis wird ihnen nicht die Liebe zur Gesellschaft einhämmern. Die Lustgier der Rentnerhorden wird nicht untätig düstere Einschnitte in ihre monatlichen Renten ertragen und kann sich nur noch mehr über die Arbeitsverweigerung einer breiten Fraktion der Jugend erregen. Schließlich wird kein in der Folge einer Quasi-Erhebung gewährtes garantiertes Einkommen die Grundlagen für einen neuen New Deal, für einen neuen Pakt, für einen neuen Frieden schaffen. Das soziale Empfinden hat sich dafür viel zu sehr verflüchtigt.

Anstelle einer Lösung werden der Druck, damit nichts passiert, und mit ihm die polizeiliche Rasterung des Landes sich immer mehr verstärken. Die Drohne, die – wie sogar die Polizei zugab – am letzten 14. Juli das Departement Seine-Saint-Denis überflogen hat, zeichnet die Zukunft in ehrlicheren Farben als all die humanistischen Nebel. Dass man darauf Wert gelegt hat klarzustellen, dass sie nicht bewaffnet war, drückt ziemlich deutlich aus, auf welchen Weg man uns gebracht hat. Das Territorium wird in immer undurchlässigere Zonen zerschnitten werden. An den Rand eines »Problemviertels« gebaute Autobahnen schaffen eine unsichtbare Mauer, die durchaus imstande ist, es von den Villenvierteln zu trennen. Was die republikanischen guten Seelen darüber auch denken mögen, die Verwaltung der Viertel »durch Communities« ist wie allgemein bekannt die wirksamste. Die rein metropolitanen Teile des Territoriums, die wichtigsten Innenstädte, werden ihr luxuriöses Leben in einer immer durchtriebeneren, immer ausgeklügelteren, immer strahlenderen Dekonstruktion führen. Sie werden den ganzen Planeten mit ihrem Bordell-Licht erleuchten, während die Patrouillen der BAC4 und private Sicherheitsfirmen, kurz: die Milizen, sich bis ins Unendliche vervielfachen werden, und dabei gleichzeitig eine immer unverschämtere juristische Deckung genießen.

 

Die Sackgasse der Gegenwart ist überall wahrnehmbar und wird überall geleugnet. Niemals haben sich so viele Psychologen, Soziologen und Literaten darum so sehr gekümmert, jeder in seinem besonderen Jargon, in dem die Schlussfolgerung besonders abwesend ist. Es genügt, die Gesänge dieser Epoche zu hören, die Sternchen des »neuen französischen Chansons«, wo das Kleinbürgertum seine Gemütszustände seziert, und die Kriegserklärungen der Mafia K’1Fry5, um zu wissen, dass eine Koexistenz bald enden wird, dass eine Entscheidung nahe ist.

 

Dieses Buch ist mit dem Namen eines imaginären Kollektivs unterzeichnet. Seine Verfasser sind nicht seine Autoren. Sie haben sich damit begnügt, etwas Ordnung in die Gemeinplätze der Epoche zu bringen, in das, was an den Tischen der Bars, hinter der geschlossenen Tür der Schlafzimmer gemurmelt wird. Sie haben nur die notwendigen Wahrheiten festgehalten, deren universelle Verdrängung die psychiatrischen Kliniken und die Leidensblicke füllt. Sie haben sich zu den Schreibern der Situation gemacht. Es ist das Privileg der radikalen Umstände, dass die Genauigkeit dort in guter Logik zur Revolution führt. Es genügt, das zu sagen, was man vor Augen hat, und die Schlussfolgerung nicht zu umgehen.

1 alter arabischer Immigrant, A.d.Ü.

2 die sog. Vorstadt-Unruhen, A.d.Ü.

3 Pariser Kommune 1871, A.d.Ü.

4 Antikriminelle Brigade, A.d.Ü.

5 Rap-Gruppe, A.d.Ü.

Erster Kreis »I AM WHAT I AM«

Erster Kreis

»I AM WHAT I AM«

»I AM WHAT I AM.« Das ist die letzte Opfergabe des Marketings an die Welt, das höchste Entwicklungsstadium der Werbung, voraus zu sein, so sehr allen Ermahnungen voraus, anders zu sein, man selber zu sein und Pepsi zu trinken. Jahrzehnte von Konzepten, um an diesen Punkt zu kommen, zur reinen Tautologie. ICH = ICH. Er läuft auf einem Rollband vor dem Spiegel seines Fitnesscenters. Sie kommt am Steuer ihres Smart von der Arbeit zurück. Werden sie sich begegnen?

»ICH BIN DAS, WAS ICH BIN.« Mein Körper gehört mir. Ich bin ich, du bist du, und es geht schlecht. Massen-Personalisierung. Individualisierung aller Bedingungen – des Lebens, der Arbeit, des Unglücks. Diffuse Schizophrenie. Schleichende Depression. Atomisierung in feine paranoide Teilchen. Hysterisierung des Kontakts. Je mehr ich Ich sein will, desto mehr habe ich das Gefühl von Leere. Je mehr ich mich ausdrücke, desto mehr versiege ich. Je mehr ich hinter mir herlaufe, desto müder bin ich. Ich führe, du führst, wir führen unser Ich wie einen stumpfsinnigen Schalter. Wir sind die Vertreter unserer selbst geworden – ein seltsamer Handel –, die Garanten einer Personalisierung, die am Ende ganz nach einer Amputation aussieht. Wir kriegen es hin, bis zum Zusammenbruch, mit einer mehr oder weniger verschleierten Ungeschicklichkeit.

Bis dahin hab ich’s im Griff. Die Selbstsuche, meinen Blog, meine Wohnung, den neuesten Schwachsinn, der gerade Mode ist, die Paar-, die Sexgeschichten … was man an Prothesen braucht, um ein Ich aufrechtzuerhalten! Wenn »die Gesellschaft« nicht diese endgültige Abstraktion geworden wäre, bezeichnete sie die Gesamtheit der existenziellen Krücken, die man mir reicht, damit ich mich noch weiterschleppen kann, die Gesamtheit der Abhängigkeiten, die ich um den Preis meiner Identität eingegangen bin. Der Behinderte ist das Modell der kommenden Bürgerschaft6. Die Vereine, die ihn ausbeuten, handeln nicht ohne Vorahnung, wenn sie gegenwärtig für ihn das »Existenzgeld« fordern.

 

Die Anordnung, überall »jemand zu sein«, erhält den pathologischen Zustand aufrecht, der diese Gesellschaft notwendig macht. Die Anordnung, stark zu sein, produziert so sehr die Schwäche, mit der sie sich aufrechterhält, dass alles eine therapeutische Seite anzunehmen scheint, sogar arbeiten, sogar lieben. All die »Wie geht’s?«, die im Laufe eines Tages ausgetauscht werden, lassen einen an ebenso viele Temperaturmessungen denken, die sich eine Gesellschaft von Patienten gegenseitig verabreicht. Das soziale Verhalten besteht jetzt aus tausend kleinen Nischen, tausend kleinen Zufluchtsorten, wo man sich warm hält. Wo es immer noch besser ist als in der großen Kälte draußen. Wo alles falsch ist, weil alles nur Vorwand ist, um sich aufzuwärmen. Wo sich nichts mehr ereignen kann, weil man dort dumpf damit beschäftigt ist, zusammen zu zittern. Diese Gesellschaft wird bald nur noch zusammenhalten durch die Spannung aller gesellschaftlichen Atome auf eine illusorische Heilung hin. Das ist ein Kraftwerk, das seine Turbinentätigkeit aus einem gigantischen Tränenstau zieht, der immer kurz davor ist, sich zu ergießen.

 

»I AM WHAT I AM.« Niemals hat Herrschaft eine über jeden Verdacht erhabenere Losung gefunden. Die Erhaltung des Ichs in einem Zustand des permanenten Halbverfalls, in einem chronischen Halbversagen, ist das am besten gehütete Geheimnis der aktuellen Ordnung der Dinge. Das schwache, deprimierte, selbstkritische, virtuelle Ich ist wesensmäßig das unendlich anpassungsfähige Subjekt, das von einer Produktion erfordert wird, die sich auf Innovation, beschleunigten Verfall der Technologien, beständige Umwälzung der gesellschaftlichen Normen, verallgemeinerte Flexibilität begründet. Es ist gleichzeitig der gefräßigste Konsument und, paradoxerweise, das produktivste Ich, das sich am kraftvollsten und gierigsten auf das geringste Projekt stürzt, um später zu seinem ursprünglichen Larven-Zustand zurückzukehren.

»DAS, WAS ICH BIN« also? Seit der Kindheit, durchströmt von Milch, von Gerüchen, von Geschichten, von Tönen, von Zuneigungen, von Abzählreimen, von Substanzen, von Gesten, von Ideen, von Eindrücken, von Blicken, von Gesängen und vom Fressen. Das, was ich bin? Allseitig gebunden an Orte, Leiden, Vorfahren, Freunde, an Liebschaften, Ereignisse, Sprachen, Erinnerungen, an alle möglichen Dinge, die ganz offensichtlich nicht Ich sind. Alles, was mich an die Welt bindet, alle Bindungen, die mich ausmachen, alle Kräfte, die mich bevölkern, weben keine Identität, die ich wedelnd vor mir her tragen kann, wie man es von mir fordert, sondern eine einzigartige, gemeinsame, lebendige Existenz, aus der – stellenweise, zeitweise – dieses Wesen auftaucht, das »ich« sagt. Unser Gefühl der Haltlosigkeit ist nur die Wirkung dieses dummen Glaubens an die Dauerhaftigkeit des Ichs und der geringen Pflege, die wir dem gönnen, was uns ausmacht.

Es macht schwindelig, so auf einem Schanghaier Wolkenkratzer das »I AM WHAT I AM« von Reebok thronen zu sehen. Wie sein bevorzugtes Trojanisches Pferd treibt der Westen überall diese tötende Antinomie voran zwischen dem Ich und der Welt, dem Individuum und der Gruppe, zwischen Bindung und Freiheit. Die Freiheit ist nicht die Geste, sich von unseren Bindungen loszumachen, sondern die praktische Fähigkeit, auf sie zu wirken, sich in ihnen zu bewegen, sie herzustellen oder sie abzuschneiden. Die Familie existiert als Familie, das heißt als Hölle, nur für denjenigen, der aufgegeben hat, ihre verblödenden Mechanismen zu verändern, oder nicht weiß, wie man es macht. Die Freiheit, sich loszureißen, war schon immer das Phantom der Freiheit. Man schafft nicht das weg, was uns hemmt, ohne gleichzeitig das zu verlieren, worauf unsere Kräfte sich auswirken könnten.

»I AM WHAT I AM« also, keine einfache Lüge, keine einfache Werbekampagne, sondern eine Militärkampagne, ein Kriegsschrei, der sich gegen alles richtet, was zwischen den Wesen ist, gegen alles, was undeutlich kursiert, alles, was sie unsichtbar verbindet, alles, was sich der vollständigen Trostlosigkeit in den Weg stellt, gegen alles, was macht, dass wir existieren und dass die Welt nicht überall wie eine Autobahn, wie ein Vergnügungspark oder wie eine neue Stadt aussieht: reine Langeweile, ohne Leidenschaft und wohl geordnet, eisiger, leerer Raum, durch den nur noch registrierte Körper, selbstantreibende Moleküle und ideale Waren hindurchgehen.

 

Frankreich ist nicht das Vaterland der Beruhigungsmittel, das Paradies der Antidepressiva, das Mekka der Neurose, ohne gleichzeitig der Europameister in der Produktivität pro Arbeitsstunde zu sein. Krankheit, Müdigkeit, Depression können als individuelle Symptome dessen betrachtet werden, wovon man heilen muss. Sie arbeiten also an der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung, an meiner folgsamen Anpassung an schwachsinnige Normen, an der Modernisierung meiner Krücken. Sie betreiben in mir die Auswahl der wohlangebrachten, konformen, produktiven Neigungen und derjenigen, die brav abgeschrieben werden müssen. »Man muss sich verändern können, weißt du.« Aber meine Schwächen können auch, als Fakten genommen, zur Zerschlagung der Hypothese des Selbst führen. Sie werden dann zu Widerstandshandlungen im laufenden Krieg. Sie werden Rebellion und Energiezentrum gegen alles, was sich verschworen hat, uns zu normalisieren, uns zu amputieren. Das Ich ist nicht das, was bei uns in der Krise ist, sondern die Form, die man uns aufzudrücken versucht. Man will aus uns schön eingegrenzte Ichs machen, schön getrennt, nach Eigenschaften klassifizierbar und erfassbar, kurz: kontrollierbar, wenn wir Kreaturen unter Kreaturen sind, Besonderheiten unter unseresgleichen, lebendes Fleisch, das das Fleisch der Welt webt. Im Gegensatz zu dem, was man uns seit der Kindheit wiederholt, ist Intelligenz nicht, dass man sich anzupassen weiß – oder wenn das eine Intelligenz ist, dann ist es die der Sklaven. Unsere fehlende Anpassung, unsere Müdigkeit sind nur Probleme vom Gesichtspunkt dessen aus betrachtet, was uns unterdrücken will. Sie zeigen eher einen Ausgangspunkt an, einen Verbindungspunkt für ganz neue Komplizenschaften. Sie machen eine weitaus zerstörtere Landschaft sichtbar, die man aber unendlich viel besser miteinander teilen kann als all die Trugbilder, die diese Gesellschaft auf ihrem Konto liegen hat.

Wir sind nicht deprimiert, wir streiken. Für den, der verweigert, sich selbst zu verwalten, ist die »Depression« nicht ein Zustand, sondern ein Übergang, ein Auf Wiedersehen, ein Schritt zur Seite in Richtung eines politischen Austritts. Von da an gibt es keine andere Versöhnung als die medikamentöse, und die polizeiliche. Genau deswegen schreckt diese Gesellschaft ja nicht davor zurück, ihren zu lebendigen Kindern Ritalin aufzuzwingen, hemmungslos Longen aus pharmazeutischen Abhängigkeiten zu flechten und sich anzumaßen, sie könne »Verhaltensstörungen« ab drei Jahren ausfindig machen. Weil es die Hypothese des Ichs ist, die überall rissig wird.

6 Citoyenneté im Französischen, A.d.Ü.

Zweiter Kreis »Unterhaltung ist ein vitales Bedürfnis«

Zweiter Kreis

»Unterhaltung ist ein vitales Bedürfnis«

Eine Regierung, die den Ausnahmezustand gegen fünfzehnjährige Kinder ausruft. Ein Land, das sein Heil in die Hände einer Fußballmannschaft legt. Ein Bulle in einem Krankenhausbett, der sich beklagt, Opfer von »Gewalttaten« geworden zu sein. Ein Präfekt, der gegen die, die sich Baumhäuser bauen, einen Erlass verfügt. Zwei zehnjährige Kinder in Chelles, die wegen des Brands einer Spielhalle unter Anklage stehen. Diese Epoche zeichnet sich durch eine gewisse Situationskomik aus, die ihr aber jedes Mal zu entgehen scheint. Man muss dazu sagen, dass die Meinungsmacher keine Mühen scheuen, um das laute Auflachen, das solche Neuigkeiten begrüßen sollte, in den Registern der Klage und der Empörung zu ersticken.

als FremdenFremde wie ich Wenn sie nicht da wären, würden die Franzosen vielleicht nicht mehr existieren.