Über Matthew Quick

© Alicia Bessette

Matthew Quick, 1973 in Oaklyn, New Jersey geboren, studierte Anglistik und arbeitete als Englischlehrer, bevor er seinen ersten Roman schrieb. Die Verfilmung seines Debüts ›Silver Linings‹ wurde mit einem Oscar ausgezeichnet und für weitere sieben nominiert. Sein Jugendbuch ›Goodbye Bellmont‹ wurde von der Jugendjury für den deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Matthew Quick lebt mit seiner Frau in Holden, Massachusetts.

 

 

Knut Krüger, geboren 1966, arbeitete nach seinem Germanistikstudium im Buchhandel und Verlagswesen. Er ist heute freier Autor, Lektor und Übersetzer für englische und skandinavische Literatur. Knut Krüger lebt mit seiner Familie in München.

Über das Buch

Ihr ganzes Leben lang gehörte Einserschülerin und Spitzensportlerin Nanette O’Hara zu den Mädchen, die alle Regeln befolgen – bis sie eines Tages den Kultroman ›Der Kaugummikiller‹ liest. Auf einmal beginnt Nanette, ihr gesamtes Dasein infrage zu stellen, und sie trifft auf den Einzelgänger Alex, der sich ähnlich wie der Held im Roman konsequent jeder Anpassung verweigert. Als Nanette und Alex sich näherkommen, fasst sie erstmals den Mut, sich offen gegen ihr bisheriges Leben aufzulehnen. Doch die radikale Weise, mit der Alex seinen Protest durchzieht, bereitet ihr zunehmend Probleme …

Impressum

Deutsche Erstausgabe

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2016 Matthew Quick

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Every exquisite thing«, 2016 erschienen bei Little, Brown and Company, New York

© der deutschsprachigen Ausgabe:

2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co KG, München

Umschlaggestaltung: buxdesign, München, und Carla Nagel

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook 978-3-423-43303-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-76204-5

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423433037







Für die grüne Bank nahe des Flusses

TEIL EINS

1

Er war ein Erwachsener
und ich noch ein Kind

 

 

Als ich in der letzten Lunchpause vor den Weihnachtsferien in Mr Graves’ Klassenzimmer kam, war er schon in Ferienstimmung und lächelte viel mehr als sonst. Es war mein letztes Highschooljahr, und wir hatten seit Monaten jeden Tag zusammen Mittag gegessen. Doch an diesem Tag hatte seine Frau für mich Pizzelle gebacken, italienische Weihnachtskekse, weshalb ich mich fragte, was er ihr über mich erzählt haben mag. Die Kekse sahen aus wie riesige Schneeflocken und schmeckten nach Lakritze. Nachdem wir beide einen Keks gegessen hatten, überreichte mir Mr Graves einen kleinen, in blaues Geschenkpapier eingeschlagenen Gegenstand, auf dem weiße Rentiere mit mächtigen Geweihen abgebildet waren. Ich hatte noch nie ein Geschenk von einem Lehrer bekommen, was diesen Moment noch bedeutsamer machte.

»Nur eine Kleinigkeit unter Mensa-Verweigerern«, bemerkte er lächelnd.

Ich packte das Geschenk aus.

Es war ein Taschenbuch mit dem Titel Der Kaugummikiller, ein Roman von Nigel Booker. Der Rücken der zerfledderten Ausgabe wurde von Klebeband zusammengehalten, die Seiten waren ziemlich vergilbt. Sie rochen wie ein altes Campingzelt mit dem gespeicherten Muff von fünfzig Jahren. Auf dem weißen Cover schwang ein Sensenmann seine gebogene Sichel, die aus regenbogenfarbenen Kaugummikugeln bestand. Eine ziemlich seltsame Abbildung, furchteinflößend und spannend zugleich.

Ich blätterte rasch durch die Seiten, viele davon mit Eselsohren, und sah, dass jemand Hunderte von Passagen unterstrichen hatte.

»Ich habe das Buch gelesen, als ich in deinem Alter war, und es hat mein Leben verändert«, erklärte Mr Graves. »Im Buchhandel ist es vergriffen. Wahrscheinlich ist diese Ausgabe einiges wert, aber solche Bücher verkauft man einfach nicht. Vor langer Zeit habe ich mal das ganze Ding gescannt und als Computerdatei gespeichert – und mir außerdem vorgenommen, das Buchexemplar weiterzugeben, sobald mir der passende Schüler oder die passende Schülerin über den Weg läuft. Möglicherweise ist es nicht das anspruchsvollste literarische Werk aller Zeiten, vielleicht sogar ein bisschen veraltet. Aber es ist ein echter Klassiker, und ich habe das Gefühl, dass es für dich genau die richtige Lektüre sein könnte. Wie gemacht für Leute wie uns, wenn sie sich an der Schwelle zum Erwachsensein befinden. Wie auch immer, frohe Weihnachten, Nanette O’Hare.«

Als ich Mr Graves zum Dank kurz umarmte, versteifte er sich. »Nicht doch …« Dann lachte er nervös, während er mich sanft wegschob.

Damals habe ich mich darüber geärgert, doch später begriff ich, warum er das tat. Er sah früher als ich, was kommen würde, weil er ein Erwachsener und ich noch ein Kind war.

Noch in der Nacht begann ich zu lesen.

2

Als wäre die Geschichte noch nicht zu Ende

 

 

Der Kaugummikiller handelt von einem Jungen, der sich Wrigley nennt, weil er ohne Wrigley’s Doublemint nicht leben kann. Er sagt, das Kauen beruhige seine Nerven. Doch manchmal kaut er so heftig, dass er davon Kieferschmerzen oder gar eine »vorübergehende Maulsperre« bekommt. Während man ihm durch ein ganzes Highschooljahr folgt, erfährt man nie seinen richtigen Namen.

Die meiste Zeit über beobachtet Wrigley seine Mitschüler, die er nicht mag, und redet ständig davon, »Schluss machen« oder »aussteigen« zu wollen, obwohl man als Leser nie richtig versteht, was er damit meint. Ich habe das Buch gegoogelt und mehrere Websites gefunden, die sich ausschließlich mit diesem Thema befassen und verschiedene Theorien aufstellen. Manche Leute gehen davon aus, dass Wrigley einen Selbstmord plant, also mit dem Leben Schluss machen will. Andere glauben, er wolle einfach von der Schule abgehen. Wieder andere vermuten, dass er von Gott redet und aufhören will, an höhere Mächte zu glauben – eine Theorie, die ich nicht nachvollziehen kann, weil Gott in diesem Buch kein einziges Mal erwähnt wird. Eine weitere These geht davon aus, dass Wrigley die USA verlassen wolle, weil er Kommunist geworden sei, aber das leuchtet mir genauso wenig ein.

Wrigleys Problem besteht darin, dass er sich in eine von zwei identisch aussehenden Zwillingsschwestern namens Lena und Stella Thatch verliebt, ohne zu wissen, um welche von beiden es sich handelt. Das passiert, weil eine der Schwestern gern mit einer Schildkröte redet, die sich auf einem Felsen sonnt, der aus dem Fluss nahe der Highschool herausragt. Wrigley nennt die Schildkröte »unproduktiver Ted«, weil sie den lieben langen Tag nichts anderes tut, als auf dem Stein zu liegen und sich die Sonne auf den Panzer scheinen zu lassen. (Ich liebe diesen Spitznamen: unproduktiver Ted.) Hinter einer Eiche stehend, belauscht Wrigley das Mädchen dabei, wie sie dem unproduktiven Ted von ihren Sorgen und Nöten erzählt und ihm anvertraut, was ihr Vater einst Schlimmes getan habe, aber als Leser erfährt man nie, worauf sie damit anspielt. Man bekommt jedoch mit, dass das Mädchen die ganze Zeit mit den Tränen kämpft. Wrigley lauscht allem, was das Mädchen auf dem Herzen hat, ehe er plötzlich hinter dem Baum hervortritt und ihr klar wird, dass er alles mitangehört hat. Wrigley versucht sie zu trösten, indem er sagt: »Was du da gerade gesagt hast, das verstehe ich gut, weil mir die meiste Zeit dieselben Gedanken im Kopf rumgehen.« Zunächst ist sie sauer wegen seiner »Spionage«, aber dann haben die beiden dieses großartige Gespräch über die Schule und das Leben, darüber, dass sie beide nur hier draußen am Fluss wirklich ehrlich sein können, und über ihren Wunsch, einfach auszusteigen.

Die Tragödie nimmt ihren Lauf, nachdem Wrigley sich von ihr verabschiedet hat. Auf dem Heimweg stellt er mit Schrecken fest, dass er vergessen hat, sich nach ihrem Namen zu erkundigen. Er kann also nicht wissen, ob er dieses äußerst persönliche Gespräch soeben mit Stella oder mit Lena Thatch geführt hat. Als er sich an ihr »Bitte erzähl meiner Schwester nichts davon! Bitte!« erinnert, löst dies bei ihm eine Angstattacke aus und er muss sich sogar übergeben. Ihm wird klar, dass er keine der beiden Schwestern auf das Gespräch am Fluss ansprechen kann, ohne zu riskieren, das Vertrauen der einen zu missbrauchen, denn würde er an die falsche geraten, hätte er »alles ruiniert«. Es liegt auf der Hand, dass er in einer Zwickmühle steckt, und man leidet mit ihm, weil ihn dieses schier unlösbare Problem so quält.

Monatelang versucht er herauszufinden, mit welcher der Zwillingsschwestern er gesprochen hat, und hofft, sie werde von sich aus auf ihn zugehen. Aber vielleicht, überlegt er, wartet sie nur darauf, dass er den ersten Schritt macht. Und natürlich fürchtet er vor allem, sie könne ihr Gespräch am Fluss bereuen und nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen.

Nachdem er die beiden lange Zeit in der Lunchpause beobachtet hat, vermutet er, dass es Lena gewesen ist, vor allem, weil sie manchmal nervös mit dem Fuß auf den Boden tippt, wenn die angesagten Mädels mit am Tisch sitzen, doch ganz sicher ist er nicht. Außerdem trägt Lena seit Neustem eine Handtasche mit aufgesticktem L mit sich herum, was er als Zeichen betrachtet. Vielleicht will sie ihm ja ein heimliches Signal senden, überlegt er.

Wrigley beschließt, Lena zu fragen, ob sie ihn zum Abschlussball begleitet. Wenn sie Ja sagt, denkt er, muss sie diejenige gewesen sein, die sich dem unproduktiven Ted anvertraut hat. Sie willigt ein, scheint aber nicht sehr begeistert von der Einladung zu sein, was ihn in noch größere Verwirrung stürzt.

Wrigley leiht sich einen Smoking, kauft einen kleinen Strauß gelbe Rosen und steht bereits vor der Haustür der Zwillingsschwestern, als ihm schlagartig klar wird, dass diejenige, mit der er am Fluss gesprochen hat, unter keinen Umständen zum Abschlussball gehen würde – schließlich hat auch er eigentlich nicht die geringste Lust dazu. Den Smoking hat er sich nur deshalb ausgeliehen, um herauszufinden, wer von beiden die richtige Schwester ist. Der Rest, also die ganze »aufgemotzte Show«, wie er sich ausdrückt, ist ihm völlig schnuppe. Außerdem würde das Mädchen, mit dem er am Fluss gesprochen hat, auch keinen Wrigley mögen, der zum Abschlussball geht, sich mit einem Smoking verkleidet und sein eigenes Ich verleugnet – den »einfach gekleideten Wrigley am Fluss«. Das liegt doch auf der Hand, denkt er, und ich stimme ihm zu. Auf dem Abschlussball hat er echt nichts verloren. Das würde jede Chance zunichtemachen, eine wahrhaftige Beziehung zu der richtigen Zwillingsschwester aufzubauen.

Da Wrigley also davon überzeugt ist, auf dem Holzweg zu sein, drückt er nicht auf die Türklingel, sondern sucht den Ort ihres ersten Gesprächs auf, weil er sich einredet, dass die richtige Schwester dort bereits auf ihn wartet, um mit ihm zu reden und ihn schließlich zu küssen wie am Ende eines Märchens aus heutiger Zeit. Doch findet er am Fluss nur eine Handvoll Grundschüler vor, die den unproduktiven Ted auf den Rücken gelegt haben und ihn mit Stöcken im Kreis drehen, wobei Teds Beine »hilflos durch die Luft schwingen, als wäre er ein Schildkrötenkreisel«. Wutentbrannt stürzt sich Wrigley auf den größten Jungen, packt ihn am Kragen und brüllt ihm immer wieder »WARUM? WARUM? WARUM?« ins Gesicht.

Der Anführer der Kids verteidigt sich, dass sie doch nur ein bisschen Spaß haben wollten und die Schildkröte schon nicht umbringen würden. Wrigley klebt ihm daraufhin seinen Kaugummi in die Haare, stößt ihn ins Wasser und sagt: »Ich will auch nur ein bisschen Spaß haben, deshalb werd ich jetzt deinen Kopf unter Wasser drücken, bis dein Gesicht blau anläuft und du fast ersäufst.« Dann drückt er den Kopf des Jungen so lange unter Wasser, bis seine Freunde Wrigley anflehen, ihn wieder atmen zu lassen. Schließlich zieht er den klatschnassen Kopf des würgenden und keuchenden Jungen aus dem Wasser und lässt die Kinder laufen.

Als Wrigley die Schildkröte wieder auf den Bauch dreht, beißt der unproduktive Ted ihn in die Hand und reißt ihm dabei ein dreieckiges Stück Haut heraus.

Während der unproduktive Ted die Flucht ergreift, hält sich Wrigley die blutende Hand, flucht vor sich hin und wartet vergeblich auf das Erscheinen der richtigen Zwillingsschwester.

Stattdessen tauchen die Eltern des Jungen auf, den er fast ertränkt hätte. Der Vater schleudert Wrigley in den Fluss, spritzt ihm mit einem Schuh Wasser ins Gesicht und stellt ihn zur Rede: »Na, wie gefällt dir das? Mein Sohn ist elf Jahre alt und halb so groß wie du. Du bist ein elender Mistkerl, ein Schandfleck für die ganze Gemeinde. Und wieso bist du eigentlich nicht beim Abschlussball? Du hast doch schon deinen Smoking an. Ein richtiger Amerikaner geht zum Abschlussball seiner Schule. Oder bist du etwa eine dieser linken Bazillen?«

Statt zu antworten zieht sich Wrigley seinen nassen Smoking aus, schwimmt bis zur Mitte des verschmutzten Flusses, weil er weiß, dass ihm dorthin niemand folgen wird, lässt sich auf dem Rücken treiben und erklärt: »Jetzt weiß ich, unproduktiver Ted, warum du den ganzen Tag auf diesem Stein hockst und nichts tust. Mir reicht’s. Ich werd jetzt auch für immer und ewig in diesem Fluss treiben.« Der Roman endet damit, dass Wrigley in ein irres Lachen ausbricht, während über ihm die Sterne am Nachthimmel erscheinen.

Im Internet gibt es verschiedene Theorien zu diesem Ende, wobei die meisten Leute davon ausgehen, dass sich Wrigley in diesem Moment allen Verpflichtungen entzieht – der Familie, der Schule, sogar der eigenen Sexualität –, um ganz im Hier und Jetzt zu leben und sich nackt im Fluss treiben zu lassen.

Manche führen an, dass Wrigley damit eine klassische Übung des Zen-Buddhismus praktiziert und vielleicht sogar einen Augenblick der Erleuchtung erlebt.

Ich hatte das Gefühl, dass die Geschichte noch nicht beendet ist, was mich ärgerte, weil ich wissen wollte, wie es mit Wrigley nach dem Bad im Fluss weitergeht. In den Weihnachtsferien habe ich das ganze Buch dann noch drei Mal gelesen, weil ich befürchtete, etwas Entscheidendes übersehen zu haben.

3

Du musst ihn schon selber treffen

 

 

Als im Januar die Schule wieder losging, wartete ich, den Rücken an die Tür zu seinem Klassenzimmer gelehnt, auf Mr Graves.

»Hallo Nanette. Hast du etwa hier auf dem Flur übernachtet? Die Sonne ist noch nicht mal aufgegangen«, scherzte er, als er mich sah.

»Was ist mit Wrigley passiert?«, fragte ich sofort. »Ich muss es wissen. Weil Wrigley so ist wie ich. Und es kann einfach nicht so aufhören. Das. Darf. Nicht. Sein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich jetzt völlig in der Luft hänge.«

»Ein gewisses Geheimnis muss immer bestehen bleiben. Eine der goldenen Regeln des Showbusiness.«

»Hier geht’s aber nicht ums Showbusiness, sondern um Literatur. Und um mein Leben«, fügte ich hinzu. »Dieses Buch bin ich. Ich. Das ist so viel mehr als irgendeine Geschichte. Und der Autor ist dafür zuständig, Antworten zu liefern, und zwar alle Antworten!«

Mr Graves lachte kurz auf und entgegnete: »Ich wusste doch, dass dir Der Kaugummikiller gefallen würde. Wie ich schon sagte, die ideale Lektüre für Spinner wie wir.«

Mr Graves benutzte oft das Wort Spinner, um sich selbst und Leute, die er mochte, zu beschreiben. Er bezeichnete auch alle großen Schriftsteller als »Spinner« und wies darauf hin, dass die größten Künstler, Musiker und Philosophen einst Sonderlinge gewesen seien und in der Schule einen schweren Stand gehabt hätten. Das sei nun mal der »Preis der Anerkennung«.

»Warum heißt der Roman eigentlich Der Kaugummikiller?«, fragte ich.

»Was glaubst du?«

»Keine Ahnung. Deshalb frage ich ja Sie!«

Er lachte. »Tja, dazu gibt es verschiedene Theorien.«

»Ich hab schon im Internet recherchiert. Aber irgendwie überzeugt mich das alles nicht so richtig.«

»Dann solltest du vielleicht den Autor selbst fragen.«

»Und wie komme ich an den ran?«

»Mr Booker wohnt nur wenige Schritte von dieser Schule entfernt. Wusstest du das nicht?«

»Im Ernst?«

Mr Graves lächelte verschmitzt, als hätte er mich aufs Glatteis geführt. »Und wie ich gehört habe, redet er mit jedem, der ihm einen Kaffee spendiert. Ich muss dich allerdings warnen, dass er niemals klare und eindeutige Antworten gibt. Außerdem glaube ich, dass er seinen Roman inzwischen hasst.«

»Woher wissen Sie das alles?«

»Weil ich ihm als Teenager so viele Briefe geschrieben habe, bis er sich schließlich mit einem sechzehnjährigen Jungen getroffen hat.«

»Und was hat er gesagt?«

»Oh, ich will dir lieber nicht zu viel verraten. Du musst ihn schon selber treffen. Das ist definitiv eine interessante Erfahrung, und ich bin ziemlich sicher, dass ich eine Begegnung für dich arrangieren kann. Natürlich nur, wenn du willst.«

4

Eine Art Hymnus auf die edle Kunst
des Aussteigens

 

 

Natürlich wollte ich.

Mr Graves arrangierte unser Treffen, und schon bald saß ich Nigel Booker, dem Autor meines neuen Lieblingsbuchs, im Coffeeshop namens The House gegenüber. The House liegt nur sechs Blocks von meiner Wohnung entfernt und wird vorwiegend von älteren Leuten besucht, was mir nicht das Geringste ausmacht. Ehrlich gesagt halte ich von meiner eigenen Generation nicht besonders viel.

»Ms O’Hare?«, fragte er, als ich vor ihm stand. Als ich nickte, streckte er seine Hand aus. Ich schüttelte sie und er sagte: »Nennen Sie mich Booker. Mister passt nicht zu mir.« Er war ein paar Jahrzehnte älter als Mr Graves. Aus seinen riesigen Ohren wuchsen struppige weiße Haarbüschel. Seine karierte Hose war zu kurz und schlackerte ihm lose um die Hüften. Sein sackartiger Zopfpullover war abgetragen und ein bisschen schmutzig, seine Haare hatte er an den Seiten zurückgestrichen und in der Mitte zu einer ergrauten Elvis-Tolle nach oben toupiert. »Und Sie wollen diesen alten Knacker tatsächlich zu einem Kaffee einladen?«, fragte er und zeigte mit beiden Daumen auf sein Gesicht. »Wie komme ich zu der Ehre?«

Ich nickte, wir bestellten, ich zahlte. Dann setzten wir uns hin.

»Und?«, fragte er.

Ich holte tief Luft. »Der Kaugummikiller ist so etwas wie mein persönliches Manifest. Bisher wusste ich nicht, dass es noch andere Leute gibt, die so sind wie ich, aber da habe ich mich wohl geirrt. Und deshalb wollte ich …«

»Okay«, unterbrach er und lachte leise in sich hinein. »Genug davon.«

Ich war mir nicht sicher, ob er aus Bescheidenheit abwehrte, also redete ich einfach weiter. »Warum ist das Buch nicht mehr lieferbar?«

»Wahrscheinlich, weil es nicht besonders gut ist«, antwortete er lachend. »Als Schriftsteller war ich vollkommen unerfahren und hatte nur diese Story im Kopf, die aus mir herausmusste. In jenem Sommer fühlte ich mich, als hätte ich Fieber, und das Schreiben war meine Medizin dagegen. Ich hätte nie gedacht, dass es jemand veröffentlichen würde, und weiß auch gar nicht, warum ich das Manuskript überhaupt nach New York geschickt habe. Vielleicht hatten wir beide vorübergehend den Verstand verloren – ich und dieser seltsame Verlag, der kurz nach Erscheinen des Buches bankrottgegangen ist. Nicht gerade überraschend. Gott sei Dank hat es nur zu einer bescheidenen Taschenbuchauflage gereicht.«

Da ich nicht wusste, was er meinte, hielt ich mich an meine vorbereiteten Fragen. »Stimmt es, dass Sie alle gebrauchten Ausgaben, die Sie im Internet finden, aufkaufen und verbrennen?«

»Ich hab nicht mal ein Internet zu Hause«, antwortete er lachend.

Wie er »ein Internet« sagte, ließ mich vermuten, dass es die Wahrheit war. Man merkt immer gleich, wenn ältere Leute nicht wissen, wovon man redet, weil sie ständig die Wörter verdrehen oder falsch benutzen, als wollten sie damit die ganze Diskussion entwerten. Als würden sie Senioren-Wörter-Voodoo spielen

Ich stellte ihm meine dritte Frage: »Was ist mit Wrigley passiert, nachdem er im Fluss gebadet hat?«

»Wer sagt denn, dass er nicht im Fluss geblieben ist?«

»Sie meinen, er ist ertrunken

»Das kann man nicht wissen.«

»Warum?«

»Weil die Geschichte an diesem Punkt zu Ende ist.«

»Aber Sie hätten sie fortsetzen können.«

»Nein, konnte ich nicht. Es gab nichts mehr zu schreiben.«

»Aber warum?«

»Weil es eben so ist. Die Story ist fertig, wenn sie fertig ist.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Siehst du die nette Frau, die uns den Kaffee gebracht hat?«

Ich warf einen Blick über die Schulter und sah die groß gewachsene Frau mit dem braunen Pony und dem Dauerlächeln hinter der Theke. Ich nickte.

»Sie heißt Ruth«, erklärte Booker. »Kennst du sie?«

Da Leute meines Alters nie in diesen Coffee-Shop gehen, antwortete ich: »Nein.«

»Vielleicht wirst du sie niemals wiedersehen.«

»Und?«

»Du kriegst hier also nur ein paar Minuten ihrer gesamten Lebensgeschichte mit. So ist das eben. Aber Ruth setzt ihr Leben fort, egal ob du das mitbekommst. Sie macht alle möglichen Dinge, die manche Menschen mitbekommen, andere nicht. Deine Version ihrer Geschichte beschränkt sich auf die fünf Minuten, in denen du den Kaffee bei ihr gekauft hast.«

»Verstehe«, entgegnete ich. »Aber was hat das mit dem Kaugummikiller zu tun? Wrigley ist nur eine Figur in einem Roman, aber Ruth gibt es wirklich.«

»Es gibt keine Romanfiguren.«

»Wie bitte?«

Mit süffisantem Lächeln nippte er an seinem Kaffee und sagte: »Ich habe dieses Buch vor langer Zeit geschrieben. Noch vor deiner Geburt. Es fällt mir schwer, mich daran zu erinnern, was mir damals im Kopf herumging. Ich kann mich ja kaum noch daran erinnern, was ich heute Morgen gedacht habe. Du scheinst mir eine intelligente junge Frau zu sein. Du hast meine Erklärungen nicht nötig.«

Ich spürte einen leichten Schwindel, also stellte ich ihm die nächste meiner vorbereiteten Fragen. »Was haben Sie damit gemeint, dass Wrigley aussteigen oder Schluss machen will? Wrigley benutzt diese Formulierungen mehrfach. Aber was sollen sie konkret bedeuten?«

Er hob seine Augenbrauen und antwortete: »Hast du nicht auch manchmal das Bedürfnis, dich dem zu verweigern, was alle von dir erwarten? Gibt es nicht Momente in deinem Leben, in denen du damit einfach aufhören willst?«

»Ich weiß nicht … glaub schon«, sagte ich ausweichend, obwohl ich genau wusste, was er meinte.

Stille machte sich zwischen uns breit – als würde man plötzlich die Staubpartikel im späten Nachmittagslicht tanzen sehen und sich wundern, sie nicht schon früher bemerkt zu haben.

»Warum reden wir so viel über meinen fehlgeschlagenen Versuch, Romanschriftsteller zu werden? Sprechen wir lieber über dich«, sagte er schließlich. »Bist du ein glücklicher Mensch?«

Ich glaube nicht, dass ich das schon jemals gefragt worden bin. »Wie meinen Sie das?«, fragte ich zurück, um ein bisschen Zeit zu schinden und eine halbwegs kluge Antwort vorzubereiten.

Ich meine, wann hat euch denn zuletzt jemand gefragt, ob ihr glücklich seid, und euch dabei so komisch angeguckt, als wäre eure Antwort vollkommen gleichgültig?

»Macht dir alles Spaß, was du tust?«, fragte er.

»Sie meinen, ob ich … aus irgendwas aussteigen will?«

»Es ist kein Verbrechen, so etwas zuzugeben. Hinter der großen Pflanze da drüben versteckt sich ja niemand von der Mitmach-Gestapo. Und einen Mitmach-KGB gibt es auch nicht. Wir sind in Amerika. Hier gibt es absolute Meinungs- und Redefreiheit. Freiheit. Punkt. Außerdem weiß ich schon jetzt, dass du aus irgendwas aussteigen willst, sonst wärst du ja nicht so an meinem dummen kleinen Buch interessiert, das – wenn ich mich recht erinnere – eine Art Hymnus auf die edle Kunst des Aussteigens ist. Also bringen wir’s auf den Punkt. Was in deinem Leben willst du lieber loswerden als alles andere?«

»Fußball«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen, was mich selbst überraschte, obwohl es die Wahrheit war. Ich hasste Fußball schon lange.

»Fußball. Okay. So langsam kommen wir weiter. Nächste Frage: Warum?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ach, das weißt du bestimmt. Bist du im Schulteam?«

Ich senkte den Blick und betrachtete die Tischplatte, auf der weißer Zucker verstreut war. »Ich bin Teamkapitän und führe die Torschützenliste an.«

»Dann bist du also richtig gut?«

»Glaub schon«, antwortete ich ausweichend, obwohl ich schon öfter von Talentscouts verschiedener Collegeteams beobachtet worden bin. Aber das ist mir egal. Eigentlich ist es mir sogar peinlich, so im Fokus zu stehen, weil ich mir dann wie eine Heuchlerin vorkomme.

»Ich wette, dass dir noch nie jemand eine simple Wahrheit gesagt hat, und heute kostet sie dich nicht mehr als eine Tasse Kaffee.« Er nippte an seinem Getränk und sah mir direkt in die Augen, ehe er fortfuhr: »Dass du in irgendwas ziemlich gut bist, heißt noch lange nicht, dass du das auch tun musst.«

Für einen Moment bohrten sich unsere Blicke ineinander.

Er lächelte mich an, als hätte er mir gerade das größte Geheimnis des Universums verraten.

Erzähl das mal meinem Coach und meinem Vater, dachte ich. Ich schüttelte den Kopf. »Diese Kinder, die den unproduktiven Ted im Kreis gedreht haben … die hätte ich am liebsten umgebracht. Und den Vater, der Wrigley in den Fluss gestoßen hat, gleich mit. Dabei neige ich eigentlich gar nicht zu Gewalt. Ich lasse es nicht mal zu, dass meine Mom Mausefallen aufstellt. Hab beim Fußball noch nie eine rote Karte bekommen. Nicht mal eine gelbe. Und nie zuvor wollte ich jemanden umbringen. Eigentlich kann ich keiner Fliege was zuleide tun. Doch Sie haben diese heftigen Gefühle bei mir ausgelöst. Das Ende des Buches hat mich so wahnsinnig wütend gemacht.«

Booker lächelte traurig und starrte aus dem Fenster. »Mach mich bitte nicht für deinen Hass verantwortlich. Der war schon da, bevor du mein Kaugummi-Buch aufgeschlagen hast, da kannst du ganz sicher sein. Wir alle haben Aggressionen in uns und müssen unseren Teil der Verantwortung dafür übernehmen – vor allem für die, die aus uns herausbrechen.«

»Aber ich versuche wirklich, keine Aggressionen …«, entgegnete ich, brach den Satz jedoch ab, weil ich begriff, dass er recht hatte.

»Du solltest Das Genie der Masse von Bukowski lesen.« Erneut blickte er mir in die Augen. »In diesem Gedicht steht einiges über persönlichen Hass.«

»Buko… wie?«

»Charles Bukowski. Der Held aller Nonkonformisten und Unterschicht-Poeten.«

Meine Familie entstammt zwar definitiv nicht der Arbeiterklasse, aber ich mochte das Wort Nonkonformist.

Ich fragte ihn, wie man den Nachnamen schreibt, und tippte ihn in mein Smartphone ein. Dann notierte ich den Namen des Gedichts: Das Genie der Masse, das mich später total umgehauen hat. Es zu lesen war, als hätte ich endlich die richtige Brille auf, nachdem ich mein Leben lang gegen Türen und Wände gelaufen bin. Bukowski fand für alle meine Gefühle die richtigen Worte und erweckte auch noch den Eindruck, als sei ihm das überhaupt nicht schwergefallen.

»Nimm dich vor Buks Gedichten in Acht«, warnte mich Booker an jenem Tag im Coffee-Shop. »Die sind echter Sprengstoff. Und falls deine Eltern Spießer sind, die anderen Leuten zu Weihnachten Familienfotos von sich schicken, dann erzähl ihnen bloß nicht, dass ich dir so eine subversive Lektüre empfohlen habe. Schon gar nicht, wenn sie zu den Leuten gehören, die wollen, dass du an Feiertagen schicke Klamotten anziehst. Selbst Stadtrandbewohner, die keine Weihnachtskarten verschicken, neigen nämlich dazu, Charles Bukowski zu verachten, was für ihre Kinder meist Grund genug ist, ihn zu lieben.«

»Woher wissen Sie, dass meine Eltern so was tun?«, fragte ich verblüfft. »Ich meine, Weihnachtskarten, Sonntagskleider und so …«

»Weil viele Menschen leider sehr vorhersehbar sind. Und ich weiß so einiges. Das ist ein Fluch. Und ich weiß noch was anderes: Du bist nicht dazu verpflichtet, so zu werden wie deine Eltern. Du kannst den Kreislauf durchbrechen. Du kannst diejenige sein, die du sein willst. Doch dafür musst du einen gewissen Preis bezahlen. Deine Eltern und viele andere werden dich dafür bestrafen, dass du beschließt, du selbst zu sein, statt so zu werden wie sie. Das ist der Preis deiner Freiheit. Die Tür des Käfigs steht offen, aber die meisten schrecken davor zurück, ihn zu verlassen, weil sie dann Prügel beziehen. Heftige Prügel. Sie wollen dir Angst machen. Sie wollen, dass du in deinem Käfig bleibst. Doch sobald du dich nur wenige Schritte von deinem Käfig entfernt hast, können sie dich nicht mehr erreichen. Deshalb versuchen sie, dich vorher aufzuhalten. Und ich verrate dir noch ein Geheimnis: Sie haben viel zu viel Angst, um dir zu folgen. Sie lieben nämlich ihren eigenen Käfig.«

Ich öffnete meinen Mund, um meine Eltern zu verteidigen, auf die ich nichts kommen lasse. Außerdem sollte er nicht glauben, dass sie mir Angst machten, nicht einmal metaphorisch gesprochen, doch aus irgendeinem Grund brachte ich kein Wort über die Lippen. Dieser Nachmittag war so schnell ganz schön tiefschürfend geworden.

»Du scheinst ein eigenartiges einsames Mädchen zu sein, Nanette O’Hare. Und ich bin ein eigenartiger einsamer alter Mann. Eigenartige einsame Menschen brauchen einander. Also kommen wir lieber gleich zur Sache.« Lächelnd trank er einen weiteren Schluck. Dann sagte er die vier Wörter, die mein Leben für immer verändern sollten: »Wollen wir Freunde sein?«

Ich nickte ein wenig zu eifrig und stellte erschrocken fest, dass ich mit den Tränen kämpfte.

»Übrigens diskutiere ich mit meinen Freunden niemals über den Kaugummikiller. Unter keinen Umständen. Sobald wir unsere Freundschaft offiziell besiegelt haben, reden wir nie wieder über Wrigley, den unproduktiven Ted oder die Zwillingsschwestern. Verstanden?«

Ich hatte noch eine weitere Frage vorbereitet, also stellte ich sie rasch, um meine Tränen auf Distanz zu halten: »Nur eines noch … bevor wir Freunde werden – im Internet habe ich gelesen, dass mehrere Verlage das Buch erneut herausbringen wollten, aber Sie haben das immer abgelehnt. Stimmt das?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich die Urheberrechte an meinem Roman besitze und damit tun und lassen kann, was ich will. Und ich habe mich schon vor langer Zeit entschieden, nichts mehr zu veröffentlichen. Den Kaugummikiller herauszubringen war der größte Fehler meines Lebens.«

»Sie wollen aussteigen – so wie Wrigley?«

»Genau! Können wir jetzt bitte mit dem ganzen Literatur-Gequatsche aufhören und einfach Freunde sein? Wahre Freundschaften sind nämlich besser als Romane! Besser als die Stücke von Shakespeare! Und zwar zu jeder Tages- und Nachtzeit! Falsche Freunde hingegen – nun, ich würde mir lieber mit einer Bibel aus reinem Gold den Kopf einschlagen lassen, als das schleichende Gift eines falschen Freundes in mich aufzunehmen!« Als ein paar Gäste zu uns herüberblickten, drehte ihnen Booker eine lange Nase und lächelte mich an.

Ich lachte. »Ist das nur eine Methode, um mich davon abzuhalten, Ihnen noch mehr Fragen zu Ihrem Roman zu stellen?«

»Nein, es ist eine Methode, um über das Buch hinauszugelangen. Das Buch bleibt, wie es ist. Doch unsere Persönlichkeit entwickelt sich weiter. Ich bin nicht mehr derselbe Mann, der dieses Buch vor mehreren Jahrzehnten geschrieben hat. Und auch du wirst nicht für immer und ewig in Wrigley verliebt sein.«

Mir schoss die Röte ins Gesicht, weil er mit einer Sache absolut recht hatte: Ich war wirklich schwer verliebt in Wrigley. Seit einiger Zeit hing ich sogar an dem kleinen Teich in der Stadtmitte herum, wo sich im Sommer die Schildkröten sonnen, weil ich insgeheim hoffte, dass Wrigley durch irgendeinen magischen Trick dort auftauchen würde – ein Wrigley aus Fleisch und Blut, wie ich ihn beim Lesen stets vor mir sah. Meine Wangen brannten, also wechselte ich das Thema: »Warum haben Sie sich mit mir getroffen, wenn Sie es ablehnen, über Ihr Buch zu sprechen?«

»Weil ich kostenlosen Kaffee aus richtigen Tassen mag«, antwortete er ohne zu zögern. »Wenn du mir jedes Mal einen schwarzen Kaffee ausgibst, können wir uns gern einmal pro Woche treffen – bis ans Ende meiner Tage.«

Ich strich mir lächelnd eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Und wenn wir Freunde werden, was passiert dann?«

»Das kann ich dir jetzt nicht sagen. Ich denke, wir sollten es auf einen Versuch ankommen lassen. Bei so komplizierten Dingen wie Freundschaften gibt es keine Garantie.«

»Sie waren mit Mr Graves befreundet, als er so alt war wie ich, stimmt’s?«

»Ja, wir haben uns geschrieben.«

Mr Graves war einer der wenigen Erwachsenen, die ich bewunderte. Ich wollte alles dafür tun, damit er sich als die Person herausstellte, die ich in ihm sah.

»Okay«, sagte ich. »Lassen Sie uns Freunde sein.«

»Gut.«

Und das war’s.

Booker und ich wurden Freunde.

Wir trafen uns regelmäßig – manchmal im Coffeeshop, manchmal in seinem Garten, wo sich auch seine Hausschildkröte namens Don Quixote aufhält. Sie hockte in der Regel zwischen zwei Miniaturwindmühlen, die Gesichter und Hände mit Schwertern haben, worüber Booker jedes Mal lachen musste, wenn er sein Haustier anguckte. Anfangs erwähnten wir sein Buch mit keiner Silbe, obwohl ich es immer und immer wieder las. Ich hielt also mein Wort, nannte Don Quixote aber manchmal versehentlich unproduktiver Ted, was Booker wütend machte. »So heißt er nicht!«, fuhr er mich jedes Mal an.

Und sollte jetzt irgendjemand denken, dass ein alter Mann unmöglich mit einer Jugendlichen befreundet sein kann, ohne schmutzige Hintergedanken zu haben, dann lasst mich diesen Irrtum ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Booker war so großväterlich, wie er nur sein konnte, und hat kein einziges Mal etwas Anzügliches oder Zweideutiges gesagt oder getan. Es gab keine unangenehmen Situationen zwischen uns. Ich liebte ihn, so wie ich es liebe, barfuß über eine Sommerwiese zu spazieren oder einen warmen Becher in Händen zu halten oder auf einer langen Straße dem Sonnenuntergang entgegenzufahren. Es war eine gute, behagliche und einfache Freundschaft – jedenfalls am Anfang.

5

Er hat nie jemandem erzählt,
was ich getan habe

 

 

Es war unsere übliche Lunchpause, abgesehen davon, dass Valentinstag war. Mr Graves und ich waren allein im Klassenzimmer und sprachen über Booker. Wir hatten zwei Tische nebeneinandergestellt und beobachteten ein paar Vögel, die auf den Stromleitungen vor dem Fenster hockten. Wir quatschten und lachten, als wir beide gleichzeitig was sagen wollten. Unsere Gesichter waren einander so nah, dass ich sein Aftershave riechen und die Hautirritation unterhalb seines Wangenknochens erkennen konnte, die vermutlich vom Rasieren stammte. Als ich aufblickte und ihm direkt in die Augen sah, war ich plötzlich wie elektrisiert.

Was ich dann tat, hatte ich so nicht geplant.

In diesem Moment endete das, was uns bisher verbunden hatte. Und ich bin ziemlich sicher, dass dies auch der Grund dafür war, warum er am Ende des Jahres die Schule verließ.

Es war ein Impuls des Augenblicks – wie das unwillkürliche Zittern, das dich befällt, wenn eine Spinne an deiner Schlafzimmerwand hochkrabbelt. Oder wenn du das erste Mal aus Versehen im Internet auf eine Pornoseite gerätst und deine Haut juckt und du sie gar nicht ansehen willst, was aber unmöglich ist, weil du doch immer weiterklickst.

Und jetzt hatte ich bei Mr Graves »weitergeklickt«, ohne um Erlaubnis gefragt zu haben.