Für Emma,

der ich das Fräulein von Paraplü verdanke.

Für Catalina, ohne die ich Gloria

nicht kennengelernt hätte, und

für Max und Lotti, die das

alles noch vor sich haben.

Wenn man doch nur lesen könnte!

Ida Grün hat eigentlich nur zwei Probleme. Das eine sitzt auf ihrer Nase und ist eine Brille, das andere ist ihr Name, der ist nämlich zu kurz.

Das Problem mit der Brille wird sich irgendwann einmal lösen, sagt Idas Mama. Das Problem mit dem Namen leider nicht. Ida ist davon überzeugt, dass sie das einzige Mädchen auf der Welt ist, das eine Brille und einen zu kurzen Namen tragen muss.

Hätte sie die Brille nicht, würde der blöde Paul nicht immer »Brillenschlange« zu ihr sagen, und hieße sie nicht Ida, könnte Florentine Felicitas Filiberta, genannt Flo, nicht länger »Ia, Ia« rufen wie ein Esel, wenn Ida in den Kindergarten kommt. Eigentlich ist Flo ja Idas Freundin, aber manchmal eben auch nicht.

Flo hat nicht nur die längsten Vornamen, die Ida je gehört hat, auch ihr Nachname ist lang: Philippski-Baumann.

Ida spricht den Namen ihrer Freundin oft laut vor sich hin. »Florentine Felicitas Filiberta Philippski-Baumann«, murmelt sie. »Florentine Felicitas Fili…«

»Wie kann man nur so bescheuert heißen«, sagt Idas großer Bruder Ben. Er findet seinen kurzen Namen praktisch. »Wenn ich später was unterschreiben muss, dann geht das ruck, zuck.«

Ben will Arzt werden, und Ärzte müssen ständig Rezepte unterschreiben, sagt Ben, und das muss schnell gehen, denn wenn es nicht schnell geht, verdient man zu wenig. Ben rechnet Ida vor, dass Flo, wenn sie einmal Ärztin sein sollte, genau viermal so lange für ihre Unterschrift brauchen würde wie Ben, denn Florentine Philippski-Baumann seien – Bindestrich mitgezählt – genau 28 Buchstaben, Ben Grün jedoch nur sieben. »Und damit verdiene ich viermal so viel wie sie«, sagt Ben.

Aber Ida weiß, dass Florentine nicht Ärztin werden will, sondern berühmt. Und berühmt wird man bestimmt nur, wenn man Florentine Felicitas Filiberta heißt und nicht einfach nur Ida.

Und wenn man keine Brille tragen muss. Auch wenn Idas Tanten und Omas immer sagen: »Du siehst aber niedlich aus mit deiner Brille.«

Zu Ben sagt das keiner. Aber der trägt seine ja auch nicht, um ein schielendes Auge zu reparieren, sondern weil er kurzsichtig ist. Und das ist ein großer Unterschied, meint Ben. »Kurzsichtig sind nämlich nur kluge Leute. Wer schielt, ist immer etwas doof.«

Ida findet zwar nicht, dass sie doof ist, doch sie muss zugeben, dass Ben wirklich besonders schlau ist. Aber wenn sie erst einmal so alt ist wie er …

»Du wirst niemals genauso alt sein wie ich«, sagt Ben. »Und natürlich auch niemals so klug. Heute bin ich doppelt so alt wie du, und in sechs Jahren, wenn du so alt bist wie ich heute, bin ich zwar nur noch eineinhalb mal so alt, aber ich werde trotzdem immer der Ältere sein.« Ben zieht sein Smartphone heraus und gibt etwas ein. »Erst in vierhundertachtundsiebzigtausendneunhundertfünfundvierzig Jahren werden wir fast gleich alt sein. Das ist wie mit den Eisenbahnschienen, die treffen sich auch erst in der Unendlichkeit. Aber davon verstehst du nichts.«

»Und wenn ich eine Weiche stelle?«, fragt Ida. »Dann treffen sich die Schienen doch eher, oder nicht?«

Tja, darauf hat nun ausnahmsweise einmal Ben keine Antwort.

Nein, Schielen und Klugheit haben nichts miteinander zu tun, und Ida ist auch ganz bestimmt nicht doof. Sie kann nur nicht so gut rechnen wie Ben, aber das macht ja eigentlich sein Handy.

Aber lesen, das kann Ben ganz allein, und darum beneidet ihn Ida glühend. Wenn sie das doch nur auch könnte! Dann würden die anderen Kinder sie im Kindergarten nicht immer ärgern.

Heute hat Flo wieder ganz laut »Ia, Ia« gerufen, und Paul hat ihr ein Bilderbuch aus der Hand gerissen und gesagt: »Gib her! Du mit deinen Schielaugen kannst ja eh nichts sehen.«

Da hat Ida geweint, wie immer. Was soll sie auch tun, schließlich kann sie weder an ihrem Vornamen noch an ihren Augen etwas ändern.

Sie müsste eben etwas ganz Besonderes können. Und die anderen damit zum Staunen bringen.

Zu ihrem sechsten Geburtstag hat Ida von ihrer Tante eine Karte bekommen. Darauf ist ein Mädchen abgebildet. Das ist ungefähr so alt wie Ida, hat blonde Locken, eine Brille auf der Nase und liest in einem dicken Buch. Jedenfalls sieht es so aus.

Ida nimmt das Märchenbuch, aus dem Papa ihr abends vorliest, und zieht einen Stuhl vor den Spiegel im Flur. Sie setzt sich, nimmt das Buch auf den Schoß und schaut rein. Um nun aber zu sehen, wie es aussieht, wenn sie liest, muss sie den Kopf nach rechts drehen, und dann erkennt sie nur ein Mädchen, das in den Spiegel schaut und mit beiden Händen ein Buch festhält.

Genau in dem Moment kommt Ben vorbei und lacht. »Du hältst das Buch ja falsch rum. Wenn man nicht lesen kann, sollte man auch nicht so tun.«

Ida dreht das Buch um. Links sind schwarze Zeichen, auf der rechten Seite ist ein buntes Bild. Es zeigt einen Wolf, der seine bemehlte Pfote auf ein Fensterbrett legt.

»Ich kann wohl lesen!«, ruft Ida. »Hör zu: Es war einmal eine alte Geiß, die hatte sieben junge Geißlein, und die hatte sie lieb …«

»Das nennst du lesen?«, unterbricht Ben sie. »Das ist doch bloß auswendig gelernt. Damit kannst du vielleicht im Kindergarten Eindruck machen, Ida-Maus, aber nicht bei mir.« Er lacht und wuschelt ihr durch die Haare. Das kann Ida nicht leiden, aber heute macht es ihr nichts aus. Denn sie hat eine Idee …

 

Am nächsten Tag im Kindergarten zieht sie eines der Märchenbücher aus dem Regal, schlägt es auf und legt sich damit auf den bunten Teppich in der Bücherecke. Nach einer Weile blättert sie geräuschvoll eine Seite um.

Neugierig kommen die anderen Kinder näher. »Was machst du da?«, fragt der blöde Paul und stößt Ida mit dem Fuß an.

Ida schaut angestrengt in das Buch. »Ich lese, das siehst du doch.«

»Wir wissen alle, dass du nicht lesen kannst«, sagt Hannah.

»Ich hab’s eben gelernt.« Ida blättert wieder eine Seite um.

Paul und Hannah flüstern miteinander, dann sagt Paul: »Los, lies uns was vor!«

Ida lächelt und beginnt: »Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig …«

»Das ist Frau Holle!«, ruft Hannah. »Lies weiter!«

Und Ida liest, oder besser, erzählt ein Märchen nach dem anderen. Das ist gar nicht so einfach, denn sie darf das Umblättern nicht vergessen. Um sie herum sitzen die Kinder, die sie sonst immer hänseln. Sie sind ganz still und hören zu.

Doch plötzlich springt Paul auf und ruft: »Du lügst ja! Das ist das Bild von Schneewittchen und nicht von Aschenputtel!«

Es stimmt, in ihrem Eifer hat Ida gar nicht auf die Bilder geachtet und viel zu schnell umgeblättert. Nun rufen alle durcheinander: »Blöde Brillenschlange!« Und: »Du willst uns wohl veräppeln?«

Ida spürt, wie ihr die Tränen kommen, da sagt Hannah: »Ist doch egal, ob Ida lesen kann oder nicht. Bei ihr klingen die Märchen auf jeden Fall spannender als bei Angela, findet ihr nicht?«

Angela ist die Erzieherin. Wenn sie vorliest, möchte man am liebsten einschlafen, so langweilig leiert sie die Märchen runter.

»Hast ja recht«, gibt nun sogar Paul zu.

»Also, Ida, in Zukunft liest immer du uns vor, okay?«, sagt Hannah.

Ida nickt. »Aber nur, wenn ihr versprecht, nie wieder Brillenschlange zu mir zu sagen.«

Das versprechen alle und Ida wird vor Freude ganz warm im Bauch.

Schreiben kann so einfach sein

Nicht nur, dass Idas Freundin Florentine Felicitas Filiberta, genannt Flo, den längsten Namen der Welt hat, jetzt kann sie auch noch schreiben! Und dabei ist sie doch noch nicht mal eingeschult.

Ida kann es kaum glauben, aber Florentine hat es heute im Kindergarten allen Kindern vorgeführt. Zwei Blatt Papier hat sie gebraucht, um ihren Namen zu schreiben. Natürlich kann keiner von ihnen nachprüfen, ob die vielen Fs und Ls und Is auch an der richtigen Stelle sitzen, vielleicht fehlt hier und da auch ein Buchstabe, aber Flo hat wieder mal ihr Ziel erreicht und wird von allen bewundert und bestaunt.

»Und was ist mit dir, Ida?«, fragt Flo. »Wieso kannst du deinen Namen noch nicht schreiben, er ist doch der kürzeste von allen?«

Ida nimmt all ihren Mut zusammen. »Natürlich kann ich das«, sagt sie. »Aber nur zu Hause.«

Das ist nicht einmal gelogen. Ihr Bruder Ben hat ihr gestern die Buchstaben vorgezeichnet und Ida hat sie dann einfach abgemalt. Nur mit dem Nachnamen hatte sie ein Problem, dabei ist der auch ganz kurz. Aber das Wort Grün hat so seine Tücken, schließlich enthält es etwas, das Ben einen Umlaut nennt. Ben kennt sich mit so was aus, denn er ist zwölf und damit genau doppelt so alt wie Ida, aber mehr als doppelt so schlau wie sie.

»Du weißt nichts«, hat Ben gesagt. »Und zweimal nichts ergibt immer noch nichts. Und außerdem bist du ein Mädchen!«

Ida glaubt Ben ja fast alles, aber dass Mädchen nichts wissen, glaubt sie ihm nicht. Flo ist auch ein Mädchen und weiß trotzdem viel.

Das alles geht Ida gerade durch den Kopf, und zwar in Windeseile. Sie ist immer wieder erstaunt darüber, dass Denken so viel schneller geht als Sprechen. Aber als sie genauer darüber nachdenken will, warum das so ist, bekommt sie einen Stoß in die Seite.

»Nun mach schon, Ida«, sagt der blöde Paul. »Zeig uns, dass du schreiben kannst. Kneifen gilt nicht.« Und er hält Ida ein Stück Papier und einen Stift unter die Nase.

Ida legt das Papier auf einen Tisch, den Stift daneben. Dann zieht sie einen Stuhl heran und nimmt den Stift in die Hand.