III

Der Frühling kam.

An kalten und klaren Abenden streifte die Mutter mit Tine umher, über die Felder mit ihrem zarten Grün, auf Hügel und Anhöhen hinauf, wo sie weit sehen konnte.

Dort stand sie so gern.

Die Luft war noch kalt und biß sie in die Wangen, während die Sonne in einem blassen Rot unterging. Sie stand, mit der erhobenen Hand über den Augen, schlank gegen den Himmel, als spähe sie nach dem nahenden Frühling.

Dann wurden die Tage milder, in den Stuben daheim standen alle Schalen voll duftender Veilchen, und im Küchengarten kamen an den langen Reihen von Stachelbeerbüschen feine Blätter hervor.

Die Erde auf den Feldern wurde glänzend schwarz, der Humus lag feucht und blank und fruchtbar da – die Mutter konnte abends, wenn sie die Feldwege entlang gingen, Tine und die Kinder anhalten:

»Seht,« sagte sie, »seht, wie die Erde atmet.«

Die Frühjahrssaat sproßte in grünendem Gewimmel hervor, während der Roggen stramm und schlank dastand und den Abend mit dem starken Duft des jungen Grüns erfüllte.

Auch die Bäume bekamen Blätter, und alle Knospen sprangen, während die Luft satter und schwerer wurde; und der erste Dunst stieg aus der lebenden Erde auf, zu einem Blau des Himmels empor, das sich immer dunkler und kräftiger färbte.

Die Mutter hatte die Wanderkrankheit.

Sie ging und ging.

Plötzlich konnte sie stehen bleiben.

»Tine,« sagte sie, »es ist, als stöhnte die Erde.«

Im Garten blühten die Lilien auf.

Hoch und schlank würzten sie die dämmernde Nacht mit ihrem süßlichen Hauch.

Vom Teich stieg der Dunst auf, gesättigt mit dem Duft des Humus, wie ein heißer Atemstrom der Erde.

Um das weiße Gartenhaus schlangen sich glänzend die Rosenranken, und die Blätter entfalteten sich, während sie ihren sinnlich-herben Wohlgeruch verbreiteten.

Und überall, auf allen Dächern, flogen die weißen Tauben zueinander, während in Pappeln und Büschen die Vögel riefen und lockten.

»Wir wollen weiter gehen,« sagte die Mutter.

Sie ging mit Tine durch das Wäldchen hinter der Kirche, – Paradies wurde es genannt – die Anhöhe hinan.

Die Mutter pflückte schweigend einen Strauß tauiger Blumen.

Alles war grün geworden, und von Feldern und Wäldern und allen Sümpfen stieg ein zitternder Nebel zum dunkelnden Himmel auf.

Häuser und Höfe sahen sie zu ihren Füßen, und die Umrisse der weißen Kirche, und alles war in der schwangeren Feuchtigkeit der dampfenden Erde gleichsam verwischt.

Die Mutter schaute zum gewölbten Himmel auf und sagte:

»Die Sterne, Tine, wollen es nicht sehen.«

Sie schritten zurück durch das Wäldchen.

»Wie ist die Luft schwer!« sagte die Mutter.

»Das ist der Holunder,« sagte Tine.

»Wir wollen auf den Kirchhof gehen,« sagte die Mutter.

Sie öffneten die Pforte und traten ein.

Alle Büsche strotzten von Laub, und die Buchsbaumhecken glänzten. Hinter den weißen Mauern lag der Blumenduft dicht und schwer. Ringsum standen die stummen Kreuze.

Die Mutter blieb bald bei dem einen, bald bei dem andern Kreuz stehen. Und in die gesättigte Luft hinaus sprach sie leise die Namen auf den Kreuzen und die Worte der Inschriften:

»Mir geschehe nach deinem Wort.«

Und sie schritt weiter:

»Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.«

Sie schritt weiter den Pfad entlang, und sie bog die Lilien zur Seite, als ertrage sie ihren Duft nicht.

»Jetzt haben Dorfschulzens den Hügel machen lassen,« sagte Tine.

»Ja,« antwortete die Mutter.

Sie beugte sich nieder und legte behutsam den Strauß, den sie trug, auf den frischen Hügel.

»Von ihnen, denen er das Glück brachte und die weinen mußten,« sagte sie.

»Ist das ein Dank?« fragte Tine.

Die Mutter antwortete nicht.

Schweigend, starr vor sich hinsehend, blieb sie vor dem frisch aufgeworfenen Grabe stehen.

Eine Fledermaus flog vorbei, und die Mutter fuhr zusammen.

»Kommt,« sagte sie. Und als sie draußen waren, faßte sie sich an den Kopf:

»Tine – leben die Toten denn?« sagte sie, und sie versuchte zu lachen.

Unten am Abhang hinter der Mauer gab's ein Geflüster und Gehusche.

»Ach,« sagte Tine und lachte, »das sind ja nur die Knechte mit ihren Mädchen.«

Die Mutter kam nach Hause zurück, über den Hof, und ging in ihre Stube hinauf.

Es war Halbdunkel, und alle Türen standen offen.

»Maren, Maren!« rief sie durch das Haus.

Aber niemand antwortete.

Nur die Heimchen sangen im Waschhause und am Herde.

Die Mutter öffnete die Tür zum Waschhause.

»Maren, Maren!« rief sie über den Hof hinaus.

Sie sah nur ein paar Schatten, die zum Teiche hinunterflüchteten.

Sie schloß die Tür und ging langsam ins Haus. Wenn durch die Scheiben Licht auf ihr Gesicht fiel, schimmerte es bleich.

Sie setzte sich auf ihren Stuhl, und mit gefalteten Händen starrte sie in den leeren Raum hinaus.

Der Vater öffnete seine Tür.

»Ist hier jemand?« fragte er.

Im Halbdunkel antwortete sie leise:

»Ja – ich.«

Und der Vater sagte:

»Ich sah dich nicht.«

Er begann im Zimmer auf und nieder zu gehen und sagte:

»Ich rief vorhin, aber hier ist kein Mensch.«

»Nein,« antwortete die Mutter.

»Ja, wo sind sie denn – was machen sie alle?«

Mit einem leichten Wechsel der Stimme sagte die Mutter:

»Es ist Frühling, Fritz.«

Der Vater ging eine Weile hin und her.

»Du mußt sie zu Hause halten,« sagte er. »Das ganze Haus steht abends leer – das geht nicht an.«

Die Mutter regte sich nicht, aber indem sie den Hinterkopf an die Wand lehnte, sprach sie in die Luft hinaus und nicht zu ihm.

»Die Erde ist der Lehrmeister für ihre Kinder geworden.«

Der Vater blieb in einer Ecke stehen und setzte sich. Lange saß er schweigend da.

Dann sagte er:

»Wie weit du dich entfernt hast –«

Die Mutter antwortete nicht. Doch nach einer Weile sagte sie:

»Fritz, die Natur ist am stärksten, und die Erde selber treibt sie. Ja, Fritz,« und sie redete heftiger:

»Je mehr ich nachdenke, desto sicherer erkenne ich, es gibt nur ein Gesetz, ein einziges: daß das Leben fortgepflanzt sein will.«

Sie schwieg wieder einen Augenblick, dann sagte sie langsamer:

»Das glaube ich.«

»Fortgepflanzt zu welchem Ziel?«

»Ziel? Das Ziel ist die Fortpflanzung.«

»Und weshalb?«

Die Mutter sah in die leere Luft hinaus.

»Das weiß ich nicht,« sagte sie. »Gibt es nicht Billionen von Sternen? Sie werden das Ziel wohl vollbringen helfen.«

Sie schwiegen eine Weile.

Dann sagte sie:

»Weshalb, Fritz, sind die Menschen so eitel? Sind wir etwa nicht die geringsten Dienstboten in einem großen Hause, dessen Herrn wir nie von Angesicht zu Angesicht sehen?

Wir müssen unsere Tränen verbergen. Wir leiden und – bereiten Leiden.

Mehr wissen wir nicht.«

Der Vater erhob sich, aufgeregt.

»Dein ganzes eigenes Leben widerspricht dem, was du sagst; glaubst du denn, ich weiß nicht, daß dein ganzes Leben eine einzige Aufopferung ist?«

Die Mutter antwortete nicht gleich, dann sagte sie unendlich mild:

»Fritz, wenn man sich über die Leere des Lebens klar geworden ist, muß man es mit etwas ... Gleichgültigem füllen.«

»Ist denn die Aufopferung auch etwas Gleichgültiges?«

»Ja – vollkommen.«

Der Vater gab keine Antwort.

Es war, als glitte sein wandernder Schatten ins Dunkel hinein.

»Oder,« sie sprach ruhig, wie jemand, der eine letzte Frage stellt, »macht zum Beispiel meine Aufopferung dein Leben wirklich reicher?«

Vielleicht erwartete sie nur eine Sekunde lang eine Antwort; aber der Vater blieb stumm; und im Dunkeln zitterten vielleicht ihre Hände einen Augenblick.

Von ihrem erhöhten Platz her sagte sie dann:

»Es gibt zwar mancherlei Arten Scheinleben: in der Kunst, in der Aufopferung, in der Arbeit, in der Freundschaft, in der Tat; nur an einem Ort ist das Leben – dort, wo die Natur es gewollt hat.«

Die Mutter schwieg, und in der Stube war es still.

Leise wurden draußen die Türen aufgeklinkt.

Die Leute kamen nach Hause.

»Jetzt kommen sie wieder,« sagte die Mutter. Der Vater schritt zur Tür und rief hinaus, seine Stimme zitterte.

Dann erscholl von der Allee her Gesang, er tönte so hell und frühlingsgesättigt zu ihnen hinauf.

»Ach, das ist Tine,« sagte die Mutter. Und sie riß das Fenster auf.

Glühend kam des Küsters Tochter angelaufen.

»O, ich mußte her, dies sind die ersten Erdbeeren. Mutter hat sie heute abend gepflückt,« und sie reichte die roten Beeren zum Fenster hinauf.

»Entzückende Frau,« sagte sie.

Und die Mutter beugte das Gesicht über den Duft der Beeren.

 

Jeden Tag zur Mittagsstunde mußte Tine hinunter und sehen, ob die Rosen aufblühten.

Die wilden Rosen an den weißen Säulen von Mutters Gartenhaus.

»Ja, sie kommen schon,« sagte sie.

»Voriges Jahr kamen sie nicht,« sagte die Mutter, »und da hatten wir auch keine Erdbeeren.«

Rosen und Erdbeeren, die gehörten zu Mutters Geburtstag.

»Ja, voriges Jahr,« sagte Tine, »daran war nur die Kälte schuld.«

Und sie setzten sich hinein auf die weiße Bank und starrten über den Teich hin und sprachen davon, wie es letztes Jahr und vorletztes Jahr und das Jahr vordem und vor vielen, vielen Geburtstagen gewesen.

»Ach ja, aber damals waren Sie klein,« sagte die Mutter.

Mit einem Male lachte die Mutter, daß sie sich schüttelte:

»Du lieber Gott! Sie hatten ein schottisches Kleid an, wie saß das an Ihrem Körper! Nie in meinem Leben habe ich etwas so Rotohriges gesehen wie Sie, als Sie klein waren. Und drall!« sagte die Mutter.

Die Mutter lachte noch immer und redete von Tine als Kind.

Am schlimmsten aber war es an dem Geburtstag gewesen, als die dicke Madam Jespersen in den Teich gefallen war.

»Kinder!« sagte die Mutter. »Da sitzt sie, ganz nah am Rande, und plötzlich nimmt der liebe Gott sie und ihren Stuhl, und sie plumpst hintenüber, die Rechtsundlinksgestrickten hoch in die Luft.«

Der Anblick war gräßlich gewesen.

»Man sah ja nichts weiter als die drei Straußfedern über dem Wasserspiegel,« sagte die Mutter.

»Ja, da war ich eben konfirmiert,« bemerkte Tine.

Am Tage vor dem Geburtstage war ein Betrieb wie vor Weihnachten.

Tine buk, und Tine knetete.

Alle Küchenfenster standen weit offen, und Maren, das Waschmädchen, die einen selbstgestrickten wollenen Unterrock anhatte, schwitzte, daß es nur so troff.

Die Knechte kamen abwechselnd herbei und stellten sich in die Tür, um zuzusehen.

»Weg da, Lars,« sagte Tine. Sie flog ein und aus und rührte dabei unverdrossen die Sandtorte in einer Schüssel, so groß, als solle die ganze Gegend sich Leibschmerzen davon holen.

Die Mutter stand hilflos mitten in der Küche.

»Tine, daß es nur ja genug wird! Sie wissen, was in Jespersens hineingeht, wenn sie eingeladen sind.«

Die Schneebesen klangen gegen die irdenen Schüsseln, und die Männer-Marie heizte, daß der Ofen glühte.

Der Vater öffnete die Tür.

»Stella, deine Hände.«

»Fritz, ich rühre mich ja nicht.«

Und der Vater machte die Tür wieder zu.

Die Kinder stürmten herein vom Waschhause her und füllten die halbe Küche; sie wollten den Teig probieren.

Sie probierten, daß sie alle eigelbe Schnäbel kriegten.

»Und nun hinaus!« sagte Tine.

»Jetzt schließen wir die Tür zu.«

Die Kinder wurden vor die Tür gesetzt, die Mutter auch, und sie hörten nur, draußen im Hofe, die Löffel klappern und Tine kommandieren.

Maren, das Waschmädchen, stimmte das Lied von dem General Rye an.

Die Mutter lief die Allee hinunter und alle Kinder hinter ihr her.

»Fangt mich,« rief sie und lief voran.

Der Vater öffnete sein Fenster.

»Stella, deine Brust,« sagte er.

»Fritz, wir laufen nur!«

Die ganze Schar jagte weiter.

Am Ende der Allee begegnete ihnen ein Mann mit einem Leierkasten.

»Da ist ein Leierkasten!« rief die Mutter, »lieber Mann, kommen Sie doch herein.«

Und der Leierkastenmann hinkte voran, die anderen folgten hinterher, und die Mutter rief:

»Tine, Tine, hier ist ein Leierkasten!«

Der Mann fing mitten im Hof an zu spielen, die Mutter aber schob ihn weg und sagte:

»Lassen Sie mich.«

Und unter der Linde begann sie selber zu drehen, während sie laut auflachte, denn es war General Bertrams Abschiedslied, das sie leierte.

In der Küche liefen sie an die Fenster, und die Knechte erschienen in der Waschhaustür.

Jens, der Kuhhirt, steckte seinen Kopf aus dem Stall heraus.

»Da spielt die Frau selber,« sagte er.

General Bertrams Abschiedslied war vorüber, und die Mutter leierte weiter.

»Hei, hopp!« sagte sie, »jetzt kommt eine Polka! Tine, Tine,« rief sie, »jetzt könnt ihr tanzen.«

Die Mädchen liefen hinaus, Tine an der Spitze, und schweißtriefend und barhäuptig begannen sie mitten auf dem Hof um den Leierkasten herum zu tanzen. Marens Rock reichte ihr kaum bis zu den Knöcheln herab.

»Tanzt! tanzt!« rief die Mutter den Knechten zu.

Aber niemand außer Lars, dem Großknecht, wagte es; er schlich, ein bißchen verlegen, heran und zog die Holzpantoffel aus, ehe er Tine aufforderte und mit ihr, in seinen wollenen Socken, auf dem Rasen tanzte.

»Hallo, hallo,« rief die Mutter, »jetzt feiern wir Erntefest.«

Sie drehte den Leierkasten, daß ihr der Schweiß auf dem bleichen Gesicht stand.

Die Kinder umtosten jauchzend den Leierkasten.

»Tanzt, tanzt!« rief die Mutter, und die Kinder sprangen. Der lahme Leiermann aber stand gemütlich da und schnüffelte nach dem Backgeruch.

Lars hatte Tine geschwungen, daß ihr Kattunkleid flatterte – viel war nicht drunter – und jetzt machte er eine schiefe Verbeugung vor dem Leierkasten.

»Tine, drehen Sie!« rief die Mutter.

Tine lief herbei und drehte, und die Mutter schwang sich im Tanze, während alle Kinder schrien.

»Mutter tanzt, Mutter tanzt!«

Lars, der Großknecht, hielt die schlanke Mutter so behutsam umfaßt, als sei sie von Porzellan, während er auf den Socken umherhüpfte.

»Ah, ich kann nicht mehr,« sagte die Mutter. Tine aber drehte weiter, und die Mutter rief plötzlich:

»Nein, wenn Fritz nicht zu Hause wäre, müßten wahrhaftig die Pferde heraus.«

Sie wollte die Pferde heraus haben.

»Tine, am Tage vor meinem Geburtstag sagt er nichts.«

Sie rief den Kuhhirten.

»Jens! Jens!«

Jens kam herangehinkt.

»Jens,« sagte die Mutter und fing plötzlich zu flüstern an, »laß die Pferde heraus.«

Ringsumher tanzten die Mädchen, und die Kinder schrien, als mache ihr eigenes Geheul sie von Minute zu Minute toller.

»Da sind sie,« rief die Mutter. Die beiden Braunen setzten aus der Stalltür.

Hinterher kam »Beauty«.

»Jagt sie, jagt sie!« rief die Mutter, und sie selber schwenkte mit ihrem Taschentuch.

Die Pferde rasten umher, und die Mägde tanzten.

»Vorsicht! Vorsicht!« rief die Mutter. Es war ein einziger Spektakel.

»Stella, Stella!« erklang es plötzlich vom Fenster her.

»Herrgott – Fritz!« sagte die Mutter und stand plötzlich ganz steif da.

Die Mägde verschwanden in einem Nu, als habe die Erde sie verschlungen.

»Ja,« sagte die Mutter stotternd, »Fritz, ich weiß nicht, wie es gekommen ist.«

Der Vater aber schloß sein Fenster, und die Mutter sagte leise zu Tine, indem sie die Schultern hochzog, als ergötze sie sich:

»Jetzt soll der Mann Kaffee haben.

Denn, Tine, solche Leiermänner wissen tausend Geschichten.«

Der Leiermann kam in die Gesindestube, und die Mutter hörte stundenlang seinem Geschwätz zu.

»Ja, ja – weiter, Leiermann, weiter,« sagte sie und rückte ihm immer näher auf der Bank.

Der Leierkastenmann erzählte Geschichten von seiner Weltumsegelung.

Als er ging, bekam er einen Taler.