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Karin Schels, München, ist Lehrerin für Pflegeberufe, Betriebswirtin im Sozial- und Gesundheitswesen, Personalreferentin und Entspannungspädagogin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02509-1 (Print)

ISBN 978-3-497-60216-2 (E-Book)

© 2015 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

Lektorat / Redaktion im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlags: Cornelia Fichtl, München

Covermotiv: © jd-photodesign / Fotolia.com

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1    Sie sind nicht allein

Wer sind die pflegenden Angehörigen?

Welche Aufgaben übernehmen pflegende Angehörige?

Gesellschaftliche Bedeutsamkeit pflegender Angehöriger

Gesellschaftliches Ansehen pflegender Angehöriger

2    Alltägliche Strapazen pflegender Angehöriger

Veränderungen im Tagesablauf

Herausforderungen für Körper und Seele

Einschränkung des persönlichen Freiraums

Veränderungen von Familie und Partnerschaft

Veränderte Beziehungen zu Freunden, Verwandten, Nachbarn und anderen

Organisatorische Herausforderungen

Räumliche Einschränkungen

Begrenzte finanzielle Möglichkeiten

3    Herausforderung oder Mühsal? – Eine Frage der persönlichen Bewertung

Woran erkennt man Belastungen?

Mögliche Folgen von Belastungen

Machtmissbrauch und Gewalt

Was motiviert Menschen dennoch, ihre Angehörigen zu pflegen?

4    Sich selbst wertschätzen

Warum ich pflege

Für mein Wohlbefinden sorgen

5    Die eigene Gesundheit festigen

Hilfreiche Gewohnheiten annehmen

Dem Körper Gutes tun

Systematische Entspannungsmethoden nutzen

Die Seele zum Klingen bringen

Sich pflegerisches Wissen aneignen

Auseinandersetzung mit der Endlichkeit

6    Gemeinschaft macht stark

Was macht uns als Familie bzw. Partner aus?

Wie können wir Vertrautheit lebendig erhalten?

Wie finden wir Gleichgesinnte?

7    Den Alltag gestalten

Den Tagesablauf machbar halten

Wohnlichkeit erhalten

Finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten nutzen

8    Grenzen anerkennen

Auszeiten als Kraftquelle erlauben

Alternative Situationen gestalten

9    Checklisten, Fragebögen und Vorlagen für den Alltag

Selbstreflexion

Hilfreiche Denkweisen

Praktische Handwerkzeuge

Literatur

Internetadressen

Sachregister

Fragebögen und Vorlagen zum Ausfüllen stehen auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlags unter http://www.reinhardtverlag.de zum Download zur Verfügung.

Vorwort

Um liebevoll mit anderen umgehen zu können, hilft es, liebevoll mit sich selbst zu sein. Spätestens, wenn eine Pflegesituation nicht nur den Alltag, sondern auch das Lebensgefühl der Pflegenden und sogar der gesamten Familie bestimmt, ist es daher an der Zeit innezuhalten. „Liebe Deinen Nächsten, wie Dich selbst!“ – dieses Gebot berücksichtigt aus gutem Grund die Liebe zu sich selbst.

Obwohl ich beruflich lange in verschiedenen Bereichen der Pflege tätig war, stellte mich die Intensität der häuslichen Pflege in meiner Familie vor völlig neue, sehr persönliche Herausforderungen. Als entfernt lebendes Familienmitglied, meinen Vater und meine Schwestern bei der Pflege meiner Mutter tageweise unterstützend, erhielt ich zumindest eine Ahnung davon, wie viele innere und äußere Hürden den sorgsamen Umgang mit sich selbst in der Pflegesituation bisweilen erschweren.

Deshalb bildet eine Auswahl ermutigender und hilfreicher Methoden und Denkweisen, die ich im Laufe meines beruflichen und persönlichen Lebens kennen lernen und erproben durfte, das Herzstück des vorliegenden Buches. Ein Anspruch auf Vollständigkeit besteht nicht und eine Haftung für mögliche Fehler in der Umsetzung ist ausgeschlossen. Falls Sie sich nicht sicher sind, wie bestimmte Methoden auf Sie wirken, sollten Sie diese unter Anleitung eines geschulten Experten einüben. Ebenso kann es sinnvoll sein, eine Person des Vertrauens oder Ihren behandelnden Arzt hinzu zu ziehen.

Häufig sind es bereits einfache Handlungen, die erst einmal weiterhelfen. Bei deren Umsetzung spürt jeder Mensch, was ihm persönlich am meisten zusagt. Experimentieren Sie mit den Anregungen, welche Sie besonders ansprechen. Haben Sie gleichzeitig den Mut, etwas Neues auszuprobieren. Bereits kleine Änderungen im alltäglichen Ablauf können sich positiv auf Sie, Ihre Familie und Ihre pflegeempfangenden Angehörigen auswirken.

Es gibt ohne Frage noch viel zu tun, bis pflegende Angehörige angemessene Unterstützung, Anerkennung und finanzielle Absicherung erhalten. Gleichzeitig ist es meiner Erfahrung nach nützlicher das Hilfreiche anzuwenden, um den praktischen Alltag zu bewältigen, als am Hinderlichen festzuhalten. Je öfter eine neue Einstellung geübt wird, desto leichter fällt sie. Die Belastungen werden dadurch nicht geringer, aber die Fürsorge für sich selbst schafft einen wohltuenden Ausgleich zum Alltag, oder sorgt zumindest für eine zeitweilige Entlastung.

Dieser Ratgeber möchte mit hilfreichen Tipps zu Ihrem Wohlbefinden beitragen. Ich danke Ihnen allen für Ihren persönlichen Einsatz und wünsche Ihnen für Ihre Aufgabe viel Energie und Lebensfreude!

1 Sie sind nicht allein

„Der eine wartet, dass die Zeit sich wandelt, der andre packt sie kräftig an und handelt.“
Dante Alighieri

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie viele Menschen ebenso wie Sie die Pflege von Angehörigen übernehmen? Im Jahr 2012 gab es in Deutschland ca. 80 Millionen Menschen (Statistisches Bundesamt 2013). Etwa 1,7 Millionen in der eigenen Häuslichkeit lebende Menschen erhielten 2012 Leistungen aus der Sozialen Pflegeversicherung (Bundesministerium für Gesundheit 2013). Der Sozialverband VdK geht von rund 4 Millionen Menschen aus, die von Angehörigen betreut und gepflegt werden (Sozialverband VdK 2014). Anders ausgedrückt: 5 % der Bundesbürger (jede zwanzigste Person) werden zuhause von Angehörigen gepflegt oder betreut. Das bedeutet: mindestens jeder zwanzigste ist ein pflegender Angehöriger!

Wer sind die pflegenden Angehörigen?

Laut einer Studie des Kuratorium Deutsche Altershilfe (Salomon 2009, 9) sind mehr als die Hälfte der Pflegenden zwischen 40 und 64 Jahren alt, ein Drittel 65 Jahre und älter. Einige von ihnen sind selbst körperlich eingeschränkt und nur wenige sind darin geschult, mit den physischen und seelischen Anforderungen der Pflege und Betreuung umzugehen.

Am häufigsten werden Eltern von ihren Kindern gepflegt, am zweithäufigsten Partner von ihren Partnern. Dabei übernehmen bis zu 80 % Frauen die Pflege; Töchter, Schwiegertöchter, Partnerinnen oder Mütter. Aber auch Söhne (5 %) und Partner (12 %) oder sonstige Verwandte finden sich als pflegende Angehörige (Salomon 2009, 9).

Viele pflegende Angehörige sind berufstätig, da sie auf ein Einkommen angewiesen sind. Laut Sozialverband VdK Deutschland e. V. stieg der Anteil der Teilzeitbeschäftigten unter den pflegenden Angehörigen in der Zeit von 1997 bis 2010 von 26,3 % auf 36,1 % an. Auch die Zahl der Vollzeitbeschäftigten stieg, von 14,1 % auf 17,6 %. Der GKV-Spitzenverband (Zentrale Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen) vermutete 2011, dass die häusliche Versorgung Pflegeempfangender in Zukunft schwerpunktmäßig von Menschen mit geringerem Bildungsniveau und eingeschränkten finanziellen Mitteln übernommen werde und somit finanzielle Notlagen in diesen Familien verstärken wird (GKV-Spitzenverband 2011, 25f.).

Sogar minderjährige Kinder und Jugendliche gehören zu dem familiären Netz, durch das die häusliche Pflege von Angehörigen gewährleistet wird. Zwar liegen in Deutschland noch keine konkreten Zahlen vor, doch Schätzungen gehen von rund 225.000 Kindern unter 18 Jahren aus, die durch Pflege, Mithilfe im Haushalt und Versorgung jüngerer Geschwister dazu beitragen, dass die Familie möglichst normal weiter leben kann (Schefels o. J.).

Welche Aufgaben übernehmen pflegende Angehörige?

Doch wo beginnt Pflege und Betreuung? Viele Menschen bezeichnen die für sie selbstverständlichen Handreichungen für ihre Angehörigen nicht als Pflege- oder Betreuungsleistung, selbst wenn sie einen beträchtlichen Teil ihrer Zeit einnehmen. So schauen Sie nun täglich bei den Eltern oder Schwiegereltern nach dem Rechten oder intensivieren ihre wöchentlichen Besuche. Sie erledigen Einkäufe, die Post oder einen Teil der Hausarbeit für sie, agieren als Chauffeur oder Alleinunterhalter, unterstützen in finanziellen Fragen und zelebrieren gemeinsame Feiertage. Der aktivere und gesündere Partner verteilt häufig unmerklich die täglichen Aufgaben und übernimmt auch bisher ungewohnte Pflichten, wenn die Fähigkeiten des (Ehe-)Partners nachlassen. Pflegende Angehörige hören geduldig zu, auch wenn sich die Themen, über die gesprochen wird, wiederholen. Sie geben Rat und bestärken ihre Lieben emotional.

Die Notwendigkeit einer stützenden Begleitung oder Pflege kann schleichend eintreten oder durch eine akute Erkrankung, einen Unfall oder wenn der bisher pflegende Angehörige verstirbt, plötzlich erforderlich werden. Mit zunehmendem Unterstützungsbedarf wächst die Anzahl der Aufgaben. Der Umgang mit Hilfsmitteln will angeregt, das Essen hergerichtet, die Körperpflege und das Ankleiden müssen angeleitet oder übernommen, die Medikamenteneinnahme kontrolliert, die Inkontinenzversorgung unterstützt werden.

Kann der Betreffende das Haus nicht mehr verlassen häufen sich Erledigungen. Finanzielle und rechtliche Angelegenheiten müssen geklärt und Formulare ausgefüllt werden. Auch stellen Angehörige häufig die einzigen sozialen Kontakte dar. Sie sind eine Verbindung zur Außenwelt wie auch zu besseren Zeiten in der Vergangenheit. Nicht zuletzt benötigen viele Angehörige ein gutes Maß an Einfühlungsvermögen und Überzeugungskraft, um die betreffende Person davon zu überzeugen, Hilfe anzunehmen.

Lebt der Pflegeempfangende in einer stationären Pflegeeinrichtung, übernehmen viele Angehörige auch weiterhin spezifische Aufgaben. Sie wissen, wie viel angenehmer es ist, wenn eine vertraute Person das Essen reicht oder die Wäsche reinigt. Sie beleben den Alltag durch Erzählungen und Bilder aus der Familie oder der Nachbarschaft, sorgen für anregenden Lesestoff und Musik oder ermöglichen Ausflüge und die Teilnahme an Familienfeierlichkeiten.

Gesellschaftliche Bedeutsamkeit pflegender Angehöriger

Je länger wir leben, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit zu erkranken oder Pflege zu benötigen. In den letzten hundert Jahren stieg die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer von 47 auf 77 Jahre und die der Frauen von 50 auf etwa 82 Jahre (Luy 2014). Trotz der steigenden Anzahl derer, die Pflege benötigen, leben weiterhin ca. 1/3 der Pflegeempfangenden in stationären Einrichtungen, während ca. 2/3 zu Hause verweilen. Dies spiegelt sich auch in einem deutlichen Anstieg der Beschäftigten im ambulanten und stationären Pflegebereich wieder. Das Bundesgesundheitsministerium erwartet einen weiteren Anstieg von Pflegebedürftigen (von 2,54 Millionen im Jahr 2012 auf 3,22 Millionen in 2030, bzw. 4,23 Millionen in 2050).

Die Bedeutsamkeit pflegender Angehöriger für unsere Gesellschaft ist daher enorm. Der Sozialverband VdK Deutschland e. V. schätzte 2013, dass ohne pflegende Angehörige 3,2 Millionen mehr Vollzeitpflegekräfte benötigt würden – umgerechnet wären das zwischen 75 und 145 Milliarden Euro Lohnkosten. Dabei stieg die Beschäftigung in der Pflege von 1999 bis 2011 um mehr als 50 % (Bundesministerium für Gesundheit o. J.a), doch insbesondere die Altenpflege kämpft seit Jahren mit Nachwuchssorgen.

Gleichzeitig war bereits 2011 in der Ärztezeitung ein Rückgang in der Bereitschaft, Angehörige rund um die Uhr zu betreuen, zu lesen. Äußerten sich 2006 noch 35 % der Befragten positiv dazu, waren es 2011 nur noch 18 %. Neben persönlichen Gründen wurden der Wandel traditioneller Familienstrukturen und erhöhte Mobilitätsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt angeführt (Hommel 2011). Sicher fällt bei dieser Frage ebenso ins Gewicht, dass es immer weniger Kinder gibt. So zählte man laut Wikipedia 2002 nur halb so viele Geburten wie 1964. Auch die Zahl der Singlehaushalte steigt.

Gesellschaftliches Ansehen pflegender Angehöriger

Pflegende Angehörige schultern eine der größten Aufgaben unserer Solidar-Gemeinschaft. Kaum jemand denkt darüber nach, dass pflegende Angehörige durchschnittlich weit mehr als 40 Stunden in der Woche mit dieser Aufgabe beschäftigt sind. Häufig, besonders bei demenziell erkrankten Angehörigen, sind sie 24 Stunden täglich – bei Tag und Nacht – zur Stelle, ohne Nachtzulage oder Feiertagszuschlag. Der größte Pflegedienst der Nation arbeitet unentgeltlich sieben Tage die Woche und fordert keinen Urlaub. Doch ihre Leistung bleibt für viele Menschen verborgen, da sie in den eigenen vier Wänden geschieht. So erhalten sie selten Anerkennung oder Aufmerksamkeit.

Wer Angehörige pflegt, nimmt häufig finanzielle Einbußen in Kauf. Muss die Arbeitszeit reduziert werden oder wird eine Familienpflegezeit in Anspruch genommen, sinkt das monatliche Einkommen in dieser Zeit. Das Pflegegeld bietet nur einen sehr geringen Ausgleich. Mit sinkendem Einkommen reduziert sich ebenfalls der Rentenanspruch, so dass die finanziellen Folgen auch langfristig spürbar bleiben. Auch liegt die Anrechnung der Angehörigenpflege für die Rente deutlich unter der Anrechnung für Kindererziehungs- und Betreuungszeiten (Deutsche Rentenversicherung o. J.; 2013).

Kaum jemand, der nicht selbst einmal mit der Thematik konfrontiert wurde, erahnt, was es bedeutet, sein Leben ganz auf eine hilfebedürftige Person einzustellen. Zudem setzen sich viele Menschen nur ungern mit Krankheit, Hinfälligkeit oder dem Tod auseinander und vermeiden Gespräche darüber. Pflegende Angehörige sind da, wo viele die Augen verschließen und so werden sie auch kaum gesehen.

Ohne auf den gebührenden Respekt oder Dankbarkeit der Gesellschaft zu warten, praktizieren pflegende Angehörige Menschlichkeit und Solidarität. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet der erste Artikel des deutschen Grundgesetzes. Um pflegende Angehörige entsprechend zu würdigen, müssten soziale Tätigkeiten u. a. eine angemessene finanzielle Aufwertung erfahren. Kompetente Ansprechpartner sollten, auch in ländlichen Gegenden mit einer geringen Infrastruktur, zeitnah erreichbar und die Unterstützungsmöglichkeiten bezahlbar sein. Aufrichtige Anerkennung des hohen persönlichen Einsatzes könnte sich beispielsweise in der Ermöglichung persönlicher Freiräume durch erweiterte Unterstützungs- und Betreuungsangebote zeigen.

Pflegende Angehörige sind meist zu sehr eingebunden, um selbst auf ihre Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Doch zunehmend formieren sich Bündnisse und richtungsweisende Vereinigungen, die als Sprachrohr für die Pflegenden agieren. So verfasste z. B. das Kuratorium Deutsche Altershilfe gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung im August 2013 einen nationalen Aktionsplan für Teilhabe, Pflege und Betreuung in dem u. a. eine wohnortnahe, personenorientierte, beteiligungsorientierte Versorgung im städtischen Quartier und in der dörflichen Gemeinschaft gefordert wird und mögliche Wege dorthin aufgezeigt werden (Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik 2013).

Die gesamtgesellschaftliche Verantwortung im Umgang mit dem zunehmenden Pflege- und Betreuungsbedarf rückte der Sozialverband VdK Deutschland e. V. mit der Kampagne „Pflege geht jeden an“ bereits 2011 in die Öffentlichkeit. Unter Suchbegriffen wie z. B. „Interessen pflegender Angehöriger“ oder „Pflegende Angehörige Netzwerke“ finden sich diverse Interessenvertretungen im Internet, welche sich u. a. für die fehlende moralische und finanzielle Wertschätzung pflegender Angehöriger stark machen, Missstände aufgreifen oder pflegende Angehörigen darin bestärken in Politik, Wissenschaft und Pflege mitzubestimmen. Auch internationale Vereinigungen formieren sich, um z. B. die Zusammenarbeit verschiedener Interessengruppen pflegender Angehöriger und der Politik zu fördern.

2 Alltägliche Strapazen pflegender Angehöriger

„Was man nicht bespricht, das bedenkt man auch nicht recht.“
Johann Wolfgang von Goethe

Veränderungen im Tagesablauf

Denn sie wissen, was sie tun: Die Pflege eines Angehörigen stellt den gewohnten Tagesablauf auf den Kopf. Die neuen Aufgaben nehmen weder Rücksicht auf den persönlichen Biorhythmus, noch auf die persönliche Belastungsgrenze oder die Anforderungen des Berufslebens. Auch das Wochenende wird von der Pflege und Betreuung bestimmt. Das Führen eines zweiten Haushaltes verlangt ebenso Routine wie Feingefühl, zumal dazu auch die sensible Reduzierung möglicher Gefahrenquellen (wie Stolperfallen, Feuergefahren, vergessene Herdbenutzung, fälschliche Nutzung von Chemikalien etc.) gehören kann.

Ständige Anwesenheit: Für viele Pflegende tritt das familiäre und soziale Leben, häufig völlig unbemerkt, in den Hintergrund. Doch der fehlende Ausgleich belastet ebenso, wie die Notwendigkeit fortwährender Anwesenheit, welche eine Reduzierung oder schließlich gar die Aufgabe der Berufstätigkeit erfordern kann. Auch scheint keine Zeit für persönliche Interessen oder Hobbies mehr übrig zu bleiben.

Eine Angehörige erzählt:

„Mein Alltag hat sich grundlegend verändert. Ich habe mich immer gern geschminkt, aber nun reduziere ich aus Zeitgründen meine eigene Körperpflege auf das Notwendigste. Selbst zur Toilette gehe ich nur unter Zeitdruck und meist öffne ich dabei die Tür, um mitzubekommen, was Mutter gerade tut. Meine Kleider und meine Lieblingsschuhe habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr getragen. Ich bevorzuge jetzt praktische Kleidung, die funktionell und leicht zu pflegen ist. Ich schlafe keine Nacht mehr durch, weil ich sehr sensibel auf Geräusche reagiere und so schaue ich öfter nach, wie es Mutter geht. Ich sehne mich danach, endlich wieder einmal auszuschlafen, ohne Störung – aber ich will mich nicht beklagen. Meine Mutter steht jetzt einfach im Vordergrund.

Seit Kurzem kann ich Mutter nicht mehr allein lassen, sie ist schon ein paar Mal gestürzt. Aber irgendwann muss ich die ganz normalen Alltagsdinge doch erledigen: die Wäsche, den Einkauf, den Gang zur Bank oder zu Behörden! Mittlerweile ist mir selbst der Weg zum Briefkasten zu weit, wenn ich weiß, dass Mutter unbeaufsichtigt ist. Die Nachbarn fragen mich im Vorübergehen, wie es ihr geht. Es ist ja nett gemeint, aber sie erinnern mich nur noch mehr daran, dass ich zu Hause nach dem Rechten sehen muss.“

Herausforderungen für Körper und Seele

Körperliche Herausforderungen: Fehlende Kenntnisse über rückenschonendes Arbeiten, ungeeignetes Inventar und mangelnde Ausgleichsbewegungen belasten das Skelett und können Muskelverspannungen oder Rücken- und Gelenkschmerzen nach sich ziehen. Eine gestörte Nachtruhe verhindert die nächtliche Erholung. Müdigkeit und Erschöpfung sind die Folge, begleitet von Gereiztheit, Niedergeschlagenheit, Kopfschmerzen oder Kreislaufstörungen. Fehlende oder unzureichende Regenerationszeiten verstärken die Symptome.

Manche pflegende Angehörige vergessen selbst, genug zu trinken, sich selbst sinnvoll und ausgewogen zu ernähren oder sie essen unkontrollierte Mengen. Magenschmerzen, Verdauungsstörungen, Gewichtszu- oder -abnahme können so das Allgemeinbefinden beeinträchtigen.

Umgang mit nachlassenden Fähigkeiten: Es kann quälend sein, hinnehmen zu müssen, wie einfachste Tätigkeiten das Mehrfache an Zeit benötigen, wie Fähigkeiten nachlassen, wie die Persönlichkeit sich verändert und die Demenz oder die körperliche Schwäche des Angehörigen zunimmt. Die Hilflosigkeit, nur da sein zu können und die Zeit gemeinsam mit dem Betreffenden durchzustehen, kann pflegende Angehörige verzweifeln lassen. Manche kompensieren diese Belastung durch betonte Fröhlichkeit, andere schweigend, wieder andere wütend oder unwirsch. Aushalten ist die schwerste Disziplin pflegender Angehöriger.

Ängste können die wenige freie Zeit beherrschen, die ein pflegender Angehöriger hat. Je diffuser die Ängste sind, umso machtvoller sind sie, lähmen das Denken und dämpfen die Stimmung. Auch Trauer um versäumte gemeinsame Erlebnisse oder um verpasste Gelegenheiten kann das Miteinander belasten.

Angemessene Unterstützung ohne zu bevormunden: Bisweilen ist es ein langer Prozess, bis Pflegebedürftige akzeptieren, dass sie Hilfe benötigen. Für pflegende Angehörige kann diese Zeit nervenaufreibend sein. Wie können sie ihren Lieben die Notwendigkeit, Hilfe anzunehmen, deutlich machen, ohne sie zu bevormunden? Manche Pflegebedürftige reagieren empört, verletzt, greifen ihre Angehörigen persönlich an, oder ziehen sich zurück. Viele Pflegende fühlen sich ohnmächtig angesichts dieses Dilemmas.

Eine schwierige Situation stellt sich auch ein, wenn sich der Pflegeempfangende durch seinen Wunsch, nicht zur Last zu fallen, zu viel zumutet, oder die Situation durch gut gemeinte aber unangemessene Mithilfe erschwert. Die pflegenden Angehörigen fühlen sich nun vielleicht gezwungen, bevormundender zu agieren als sie es möchten, um potenzielle Gefahren abzuwenden und begeben sich damit gleichzeitig in einen Konflikt mit dem Pflegeempfänger.

Erwartungen von allen Seiten: Überzogene Erwartungen befördern pflegende Angehörige bisweilen in ein weiteres Dilemma. Manchmal glauben außenstehende Personen zu wissen, was die pflegenden Angehörigen tun und wie sie handeln sollten und setzen diese damit unter Druck. Häufig liegen auch die Vorstellungen von Pflegeempfangenden und Pflegenden auseinander, z. B. darüber, wie der Haushalt geführt und wie viel Zeit miteinander verbracht wird, wie die gemeinsame Zeit genutzt werden kann oder welche weiteren Personen in die Pflegesituation eingebunden werden. Bleiben mögliche Erwartungen des Pflegeempfangenden darüber, von wem er gepflegt werden möchte jedoch unausgesprochen, können sich Verstimmungen an unwesentlichen Dingen entzünden und das Miteinander so erschweren.

In langjährigen Beziehungen und innerhalb der Familie, zeigen sich Menschen mit ihren ungefilterten Stimmungen und Eigenheiten. Manche setzen von ihren pflegenden Angehörigen voraus, dass sie sich über die Maßen einbringen, denn schließlich handelt es sich um die Familie. Tritt dagegen eine fremde (Pflege-) Person in den Alltag ein, zeigen viele Menschen sich, ebenso wie zu Beginn einer neuen Bekanntschaft, häufig selbstständiger, flexibler, ausgeglichener und die Ansprüche an diese außenstehenden Personen sind letztlich geringer als an direkte Angehörige.

Erwartungen an sich selbst: Auch persönlich hohe Erwartungen und ein unangemessener Perfektionismus können pflegende Angehörige belasten. Die Folge sind quälende Schuldgefühle aufgrund der Vorstellung, dass sie die Situation besser bewältigen sollten, dass sie mehr für ihre Lieben da sein müssten, dass sie