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Robert Claus

HOOLIGANS

Eine Welt zwischen Fußball, Gewalt und Politik

VERLAG DIE WERKSTATT

Der Autor

Robert Claus, Jahrgang 1983, forscht und hält Vorträge zu den Themen Fankulturen, Hooligans, Rechtsextremismus, Männlichkeiten, Soziale Bewegungen und Gewalt. Zudem ist er (Mit-)Autor der Bücher „‚Was ein rechter Mann ist‘ – Männlichkeiten im Rechtsextremismus“ (2010), „Zurück am Tatort Stadion“ (2015) und „Geschlechterverhältnisse in Fußballfanszenen“ (2016). Seit 2015 arbeitet er bei der „Kompetenzgruppe Fankulturen und Sport bezogene Soziale Arbeit“ (KoFaS gGmbH).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7307-0362-5

Copyright © 2017 Verlag Die Werkstatt GmbH

Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen

Inhalt

Vorwort von Gerd Dembowski

Vorwort von Julia Düvelsdorf

Hooligans – eine ausdifferenzierte Szene

Einleitung

40 Jahre Hooliganismus

Kurze Geschichte der Fußballgewalt in Deutschland

„Es gab viele gewaltbereite Fußballfans, aber keine organisierte Szene“

Interview mit Frank Willmann über Hooligans und Fußballgewalt in der DDR

Hooligans altern

Eine Bewegung zwischen Geschäften, Einigkeit und Spaltung

Training, Gruppenkampf und Straßengewalt

Hooligans erfinden „den Acker“

„Die Verstrickungen der polnischen Hooligans zur Mafia sind groß“

Interview mit Thomas Dudek über Hooligans in Polen, Russland und der Ukraine

Gewaltbereit und gut organisiert

Hooligans und rechte Ultras

Hooligans professionalisieren ihre Gewalt

Über Kampfsport und Mixed Martial Arts

„Mixed Martial Arts ist Sport und Event: Jede Veranstaltung braucht ihre Dramaturgie!“

Interview mit Frank Burczynski über die Entwicklung von MMA in Deutschland

Wessen Kurve? (mit Pavel Brunßen)

Hooligans und Ultras in den Fanszenen

Arbeitsfeld und Taktgeber: die Fans

Arbeit gegen Rechtsextremismus und Diskriminierung im Fußball

„Gewalt ist ein gesellschaftlich-institutionelles System“

Interview mit Narciss Göbbel

Fazit

Danksagung

Quellenverzeichnis

Vorwort

Von Gerd Dembowski

Manager für Vielfalt und Antidiskriminierung der FIFA

Der Ursprung des Fußballs europäischer Prägung ist die Gewalt. Er entsprang ihr nicht plötzlich, sondern schrittweise. Mittelalterlicher Massenfußball entstand als Reaktion auf zunehmende Selbstbeherrschung, auf sich entwickelnde Rollen und Charakterpanzer im sogenannten Zivilisationsprozess seit dem zehnten Jahrhundert. Der postmoderne Fußball wiederum, wie wir ihn heute kennen, ist domestizierte und institutionalisierte Gewalt, kontrollierte Emotion, ritualisierte Aggression – die „Überführung der Gewalt in eine Kunstform“, wie es Horst Bredekamp für den Florentiner Fußball bis 1739 treffend formuliert. Christoph Bausenwein beschreibt die Genese des Fußballspiels, den darauf begründeten Fußballsport mit seinem Appendix, den Zuschauerkulturen seit den historischen Vorformen des Fußballs, dem mittelalterlichen „Folk Football“ der britischen Inseln sowie dem auf öffentlichen Plätzen volksfestartig zelebrierten Florentiner Calcio, als ritualisiertes „Mittel der Konfliktbewältigung sesshaft gewordener Gemeinschaften“.

Im Vergleich zum mittelalterlichen Massenfußball ist die Gewalt im heutigen Fußball und in seinen Fankulturen jedoch ein Pappenstiel. Denn er war regellos, ohne Teilnehmerbegrenzung. Mit der Nacht als Halbzeit, versuchten die männlichen Bewohner des einen Stadtteils den unkaputtbaren Ball zum mitunter kilometerweit entfernten Tor des anderen Stadtteils zu bugsieren. Verbote und die parallele Entwicklung von verregelten Spielen zunächst in den besseren Gesellschaften bis hin zum heutigen Fußballsport haben die Teilnehmerzahl schrittweise verringert, die Möglichkeiten zum Ausdruck von Gewalt dezimiert. Der Zivilisationsprozess übertrug sich auf die Ballspiele, die eigentlich zu seiner Verarbeitung aufgekommen waren. Rannten, traten und schlugen die Massen früher selbst mit, wurden sie im Zuge der Entwicklung des Fußballs an den Spielfeldrand verdrängt. Doppelt entkoppelt, bildeten Menschen Zuschauerkulturen, die die versportete Gewalt auf dem Spielfeld und das Prinzip von „Wir“ gegen „die Anderen“ auf den Rängen symbolisch nachvollziehen, bis hin zu den nur noch seltenen Massengewaltphänomenen einerseits und den konstant kleinen gewaltförmigen Hooligangruppen und Teilen der Ultragruppen andererseits. Aus dem Spiel gedrängt, fand die Gewalt ihren Weg auf die Zuschauerränge oder die Zuschauertreffpunkte oder auf die Anreise zu den Spielen.

Im Laufe der Spezialisierung von Sicherheitsmaßnahmen wurde und wird Gewalt auch dort verstärkt eingedämmt. Zumindest so lange, bis Zuschauerkulturen kreativ darauf reagieren und immer wieder neu spezialisierte Nischen für gewaltförmiges Handeln entstehen. In diesen Nischen formiert sich Gewalt z. B. mittels durchdachterer Organisationsformen von kleinen oder Teilen von Zuschauergruppen, gewaltförmiger Rufe und Banneraufschriften, Social-Media-Einträgen und Videoclips, des Vertriebs von hooliganaffiner Kleidung, Fitnesstraining und zum Teil Mixed Martial Arts als Grundlage von kommerziell organisierten Hooligankämpfen.

Auch die schrittweise zugenommene Brutalisierung des Calcio Storico kann als eine spezialisierte Nische, ja sogar als offizialisierte Form der Gewaltausübung bezeichnet werden. Vier männliche Stadtteilteams mit je 27 Spielern zelebrieren diese Körperverletzung mit Ball alljährlich im Juni auf den Stadtplätzen von Florenz. Und das ungleich brutaler, als es ihre Wurzeln im 15. Jahrhundert zulassen. In einer regellosen Mischung aus Gladiatorenkampf, Massenfußball und auch Hooliganismus finden diverse historische Gewaltrepräsentationen im Calcio Storico perpetuiert wieder zueinander. Würde man die Interviews seiner Protagonisten in der 2010 erschienenen Dokumentation „Florence Fight Club“ aus dem Zusammenhang reißen, könnten sie auch ins Hooliganmilieu passen. Genauso wie die Spieler des Calcio Storico konstituieren gewalttätige Fans, Ultras und insbesondere Hooligans das, was sie gern auch mal als „alte Werte“ bezeichnen.

Diese kennzeichnen sich durch hegemonial männliche Ausformungen von trennscharfen Identitäten, ihrer Performanz, ihrer unmissverständlichen Manifestation, ihrer konstant wiederkehrenden Repräsentanz. Bestandteile davon sind die Selbstbestimmung in einem imaginierten Freiraum und stets flexible Aushandlungsprozesse zwischen Individuen und Kollektiven. Auffallend ist das Bedürfnis nach Gruppenidentitäten mit einem deutlichen „Wir“ hier und „die Anderen“ dort, nach sozialmächtigen wie personenfixierten Hackordnungen, nach Pejorisierung und Diskriminierung als Abgrenzungstechniken. Es geht um ein Patchwork aus Autoritarismus, „Destruktivität und Zynismus“ und „Projektivität“ (Theodor W. Adorno), territorialem – häufig weißem – Überlegenheitsdenken und Sozialdarwinismus, soldatischem Kämpferideal, Sozialchauvinismus, Antiintellektualismus, Überdrehung kapitalistisch geprägter Ellenbogenmentalität und einer entsprechenden, auf Selbstbeweisung angelegten Körperfokussierung. Die sich so konstituierenden „alten Werte“ beinhalten und zelebrieren symbolisch wie physisch immer die Akzeptanz von Gewalt. Doch genug mit diesem Begriffsgeschwader.

Robert Claus macht das anders. Er arbeitet eher erzählerisch, passagenweise tief aus dem Feld heraus. So zeigt sein Buch detailliert, wie solch hegemonial männlich überdüngtes Lebensgetue immer wieder und in neuen Formen die Straße hinuntergerollt kommt, den Weg freimachend für regressive Lebensweisen und Politiken mit archaischen, vormodernen, antidemokratischen Zügen mitsamt ihren Widersprüchen, Lernfähigkeiten und Winkelnischen. Um dies herauszuarbeiten, geht Claus nah ran und rein. Aus den so gesammelten Einblicken und Aussagen entstehen Abbildungen. Erst darauf basierend können Claus und auch die Lesenden dieses Buchs kühl analysieren und distanziert verstehen. Wenn mehr gewollt ist, als die Welt verschieden zu interpretieren, dann ist ein ständiges Neuverstehen doch so sehr die Grundlage für eine stets emanzipatorische Positionierung und Veränderung. Dieses Buch ist ein Angebot zu einem solchen Verständnis, nicht aber zur Akzeptanz von Gewalt.

Zürich, 10. Juli 2017

Gerd Dembowski

Vorwort

Von Julia Düvelsdorf

Leiterin der Fan- und Mitgliederbetreuung des SV Werder Bremen Bundessprecherin der Fanbeauftragten

Eine Begebenheit im Stadion werde ich niemals vergessen. Mir wurde einmal gesagt: „Julia, es ist mir doch egal, wer beim Fußball neben mir steht. Ob es ein Nazi ist oder nicht. Es geht doch um Werder. Die sollen mich doch wenigstens beim Fußball mit ihrer Politik in Ruhe lassen.“ Dieses entsetzte Gefühl nach diesen Sätzen begleitet meine Arbeit. Mein lautes „Nein, es ist eben nicht egal, wenn ein Nazi neben mir steht“, hat sich fest eingeprägt.

Nein, ich will keine menschenverachtende Denkweise, keine Diskriminierung in meiner Umgebung. Nein, auch nicht im Fußball. Diese Grundhaltung einfach als „linke Politik“, „anstrengend“, „zu kompliziert“ oder mit „Wir sind doch beim Fußball“ abzutun, öffnet das Tor für menschenfeindliche Gedanken in den Stadien. Als wäre der Fußball, als wäre ein Stadion ein rechtsfreier Raum. Ein Raum, in dem man Pause von der Gesellschaft draußen machen kann. In dem andere Regeln herrschen. In dem man endlich so sein kann, wie man will. Nein. Fußball ist Gesellschaft und Gesellschaft ist Fußball. Jeder Mensch, auch der Mensch, der sich im Kontext Fußball bewegt, ist ein Teil der Gesellschaft. Es gibt keinen Weg aus der Verantwortung, die jeder von uns für gutes Miteinander trägt. Das ist die Aufgabe, die man hat, wenn man in einer Demokratie lebt. Eine Aufgabe, aber auch eine ganz eigene Möglichkeit der Mitbestimmung. Jeder hat seinen Anteil an einem toleranten und offenen Zusammenleben in einer demokratischen und freien Gesellschaft. Es ist wichtig, diese Botschaft und Werte in den Fußball zu tragen. Sie als Selbstverständlichkeit in den Vereinen und in den Kurven zu verankern.

Da fragt man sich: Ist das noch nicht passiert? Würde nicht jeder Bundesligaverein unterschreiben, dass er sich für Demokratie und gegen jegliche Form von Diskriminierung engagiert? Als kleinste Form der demokratischen Struktur steht jeder e.V. – und damit die Ursprünge der Bundesligavereine – für diese Werte. Wie kommt es dann, dass sich viele antidemokratische Strömungen und Alltagsdiskriminierungen in den Stadien verbreitet haben? Wie konnte es passieren, dass dies unter den Augen der Vereine geschehen ist? Wurde nicht hingeschaut oder nicht weit genug gesehen? Vielleicht das Problem unterschätzt? Wurde Beteiligten nicht zugehört? Wurden die Vereine vielleicht aber auch damit alleine gelassen? Und sind aber diese Werte – auch wenn deren Benennung in manchen Kreisen als anstrengend empfunden wird – nicht auch ein Grundbedürfnis vieler Fans, die Woche für Woche in die Stadien strömen? Das Gefühl von Zugehörigkeit, Akzeptanz, Gemeinschaft und der gegenseitigen Rücksichtnahme, das Anerkennen eigener Stärken und das Streben nach eigenen Zielen, wie dem sozialen Engagement vieler Fans? Es ist offensichtlich, dass es in weiten Teilen der deutschen Fankultur eben auch ein politisches Bewusstsein gibt, was sich vor allem im lokalen gesellschaftlichen Engagement widerspiegelt.

Fragen über Fragen. Sich diesen als Verein zu stellen, erfordert eine kritische Selbstreflexion. Vor allem ein Bewusstsein dafür, dass man Verantwortung für die Wertebildung in seinem Stadion und rund um seinen Verein trägt. Diese Verantwortung sollte man selbstbewusst annehmen und nicht als Last, sondern als Chance verstehen. Die Chance, ein fester Baustein einer offenen, toleranten und lebendigen Fankultur zu sein. Und sie mit jedem Menschen, der mit an Bord ist, ein Stück zu festigen. Um hier nachhaltige Erfolge zu erzielen, sind vereinsinterne Strukturen, die sich mit sozialen Projekten beschäftigen und soziales Engagement dauerhaft konzipieren, ideal. Keine plakativen Aktionen, sondern nachhaltige Arbeit mit und für sozial Benachteiligte, die Vermittlung eines positiven Menschenbildes und integrative Angebote. Dies sind die besten Wegbereiter für Toleranz, Verständnis, Offenheit und Menschlichkeit. So bildet sich eine belastbare Basis für die Wertebildung und künftige Zusammenarbeit mit den Menschen rund um den Verein. Künftig? Aber was ist mit der aktuellen Kurve? Es ist unabdingbar, die Fanstrukturen zu kennen. Sich mit den Fans in ihrer unterschiedlichen Ausprägung zu beschäftigen, ihnen zuzuhören. Die Strukturen in einer Kurve sind kompliziert und verworren. Die Fanszenen haben sich über Jahre entwickelt. Regionale Eigenheiten spielen dabei ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle. Wenn man sich als Verein im Profifußball-Business befindet, kann man überhaupt einen kompletten Überblick über die Entwicklungen der Kurve haben? Seit einigen Jahren beschäftigen die Vereine Fanbeauftragte, um genau diesen Einblick zu bekommen.

Fanbeauftragte sind Seismographen für Strömungen innerhalb der Fanszenen, haben im besten Fall ein Gespür für Entwicklungen innerhalb „ihrer“ Kurven und können einschätzen, welchen Stellenwert Menschlichkeit, Offenheit und Toleranz bei den Fans einnehmen. Und welchen Stellenwert haben Werte in den Vereinen, die sich in einem immer härteren weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerb befinden? Ist die Zeit da, um sich tiefgreifend mit diesem Thema zu beschäftigen, oder bleibt es bei Lippenbekenntnissen? Es reicht hier nicht, an der Oberfläche zu kratzen. Nein. Diese Werte müssen gelebt werden, sonst verpuffen sie. Vor allem ist es wichtig, sie gemeinsam zu leben: Fans, Verein, Stadion und Stadt. Die Arbeit für diese Werte und vor allem den Erhalt dieser ist effektiver, wenn sie auf mehrere Schultern verteilt ist. Dies sollte allen Beteiligten bewusst sein. Hier die Verantwortung von sich zu schieben, ist grob fahrlässig und birgt die Gefahr, dass sich populistische Denkweisen durchsetzen können. Eine starke und aufeinander abgestimmte Allianz gegen Menschen- und Demokratiefeindlichkeit zu bilden, gibt den Beteiligten die Chance, mutig zu sein, sich sicher zu fühlen und nicht alleine im Gegenwind zu stehen. Denn den wird es geben. Das ist sicher. Gemeinsam kann man sich Windschutz geben. Neben den regional verankerten Bündnissen sollte es auch standortübergreifende Zusammenarbeit geben. Wenn sich Bundesligavereine und ihre Fans für antidiskriminierende Aktionen zusammenschließen, hat dies eine enorme Strahlkraft. Mit ihrem Verein im Rücken, haben die Fans eine bessere Möglichkeit, klar Position gegen Menschenfeindlichkeit zu beziehen. Und sie wissen, dass sie damit nicht alleine sind. Sie können sich gegenseitig in der Kurve unterstützen und der jüngeren Fangeneration diese Werte mit auf den Weg geben.

Es braucht eigentlich nicht viel, um dieses oben genannte „Nein“ zu sagen. Eben nur eine klare Position. Als Verein, als Kurve und am besten auch als gesamter Standort. Manchmal scheint dieser kleine Schritt enorm schwierig zu sein. Es braucht immer Menschen, die andere an die Hand nehmen und diesen Schritt gehen. Menschen, die sich in den Wind stellen, helfen, die aufklären, Veränderungsprozesse begleiten. Menschen, die über den Tellerrand schauen und sensibel für gesellschaftliche Entwicklungen sind. Sie begleiten den Fußball wissenschaftlich und stehen den Beteiligten zur Seite, auch wenn Hürden unüberwindbar erscheinen. Sie können die Akteure rund um den Fußball auf dem Laufenden halten und versetzen sie in die Lage, im besten Fall präventiv auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren zu können. Menschen, die die Courage haben, auch unangenehme Themen auf die Agenda zu setzen. Themen, die nicht in eine „heile“, glitzernde Fußballwelt passen, aber dazugehören. Es braucht Menschen mit Mut, sich mit ihnen zu beschäftigen und diese öffentlich zu machen. Menschen, die genau dieses „Nein“ hartnäckig und offen sagen.

Bremen, 10. Juli 2017

Julia Düvelsdorf

Einleitung

Hooligans – eine ausdifferenzierte Szene

Marseille, Juni 2016: Das Vorrundenspiel der Europameisterschaft zwischen England und Russland steht an. Doch schon am Vortag sind die Bilder nicht vom Fußball, sondern von brutalen Szenen am Hafen der am Mittelmeer gelegenen Stadt geprägt. Hunderte russische Hooligans attackieren englische Schlachtenbummler. Schrecken nicht davor zurück, am Boden liegende Gegner auf den Kopf zu treten. Bilder blutüberströmter Engländer geistern durch die Medien. Doch nicht nur das. Wenige Tage später taucht in den sozialen Medien ein weiteres Video auf. Es ist mit einer „GoPro“ aufgenommen, einer hochauflösenden Kamera, die ein russischer Hooligan während der Ausschreitungen auf dem Kopf trug und somit seine Sicht der Dinge mit der Welt teilt. Das Video zeigt, wie gut geordnet und in Kleingruppen organisiert die Russen vorgegangen sind. Das war keine alkoholisierte Fußballrandale vergangener Jahrzehnte, sondern das taktisch ausgeklügelte Manöver bestens trainierter Hooligangruppen. Es war eine Machtdemonstration gegen die einstmals gefürchteten englischen Hools und sollte die Wachablösung aufzeigen.

Zugleich war es das Aufeinandertreffen zweier Generationen an Hooligans, die sich voneinander unterscheiden. Zwar sind beide männlich und gewaltaffin, doch die Praxis ihrer Gewalt unterscheidet sich enorm. Gut zu unterscheiden an einem weiteren Post, der in den sozialen Medien die Runde durch die Foren der Hooliganwelt machte. Der Post ist zweigeteilt. Links darauf zu sehen: ein durchtrainierter junger Mann in Kampfsportmontur. Rechts: ein Mann mittleren Alters mit Sonnenbrille in Jeans. Die englische Fahne auf den Bauch gepinselt. Die Bildunterschrift links: Name: Andrei „Death“ Nikolayev, Age: 24, MMA-Record: 78-0-0, Favorite Food: Raw Bear Meet, Favorite Drink: Water, Speciality: Spinning Elbow. Die Bildunterschrift rechts: Name: Dave „Big Lad“ Johnson, Age: 49, MMARecord: Yes Sky Plussed it, Favorite Food: Pie and Chips, Favorite Drink: Stella, Speciality: Jägerbombs.

Natürlich kommt dieser Post von russischen Hooligans, die ihren Sieg in Marseille feiern wollen. Natürlich arbeitet er mit Ironie. Und natürlich gibt es auch in Russland Hooligans, die Bier trinken, in England welche, die Kampfsport trainieren. So homogen ist keine Szene. Und doch kommen in dem Post zwei höchst unterschiedliche Ideen von Hooliganismus zum Tragen: Viele der heutigen Hooligans trainieren Kampfsport unter (semi-)professionellen Umständen, nicht wenige nehmen aktiv an Kampfsportveranstaltungen teil. Sie ernähren sich gesund, manchmal vegetarisch und konsumieren weniger Bier oder Nikotin, sondern eher aufputschende Mittel. Auch verdingen sie sich teilweise in gesellschaftlich renommierten Berufen. Noch während der Europameisterschaft wurden in Köln russische Hooligans auf der Durchreise festgenommen, die spanische Touristen angegriffen hatten. Es waren zwei Köche, ein Manager, ein Wirtschaftsprüfer und ein Mathelehrer. Hooliganismus hat sich weiterentwickelt: weg von den alkoholisierten Randalen, hin zu durchtrainierten und organisierten Manövern. Die Ereignisse in Marseille gaben der breiten Öffentlichkeit einen kleinen Einblick.

Vier zentrale Entwicklungen

Doch haben uns nicht nur die russischen Hooligans bei der Europameisterschaft vor Augen geführt, dass es sich um eine lebendige Szene handelt. Bereits im Oktober 2014 sorgten die „Hooligans gegen Salafisten“ für Aufruhr, als sie mit knapp 5.000 Menschen durch die Kölner Innenstadt zogen. Sie gehören seither zu den Bildern rechter Demonstrationen gegen die staatliche Migrationspolitik. Hooligans stellten einen Teil des Ordnungsdienstes bei den Pegida-Aufmärschen in Dresden und randalierten mit 300 Menschen durch die Leipziger Innenstadt am Rande des ersten Geburtstags von Legida – dem Leipziger Ableger.

Dabei gestaltet sich die dynamische Szene für Außenstehende oft unübersichtlich. Viele Fragen werden aufgeworfen, wenn Hooligans – wie in den aufgeführten Beispielen – für Aufruhr sorgen: Woher kommen diese Hooligans nach den vielen Jahren? Ist Hooliganismus nicht eine Fankultur der 1980er Jahre? Sind alle Hooligans rechts? Gibt es das nur im Osten? Wo überschneiden sich Hooligan-, Rocker- und Kampfsportszene?

Hooligans existieren in Deutschland seit über 40 Jahren und haben über die Zeit viele Entwicklungen mitgemacht. Auch leben sie nicht fernab dieser Gesellschaft, sondern verändern sich – sowohl durch eigene Lerneffekte wie auch äußere Einflüsse. So lassen sich letztlich vier zentrale Entwicklungen beschreiben, die in der Hooliganszene stattgefunden und ihren Werdegang entscheidend geprägt haben.

I. Hooligans altern

Durch „Hooligans gegen Salafisten“ (HoGeSa) wurde offensichtlich, was lange Zeit vergessen war: Große Teile der Hooligannetzwerke und -szenen, die in den 1980er und 1990er Jahren entstanden, existieren noch immer. Zwar haben sich die Lebenswege ein Stück weit verstreut: Manche sind Väter geworden oder haben ihre Erfahrungen in Büchern verarbeitet, andere sind den Weg in die Security- oder Rockerszene gegangen, die seit Ende der 1990er Jahre verstärkt Hooligans umwirbt. Doch auch wenn ihre Zeit als aktive „Kämpfer“ meist hinter ihnen liegt und sie ins Alter gekommen sind, halten die sozialen Kontakte. Ihr Fußballbezug existiert ungebrochen.

II. Hooligans erfinden den „Acker“

Infolge der gestiegenen Repression um das Jahr 2000 verlagern Hooligans ihre Kämpfe immer stärker auf Plätze fernab der Innenstädte und Stadien, auf Äcker und Feldwege – an sogenannte Drittorte. Dabei entstehen detailliert organisierte Gruppenkämpfe. Es schützt die Szene vor Strafverfolgung und öffnet sie zugleich für Türsteher und Kampfsportler jenseits der Fanszenen. Nicht selten jedoch gerät „der Acker“ zum zentralen Trainings- und Vernetzungsort für rassistische Schläger.

III. Hooligans und rechte Ultras

Stand ein Großteil der Ultrakultur der Gewalt lange Zeit eher fern, waren rechte Ultras schon immer Brüder im Geiste der Hooligans und haben sich über die vergangenen Jahre angenähert. Sie verbinden zwei zentrale Eigenschaften der beiden Szenen: die Gewalt der Hooligans und den hohen Grad der Selbstorganisation der Ultras. Somit bewegen sie sich sicher in beiden Welten – ihre Gewalt zielt dabei auch auf die eigene Fanszene ab, mit dem Ziel der Machtausübung.

IV. Hooligans professionalisieren ihre Gewalt

Waren die Ausschreitungen von Hooligans in früheren Jahrzehnten oftmals von alkoholgeschwängerten und wüsten Randalen geprägt, haben viele aus der jüngeren Generation den Weg in den organisierten Kampfsport gefunden. Dies wurde auch durch die generelle Professionalisierung des Kampfsports jenseits des klassischen Boxens befördert. Mittlerweile betreiben Hooligans eigene Gyms und veranstalten eigene Events. Sie dienen als Infrastruktur sowie als Treffpunkt der Szene: für aktive Kämpfer, für das gewaltaffine Umfeld sowie für Schaulustige, für rechtsoffene Hooligans und gewalttätige Neonazis. Nicht nur ihre Events, sondern auch ihre Produkte, ihre Werbung und ihre Präsenz in den sozialen Medien sind professionell organisiert.

Nicht selten sind aus diesen einzelnen Entwicklungen auch spezifische Gruppen und Organisationen entstanden: Gehört beispielsweise die Bremer Band Kategorie C zu den alten Hooligans, ist die Dortmunder „Northside“ eine Gruppe, die ihre Kämpfe „auf dem Acker“ austrägt. Stehen die „Boyz Köln“ wiederum für eine Vereinigung von rechten Hooligans und Ultras, verdeutlicht das „Imperium Fight Team“ aus Leipzig, wie sich Hooligans im Kampfsport professionalisieren. Darüber hinaus sind diese Gruppen und Szenen mannigfaltig miteinander verbunden: Einerseits bilden sie ein gewaltaffines Milieu, das durch Fußball, Kampfsport, Konzerte einschlägiger Bands und Social Media miteinander vernetzt ist. Andererseits griffe es zu kurz, die Widersprüche zwischen ihnen nicht auch wahrzunehmen. Denn mancherorts tragen sie einen gewalttätigen Kampf darüber aus, wer die dominante Gruppe in der Szene bzw. Stadt ist und das jeweilige Gewaltmonopol innehat. Es folgt einer Logik des territorialen Besitzes und des zugespitzten Männlichkeitsfetischs. Es geht stets um das Faustrecht des Stärkeren.

Dieses Buch ist entsprechend den vier dargestellten Entwicklungen aufgebaut: Nach einem Abriss der Geschichte des Hooliganismus in Deutschland werden sie anhand der lokalen Geschichten einzelner Orte geschildert. Stets sind dabei Hinweise auf die anderen Entwicklungen zu finden. Ebenso verlaufen die Themen Gewalt, Politik und Netzwerke sowie Verständnisse von Ehre und Macht quer durch die Kapitel. Sie werden außerdem gerahmt durch Interviews mit Experten zu Hooligans in der DDR sowie in Osteuropa, zu Mixed Martial Arts (MMA) sowie der Forschung zu Gewalt. Das Ziel ist eine sachliche und differenzierte Schilderung einer Szene, die sich vielfach ausdifferenziert hat – auch wenn die Gewalt schockierend ist, die Szenen undurchsichtig sind und die Motivation vielen fremd bleibt.

Eine gewachsene Jugendkultur

Doch wäre es zu einfach, diese Kultur pauschal zu verurteilen. Denn sie ist ein lebendiger Teil dieser Gesellschaft, der sich stets fortentwickelt hat: Zum einen laufen verabredete Kämpfe zwischen organisierten Gruppen entgegen der landläufigen Meinung sehr strukturiert ab. Man trifft sich an einem etwas abgelegenen Ort, spricht vorher über die Größe der Gruppen und Regeln. Nicht selten kommt man nach einem Kampf zu einem gemeinsamen Gruppenfoto zusammen, um sich die Ehre zu erweisen. Es gibt immer Ausnahmen, doch in den meisten Duellen ist keine Spur von Hass zu sehen. Vielmehr geht es für die Beteiligten um einen Sport, der sich seine eigenen Regeln setzt, stetig neu verhandelt und sich selbst reguliert – fernab großer Institutionen.

Weshalb er bis heute illegal ist. Jede andere Sportart bzw. Jugendkultur etabliert nach einer gewissen Entstehungszeit ihre Organisationen: Ehemalige Punks betreiben Musiklabels, Plattenläden und Konzerte, Skater produzieren Kleidung, Boards und Parcours. Derartige Entwicklungen sind im Hooliganismus eher im Kampfsport zu sehen. Doch auch wenn sich die Szene seit 40 Jahren prügelt, existiert bis heute kein Sportverband der Hooligans, der Strukturen stellt und Lobbyarbeit leistet. Versuche ihrer Legalisierung sind marginal. Und dennoch gehört die Hooliganszene zu den ältesten Jugendkulturen der Bundesrepublik.

Eine Szene, die ihre Erfahrungen und Einstellungen auch künstlerisch verarbeitet. Graffitis mit dem eigenen Gruppennamen oder zum Gedenken der Toten werden gesprüht sowie Musik produziert. Zudem haben es zwei Hooliganfilme in der Szene zu einem besonderen Standing gebracht. Zum einen ist dies „Green Street Hooligans“ (2005), der in Deutschland nur den Titel „Hooligans“ trägt. Er handelt von der „Green Street Elite“, einer „Firm“, wie englische Hools ihre Gruppen nennen, des West Ham United FC. Hauptfigur Matt Buckner kommt frisch vom College und erlebt eine Welt aus roher Gewalt und brüderlicher Gemeinschaft. Am Ende stirbt sein Idol und Gruppenanführer. Und doch – bzw. gerade deshalb – romantisiert der Film die Gewalt in diesen Szenen, den Gedanken von Kameradschaft. Auch die Marke „Stone Island“ und andere für englische Hooligans typische Kleidungsstücke werden oft präsentiert. Aufgrund des Erfolgs wurden noch zwei weitere Filme gedreht, doch „Hooligans II – Stand your Ground“ sowie „Hooligans III – Never back down“ blieben weitestgehend unbekannt. Die Szene postet unverändert gerne Ausschnitte des ersten Films auf ihren Accounts in den sozialen Medien. Der zweite Film heißt „Okolofutbola“ und handelt von Hooligans des russischen Klubs Spartak Moskau. Er wurde 2013 veröffentlicht und trägt in der deutschen Fassung den Namen „Kicking Off – Anstoß zur 3. Halbzeit“. Auch dies ist ein Film über eine Gruppe junger Männer zwischen Gewalt, Fußball und Liebe. Und er scheidet die Geister: Die Bilder sind brutal, die Schlägereien recht ungeschönt. Ein weiterer beliebter Film ist die britische Produktion „Football Factory“ (2004). Letzten Endes bleiben Hooligans eine sehr bewegliche, dynamische Szene, geprägt von mannigfaltigen pop-, jugend- und subkulturellen Einflüssen wie auch internationalen Entwicklungen.

Wer ist Hooligan?

In Anbetracht einer derart breit gefächerten Landschaft an Aktivitäten, Orten und Szenen dieser gewalttätigen Welt stellen sich zudem die Fragen: Was sind Hooligans? Wie groß ist die Szene, wie viele Mitglieder zählt sie? Dabei sind genaue Zahlen kaum zu benennen, vielmehr muss mit Definitionen und Näherungswerten gearbeitet werden. Denn die Szene ist dynamisch, klare bzw. feststehende Grenzen lassen sich kaum ziehen.

Dementsprechend schwer hat sich die Wissenschaft über Jahrzehnte getan, Hooliganismus zu definieren. Ingo-Felix Meyer z. B. verstand Hooligans 2001 in seiner Studie „Hooliganismus in Deutschland“ als „Personen, die im Umfeld von Fußballspielen und Ereignissen durch gewalttätige Aktionen gegenüber Personen und Sachen auffallen“. Dabei fehlen jedoch Gewalthandlungen jenseits von Spieltagen. Ähnliches trifft zugleich auf die wohl bekannteste Einteilung von Fußballfans in Bezug auf Gewalt zu: die Kategorien A, B und C, welche die polizeiliche Arbeit prägen. Kategorie A steht dabei für friedliche Fans, Kategorie B für situativ gewaltbereite Fans und Kategorie C für aktiv gewaltsuchende Fans – also Hooligans. Nicht ohne Grund bezieht sich die Szene positiv-ironisch auf die letzte Kategorie.

Des Weiteren wurde in der wissenschaftlichen Landschaft das Thema Hooligans in den vergangenen Jahren sehr vernachlässigt, standen seit Beginn der 2000er Jahre doch eher die Ultras im Fokus der Beschäftigung mit Fankultur. So stammt auch die letzte breiter angelegte Studie zu Hooligans aus dem Jahr 2001. Das Team, bestehend aus den Wissenschaftlern Friedrich Lösel, Thomas Bliesener, Thomas Fischer und Markus Pabst, hat darin einerseits Experten aus der Arbeit mit Fußballfans befragt, andererseits aber auch 33 männliche Hooligans zwischen 17 und 44 Jahren interviewt. Die Studie trägt den Titel „Hooliganismus in Deutschland. Ursachen, Entwicklung, Prävention und Intervention“.

Dabei haben die Autoren eine breite Palette an Themen in den Leben der Hooligans erkundet: von der familiären Situation, der schulischen und beruflichen Laufbahn, über Straftaten und Persönlichkeitsmerkmale bis hin zu Drogen- und Medienkonsum. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass viele Hooligans in sogenannten Broken-home-Verhältnissen aufgewachsen sind, geprägt von Scheidungen und teilweise mehrfach wechselnden Versorgungsträgern. Derweil stammten die Eltern größtenteils aus handwerklichen oder kaufmännischen Berufen, und die befragten Hooligans gaben mit großer Mehrheit an, zu Hause keine bzw. kaum physische Gewalterfahrungen gemacht zu haben. Die wiederum große Masse der Befragten hatte einen Haupt- oder Realschulabschluss und eine Ausbildung absolviert. Ebenso besaß ein Großteil Erfahrungen mit strafrechtlich relevanten Delikten – von Raub bis Körperverletzung und dem Konsum illegaler Drogen. In Bezug auf charakterliche Eigenschaften stach vor allem hervor, dass die befragten Hooligans deutlich leichter erregbar waren und aggressiver wurden als vergleichbare Gruppen. Überdies antworteten die in der Studie befragten Experten, dass sie Querverbindungen in andere Szenen bzw. Milieus sähen: 37 % sahen Verbindungen in den Drogenhandel, 13 % in die Zuhälterszene, 44 % zu Türstehern, 41 % in den professionellen Kampfsport und 52 % in ein allgemein kriminelles Milieu.

Darüber hinaus differenzierten die Autoren die Gruppen anhand ihrer Interviews in drei Ebenen: die Führungspersonen, den harten Kern sowie Mitläufer, die sich durch Eingebundenheit, Entscheidungsbefugnisse und Kampferfahrung unterscheiden. Auch wurde nach der Einhaltung des Ehrencodex der Szene gefragt: gleiche Gruppengröße, kein Einsatz von Waffen, Ende des Kampfes, wenn der Gegner am Boden liegt. Nur eine Minderheit gab an, diesen immer einzuhalten: 14,3 % für „abgesprochene“ und 17,2 % für „spontane Fights“. Die große Mehrheit gestand, sich „häufig oder gelegentlich“ daran zu halten. Als Gründe für einen Ausstieg aus der Szene wiederum nannte die Mehrheit strafrechtliche Maßnahmen und familiäre Ursachen, gefolgt von der präventiven Arbeit der Fanprojekte und dem drohenden Verlust des Arbeitsplatzes.

Zu guter Letzt hilft auch der Begriff „Szene“ weiter, um Hooligans zu analysieren. Die Sozialwissenschaftler Ronald Hitzler und Arne Niederbacher definieren eine Szene in ihrem Buch „Leben in Szenen“ (2010) als thematisch fokussierte Netzwerke, in denen sich Menschen durch Kommunikation und Interaktion mit anderen verorten. Sie verfügen über eigene Treffpunkte und Codes sowie Eliten, die für die Organisation der Szene sorgen. Überträgt man diese Gedanken auf Hooligans, muss letztlich in Anbetracht der geschilderten und über Jahre entwickelten Ausdifferenzierung in mindestens drei Ebenen unterschieden werden: Erstens gibt es die kleine, aber zentrale Gruppe aktiver Hooligans, die an den Kämpfen teilnehmen. Sie stehen im Zentrum des Geschehens. Zweitens gibt es viele Angehörige der Szene, die über Gewalterfahrung verfügen und die Netzwerke kennen – z. B. aus der Erfahrung ihrer früheren Tage oder weil sie sich im Umfeld der prügelnden Gruppe bewegen, selber aber nicht zu abgemachten Kämpfen fahren. Und drittens gibt es Sympathisanten, die Hooliganmusik hören, sich an dem Kleidungsstil orientieren und auf Facebook die entsprechenden Videos teilen. Ihr gemeinsames Thema ist die Gewalt – zumeist im Zusammenhang mit Fußball –, worüber sie in Kneipen, Internetforen und bei Kampfsportturnieren sprechen.

Nicht zuletzt gibt es aktive Hooligangruppen an fast allen Orten des höherklassigen Fußballs in Deutschland. Auch wenn die Mitglieder nicht homogen sind und sich unter ihnen Menschen finden, die nicht rechts denken, sind viele doch rechtsoffen und sympathisieren mit rechtsextremen Einstellungen. Die meisten Gruppen haben zwischen 20 und 70 Mitglieder (wobei nicht alle konstant an den Kämpfen teilnehmen), von denen wiederum zwischen drei und sechs zur Führung gehören. So kann die Größe der gesamten Szene letztlich auf einige hundert aktiv kämpfende Hooligans, dazu Angehörige der gesamten Szene im hohen vierstelligen und Sympathisanten bzw. Interessierte im niederen fünfstelligen Bereich geschätzt werden, wie die Zahlen der stark frequentierten Facebookseiten aufzeigen. Dabei verfügen in der letztgenannten Gruppe bei weitem nicht alle über eigene Erfahrung aus Kämpfen. Auch Hooliganismus hat somit eine eigene Fankultur entwickelt. Wohlgemerkt sind die Zahlen Schätzungen anhand von Eindrücken, Demonstrationen und Facebookseiten. Eine vollständig abgesicherte Zahl durch Mitgliederlisten kann es kaum geben.

Eine umstrittene Datei: „Gewalttäter Sport“

Eine weitere Quelle für das Thema Gewalt im Fußball – und somit auch bedingt über Hooliganismus – ist der Jahresbericht der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS). Sie wurde 1992 beim Land Nordrhein-Westfalen eingerichtet und übernimmt bundesweite Aufgaben. Sie arbeitet auch dem BKA zu, welches die Datei „Gewalttäter Sport“ leitet. In dieser waren im Juni 2017 10.646 Personen aus den ersten drei landesweiten Ligen vermerkt. Zur Eintragung führen u. a. schwere Eingriffe in den Verkehr, Haus- und Landfriedensbruch, Raub- und Diebstahldelikte sowie Volksverhetzung im Rahmen von Sportveranstaltungen, also auch außerhalb eines Stadions am Spieltag. Gleichwohl kritisieren Fanorganisationen die Datei. Das Bündnis ProFans mahnte wiederholt an, dass auch Personen in die Datei geraten, die schlichtweg zur falschen Zeit am falschen Ort und nicht an strafrechtlich relevanten Handlungen beteiligt waren. Eventuelle Folgen, wie ein Stadionverbot, hätten dennoch Bestand, bis die teilweise über Jahre dauernden Ermittlungen abgeschlossen seien.

Im Jahresbericht für die Saison 2014/15 wird der Anteil „rechtsmotivierter“ Fans in der Datei „Gewalttäter Sport“ mit 3,5 % bzw. 410 Personen angegeben. Die Anzahl der Strafverfahren gemäß § 86a StGB – Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen – lag im Vorjahr bei 31. Die verhältnismäßig geringen Zahlen lassen sich mit einer Reihe an Anmerkungen erklären. Zuallererst ist es gar nicht das Ziel des Jahresberichts, eine Übersicht über die Größe der deutschen Hooliganszene zu geben, sondern allein die registrierten Straftaten und Ermittlungen im Umfeld von Fußballspielen zu vermerken. Im Bericht selber wird darauf hingewiesen, dass jenseits der Spielorte „Drittorte“ für gewalttätige Auseinandersetzungen aufgesucht werden. Die Dunkelziffer ist dementsprechend hoch. Zweitens konzentrieren sich weite Teile des Berichts auf die erste, zweite und streckenweise dritte Liga. Tiefer spielende Vereine mit größerem Fanaufkommen und Hooligangruppen – wie der BFC Dynamo, Lok Leipzig und Waldhof Mannheim – fallen so aus der Statistik. Drittens entscheiden die einzelnen Länderpolizeien darüber, ob ein Vorfall als rechtsextrem einzuordnen ist. Die Erfahrung aus anderen Bereichen zeigt, dass es entsprechend unterschiedlich gehandhabt wird.

Auch Till Claus beschäftigt sich beruflich mit der Datei „Gewalttäter Sport“. Er ist beim LKA 645 in Berlin tätig, „Ermittlungsgruppe Hooligan“ (EGH). Seit 2007 arbeitet er im Kommissariat, seit 2015 als stellvertretender Kommissariatsleiter. Zum Interview auf dem großen Gelände der Polizeidirektion im Berliner Stadtteil Lankwitz gehen wir einen langen, hell beleuchteten Flur entlang, über einen großen Hof in ein zweites Gebäude. Im Trakt der Ermittlungsgruppe angekommen, empfangen uns Wände, die mit Fußballutensilien gekleidet sind: Schals vom BFC Dynamo, von Legia Warschau und ein Bilderrahmen mit einem T-Shirt, auf dem „Hoolizei“ steht. Daneben ein Badge „Good Night – Cop Side“ sowie ein Artikel aus der „BZ“ über die Hooligans vom BFC. Es sind Relikte aus früheren Einsätzen. Claus war lange Jahre szenekundiger Beamter. Wie für Wissenschaftler und Pädagogen bleiben auch für ihn Fragen von Nähe und Distanz zentral. Jede Berufsgruppe altert mit ihrer Klientel.

„Wir sind keine Ermittlungsgruppe mehr im klassischen Sinne, aber der Begriff hat sich Anfang der 2000er Jahre etabliert und wurde seither beibehalten“, sagt Claus über seine Tätigkeit. Er leitet die größte Dienststelle der „Szenekundigen Beamten“ (SKB) in der Bundesrepublik, 20 Mitarbeiter. Dies hat zwei Gründe: Zum einen sind seine Beamten keine reinen SKBs, denn sie führen auch Ermittlungsverfahren. Zum anderen spielen in Berlin drei höherklassige Vereine. Deren „Problemfans“, wie Claus sie nennt, machen auch den Großteil der in den Dateien aufgelisteten Personen aus. „Ein Problemfan ist eine Person, die im Umfeld eines Berliner Sportereignisses entweder als Straftäter oder als Störer auffällig wird und dafür auch zukünftig in Betracht kommt“, führt Claus aus. Die Polizei pflegt indessen zwei Dateien. Da wäre erstens die erwähnte deutschlandweite Polizei-Verbunddatei „Gewalttäter Sport“. „Sie soll jeden Beamten bundesweit in die Lage versetzen, eine akute Lageeinschätzung erstellen zu können. Denn ein bayerischer Polizeibeamter kann aufgrund des föderalen Systems nicht auf das Berliner Dateisystem zugreifen.“ Sie umfasse „Stummeldaten“ und Angaben über Vorfälle mit den Personen, keine Daten über Lebensläufe oder konkrete Vorwürfe. Doch die Landespolizeien handhabten die Auswahl und Übermittlung der Daten durchaus unterschiedlich, gibt Claus zu.

Zweitens gibt es die lokale Datei „Sportgewalt Berlin“. Sie umfasst derzeit knapp 1.400 Datensätze. Über 400 davon beziehen sich jeweils auf Fans von Hertha BSC und Union Berlin, 364 auf Anhänger des BFC Dynamo. Daneben finden sich vereinzelte Daten über Fans anderer Fußball-Bun-desligisten, von Eishockeyklubs wie den Berliner Eisbären oder dem ES Jungfüchse Weißwasser sowie dem polnischen Verein Pogon Stettin. In der Datei werden Personaldaten wie Name, Geburtsdatum, Adresse, Telefonnummer, Arbeitsstelle, vorgangsbezogene Daten über Strafanzeigen, Verfahrensausgänge sowie polizeiliche Maßnahmen gespeichert. Es bedarf keines Strafverfahrens, um in die Datei aufgenommen zu werden. Vielmehr werden auch „Störer“ verzeichnet, gegen die beispielsweise Platzverweise erfolgt sind. In jedem einzelnen Fall sei jedoch eine Begründung für die Speicherung notwendig, erläutert Claus.

„Die Arbeitsdatei ist unser kollektives Gedächtnis“, beschreibt er ihre Funktion. Doch er sagt auch: „Schon aus Eigeninteresse halten wir unsere Datei klar und klein. Nicht sinnlos sammeln, sondern alle rechtlich erlaubten Daten zu den Personen in unserem Fokus. Denn nach der WM 2006 wurden sämtliche Daten, die im Rahmen der Fanmeile angefallen sind, dort mit reingestopft. Das hat niemandem geholfen.“ Es gelten die gesetzlichen Löschfristen: zehn Jahre für Erwachsene und fünf Jahre für Jugendliche. Zudem kontrolliert der Datenschutzbeauftragte des Landes Berlin die Datei und ihre Nutzung regelmäßig. Darüber hinaus macht Claus ein paar Einschränkungen: Erstens könne er keine Zahl Berliner Hooligans nennen. Zweitens seien nicht alle 1.400 Personen in der Berliner Datei Hooligans. Und drittens fänden sich nicht alle Daten aus der Datei „Sportgewalt Berlin“ auch in der bundesweiten Datei „Gewalttäter Sport“. „Denn Menschen, die nur Berliner Heimspiele besuchen, werden nicht in die bundesweite Datei übertragen. Auch andersrum: Menschen, die nur internationale Länderspiele besuchen, finden sich nicht in der lokalen Datei ‚Sportgewalt Berlin‘.“ Das übernimmt dann die ZIS.

Zur politischen Einschätzung sagt Claus: „Berliner Fanszenen betrachten sich selbst als unpolitisch. Ich verorte Hooligans als grob rechts. Menschen mit Spaß ins Gesicht zu schlagen, entspricht für mich einem eher rechten Weltbild. Aber sie engagieren sich kaum politisch, und wir betreiben keine Gesinnungsschnüffelei.“ Ultras hingegen verorte er aufgrund der in der Szene behandelten Themen wie Datenschutz eher links. Auch an ihnen übt er Kritik: „Selbstregulierung wird zwar immer eingefordert von Fußballfanszenen, aber meine Meinung ist: Sie funktioniert nicht. Denn es gibt keine Verantwortlichen, bei Straftaten ist niemand ansprechbar.“ Deshalb brauche es die Dateien der Behörden, um Menschen zur Verantwortung ziehen zu können.

Monika Lazar sieht das anders. Sie ist Bundestagsabgeordnete für „Die Grünen“ und Obfrau im Sportausschuss. „Wir stehen der Datei ‚Gewalttäter Sport‘ skeptisch gegenüber. Schon der Name suggeriert, dass sich darin nur Gewalttäter fänden. Das ist jedoch nicht der Fall. Allein eine Kontrolle im Umfeld eines Fußballspiels kann für die Aufnahme ausreichen“, sagt sie. 2017 hatten sie und ihre Mitarbeiter eine Kleine Anfrage im Bundestag gestellt und im Vorfeld mit Fananwälten besprochen. Ihr Ergebnis: „Außerdem ist die Datei sehr intransparent: Die Aufgelisteten werden nicht benachrichtigt. Sie wissen nicht Bescheid, dass ihr Name in der Datei steht, und können somit kaum dagegen vorgehen. Zudem werden zum Teil groteske Daten wie Tätowierungen und Dialekte einzelner Personen verzeichnet.“ Auch die Daten, die sie einsehen konnte, seien zum Teil verdeckt gewesen.