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Karl Glanz

Hand in Hand





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1. Nena

Endlich ist es soweit. Die Glocke läutet, nicht irgendeine Glocke, die Schulglocke läutet. Die Schüler stehen auf, glücklich das Ende des Unterrichts erlebt zu haben, sie stehen auf, springen fast auf, packen ihre Schulutensilien ein.

Der Lehrer geht mit einem kurzen Gruß aus der Klasse. Er kennt das, schon seit vielen Jahren. Noch nie war es anders. Als er jung war, war er auch nicht anders. Er hat es nicht vergessen, nicht wie andere Lehrer, die ihre Jugend vergessen haben.

Nena steht auch auf, packt ihre Sachen ein, ist froh endlich aufstehen zu können. Sie hat genug von der Schule für heute. Sie hat noch viel zu tun. Bald gibt es eine Prüfung in Mathe, dafür hat sie noch nicht gelernt. Es ist auch nicht ihr Lieblingsfach. Bei Mathe liegt sie im Mittelfeld. Sie tut sich nicht schwer, aber auch nicht leicht. Sie muss lernen, das macht ihr Arbeit und bereitet Kopfzerbrechen.

"Wohin gehst du?", fragt ihre Schulnachbarin.

"Ich muss nach Hause", antwortet Nena.

"Und am Nachmittag?"

"Bald ist Prüfung in Mathe, da muss ich noch lernen", antwortet Nena und sieht ihre Kameradin fragend an. Sie fragt sich was sie nur von ihr möchte. Sie weiß doch genau, dass sie lernen muss.

"Ich habe mir gedacht, dass wir uns vielleicht treffen könnten?"

"Nadia, du weißt genau, dass ich in Mathe nicht die beste bin! Ich muss arbeiten. Bald ist der Abschluss und ich möchte dann dieses Haus nur mehr von außen sehen. Das kannst du doch verstehen?"

"Das kann ich, Nena. Du nimmst alles viel zu schwer! Nimm es leicht."

"Das kannst du machen, ich nicht. Ich möchte studieren, dass weißt du, dafür brauche ich gute Noten und dafür arbeite ich auch."

Nadia zuckt mit den Schultern.

"Wie du möchtest ..." Nadia geht, lässt Nena stehen.

Nena macht sich nichts daraus. Sie weiß was sie will und sie will studieren. Sie ist ehrgeizig, sie möchte einen Beruf ergreifen der ihr auch Spaß macht. Dafür muss sie arbeiten, hart arbeiten, dass weiß sie und das tut sie auch.

Nena ist ein junges Mädchen, gerade ist sie achtzehn Jahre alt geworden, was in ihrer Familie ausgiebig gefeiert worden war. Es war eine ausgelassene Feier. Einige Schulkameradinnen und Kameraden waren gekommen. Es wurde getanzt, gescherzt, Vater und Mutter sahen weg, ließen alles durchgehen. Sie waren stolz auf ihr Mädchen, das so fleißig war und sie unterstützten sie tatkräftig bei ihren Unternehmungen, ganz besonders wurde Nena unterstützt bei ihrem Wunsch zur Universität zu gehen. Nena hat viele Freunde. Die Burschen laufen ihr nach wie läufige Hunde. Die Mädchen haben sie gerne, weil sie nicht angibt, alle anderen, auch die, die nicht so schön sind wie sie, weil sie sie gleichwertig behandelt. Für Nena gibt es nicht diesen Unterschied, sie urteilt nur danach, ob sie sich mit jemanden versteht oder nicht. Wenn sie sich mit jemanden nicht versteht, dann zeigt sie es ihm oder ihr nicht, spricht mit den Leuten, geht ihnen aber, wenn möglich, aus dem Weg.

Nena ist eine junge Frau mit braunem Haar, braune Augen, die wie der Nordstern blinken. Sie ist groß gewachsen, hat eine hohe Stirn, erotisch geschwungene Lippen. Ihr Körper ist schlank und schön geformt. Das kommt nicht von ungefähr, sie liebt Sport und sie macht täglich Übungen. Bevor sie sich am Nachmittag zu ihren Hausaufgaben setzt, läuft sie eine Runde. Sie macht das, um ihren 'Kopf frei zu bekommen'.

Nena ist das einzige Kind von Harry und Gerda. Ihre beiden Eltern kennen sich schon lange. Sie sind zusammen zur Schule gegangen, wurden Freunde. Sie haben viel miteinander unternommen. Im Sommer, in den Ferien, gingen sie schwimmen. Da war eine Schottergrube nicht weit von ihren Wohnungen entfernt. Meist waren sie nicht alleine, auch andere Kinder kamen zum Schwimmen, da gab es immer viel Spaß.

Am Sonntag ging Harry und Gerda in die Kirche, so wie sich das gehörte. Sie waren sehr gläubig, lebten den Glauben auch. Jetzt, nach vielen Jahren, haben sie noch immer dieses Faible für den Glauben. Sie haben ein Kreuz an der Wand hängen, mitten im Wohnzimmer, davor knien die beiden und beten zu Gott. Für Nena ist das nicht besonders angenehm, sie muss sich auch hinknien, beten, bevor sie zur Schule geht oder von dieser kommt. Wenn die Mutter das Essen aufträgt, wird gebetet. Meist führt der Vater das Wort: "Ich danke dir Gott, dass du uns dieses Mahl beschert hast. Beschütze uns, leite uns durch diesen Tag. Mach, dass meine Tochter Nena eine gute Note bekommt, dass sie den Numerus Clausus schafft, damit sie studieren kann."

Nena weiß aber, dass Gott ihr bei ihren Prüfungen nicht helfen kann und es auch nicht tun würde, selbst wenn es möglich gewesen wäre. Den Numerus Clausus kann nur sie selbst schaffen, durch Arbeit, durch lernen und nicht durch beten.

Nenas Leben in der Familie ist nicht einfach. Sie lebt in einer anderen Welt, einer modernen Welt, einer aufgeschlossenen Welt. Religion spielt in Nenas Leben eine Rolle, aber nicht die, die sie bei ihren Eltern spielt. Für Nena gibt es Religion, zu Hause, in der Stadt, in der Schule, in der Politik, aber für sie ist Religion nicht das vorherrschende Problem. Nena kennt und macht keinen Unterschied unter den Religionen, was ihr viele Schelte von ihren Eltern eingebracht hat. Ihr macht das aber nicht viel aus, sie weiß, dass sie im Recht ist.




2. Harry



Ihr Vater Harry, ist da ganz anders. Er wurde nach dem Krieg geboren. Seinen Vater war ein ehemaliger Wehrmachtsoldat und darauf war er immer stolz. Er erzählte Harry von diesen großartigen Burschen, der Kameradschaft, der Opferwillen. Er erzählte seinem Sohn oft und viel aus dem Krieg, was er alles tolles vollbracht hatte. Leider war der Krieg nicht so ausgegangen wie er sich das gewünscht hatte. Für Nenas Opa brach eine Welt zusammen, als er merkte und erkennen musste, dass der Übermensch von den Untermenschen geschlafen wurde. Für ihn existierte kein Konzentrationslager, keine Menschenvernichtung, dass war alles nur Siegespropaganda.

Nena hat ihren Opa nicht wirklich kennengelernt. Im zarten Alter von drei Jahren ist er verstorben. Der Opa hatte ein Feld estellt, dass aufging, das aufblühte und das war sein Sohn Harry. Harry hatte alles was sein Vater ihm erzählt und behauptet hatte eingezogen wie die Muttermilch. Er nahm alles auf was ihm gesagt wurde, nachgeforscht hatte er nie. Mit Zyklon B konnte er nichts anfangen, bei Gaskammern begann er zu lachen, tat diese als sowjetische Propaganda ab. Harry sagt immer: "Wir haben den Krieg verloren, weil es viele gegeben hat, die ihre Pflicht nicht getan haben. Wir waren umringt von Verrätern. Wenn ich heute Bilder sehe, wie sie am Galgen hängen, dann weiß ich, dass sie nicht umsonst dort hängen."

Harry trat einer 'richtigen' Partei bei, einer Partei für echte Männer. Er sah sich als Beschützer der abendländischen Kultur, gegen den Angriff der Moslems. Wenn er etwas hasste, dann waren das Menschen die anders aussehen als er und seine Parteifreunde. Fremde waren ihm ein Gräuel. Fremdarbeiter, die es damals noch gab und gebraucht wurden, hasste er bis aufs Blut.

"Sie kommen hierher, nehmen uns die Arbeit weg, schlafen mit unseren Frauen ..., gehen zurück in ihre Heimat, ziehen die Schuhe aus und laufen wieder bloßfüßig durch den Sand. Wir können ihnen keine Kultur beibringen ... die sind einfach zu blöd."

Und jetzt kommen viele Flüchtlinge in das Land. Viele Frauen tragen ein Kopftuch, eine Abidjan oder sonst ein Tuch, das ihr Gesicht, ihren Kopf bedeckt. Harry macht das wahnsinnig! Wie kommen Fremde dazu, in seinem Land sich so zu kleiden, wie sie es gewöhnt sind. Unmöglich! Und Harry weiß die Antwort. Zu Gerda sagt er: "Diese Frauen mit den Kopftüchern kann ich nicht ausstehen. Was fällt diesen Frauen nur ein? Was denken sie sich? Das geht doch nicht! Das ist Unterdrückung! Die Frauen werden unterdrückt! In unserer Kultur ist das nicht akzeptierbar. Das Kopftuch gehört verboten! Wir wollen die Freiheit der Frau!"

Und wenn Nena Einwand, dass auch ihre Großmutter ein Kopftuch trug, tat Harry das mit einer abfälligen Handbewegung ab.

"Das ist was ganz anderes. Die Oma hat sich bedeckt, weil ihr kalt war. Diese muslimischen Frauen bedecken ihr Haupt, weil es ihre Religion so vorschreibt. Das ist Diktatur, dass können wir nicht akzeptieren. So geht das nicht, dass muss sich ändern."

"Aber Papa, auch die Nonnen tragen ein Kopftuch! Die offene Gesellschaft, in der wir uns wähnten, wird immer mehr infrage gestellt, wenn wir die Interaktion mit anderen Kulturen allein durch Gebote und Verbote regeln wollen, ohne jegliche Bereitschaft aufeinander zuzugehen."

"Du verstehst nichts!", schreit der Vater sie an. "Was lernt ihr in der Schule? Möchtest du auch Muslimin werden? Es sind schon so viele da, wenn wir nicht aufpassen, dann haben wir bald eine muslimische Regierung. Die kommen nur hierher um uns alles wegzunehmen."

"Papa, dass sind doch Flüchtlinge!", meint Nena.

Auch das lässt Harry nicht gelten. "Sie rennen davon. Zugegeben, sie haben Krieg. Gut, den hatten wir auch, aber keiner ist davongelaufen. Dein Opa ist dageblieben, hat gekämpft bis zum Untergang, so wie es der Führer gewollt hat. Er hat überlebt. Er hat das Land wieder aufgebaut. Und diese Flüchtlinge? Was machen sie? Sie laufen davon. Bei uns ist es schöner, da bekommt ein jeder etwas ohne jemals etwas geleistet zu haben."

Für Nena ist es unmöglich ihren Vater umzustimmen.

"Gewalt- und Sexualdelikte sind auf dem Vormarsch! Während Wohnungseinbrüche und Kfz-Diebstähle 2016 abermals gesunken sind, verzeichnete die Polizei bei sexueller Belästigung mit etwa 650 bis 700 Fällen einen Anstieg um alarmierende 55 Prozent. Als Grund führt die Polizei den vermehrten Zuzug von Fremden an. Was sagst du dazu? Ist das nicht eindeutig? Das sind doch lauter Verbrecher! Die müssen wieder zurück, die brauchen wir nicht!"

Harry ist außer Atem. Er muss erst Luftholen, dann redet er weiter. "Das ist ein völlig falsches Wachstum. Wir brauchen limitierte und selektive - auf jeden Fall keine muslimische - Zuwanderung. Zur Senkung der Kriminalität und Reduzierung gesellschaftspolitischer Verwerfungen und Schaffung leistbares Wohnen. Das ist der Auftrag den wir haben und den wir nicht aus den Augen verlieren dürfen."

"Es geht um Integration! Die Rechten wollen keine Interaktion und alle anderen schauen zu! Da bleibt die offene Gesellschaft dann über! Bin gespannt, wann die angeblichen Linksparteien verstehen, dass man rechte Stimmungsmache bekämpfen und nicht mitmachen darf, wegen ein paar Wählerstimmen. Die Leute hören nichts anderes als den diskriminierenden Schwachsinn von rechts, was sollen die dann glauben?"

"Du bist gegen uns eingestellt! Du möchtest deine Freiheit verlieren! Ich nicht und deine Mutter auch nicht. Wir verteidigen unsere Kultur, die wollen wir schützen und auf keinen Fall aufgeben."

Damit ist die Diskussion beendet.





3. Gerda



Gerda, Nenas Mutter, war nie besonders aufgefallen. Schon als Jugendliche war sie ein Mädchen unter vielen. In der Schule war sie keine Leuchte, brauchte sie auch nicht sein, ihre Eltern meinten, sie sei ein Mädchen, das braucht nicht viel zu wissen, sie solle sich nur um die Küche, Kinder und Haushalt kümmern.

Gerda war eine stämmige Frau, nicht dick, aber kräftig. Vielleicht war es das, was Harry an ihr mochte. Ihr Gatte Harry, der sie geheiratet hatte, hätte auch andere Frauen haben können, aber nein, er hat sie genommen! Das war für Gerda immer ein Rätsel geblieben. Harry war ein Hühne von einem Mann. Groß, kräftig, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Er hätte jedes Mädchen haben können, aber er hatte sich für sie entschieden. Jetzt, nach so vielen Jahren, war von den schmalen Hüften nichts mehr übrig. Es ging ihm gut, er hatte einen Bauch angesetzt. Nicht groß, aber wenn er nicht aufpassen würde, dann könnte es ein wirklicher Bauch werden.

Sie hatten geheiratet, sehr zum Unwillen der anderen Frauen. Gerda war glücklich gewesen, als Harry sie zum Altar geführt hatte. Sie war ganz in weiß gewesen, ihr Vater war der Brautführer gewesen. Ihre Mutter weinte vor Glück.

Gerdas Eltern waren, wie sie es jetzt ist, Katholiken. Erzkonservativ. Sie hatte das alles von ihren Eltern übernommen. Bei Harry war es ebenso gewesen. Für Gerda und Harry existierte ein Gott, der auf sie heruntersah, auf sie aufpasste. Sie lebten diesen Glauben.

In der Ehe war es dann vielfach etwas anders. Harry nahm sie in der Hochzeitsnacht, brutal, ohne viel zu fragen, ohne viel zu reden, ohne Rücksicht. Harry war ihr erster und ihr einziger Mann gewesen. Sie wurde überrascht, von dieser Attacke. Sie hätte es sich zärtlicher vorgestellt, aber er nahm sie, warf sie auf das Bett, das schon hergerichtet worden war, riss ihr die Kleider vom Körper, warf sich auf sie und nahm sie. Harry war stark, viel zu stark, als dass sie sich hätte wehren können. Bald war alles vorbei, sie weinte und Harry war aufgebracht, dass Gerda weinte. Daraus entstand Nena.

Ihr Leben war eintönig. Sie ging nicht arbeiten, hatte nur im Haus zu tun. Harry sagte, dass es sich für eine Frau nicht ziemte in die Arbeit zu gehen, dort vielleicht von anderen Männern angestarrt zu werden. So blieb sie zuhause. Viel hatte sie nicht zu tun. Das Haus war nicht groß indem sie wohnten. Es lag am Stadtrand, da waren die Preise noch erschwinglich gewesen.

Nena ging bald zur Schule, da hatte Gerda noch weniger zu tun. Freundinnen hatte sie kaum welche, dafür war sie zu konservativ und das wurde von den Frauen der umliegenden Häuser abgelehnt. Man meidete sie auch, den anderen Frauen, Männern, war diese Familie unheimlich. Nicht das sie sich gefürchtet hätten, nein, dass nicht, aber sie suchten immer nach Antworten in der Bibel. Die Nachbarn waren auch katholisch, sie gingen auch zur Kirche, so wie sich das gehört, in der Gesellschaft, aber sie gingen eben hin, hörten sich die Predigt an, gingen wieder, vergaßen das gehörte und lebten ihr Leben weiter wie bisher.

Viel mehr kann von Gerda nicht gesagt werden. Sie lebte neben Harry, nicht mit ihm, sondern neben ihm. Sie war unscheinbar geworden, vielleicht war sie es schon immer gewesen. Auch sie hatte zugesetzt. Sie war dick geworden, was Harry störte. Er hätte sich eine schöne schlanke Frau gewünscht, die er nicht haben konnte, dafür hatte er diese alte, fette Vettel. Das setzte ihm zu. Er wusste zwar, dass auch er bequem und dick geworden war, aber er sah es als sein Privileg an dick zu sein. Schließlich war er es der zur Arbeit ging, die Kohlen nach Hause brachte und nicht Gerda. Wenn er sich getraut hätte, er hätte sie hinausgeworfen, aber er hatte sie geheiratet und er hatte geschworen sie zu lieben, bis an sein Lebensende. Dafür hasste er die Bibel.