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Überarbeitete Neuauflage (ePub) Februar 2017

 

© 2012 by Raik Thorstad

 

Verlagsrechte © 2017 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Fürstenfeldbruck

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Satz Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor
Coverillustration: creationwarrior

 

 

ISBN-13: 978-3-95823-630-1

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


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Vielen Dank!

Ihr Cursed Team

 

 

 

 

Klappentext:

Sothorn ist der Meisterassassine Sundas. An ihm werden alle anderen Meuchelmörder gemessen. Er gilt als unbesiegbar. Doch der Schein trügt: Der Zenjanische Lotus hat Sothorn fest in seinem Griff und zerstört ihn Stück für Stück. Innerlich und äußerlich taub geht er seinem Ende entgegen, als sich ein Schatten an seine Fersen heftet. Der geheimnisvolle Wargssolja aus dem hohen Norden legt es darauf an, Sothorn im Kampf zu besiegen. Aber seine Ziele sind ehrenwerter, als man auf den ersten Blick glauben mag.

 

Eine abenteuerliche Reise beginnt. Von der Finsternis ins Grau der Morgendämmerung, von allumfassender Verlorenheit in die Welt wiedererwachender Emotionen, von innerlicher Leere zu Zuneigung. Und mehr.


 

 

 

»Es braucht Licht, um zu lieben,

und das Wissen um die Finsternis,

um die Liebe zu schätzen.«

R.T.

 

 

Für Daniel und Christian –

immer und immer wieder.

 


 

Kapitel 1

 

Durch die Augen der Anderen

 

 

Der Tisch bog sich unter der ungewohnten Last. Im munter prasselnden Schein des Feuers glänzte Wildbret, garniert mit Waldbeeren und Brotkrümeln. Eine aus Sahne und Äpfeln bestehende Süßspeise ruhte in ihrer Tonschüssel. Für die Erwachsenen gab es zur Feier des Tages lieblichen Wein, für die Kinder Most.

Das festliche Mahl passte nicht in die karge Behausung.

Es handelte sich nicht um Diebstahl; auch nicht um Almosen. Der Graf, in dessen weitläufigem Anwesen Brano arbeitete, war großzügig. Er hatte nichts dagegen, dass seine Diener die Überreste des abendlichen Banketts mit nach Hause nahmen.

In seiner Jugend hatte der Statthalter der bescheidenen Grafschaft lange genug in Kriegsgefangenschaft ausgeharrt, um die Qualen eines knurrenden Magens kennenzulernen. Für ihn machte es keinen Unterschied, ob seine Diener das restliche Essen zu ihren Kindern brachten oder an die Schweine auf den umliegenden Höfen verfütterten.

Diese Einstellung sorgte dafür, dass seine Leibeigenen ohne Peitsche loyal waren – so loyal wie Menschen, denen man keinerlei Rechte zusprach, sein konnten.

Der Frost schlich auf lautlosen Pfoten um das windschiefe Gebäude und schob seine Schnurrhaare durch die Spalten des Hauses. Die morschen Holzwände konnten die Kälte nicht zur Gänze fernhalten, sodass die siebenköpfige Familie in Wolldecken gehüllt am Tisch saß.

In dieser Hinsicht war der Graf ebenfalls großzügig – oder praktisch veranlagt, wie böse Zungen behaupteten. Da in diesem Frühjahr die Kälte nicht nachlassen wollte und vielen Familien das Feuerholz ausging, hatte er Decken und Wämser an die notleidenden Bewohner der Siedlung ausgeben lassen.

Für Krankheit und Elend war keine Zeit, wenn es endlich taute und die Äcker bestellt werden mussten.

Niemand war entbehrlich. Nicht die kleinen Kinder, die im Herbst mit ihren älteren Geschwistern im Wald Samen und Beeren sammelten. Nicht die Alten, die die Jüngsten betreuten und die Schweine fütterten, während die Eltern den Arbeiten auf der Burg oder auf dem eigenen Stück Land nachgingen. Jede Hand wurde gebraucht. Selbst der Greis erfüllte seinen Zweck, wenn er neben den Hühnern in der Sonne saß und mit krächzender Stimme lauernde Raubvögel vertrieb.

Das Leben war zu beschwerlich, um die Geschenke des Grafen stolz abzuweisen.

Erschöpft von einem langen Tag auf der Burg lehnte Brano sich zurück. Sein grob gezimmerter Stuhl knarrte protestierend. Der Hausherr beobachtete seine schwangere Frau, die ihre jüngste Tochter mit Brei fütterte. Die Kleine hatte ihren ersten Winter gut überstanden und krähte vergnügt, wenn der Löffel in Schlangenlinien auf sie zukam.

Die Liebe in Sillas Blick rührte Brano. Seine Frau wurde oft für kühl gehalten, galt als wortkarg und sogar hochmütig, aber er kannte sie besser. Silla war lediglich niemand, der sich mit falschen Freundlichkeiten aufhielt oder sprach, wenn sie nichts zu sagen hatte. Sie war ruhig und gerecht, hielt sich von Spott und Lästereien ebenso fern wie von unzüchtigem Treiben. Die Götter hatten es gut mit ihm gemeint, als sie ihm Silla an die Hand gaben.

Lächelnd schob Brano seinem ältesten Sohn einen Löffel zu, damit dieser nicht gierig mit den Fingern in die Süßspeise langte.

»Wird kein gutes Jahr, kein gutes Jahr«, raunte die Alte, die nah am Feuer auf der Bank kauerte. »Zu kalt. Und wenn es hier kalt ist, ist es im Norden noch kälter. Dann kommen sie. Kommen sie. Nehmen uns alles weg. Ach ja, ach ja...«

»Schon gut«, beruhigte Brano seine Schwiegermutter. »Der Krieg ist lang vorbei. Es gibt keine Plünderungen mehr. Niemand nimmt uns etwas weg.«

Vom Alter trübe Augen funkelten ihn an und erinnerten ihn daran, dass in der schwachen Hülle ein scharfer Verstand lauerte: »Der Krieg endet nie. Irgendwo kämpfen sie immer. Und Sicherheit gibt es nicht. Ich weiß, wovon ich rede.« Sie wiegte sich in ihrem Nest aus grauen Decken. »Drei Söhne... ich hatte drei Söhne, und keiner kam nach Hause zurück.«

»Aber ich bin noch da«, schaltete Silla sich ein, bevor das Gespräch zu düster für die Kinder wurde.

Brano wusste, dass sein Weib es hasste, den Geschichten ihrer Mutter zu lauschen. Sie waren zu trostlos.

Sieben Kinder hatte sie geboren, aber nur vier über das Säuglingsalter gebracht. Nur Silla war ihr geblieben. Zwei ihrer Söhne waren bei einem fruchtlosen Angriff auf Zenja gefallen, der dritte galt nach dem Sommerkrieg als verschollen. Branos Schwiegermutter hoffte immer noch, dass ihr letzter Sohn eines Tages zu ihr zurückkehren würde.

Das grausame Gemetzel, das als Sommerkrieg bekannt wurde, hatte vor mehr als fünfzehn Jahren stattgefunden. Ohne Rücksicht auf Verluste hatten die verfeindeten Parteien ihre Krieger gegeneinander ins Feld geführt, bis sie fast bis auf den letzten Mann im Staub lagen. Wer nicht in der Schlacht getötet wurde, verblutete hinterher oder erlag den Folgen des Wundbrands. Überlebende gab es kaum und die wenigen, die in die nahen Wälder fliehen konnten, waren längst zu ihren Familien zurückgekehrt.

»Und du bist ein gutes Mädchen«, tätschelte die Greisin die Hand ihrer Tochter. »Aber wenn du weiterhin so schnell Kinder bekommst, wirst du vor deiner Zeit verblühen.« Sie deutete auf Sillas gewölbten Leib. »Kinder sind ein Segen, aber sie rauben einer Frau die Kraft.«

»Was sollen wir tun, wenn die Götter unsere Verbindung segnen?«, erwiderte Brano gedankenlos und senkte peinlich berührt den Blick, als seine Schwiegermutter ihn halb belustigt, halb streng ansah.

Nein, er wollte nicht mit ihr über die nächtlichen Gepflogenheiten seiner Ehe sprechen. Zwar war er das Leben in einer engen Behausung und die damit einhergehende Nähe zur Familie gewohnt, aber die körperliche Liebe zwischen seiner Frau und ihm ging niemanden etwas an.

Als das letzte Stück Fleisch verzehrt und die Schüssel mit der Süßspeise leer war, ging Brano mit den älteren Kindern nach draußen, damit sie sich wuschen. Der Nachwuchs spritzte sich gegenseitig nass, während Brano an der Stalltür lehnte und in den Himmel sah.

Der Abend war klar. Keine Wolke war zu sehen, die das Land vor der schärfsten Kälte schützte. Die Sterne hoben sich deutlich vom dunkelblauen Gewand der Nacht ab. Von dem kleinen Mond war nur eine schmale Sichel zu erkennen, während der große Mond – der sogenannte Witwenmond – die Baumspitzen der nahen Wälder versilberte.

Als kleiner Junge hatte Brano an die Geschichten geglaubt, die man sich über den größeren der beiden Himmelskörper erzählte. Kaum fünf Jahre alt, war er des Nachts in den Wald gelaufen, um die Tränen der verwitweten Göttin Adelis zu finden. Es hieß, ihr Schmerz über den Verlust ihres Geliebten wäre so gewaltig, dass ihre Tränen zu silbernen Münzen wurden, sobald sie den Erdboden erreichten.

Gefunden hatte er nichts. Bekommen hatte er eine Erkältung und zwei aufgeschlagene Knie, weil er in der Dunkelheit über eine Baumwurzel stürzte. Eine Tracht Prügel von seinem Vater gab es obendrein.

Manchmal wünschte Brano sich heute noch, die Legende hätte einen wahren Kern. Er arbeitete hart, aber konnte seine Familie nur knapp ernähren. Seine Schwiegermutter hatte nicht unrecht. Mehr Kinder konnten sie sich nicht leisten, bevor ihr Ältester nicht groß genug war, um sie tatkräftig auf dem Hof zu unterstützen.

Traurig. Er hätte dem Jungen mehr Kindheit gegönnt.

Als Brano die schleifenden Schritte über das leere Kürbisfeld auf sich zukommen hörte, scheuchte er die Kinder ins Haus.

Angst hatte er ob des nächtlichen Besuchers nicht. Er war ein Mann, an dessen Schulter sowohl Freunde als auch Verwandte gern Trost suchten. Ein Besuch zu später Stunde war nichts Ungewöhnliches für ihn, aber so manches Thema, mit dem die Leidtragenden zu ihm kamen, war nicht für die Ohren seiner Kleinen bestimmt.

Krankheit und Tod, Betrug und Ehebruch, Gotteslästerung und besonders den Hass auf das ärmliche Leben wollte er so lange wie möglich von ihnen fernhalten.

Besorgt sah Brano der Gestalt entgegen, die sich schwerfällig auf ihn zu schleppte. Das helle Mondlicht ließ erkennen, dass der Besucher sich den Oberschenkel hielt. Brano kannte den Mann nicht. Ein Reisender, der Hilfe brauchte?

Als der Fremde näher kam und in den Lichtkreis der Fackel trat, sah Brano seinen Verdacht bestätigt.

Das Gesicht des Mannes war blutverschmiert. Seine leichte Lederkleidung war zerrissen, entblößte an zahlreichen Stellen aufgeschürfte Haut. In seiner freien Hand hielt er die Überreste zerfetzter Zügel.

Ein schlechterer Mensch hätte angesichts der Tatsache, dass der Fremde ein Reitpferd sein Eigen nannte, finstere Gedanken gehegt. Ein reicher Mann hatte oftmals mehr Münzen in seinem Beutel, als eine genügsame Familie in einem Winter zum Überleben brauchte. Doch Brano war kein Halsabschneider. In dem festen Glauben, dass Ikir, der göttliche Richter, jede noch so kleine Verfehlung sah, hielt er sich an die Gesetze der Menschlichkeit und nahm sich nichts, was ihm nicht zustand.

»Herr«, rief er halblaut und ging dem Fremden entgegen. »Lasst mich Euch helfen. Ihr nähert Euch einer Eisschicht.« Die Schweine hatten am Nachmittag ihren Trog umgeworfen und das Wasser war auf dem Hof zu einer spiegelnden Fläche erstarrt. »Ihr seht nicht aus, als solltet Ihr ein weiteres Mal zu Boden gehen.«

Eine Antwort bekam er nicht, aber das halblaute Keuchen vermengt mit einem lang gezogenen Stöhnen alarmierte ihn. Der Mann schien sich kaum auf den Beinen halten zu können. Umso näher er kam, umso deutlicher wurde, dass er aus einer Vielzahl Wunden blutete.

»Silla!«, schrie Brano in Richtung Haus. »Wir haben einen Verletzten. Hol den Branntwein und saubere Tücher. Lass Mutter Wasser heiß machen.«

Mit zwei langen Schritten sprang er über die Eisfläche und trat an den Fremden heran. Vertraulich fasste er ihn an der Schulter und stabilisierte seinen schwankenden Gang. »Kommt herein. Wir kümmern uns um Euch. Meine Frau ist eine fähige Heilerin.«

Der Verletzte richtete sich unter der Berührung auf und starrte den Hausherrn an. Blut sickerte aus seinem Mundwinkel. Er lallte, als er stockend fragte: »Bist du Brano? Der Brano, der früher auf der Falkenfeder zur See gefahren ist?«

Überrascht versuchte Brano, das Gesicht des Besuchers unter dem Blut zu erkennen. Handelte es sich bei dem Gast um einen Freund aus alter Zeit, in der er die Meere bereist hatte?

»Ja, der bin ich«, gab er neugierig zurück. »Kennen wir uns? Es tut mir leid, Herr. Euer Gesicht ist stark geschwollen. Ihr kommt mir gar nicht bekannt vor.«

»Wer hat gesagt, dass wir uns kennen?«, lachte der Fremde schaurig auf. Er gurgelte beim Sprechen und dunkle Flüssigkeit benetzte seine Lippen und sein Kinn. »Jemand anderes kennt dich und das ist alles, was für mich zählt.«

Eine geflammte Klinge zischte empor und warf mit gleißender Schneide das fahle Mondlicht zurück in den Himmel. Zwei schnelle Bewegungen – zu schnell für einen Mann, der sich kaum auf den Beinen halten konnte – und der Dolch färbte sich schwarz.

Ungläubig spürte Brano seine Knie weich werden. Kälte, die frostiger war als der finsterste Winter, griff nach ihm und hüllte ihn in einen Mantel aus Dunkelheit.

Silla, die mit einem Korb hilfreicher Utensilien unter dem Arm aus dem Haus kam, sah ihren Ehemann zu Boden gehen. Sie schrie.

Nicht viel später umklammerte sie ihren eigenen Hals, als wolle sie das Blut, das aus ihrer Kehle sprudelte, zurück in ihren Körper zwingen.

Es gelang ihr nicht.

Als Brano den dritten Tag in Folge nicht zur Arbeit erschien, schickte der Hofmeister einen Stallburschen, um nach ihm zu sehen. Der Junge kehrte mit grüner Nasenspitze und blassen Lippen in die Burg zurück; unfähig, das Grauen in Worte zu fassen, dem er auf dem Gehöft ins Auge gesehen hatte.

Es gab keine Überlebenden. Die Familie war dahingemetzelt worden; von der gebrechlichen Großmutter bis hin zu dem kleinen Mädchen, das seinen ersten Geburtstag nie erleben sollte.

Nicht einmal vor den Tieren hatte der Angreifer haltgemacht. Getrocknetes Blut klebte an den Wänden der Kate und der scharfe Geruch von in Angst gelassenem Urin lag über der Szenerie wie ein Leichentuch.

Es war kein Mord. Es war ein Massaker, die Handschrift eines Wahnsinnigen.


 

Kapitel 2

 

Das Haus auf den Klippen

 

 

Balfere war eine Stadt der Kontraste.

Die Gerüche des ehrlichen Handwerks – Farbe, Teer, Gerbstoffe – auf der einen Seite, die Dekadenz der Handelsherren mit ihren Duftwässerchen auf der anderen. Im nach Moder riechenden Hafenbecken lagen Handels- und Kriegsschiffe gleichermaßen. Geduckt in den Schatten der beiden Hügel, die den Kern der Oberstadt bildeten, fanden sich lehmige Wege und wackelige Hütten, in welche die Stürme im Frühling und Herbst oftmals das Wasser trieben. Die Anwesen der alteingesessenen Familien dagegen thronten in sicherer Höhe über den Klippen und trotzten mit ihren steinernen Fassaden Wind und Wetter.

Auf dem oberen Markt verbreitete sorgfältig verlegtes Kopfsteinpflaster ein städtisches Ambiente, das beim Lustwandeln zwischen den Ständen an Auralis erinnerte. Seide, Schmuck und Delikatessen wechselten für horrende Preise den Besitzer.

Auf dem unteren, inoffiziellen Markt stank es nach Unrat. Die Waren waren von schlechter Qualität; die angepriesenen Lebensmittel manchmal verdorben, bevor sie auf den Tischen der ärmeren Bewohner landeten.

Balfere war keine große Stadt. Zumindest nicht im Vergleich mit Auralis, der selbst ernannten Hauptstadt Sundas.

Aber das dunkle Juwel der Westküste hatte seine Vorzüge. Wie die Nester der Strandkrähen hing es in den Klippen und konnte nur vom Meer aus angegriffen werden. Das natürliche Rund des Hafens war mit Wachtürmen gesichert, sodass kein feindliches Schiff sich nähern konnte, ohne dass die Wachen die Sturmtore in Richtung Oberstadt verschlossen.

Hinzu kam, dass Balfere eine freie Handelsstadt war. Kein Graf, keine weltliche Gerichtsbarkeit konnte den Handelsherren von Balfere Befehle erteilen. Sie allein entschieden, wer bei ihnen handeln durfte, welche Waren angeboten wurden und welche Zünfte sich bei ihnen niederließen.

Das gewinnorientierte Denken der Stadtväter zog neben ehrlichen Händlern und Handwerkern auch allerlei Schattenvolk an. Dass sich an diesem stürmischen Spätwintertag neben zwei Koggen, die auf die Löschung ihrer Ladung warteten, auch eine schwer bewaffnete Galeone in den Wellen wiegte, war nichts Ungewöhnliches.

Seeräuber, Söldner, Spione, Hehler, sie alle fühlten sich in Balfere zu Hause. Und mit ihnen und ihren vollen Geldbörsen kamen die Huren, Glücksspieler, Buchmacher, Kriegstreiber, Geldverleiher, Beutelschneider und andere finstere Gestalten.

Die findigen Händler hielt dieses Aufgebot dunkler Geschäftszweige nicht fern. Was für den einen Diebesbeute war, war für den anderen ein lukratives Geschäft.

Man arrangierte sich. Entweder in klingender Münze oder mit dem Dolch.

Beides war Stolan von Meerenburg recht.

Er war die Graue Eminenz Balferes. Über Jahrzehnte hatte er ein Spinnennetz aus Kontakten durch die Gassen der Stadt gewoben, bis sie zu seinem heimlichen Eigentum wurde. Er verlangte nicht viel. Keinen Respekt, keine Ehrerbietung, keine Krone, nicht einmal Steuern. Alles, was er wollte, war genug Macht, um das nach Salz und Tang riechende Juwel sein Eigen nennen zu können, und genug Silber, um angenehm zu leben.

Stolans faltiges Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Lächeln, als sein Blick über den in der Tiefe liegenden Hafen wanderte. Fischer flickten ihre Netze am Pier. Fässer voll Branntwein und Rum wurden in ein nahes Lagerhaus gerollt. Rauch kräuselte sich über der Schmiede, die man nah am Wasser und von anderen Gebäuden isoliert errichtet hatte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Feuer bis in die Oberstadt fraß und ernsthaften Schaden an den herrschaftlichen Anwesen anrichtete, war kaum vorhanden. Aber es nützte nichts, wenn das gemeine Volk drei oder vier Mal im Jahr seine Hütten neu aufbauen musste.

Stolan mochte keine Verschwendung. Nicht von Silber, nicht von Holz und nicht von menschlicher Arbeitskraft. Für Letztere hatte er immer Verwendung. Und wenn er die Männer unter fadenscheinigen Vorwänden zur Fronarbeit in die Silberminen schickte.

Der Nordwind griff unter seinen mit Brandlöwenfell besetzten Umhang, als er die Balustrade entlangschlenderte. Seine vom Alter gekrümmten Finger glitten über den Granit. Der mit Wasserspeiern geschmückte Balkon zog sich um die Westseite des Stockwerks. Wer immer dieses Gebäude errichtet hatte, musste das Meer ebenso geliebt haben wie er.

Stolan spitzte die Ohren, als er hinter sich Geräusche wahrnahm. Wie von selbst wanderte seine Hand zu dem Dolch an seinem Gürtel. Er war kein Krieger, beherrschte silberne Messer und Gabeln besser als das Schwert. Aber das unsichtbare Gift auf seiner Klinge verlangte nur nach einem Treffer, nach einer einzigen Berührung bloßer Haut. Damit fühlte er sich so sicher, wie ein Mann in seiner Position sich fühlen konnte.

»Herr?« Die Stimme des Dieners klang belegt.

Stolan war dafür bekannt, mit den Überbringern schlechter Nachrichten recht willkürlich zu verfahren. Darin unterschied er sich kaum von anderen herrschsüchtigen Despoten, doch bei ihm wusste man nie, was in seinen Augen eine schlechte Nachricht war.

Stolans Umhang bauschte sich im Wind auf, als er sich ruckartig umdrehte. Der Stoff spannte sich, als eine Böe in ihn hineingriff, und bildete einen majestätischen Rahmen für einen mächtigen Mann. Für einen Moment rückten die Legenden von geflügelten Kreaturen zwischen Mensch und Drache in den Bereich des Denkbaren.

»Sprich.«

»Euer Freund ist zurückgekehrt, Herr«, sagte der in schlichtes Leinen gekleidete Junge. Sein nur schwach ausgebildeter Adamsapfel hüpfte aufgeregt.

Stolan machte sich einen Spaß daraus, den Bengel zu ärgern. Er nahm sich Zeit, musterte ihn mit undurchdringlicher Miene. Erst als der Junge vor Angst in die Mauer zu schmelzen drohte, zog er abschätzig eine Augenbraue hoch und entließ ihn mit herablassender Geste.

Sein Freund war zurückgekehrt. Kein Begriff, den man wörtlich nehmen durfte. Jemand wie Stolan von Meerenburg kannte keine Freunde. Er hatte Beziehungen, sammelte Kontakte, sorgte dafür, dass man ihm Gefallen schuldig war, und tauschte die Frauen, die ihm sein Bett wärmten, regelmäßig aus. Jeder war käuflich. Freunde und Familie brauchte er nicht.

Sein Freund stand auf seiner Gehaltsliste und eigentlich nicht einmal das. Er war sein Eigentum. Ein Werkzeug. Eine Waffe. Eine Waffe, die ihn unlängst enttäuscht hatte.

Stolan wandte sich dem Meer zu. Dem Spiel der ungestümen Wellen mit ihren weißen Kronen. Dem Kreisen der Möwen, die darauf warteten, dass die Ebbe kam und ein Stück Meeresboden freigab, auf dem es vor Getier wimmelte.

Sothorn war zurück. Er hatte sich nicht an die Spielregeln gehalten und verdiente Strafe. Einem gefährlichen Mann, dessen Wesen mehr dem der Wargen im Wald entsprach als einem Menschen, durfte man keine Eigenmächtigkeiten durchgehen lassen.

Stolans linker Mundwinkel zuckte nach oben. Die grausamste Strafe wäre, die Rückkehr des Assassinen zu ignorieren. Dummerweise hatte er bereits einen neuen Auftrag für Sothorn in der Hinterhand und dafür musste dieser bei Kräften sein.

Er würde sich etwas anderes einfallen lassen müssen.

Gemessenen Schrittes verließ Stolan den Balkon und betrat sein Arbeitszimmer. Die Glut im Kamin war zu seiner Missbilligung erloschen. Aus einer Truhe hinter seinem Schreibtisch entnahm er eine bauchige Flasche, deren kühler Inhalt Blasen warf. Umsichtig gab er einen Teil der Flüssigkeit in eine Phiole, versiegelte sie mit einem Korken und ließ sie in die Tiefen seines Umhangs gleiten.

Es war eine kleine Menge; zu klein, wie er wusste. Aber wer sich nicht an seine Befehle hielt, musste daran erinnert werden, wie viel Wert er auf Genauigkeit legte.

Teppiche vom fernen Kontinent Inahain federten unter Stolans Sandalen, als er durch die Flure eilte. Seine Schritte waren kaum zu hören, als er sich der Eingangshalle näherte und von dort den Weg in den Weinkeller einschlug.

Stolan versicherte sich, dass niemand zwischen den mannshohen Fässern lauerte, bevor er an die rückwärtige Wand des Kellers trat. Er brauchte kein Licht, um die feinen Fugen im Mauerwerk zu finden. Er ertastete das unsichtbare Muster, bevor er einen Ring vom Finger zog und mit dem eingelassenen Saphir über den Stein rieb. Ein rötliches Licht flammte auf, als die Schutzrune deaktiviert wurde und eine Steintür lautlos zur Seite glitt.

Ein letztes Mal sah Stolan sich um, bevor er die Treppe betrat, die in die Eingeweide des Berges führte.

Kaum jemand wusste von der Existenz des Geheimgangs oder den Räumlichkeiten, die tief im Gestein der Klippe verborgen lagen. Als Stolan von Meerenburg das Anwesen erstand, hatte es hinter der magisch versiegelten Tür lediglich einen Fluchttunnel zum Meer gegeben, an dessen Ende ein Boot darauf wartete, gefährdete Bewohner in Sicherheit zu bringen. Schnell hatte er erkannt, wie viel Potenzial in der unterirdischen Anlage steckte. Mit der Hilfe von findigen Bergleuten und einem Hauch elementarer Magie hatte er Lagerräume sowie ein Gefängnis mit Folterkammer in den Fels brechen lassen.

Es ließ sich nicht verhindern, dass Feuchtigkeit durch die Gänge zog, sodass er keine verderblichen Waren unter dem Anwesen lagern konnte.

Für Edelsteine, Metalle und Gefangene hingegen reichte es. Für seinen persönlichen Assassinen auch.

Stolan griff nach einer Fackel und ging umsichtig die feuchten Stufen hinunter. In seinem Alter heilten Knochen nicht mehr so schnell.

Nachdem er etliche Höhenmeter überwunden hatte, passierte er eine Reihe Gefängniszellen, deren einzige Bewohner in diesen Tagen Ratten waren. Er hatte nichts dagegen, dass die Nager sich in seinen Mauern einnisteten. Sie reinigten die Zellen von Unrat.

Spinnweben kitzelten ihn im Gesicht und legten sich in seine ergrauten Haare.

Sein Ziel war die einzige Zelle, die mit einer massiven Tür anstelle eines Gitters versehen war. Riegel und Schloss gab es nicht. Es brauchte keine Fesseln, um Sothorn an sich zu binden.

Stolan stemmte sich mit der Schulter gegen die verzogene Tür. Die Angeln quietschten Unheil verkündend. Im Inneren des kargen Raumes brannte eine Vielzahl Fackeln, als wolle der Bewohner die Dunkelheit des Berges aus seinem Heim vertreiben.

Der Hausherr musterte den in einer Ecke kauernden Assassinen und zog fragend eine Augenbraue hoch: »Gab es Schwierigkeiten?«

Stolan wusste bereits, dass es Schwierigkeiten gegeben hatte. Seine Kuriere hatten ihm Bericht erstattet, und sie waren schneller als ein Mann auf einem Pferd. Insofern bezog seine Frage sich weniger auf die Ausführung seines Auftrags als auf den erbärmlichen Zustand, in dem der Assassine sich befand.

Sothorn war etwas Besonderes.

Er entstammte einem bäuerlichen Volk, das in den Sümpfen von Herjos beheimatet war. Seine Sippe war unzivilisiert und lebte in bescheidensten Verhältnissen. Doch die zahlreichen Krankheiten, die in dem klammen Sumpfgebiet gediehen, hatten einen Menschenschlag erschaffen, der zäh und widerstandsfähig war.

Die Moral der Sumpfbewohner galt einzig ihrem Überleben. Sie waren schnell, sehnig, geschickt an der Waffe, widerstandsfähig gegen die meisten Krankheiten und Legenden zufolge mit normalen Waffen kaum zu töten. Letzteres war ein Ammenmärchen. Es wurde von den Sklavenhändlern geschürt, die in die Sümpfe zogen, um die Kinder des Volkes zu rauben und in Auralis auf dem Markt feilzubieten.

Der Handelsherr hatte über die Jahrzehnte viele Assassinen verschlissen. Die meisten waren nicht lange in der Lage gewesen, den Nebenwirkungen des Lotus standzuhalten. Sothorn dagegen trotzte den Auswirkungen des Giftes seit über zehn Jahren, und er leistete hervorragende Arbeit. Noch.

Kühl betrachtete Stolan die Schnittwunden und Abschürfungen, die sich über die nackte Brust und die Arme seines Untergebenen verteilten. Sie zogen den Blick auf dessen ungleichmäßig getönte Haut.

»Also?«, hakte er nach; wohl wissend, dass Sothorns Interesse einzig der Phiole in seiner Tasche galt.

Er sah, wie der Assassine sich gierig über die Lippen leckte, bevor er mit rauer Stimme flehte: »Bitte... gebt mir erst...«

»Nein«, entgegnete Stolan gelassen. »Erst der Bericht. Es ist nicht meine Schuld, dass du zu spät bist.«

»Ich wurde überfallen«, begehrte der gefährlich schlanke Mann auf, dessen Leib nur aus Muskeln, Sehnen und Narben zu bestehen schien. »Sie haben mir mein Pferd unter dem Hintern weggeschossen.«

»Ich denke, du bist in der Lage, mit einer Horde Wegelagerer fertig zu werden.«

»Bin ich.« Sothorns Kopf ruckte hoch, seine blutunterlaufenen Augen flackerten. Stolan ekelte sich, als er bemerkte, dass in den Haaren seines Gegenübers getrocknetes Blut klebte. »Aber ohne Pferd... Ich musste zu Fuß reisen und... zurückkehren.«

»Das erklärt nicht, warum du die ganze Familie umgebracht hast«, fuhr Stolan scharf dazwischen.

Er wusste, dass er ungerecht war. Denn die Zeitverzögerung erklärte durchaus, warum Sothorn nicht nur sein Ziel, sondern auch alle anderen Bewohner des Hauses getötet hatte. Assassinen, die zu lange keinen Zenjanischen Lotus zu sich genommen hatten, wurden unberechenbar. Sie verloren an Geschick und setzten in ihrer Raserei auf grobe Maßnahmen.

Sothorn umklammerte seinen Oberkörper und wiegte sich auf dem Wust aus Decken, die seine Lagerstatt bildeten. Seine Finger zuckten nervös, als denke er darüber nach, seinen Herrn anzugreifen.

»Es tut mir leid, dass ich Euch enttäuscht habe«, hörte Stolan ihn flüstern. »Ich werde es beim nächsten Mal besser machen.«

»Besser reicht nicht«, entgegnete der alte Mann streng. »Du wirst meinen Auftrag wortgetreu ausführen. Einen Mann kann man töten, ohne dass allzu viele Fragen gestellt werden. Eine Familie zu töten, schafft Aufmerksamkeit. Hast du mich verstanden?«

Auf eine Antwort wartete Stolan nicht. Er wusste, dass der Assassine in diesem Zustand ausnahmslos alles sagen, tun und beschwören würde, um an sein Gift zu kommen. Sein Wort war in diesem Zustand nicht viel wert.

Er zögerte den Moment der Erlösung hinaus. Schließlich lächelte er gönnerhaft, bevor er in seinen Umhang griff und die Phiole hervorholte. Behutsam stellte er sie auf den klapprigen Tisch in der Mitte des Raumes. Sofort war Sothorn auf den Füßen und strafte damit seinen äußeren Zustand Lügen.

Faszinierend, dachte Stolan bei sich. Er ist erschöpft und verletzt und doch schnell wie ein Fuchs. Ich darf ihn nicht unterschätzen.

Die braunen Augen des Assassinen weiteten sich, als er die Phiole in den Händen barg und ihr geringes Gewicht spürte: »Ist... bekomme ich nicht mehr? Das reicht nicht. Damit... ich brauche mehr.«

»Strafe muss sein«, entgegnete Stolan gelassen. »Du hast nicht erwartet, dass du für einen schlecht erfüllten Auftrag belohnt wirst, oder?«

Mit diesen Worten verließ er die übel riechende Zelle und ihren Insassen. An dem animalischen Klageschrei, der ihn gellend verfolgte, störte er sich nicht. Er lächelte.


 

Kapitel 3

 

Ein Assassine, eine Geschichte

 

 

Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg Sothorn in die Nase und ließ seine Augen tränen. Beißend, rauchig, ein wenig scharf, wenn sich ein unsichtbares Härchen unter das Metall schob. Auf ekelhafte Weise an den Duft eines über niedriger Flamme gegarten Schweins erinnernd.

Er verzog keine Miene, als er das Brandeisen in die Haut seines linken Oberarms presste und dabei zusah, wie ein schwelendes Mal auf seinem Bizeps entstand. Es zeigte die gewundene Form eines Halbmonds. Die Spitzen seiner weinroten Mähne lugten über seine Schulter wie neugierige Schlangen und schufen einen eigenwilligen Kontrast zwischen gebräunter Haut, Verbrennung und Haar; eine martialische Schönheit.

Ein fremder Beobachter hätte sich über Sothorns Teilnahmslosigkeit gewundert und ihn wohl als einen Mann ungewöhnlicher Willenskraft bejubelt, der seine Kunst auf den Märkten zur Schau stellen sollte.

Aber Sothorn war kein Held, nicht willensstärker als andere Männer und erst recht kein reisender Schausteller, der für seine Vorstellung übte.

Er empfand keinen Schmerz, und das war nicht gut.

Es hatte begonnen und es hatte viel länger auf sich warten lassen, als er zu hoffen gewagt hatte. Falls jemand wie er wusste, was Hoffnung war.

Prüfend betrachtete Sothorn seinen Oberarm, bevor er das grobe Brandeisen achtlos zu Boden warf. Sieben frische Halbmonde, zwei fast verheilte und drei, die sich wie ein ausgefallener Schmuck von seiner Haut abhoben.

Zwölf.

Nichts gegen die sechzig Brandzeichen auf seinem rechten Arm, der von Narben übersät war, sodass die Formation der Halbrunde einem eng anliegenden Kettenhemd glich.

Ein halber Mond für jedes seiner Opfer.

Keine Salbe kühlte die verbrannte Haut. Nur etwas kaltes Wasser gab er über die Wunden, bevor er sich auf sein Lager zurückzog.

Wenn sein Arm auch taub war, der Rest seines Körpers war es nicht. In seinem Bauch, den Beinen, Händen und dem Rücken tobten Schmerzen, als würden seine Knochen und Eingeweide von Mühlsteinen zerrieben.

Nicht genug. Der Meister hatte ihm nicht genug gegeben, um sich besser zu fühlen. Nur so viel, dass er nicht den Verstand verlor. Nicht wissend, dass Sothorn ihn bald enttäuschen und damit sein eigenes Todesurteil unterzeichnen würde.

Der Fluch des Lotus lastete schon zu lange auf ihm. Die Droge von der Insel Zenja kroch durch jede Faser seines Körpers und hatte ihn vor vielen Jahren besiegt.

Zenjanischer Lotus war teuer, schwer zu beschaffen und forderte innerhalb kürzester Zeit die Seele der Abhängigen. Er war ein ideales Druckmittel für Herrscher, die sich der Loyalität ihrer Spielfiguren auf dem Schlachtfeld der Politik sicher sein wollten. Zenjanischer Lotus tötete nicht, löste keinerlei Hochgefühl aus, setzte den Süchtigen nach Einnahme nicht außer Gefecht und benebelte nicht den Geist – zumindest anfangs nicht. Er schuf eine gewaltige Leere im Kopf, die es möglich machte, Befehle ohne jede Überlegung entgegenzunehmen und auszuführen.

Kälte, Taubheit, Gewissenlosigkeit.

Bei einmaliger oder sehr seltener Einnahme richtete der Lotus keinen Schaden an, aber sobald man süchtig war, war man verloren.

Etwas raschelte in der Nähe des Eingangs. Sothorn bemerkte den Umriss einer fetten Ratte, die sich ungeachtet ihrer Körperfülle zwischen Stein und Holzbohlen der Tür in sein Gemach quetschte. Aus ruhigen Augen beobachtete er den Nager und schloss innerlich Wetten ab, ob das Tierchen stecken bleiben würde.

Tat es nicht. Kaum dass die Ratte ihren Weg in seine schmutzige Zelle gefunden hatte, setzte sie sich possierlich auf die Hinterbeine und putzte sich. Sothorns Anwesenheit störte sie ebenso wenig wie andersherum. Zu gut verstand er den Wunsch der Ratte, ihren nassen Pelz zu trocknen.

Die Katakomben waren stets feucht von der Gischt des Meeres und sein Raum der wärmste Ort im finsteren Gestein. Sie führten eine friedliche Koexistenz, die Ratten und er. Sie leisteten ihm Gesellschaft, fraßen die Überreste seines Essens und er drehte ihnen im Gegenzug nicht den Hals um. Das war ein gutes Geschäft, wie er fand.

Sothorn verzog das Gesicht und schob seine schmerzenden Fingerknöchel zwischen die Knie. Manchmal war es schwierig, mit den widersprüchlichen Empfindungen fertig zu werden. Er spürte seinen linken Arm nicht mehr, aber hatte dafür schlimme Schmerzen in den Händen.

Morgen konnte es andersherum sein.

Er war seit über vierzehn Jahren süchtig. Wenn er seinem Herrn und Meister Glauben schenken durfte, gab es keinen anderen Assassinen, der den Nebenwirkungen des Giftes so lange standgehalten hatte.

Aber seine Zeit lief ab.

Sein Geist war schon seit Jahren stumpf und leer, frei von Gefühlen oder eigenem Willen. Vor wenigen Monaten hatte der körperliche Verfall eingesetzt. Deshalb konnte er sich ein Brandeisen in den Arm pressen, ohne etwas zu spüren. Seine Gliedmaßen verloren an Empfindungsfähigkeit.

Mal konnte er es nicht spüren, wenn er sich den Fuß stieß, mal fühlte er die Zügel in seinen Fingern nicht, wenn er unterwegs war. Dann wieder wollte er Wasser lassen und stellte fest, dass sein Unterleib wie tot war.

Es kam, es ging und irgendwann würde es bleiben. Sobald er den Punkt erreichte, an dem die Taubheit in seinen Fingern ihn davon abhielt, seiner Arbeit nachzugehen, war sein Schicksal besiegelt.

Niemand brauchte einen Meuchelmörder, der keinerlei Gefühl für den Dolch in seiner Hand hatte.

Die Rückkehr in ein normales Leben blieb ihm verwehrt. Stolan von Meerenburg würde sich eher die Zunge herausschneiden, als ihn gehen zu lassen. Er wusste zu viel über dessen Machenschaften. Selbst wenn er Sothorn freigegeben hätte, gab es keinen Ort, an den er gehen konnte.

Als Geschenk für Menschen wie seinen Herrn gab es auf dem Weg der Sucht nach dem Lotus keinen Weg zurück. Noch nie hatte es jemand geschafft, sich von der Droge frei zu machen. Die Schmerzen, die sich durch den Körper fraßen, wenn die giftigen Elemente in den Adern der Betroffenen nach ihren Brüdern riefen, waren unerträglich, trieben gestandene Männer in den Freitod oder in den Irrsinn.

Der einzige Segen an Sothorns Zustand war, dass der Lotus ihm seine Ängste genommen hatte.

Als er vor vielen Jahren nach Balfere kam – ein schmutziger Bengel in Fetzen gekleidet –, hatte er sich gefürchtet. Die Klippen, auf denen die Stadt errichtet war, hatten ihm ebenso viel Angst gemacht wie die Ungewissheit, die sich wie eine eiserne Kette um seinen Hals schloss.

Man hatte es ihm nicht leicht gemacht. Nicht ihm, nicht den anderen Unglücklichen, die ihm in den ersten Monaten seiner Ausbildung Gesellschaft geleistet hatten. Man hatte sie gründlich geprüft.

Eigenschaften wie Zähigkeit, Kraft und besonders Geschick waren wichtig für einen Assassinen, der es wert war, dass man ihn mit Hilfe von kostspieligen Drogen zum Leibsklaven machte. Niemand investierte ein Vermögen in einen dürren Jungen, der nach zwei Jahren unter der Last des Lotus zusammenbrach.

Sie wurden allein in dunkle Räume gesperrt, mussten hungern, dürsten, wurden geschlagen, getreten, ausgepeitscht und auf dem Deck eines Schiffes der Kraft der Sonne ausgeliefert.

Drei Tage lang. Im Hochsommer. Ohne einen Faden Kleidung am Leib. Manchmal auf dem Rücken, mal auf dem Bauch liegend auf die Planken gefesselt.

Sothorn hatte sich damals auf eine Weise verbrannt, die ihn für den Rest seines Lebens zeichnen sollte.

Von Natur aus hatte er eine helle Haut, die im scharfen Kontrast zu seinem roten Haar stand. Dank der Sonnenbrände, die er in den ersten zwei Jahren seines Aufenthalts in Balfere erlitten hatte, erinnerte er an eine der mit Bronze übergossenen Statuen vor dem Tempel der Insa.

Es war eine Ironie des Schicksals, dass seine verstümmelte Haut ausgerechnet an die sanfte Göttin der Heilkunst gemahnte.

Von den drei Jungen, die damals in die Stadt kamen und Stolan von Meerenburg vorgestellt wurden, hatte nur er überlebt.

Als er das erste Mal ein Leben nahm, war er elf Jahre alt gewesen, und es hatte ihm etwas ausgemacht. Nächtelang hatte ihn der Anblick der blutjungen Frau begleitet, die sich unter Krämpfen am Boden wand – getötet von einem die Atemwege lähmenden Gift, das er ihr in den Wein gegeben hatte. Niemand misstraute einem Jungen in diesem Alter.

Als sein drittes Opfer in seinem Blut lag und mit leeren Augen in den Himmel sah, hatte Sothorn in der folgenden Nacht das Brandeisen geschaffen. Geformt aus einer abgebrochenen Ledernadel und mit viel Geduld über den Flammen biegsam gemacht.

In den frühen Morgenstunden hatte er sich drei Monde in den Arm gebrannt. Es wurde zu einem Ritual, obwohl er zu jung war, um zu begreifen, warum er es tat. Er hatte die Tradition fortgeführt, obwohl er schon lange nichts mehr dabei empfand, ein Leben zu nehmen.

Sothorns Dasein bestand aus drei Elementen. Schmerzen, wenn Stolan ihn darben ließ. Erleichterung, wenn die zähe Flüssigkeit seine Lippen benetzte. Das Wissen, dass er gute Arbeit leisten musste, wenn er nicht zugrunde gehen wollte.

Aber es ging zu Ende. Vielleicht blieben ihm Wochen, vielleicht ein Jahr.

Der Gedanke, bald zu sterben, machte ihn weder ängstlich noch wütend. Es war der Lauf der Dinge. Kein Mann konnte sich gegen sein Schicksal stellen.

Eines Tages würde ihm der Dolch aus der Hand gleiten. Falls er den Auftrag überlebte, hoffte er, dass sein Meister gnädig war und ihm einen schnellen Tod gab. Von den Klippen in die schäumende See gestoßen zu werden, würde ihm gefallen. Einmal fliegen, sich einmal leicht fühlen, einmal frei sein.

Sothorn, der blutrünstigste Assassine von Sunda, war dreiundzwanzig Jahre alt und wusste, dass es keine Rettung für ihn gab.

 

***

 

»Er ist nicht bereit.«

Die Stimme war sonor, kräftig und doch kaum lauter als das Prasseln der Holzscheite im Kamin. Es war die Stimme eines Mannes, der es gewohnt war, dass man ihm zuhörte und es nicht nötig hatte, durch Lautstärke auf sich aufmerksam zu machen.

Ein spöttisches Raunen antwortete ihm, ungesund heiser klingend, als spräche die Person mit zugedrückter Kehle: »Es geht nicht um bereit oder nicht bereit. Es muss getan werden, was nötig ist.«

Der hochgewachsene Mann sah auf und musterte die aufrechte Gestalt in den Schatten. Ihrer Silhouette war kaum zu entnehmen, dass es sich bei ihr um eine Frau handelte. Schmal, frei von weichen Rundungen, die Körperhaltung stolz und kampfbereit. Eine Herausforderung an die Welt im Allgemeinen und ihn im Besonderen.

Theasa war weder schön noch sanft noch weiblich. Ihre Kraft, die man ihren schlanken Armen kaum zutraute, und ihr Biss machten sie zu einer einzigartigen Frau, die man bewundern, aber nicht leicht lieben konnte. Diese Phase ihrer Bekanntschaft hatten sie lange hinter sich gelassen.

Nachdenklich drehte Janis den Becher mit warmem Honigwein in seinen Händen: »Aber was, wenn er versagt?«

»Versagen?«, echote Theasa ungläubig und wandte sich zu ihm um. Die Dolche an ihrem Gürtel schaukelten sacht, verursachten in ihren Lederhüllen jedoch keinerlei Geräusch. »Sprechen wir über dieselbe Sache?«

Er zog in Betracht, dass sie aneinander vorbeigeredet hatten. Theasas Gedanken neigten dazu, in wirren Bahnen zu verlaufen.

»Sag du es mir«, bat er und griff sich in den winterlich struppigen Bart. »Ich rede von Geryim. Ich glaube nicht, dass er so weit ist. Was, wenn er es nicht schafft?«

Theasa lachte rau auf: »Dann gibt es über kurz oder lang zwei Tote, würde ich sagen.«

Nicht schockiert, aber betroffen lehnte Janis sich in die Kissen zurück und streckte die kalten Füße in Richtung Feuer. Erst vor wenigen Stunden war er heimgekehrt und hatte feststellen müssen, dass Theasa Geryim ohne Rücksprache mit ihm nach Balfere geschickt hatte.

Er ärgerte sich.

Theasa hatte jedes Recht, Befehle zu erteilen, aber oft mangelte es ihr an Weitsicht. Sie handelte impulsiv, ohne vorher nachzudenken.

Geryim war jung im Verhältnis zu ihnen und äußerst anfällig für Einflüsse von außen. Er kämpfte hervorragend, aber ihn zu diesem Zeitpunkt auf einen anderen Assassinen anzusetzen, war ein Wagnis, das Janis nicht eingegangen wäre.

Janis verstand nicht, warum Theasa den Wargssolja allein seines Weges geschickt hatte. Warum einen einzelnen Mann in den Hexenkessel der Küstenstadt schicken, wenn er auch eine Eskorte hätte haben können? Den Auftrag musste Geryim allein erfüllen, aber das bedeutete nicht, dass ihn niemand begleiten durfte.

Für Theasa war alles eine Prüfung, ihre ganze Existenz, jedes Jahr, jeder Auftrag, jede Stunde.

Janis drückte seinen Eckzahn in die Unterlippe und nahm sich ein Herz: »Es ist unklug, einen guten Mann zu verschleißen. Wenn er nicht zurückkommt, wird man deine Entscheidungen infrage stellen. Und meine gleich dazu.«

»Angst?«, spottete Theasa. »Es muss getan werden, das weißt du. Und Geryim ist der richtige Mann dafür. Übrigens...«, sie legte eine kunstvoll in die Länge gezogene Pause ein, »... ist mir sehr klar, wer hier meine Entscheidung anzweifelt. Warum kommt der Vorwurf von hinten, alter Freund? Warum sagst du mir nicht ins Gesicht, dass du nicht mit meinem Befehl einverstanden bist?«

»Weil unsereins immer von hinten angreift«, rutschte es Janis heraus und brachte sie beide zum Lachen. Unpassend dreckig angesichts des ernsten Gesprächsthemas.

Theasa schlenderte aus den Schatten und ließ sich neben ihm auf die Sitzkissen fallen. Sie zog die Beine an und bettete ihr Kinn auf ihre Knie.

Schräg sah sie ihn von der Seite an: »Ich kenne meinen Platz. Du bist der Denker und ich bin diejenige, die handelt. Bleiben wir dabei. Damit sind wir immer gut gefahren. Aber um auf das ursprüngliche Thema zurückzukommen: Was wirfst du mir vor?«

»Dass du dir zu wenig Gedanken machst«, erwiderte Janis ehrlich. »Du spielst mit Geryims Leben, als wäre es nichts wert. Aber wir brauchen ihn. In allen Belangen. Er ist ein guter Mann.«

»Ja, das ist er«, stimmte Theasa ihm zu, ein gieriges Lächeln um die Lippen. »Er ist ein Tier. Er kämpft wie ein Wolf. Manchmal glaube ich, er könnte der Stärkste von uns werden. Er hat etwas Wildes in sich. Etwas, das selbst in größter Not einen Ausweg findet.«

»Eine nützliche Eigenschaft für einen Assassinen«, gab ihr Gefährte zu und nippte an seinem Honigwein. »Aber vergiss nicht, dass er unberechenbar ist. Ich wage nicht einzuschätzen, wie er sich in Balfere schlagen wird. Vielleicht verlieren wir ihn.«

»Wir führen ein gefährliches Leben«, zuckte Theasa die Achseln. »Leben, sterben. Es ist nur eine Frage der Zeit.«

Janis verdrehte die Augen: »Nun stell es nicht dar, als wäre er dir egal.«

Ein scharfer Unterton mischte sich in seine Worte, den er nicht bereute. Er wusste, warum Theasa sich kühl gab und dass ihr eisiges Wesen Teil ihrer Maske war, doch in Momenten wie diesen ärgerte ihn ihre Gleichgültigkeit.

Janis machte sich Sorgen. Geryim erwartete ein gefährlicher Gegner, mit dem er selbst es nicht aufnehmen konnte.

Theasa betrachtete ihn von oben bis unten, bevor sie spitz erwiderte: »Nein, er ist mir nicht egal. Aber im Gegensatz zu dir bin ich mir sicher, dass Geryim Sothorn gewachsen ist und wieder nach Hause kommt.«