Über Peter Tremayne

Peter Tremayne ist das Pseudonym eines anerkannten Historikers, der sich auf die versunkene Kultur der Kelten spezialisiert hat. Seine im 7. Jahrhundert spielenden Romane mit Schwester Fidelma sind zurzeit die älteste und erfolgreichste historische Krimiserie auf dem deutschen Markt. Fidelma, eine mutige Frau von königlichem Geblüt und Anwältin bei Gericht, löst darin auf kluge und selbstbewusste Art die schwierigsten Fälle. Wegen des großen internationalen Erfolgs der Serie wurde Peter Tremayne 2002 zum Ehrenmitglied der Irish Literary Society auf Lebenszeit ernannt.

Bisher bei Aufbau erschienen: Die Tote im Klosterbrunnen (2000), Tod im Skriptorium (2001), Der Tote am Steinkreuz (2001), Tod in der Königsburg (2002) und Tod auf dem Pilgerschiff (2002), Nur der Tod bringt Vergebung (2002), Ein Totenhemd für Den Erzbischof (2003), Vor dem Tod sind alle gleich ( 2003), Das Kloster der toten Seelen( 2004) ,Verneig dich vor dem Tod (2005) ,Tod bei Vollmond (2005), Tod im Tal der Heiden (2006), Der Tod soll auf euch kommen (2006) und Ein Gebet für die Verdammten (2007), Das Flüstern der verlorenen Seelen (2007), Tod den alten Göttern (2008), Das Konzil der Verdammten (2008), Der falsche Apostel (2009) , Eine Taube bringt den Tod (2010), Der Blutkelch (2010), Die Todesfee (2011), Und die Hölle folgte ihm nach (2012), Die Pforten des Todes (2012), Das Sühneopfer (2013), Sendboten des Teufels (2014), Der Lohn der Sünde (2015); Der Tod wird euch verschlingen (2016) Tod in der Königsburg - Illustrierte Ausgabe (2016), Die Wahrheit ist der Lüge Tod (2018), Ihr Los ist Finsternis (2018).

Mehr Informationen unter www.sisterfidelma.com

Informationen zum Buch

»Wer einen Roman von Peter Tremayne gelesen hat, der möchte sie alle lesen.« NDR.

Irland, 671: Bei dem heidnischen Samhain-Fest, mit dem man den Beginn des Winters feiert, entdeckt Bruder Eadulf eine Leiche in einer Mönchskutte. Gibt es eine Verbindung zwischen dem Toten und dem Verschwinden eines Buches aus dem päpstlichen Geheimarchiv in Rom, das den neuen Glauben in den fünf Königreichen Irlands vernichtend treffen könnte? Solange Fidelma und Eadulf den Fall nicht gelöst haben, schwebt König Colgú von Cashel in größter Gefahr.

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Peter Tremayne

Ihr Los
ist Finsternis

Historischer Kriminalroman

Aus dem Englischen
von Bela Wohl

Inhaltsübersicht

Über Peter Tremayne

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Dramatis personae

Anmerkung des Autors

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Anmerkungen

Impressum

In Erinnerung an meine »anam cara«1

DOROTHEA CHEESMUR ELLIS

(11. September 1940–30. März 2016)

Da war die Tür, zu der ich keinen Schlüssel fand,

Dann der Schleier, durch den ich nicht sehen konnte.

Ein kurzes Gespräch zwischen dir und mir,

Und dann nichts mehr von mir und dir.

Omar Khayyam, 1048–1131, Rubaiyat

Quomodo cecidisti de caelo lucifer qui mane oriebaris corruisti in terram qui vulnerabas gentes

Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! Wie bist du zur Erde gefällt, der du die Heiden schwächtest!

Jesaja 14, 12

Hauptpersonen

Schwester Fidelma von Cashel, eine dálaigh oder Anwältin bei Gericht im Irland des siebenten Jahrhunderts

Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham aus dem Lande des Südvolks, ihr Gefährte

Im Laternenpalast in Rom

Der Ehrwürdige Gelasius, Nomenklator im Lateranpalast

Bruder Pothinus Maturis, Praecipuus im Geheimarchiv

Bruder Lucidus, Beauftragter des Nomenklators

Auf der Burg Cashel

Colgú, König von Muman, Fidelmas Bruder

Dar Luga, ainbertach, Haushälterin der Burg

Fíthel, Oberster Brehon von Muman

Alchú, Fidelmas und Eadulfs Sohn

Muirgen, Alchús Kinderfrau

Nessan, Muirgens Ehemann, der Schäfer des Königs

Bruder Conchobhar, Apotheker

In der Ortschaft Cashel

Spelán, ein Schäfer

Rumann, ein Gastwirt

Curnan, ein Holzfäller, verantwortlich für das Samhain-Feuer

Febal, von den Uí Briúin Seóla aus Connacht

Krieger der Nasc Niadh, der Leibwache des Königs

Gormán, Befehlshaber

Aidan, zeitweiliger Befehlshaber

Dego

Enda

Luan

Teilnehmer am Konzil in der Burg Cashel

Bruder Mac Raith, Verwalter der Abtei Imleach

Bruder Sionnach, aus der Abtei Corcach Mór

Bruder Duibhinn, aus der Abtei Ard Mór

Bruder Giolla Rua, aus der Abtei Ros Ailithir

Auf dem Ochsenhügel

Brancheó, die Raben-Anruferin

Torcán, ein Holzfäller

Éimhín, seine Frau

In der Abtei Ráth Cuáin

Abt Síoda

Bruder Tadgh, aistreóir, der Pförtner

Bruder Gébennach, leabhar coimedach, der Hüter der Bücher

Schwester Fioniúr, die Kräuterheilkundige

Auf dem Cnocgorm

Erca, ein Druide und Einsiedler

Weitere Personen

Della, Gormáns Mutter

Aibell, Gormáns Ehefrau

Abt Cuán, Abt von Imleach

Gelgéis, Prinzessin von Éile

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Anmerkung des Autors

Die Ereignisse in diesem Roman folgen denen, die im Band »Der Tod wird euch verschlingen« geschildert wurden. Wir schreiben das Jahr 671 und befinden uns in den letzten Tagen des Monats Mí Forba, wie er auf Altirisch genannt wurde, des Monats der Vollendung. Dieser Monat entspricht unserem heutigen Oktober. Er galt als der letzte Monat des früheren keltischen Jahres.

Der darauffolgende Monat hieß Cet Gaimrid, der »Erste des Winters«, also November. Die alten Iren glaubten, genau wie ihre indoeuropäischen Verwandten, die Hindus, dass das Jahr in einer Zeit der Dunkelheit beginnt und dem Licht entgegenstrebt. Folglich kennzeichnete das heidnische Samhain-Fest2 das Ende des Sommers (sam = Sommer, fuin = das Ende von). Es war einer der vier bedeutenden Festtage des keltischen Jahres. Bei den Iren wie bei den anderen keltischen Völkern begannen die Jahresfeste, die das Verstreichen der Zeit durch die Aufeinanderfolge von Tagen und Nächten veranschaulichten, stets am Abend.

Am Samhain-Fest wurde der Beginn der dunklen Jahreszeit durch das Abbrennen großer Feuer symbolisiert; es war ein Fest des Lichts, das mit seinen dazugehörigen Ritualen die Gefahren, die in der Dunkelheit lauerten, bannen sollte. Gleichzeitig war auch die Seele der Menschen bedroht, da sich die Grenzen zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Welt auflösten; in dieser Zeit konnten alle, denen Unrecht widerfahren war, aus der Anderswelt zurückkehren und sich an den Lebenden rächen; in dieser Zeit herrschte urzeitliches Chaos.

Den frühen Christen gelang es kaum, diese vorchristlichen Überzeugungen zu unterdrücken, bis schließlich Papst Gregor I. (590–604 n. Chr.) Anweisung erteilte, die heidnischen Vorstellungen und heiligen Stätten in das Christentum zu integrieren, indem man sie dem Neuen Glauben einverleibte, statt sie zu zerstören. Die Christen in Rom hatten bereits einen speziellen Gedenktag für ihre Märtyrer eingerichtet, und Papst Bonifatius IV. (608–615n. Chr.), der das Pantheon zu Ehren der Mutter Gottes und aller Märtyrer zur christlichen Kirche geweiht hatte, bestimmte den 1. Mai zum Allerheiligen-Fest.

834n. Chr. stellte Papst Gregor IV. jedoch fest, dass die Mehrzahl der Gläubigen in Westeuropa dieses Fest gar nicht beachtete, sondern nach wie vor das althergebrachte heidnische Samhain-Fest beging, um zu Winteranfang der Toten zu gedenken. Deshalb verlegte er das Fest auf den 1. November und nannte es Aller-Heiligen-Tag. Das angelsächsische Wort für »Heiliger« war halig, so dass man den Tag im englischsprachigen Raum auch als All Hallows’ Day bezeichnete und der Vorabend schließlich Haloween genannt wurde.

Auch wenn die alten Rituale im modernen Hallowe’en weitgehend verwässert sind, kennzeichnet das Fest nach wie vor die eine Nacht des Jahres, in der die Schatten aus der Anderswelt den Seelen der Lebenden gefährlich werden können.

Noch eine Anmerkung: Fidelma verleiht zwar am Ende dieser Geschichte ihrer tiefen Hoffnung Ausdruck, dass christliche Äbte und Bischöfe nicht gleichzeitig über weltliche Macht als Prinzen verfügen sollten, doch mindestens drei ihrer Nachfahren aus dem Geschlecht der Eóghanacht hatten diese Doppelfunktion als Bischof und König von Muman inne: Fedelmid, der Sohn von Crimthainn (846n. Chr.), Ólchobar, der Sohn von Cináedar (851n. Chr.), sowie der berühmteste der drei, Cormac, der Sohn von Cuilennáin (908n. Chr.).

Kapitel 1

Es ging das Gerücht, der alte Pothinus Maturis habe bereits zu den Bediensteten im Lateranpalast gehört, als Kaiser Konstantin dem Bischof von Rom das Gebäude einst für unbegrenzte Zeit zur Verfügung stellte. Das war jedoch absolut unmöglich, denn das Bekenntnis des Kaisers zum Neuen Glauben sowie die Tatsache, dass er ihn zur Religion des gesamten Römischen Reiches erklärte, lagen bereits drei Jahrhunderte zurück, als Pothinus Maturis seine Tätigkeit im Lateranpalast aufnahm. Von da an brauchte er fünfundzwanzig Jahre, um die Position eines Praecipuus im Archivum Secretum im Sacrosancta Lateranensis ecclesia omnium urbis et orbis ecclesiarium mater et caput zu erreichen … im Palast des Heiligen Vaters der weltumspannenden Kirche Christi.

Praecipuus Pothinus war inzwischen recht betagt. Er lebte im Palast fast wie ein Einsiedler, sprach mit niemandem und hatte in all den Jahren seiner Funktion als Archivar keine Freundschaften geschlossen. Er galt als nüchterner, nachdenklicher Mann, der seine Meinung für sich behielt und die Archive bewachte, als hüte er die Himmelspforten selbst.

Nur den Ranghöchsten unter den Bediensteten des Palastes gewährte man Zutritt zu den Archiven, die hinter der alten Basilika lagen. Kaiser Konstantin höchstpersönlich hatte ihren Ausbau angeordnet, als er die Stallungen der Kaserne seiner berittenen Leibgarde abreißen ließ, weil diese ihm gegenüber nicht genügend Loyalität bewiesen hatte. So lagen die Archive gut gesichert abseits der übrigen Kirchengebäude. Die Dokumente, die im Archivum Secretum aufbewahrt wurden, rechtfertigten diese Abgeschiedenheit mit ihrer brisanten Natur. Die meisten waren angesichts der allgemein akzeptierten Theologie als ketzerisch eingestuft worden, nachdem das eine oder andere Konzil die darin diskutierten Vorstellungen für ungültig erklärt hatte. Viele Texte entstammten den Evangelien und standen im Widerspruch zu den Schriften, die man zu den wichtigsten Grundlagen des Glaubens auserkoren hatte. Damasus I., der Heilige Vater, hatte Eusebius Hieronymus Sophronius aufgetragen, die ausgewählten Texte ins Lateinische zu übersetzen und in einem Standardwerk zu sammeln, das als Bibel bezeichnet wurde – das heilige Fundament für alle Gläubigen.

Praecipuus Pothinus war stolz auf seine einzigartige Vertrauensposition als Hüter der umstrittenen Werke, die man verworfen hatte, damit sie die verschiedenen Splittergruppen der Christenheit nicht noch weiter entzweiten. Auf diesem Hintergrund ereignete sich eines Tages etwas Erstaunliches im Lateranpalast. Wer Praecipuus Pothinus vom Sehen kannte, traute seinen Augen nicht: Der betagte Mann eilte fast im Laufschritt durch die Flure des Palastes, um zum Büro des Nomenklators, des Chefsekretärs Seiner Heiligkeit, zu gelangen. Das Klatschen seiner Sandalen auf den glänzenden Marmorfliesen hallte durch die Gänge, sodass die Menschen stehen blieben und ihm verstört und beunruhigt hinterherschauten.

Schließlich erreichte er sein Ziel – eine abweisende Eichentür. Offenbar hatte er sämtliche Regeln des Anstands vergessen, denn er hielt nicht einmal inne, um anzuklopfen, sondern packte die Türklinke aus Messing und stürzte ins dahinterliegende Zimmer. Erst jetzt blieb er vor dem Mann am Schreibtisch stehen. Die Schultern von Praecipuus Pothinus bebten von der Anstrengung des Rennens; sein Atem ging stoßweise und keuchend.

Der Mann am Schreibtisch sah auf und erschrak beim Anblick des Eindringlings. Selbst im Sitzen wirkte er überdurchschnittlich groß; unter seinem Käppchen quollen Büschel schwarzer Haare hervor. Seine gebräunte Haut verriet, dass er sich nicht nur in den düsteren Hallen kirchlicher Gebäude aufhielt, sondern auch die Sonne Roms durchaus zu schätzen wusste. Die markante Adlernase hätte jedem römischen Adligen zur Zierde gereicht, besonders in Verbindung mit dem höhnisch verzogenen Mund und den schmalen Lippen, die so dunkel waren, als hätte er sie künstlich gefärbt. In seinem verschleierten Blick lag nicht die geringste Spur von Mitgefühl. Auch wenn man den Gesichtszügen seine Autoritätsposition nicht ansah, verkündete seine Aufmachung sie mit aller Deutlichkeit: durch die Juwelen in dem kunstvollen Kreuz aus Silber, das er an einer Kette trug, durch die scharlachrote Amtsrobe, die udones, die weißen Strümpfe, und die campagi, die schwarzen Pantoffeln, die unterm Schreibtisch hervorlugten.

Er brauchte ein paar Sekunden, um sich von seiner Überraschung zu erholen – eine dringend nötige Verschnaufpause für Praecipuus Pothinus.

»Verschwunden, Ehrwürdiger Gelasius!«, keuchte Pothinus. »Es ist verschwunden!«

Der Nomenklator lehnte sich zurück und betrachtete sein Gegenüber kalt.

»Reiß dich zusammen, Pothinus. Reiß dich zusammen und erzähl mir dann langsam und ausführlich … was verschwunden ist, sodass du hier in dieser ungehörigen Art und Weise hereinplatzt und unangemeldet vor mir erscheinst?«

Praecipuus Pothinus nahm noch mehrere tiefe Atemzüge, bis er sich so weit gefasst hatte, dass er sich klar und deutlich ausdrücken konnte.

»Das Sefer Ya’akov«, brachte er schließlich heraus. »Es ist aus dem Archiv verschwunden.«

Der Ehrwürdige Gelasius runzelte die Stirn. »Ich bin kein Experte für die Hebräer, Pothinus. Was ist verschwunden?«

»Die Biblos Iakobos«, übersetzte der Gefragte gleich ins Griechische und fügte hinzu: »Sie ist verschwunden, und …«

Der Ehrwürdige Gelasius hob seine schmale, fast zierliche Hand und schaute sich um, als suche er nach ungebetenen Lauschern. »Wir wollen doch nicht, dass ketzerische Ausdrücke in die falschen Ohren gelangen.«

Pothinus machte eine wegwerfende Geste, als hätte das keinerlei Bedeutung.

»Es geht darum, dass sich jemand nachts gewaltsam Zutritt zum Archiv verschafft und das Buch gestohlen hat. Als ich heute Morgen dort ankam, stand ein Fenster offen; da ich wusste, dass es gestern, als ich wegging, geschlossen war, begann ich sogleich, die Manuskripte und Bestände zu überprüfen. Schon bald fiel mir auf, dass sich jemand in der Abteilung für hebräische und aramäische Werke zu schaffen gemacht hatte. Unverzüglich verglich ich sie mit meinem Verzeichnis und stellte fest, dass die Biblos Iakobos fehlte. Von allen Büchern im Archiv kann dieses dem Glauben am gefährlichsten werden. Was sollen wir tun?« Ratlos rang er die Hände.

»Was wir tun sollen, Praecipuus Pothinus?«, fragte der Ehrwürdige Gelasius mit eisiger Stimme. »All den ketzerischen Splittergruppen, die Jesu göttliche Geburt leugnen, liefert dieses Buch eine hervorragende Untermauerung für ihre Theorie und deren Verbreitung. Bereits jetzt ist es schwierig, sämtliche Werke zu unterdrücken, die Jakobus darstellen als Bruder von …« Er hielt inne und zuckte die Achseln. »Wenn ich mich richtig erinnere, schrieb Jakobus, oder Iacomus, wie wir ihn nennen, dieses Werk angeblich, kurz bevor er von den Sanhedrin getötet wurde. Die Nazarener, deren Anführer er war, existieren noch immer und behaupten, dass sie zur jüdischen Glaubensgemeinschaft gehören – und dass Jesus ein einfacher Rabbiner gewesen sei.«

»Aber was sollen wir tun?«, jammerte Praecipuus Pothinus mit schriller Stimme.

»Du hast mit niemandem darüber gesprochen?«, wollte der Nomenklator wissen.

»Nicht über den Verlust des Buches. Allerdings befragte ich einen der Custodes, Licinius.« Custodes nannte man die Leibgarde des Lateranpalastes. »Er war letzte Nacht zur Bewachung der Archive eingeteilt. Ich erkundigte mich lediglich nach verdächtigen oder unerwünschten nächtlichen Aktivitäten in der Nähe des Gebäudes.«

»Bist du sicher, dass du ihm gegenüber den Verlust des Buches nicht erwähnt hast?«, insistierte der Ehrwürdige Gelasius.

»Ganz gewiss nicht. Der Custos erzählte mir jedoch von zwei betrunkenen Pilgern vor dem Eingang, die unserem guten italienischen Wein wohl zu reichlich zugesprochen hatten. Er rügte sie wegen ihres unziemlichen Verhaltens, bis sie sich schließlich auf den Weg zu ihrer Herberge machten.«

»Du sprichst von ihnen, als wären sie Fremde.«

»Ganz richtig. Lucinius sagte, sie seien Barbaren und stammten von dieser Insel im Westen, die dem Heiligen Vater solche Probleme mit den Osterfeierlichkeiten bereitet, angefangen vom Datum dieses Festes über die Riten und Rituale bis hin zur Kleidung der Gläubigen. Sie weigern sich, die diesbezüglichen Veränderungen zu akzeptieren, die von den Konzilen in Rom für korrekter und angemessener befunden wurden. Du weißt schon – dieses merkwürdige wilde Volk, das seine eigenen Interpretationen des Glaubens der Weisheit Roms vorzieht.«

»Meinst du die Fünf Königreiche von Éireann?« Der Ehrwürdige Gelasius musste beinahe lächeln, als ihm eine Erinnerung durch den Kopf schoss. »Ich habe viel über dieses Land und seinen seltsamen Menschenschlag gelernt, von einer Frau – einer Rechtsgelehrten.«

Praecipuus Pothinus sah ihn schockiert an. »Eine Frau? Als Rechtsgelehrte?«

»Sie verfügte über beeindruckende kombinatorische Fähigkeiten«, räumte der Nomenklator nachdenklich ein.

»Falls diese Barbaren in den Diebstahl verwickelt waren, sind sie bereits aus Rom geflüchtet«, erklärte der Praecipuus.

»Woher weißt du das?«, fragte der Ehrwürdige Gelasius mit schneidender Stimme.

»Custos Licinius berichtete, er habe die Barbaren nach ihrer Unterkunft gefragt. Ihr Wortführer erzählte ihm, sie hätten soeben ihre letzte Nacht in Rom gefeiert, um am nächsten Morgen die Rückreise auf ihre gottverlassene Insel anzutreten.«

Der Ehrwürdige Gelasius schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Keine Insel auf unserer Erde ist gottverlassen, Pothinus. Hat der Custos denn ihre Namen festgehalten?«

»Er hat’s versucht, aber sie klangen so merkwürdig und fremd, dass er sie nicht verstand und deshalb nicht notierte. Sie gaben zu, dass sie von dieser Insel im Westen stammten, und dem Custos fiel auf, dass sie keineswegs so enthaltsam lebten wie die meisten Pilger, die in unsere Stadt kommen.«

»Also glaubst du, dass sie Rom bereits verlassen haben?«

»Das würde ich annehmen. Misstrauisch macht mich die Beobachtung des Custos, dass ihr Anführer eine Buchtasche dabeihatte. So etwas schleppt man normalerweise nicht mit sich herum, wenn man feiern geht.«

Der Ehrwürdige Gelasius runzelte einen Augenblick nachdenklich die Stirn und trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte.

»Erzähle niemandem von diesem Verlust, bis ich es gestatte. Wir dürfen ihn nicht öffentlich zugeben, schon gar nicht bei einem so gefährlichen Dokument. Der Inhalt und der Name des Verfassers könnten alles zerstören, was wir im Lauf der Jahre aufgebaut haben und Christentum nennen.«

»Was also soll ich tun?«, fragte der Praecipuus erschöpft.

»Vergiss die ganze Angelegenheit. Überlass es mir, die Sache zu regeln. Der Diebstahl des Buches und unser Gespräch haben niemals stattgefunden. Falls du das Werk eingetragen hast, lösche es. Es existiert nicht. Es hat nie existiert.«

Nachdem Praecipuus Pothinus gegangen war, blieb der Ehrwürdige Gelasius eine Weile schweigend sitzen. Erst ein trockenes Husten vom Türdurchgang zum Nebenraum veranlasste ihn, sich in seinem Stuhl umzudrehen.

Ein groß gewachsener, gut aussehender junger Mann, in dessen Gesichtszügen ein Ausdruck ständiger Belustigung lag, lümmelte im Türrahmen.

»Hast du alles mitangehört?«, fragte der Nomenklator.

»Ja.«

»Nun, Bruder Lucidus, offensichtlich traf deine Warnung vor einem Anschlag auf gewisse Manuskripte in den Archiven tatsächlich zu, auch wenn ich nicht annahm, dass es so bald geschehen würde. Doch vermutlich ist das durchaus logisch. Falls überhaupt ein Manuskript die theologischen Entscheidungen der Konzile in den vergangenen Jahrhunderten untergraben kann, dann dieses. Anscheinend haben die Custodes mitbekommen, dass es sich bei den Verdächtigen um Landsleute von dir handelt. Weißt du, wer diese Männer sind?«

»Nein. Ich hörte gestern lediglich ein Gerücht über einen Plan, irgendein Werk der Nazarener aus den Archiven fortzuschaffen, weshalb ich gleich heute Morgen zu dir kam. Das Problem ist, dass in den Straßen Roms ganze Scharen von Pilgern von den westlichen Inseln unterwegs sind.«

»Wir müssen diese Diebe finden!«

Der junge Mann grinste hämisch. »Du und dein bedauernswerter Praecipuus, ihr dürft nicht einmal zugeben, dass das Buch existierte, geschweige denn, dass es gestohlen wurde. Dein Wächter hat vor dem Bibliotheksgebäude lediglich zwei meiner Landsleute gesehen, die in angetrunkenem Zustand herumlärmten.«

»Wir müssen herausfinden, wer sie sind und ob sie das Werk an sich genommen haben«, drängte der Nomenklator.

»Pothinus hat recht scharfsinnig beobachtet, dass es nicht häufig vorkommt, dass ein Pilger, der von einer Feier heimkehrt, eine Buchtasche, eine tiag luibhair, wie wir das nennen, bei sich hat. Meiner Meinung nach lässt das ziemlich sicher darauf schließen, dass sie die Täter sind – und dass das fehlende Buch sich in der Tasche befand.«

»Laut Pothinus sind sie inzwischen wahrscheinlich zu einem unserer Seehäfen unterwegs, um die Rückreise in deine Heimat anzutreten. Wir müssen das Buch zurückholen. In den falschen Händen könnte es eine Bewegung stärken, die womöglich den Glauben der gesamten Christenheit umstürzen will.«

»Das hast du bereits gesagt – und ich weiß das. Unglücklicherweise wird es nicht leicht sein, sie im Gewimmel der Pilgerscharen, die in unserer Stadt kommen und gehen, aufzuspüren, auch wenn wir ihr Herkunftsland kennen.«

Der Ehrwürdige Gelasius begann erneut, mit den Fingern auf die Schreibtischplatte zu trommeln. »Deine Insel bereitet Rom schon jetzt große Sorgen; unsere Anwälte erzielen nur langsam Erfolge gegen die unterschiedlichen religiösen Auffassungen, die zwischen uns stehen. Wir haben vielleicht die Debatten auf den Konzilen in Streonshalh und Autun für uns entschieden, doch die Herzen und Köpfe deines Volkes haben wir noch nicht erobert. Die meisten Menschen dort halten starr an den Traditionen der Insel fest – abgesehen vom Abt eines Klosters, das Ard Marcha heißt. Er hat sich bereit erklärt, die Autorität Roms zu respektieren, allerdings unter der Bedingung, dass wir ihn als Obersten Bischof der gesamten Insel anerkennen.«

Bruder Lucidus verzog das Gesicht. »Es gibt eine Reihe von Schwierigkeiten mit dieser Forderung – Ansprüche dieser Art werden von allen Seiten erhoben. Der Abt von Imleach beispielsweise, der im Süden der Insel als Oberster Bischof gilt, vertritt ein ähnliches Anliegen – und die Hälfte der Bevölkerung unterstützt ihn dabei. Außer ihm sind da noch diverse andere. Die Abtei des heiligen Fiacc in Sléibhte zum Beispiel behauptet, das älteste Kloster der Insel zu sein. Zahlreiche Abteien tragen gute Argumente vor und beanspruchen eine Vorrangstellung unter den Gläubigen in meinem Land.«

»Nun, das ist im Augenblick nicht meine dringlichste Sorge. Die Aufgabe, die unterschiedlichen Kirchen auf deiner Insel unter der Vorherrschaft Roms zu vereinen, kann warten. Tatsache ist, dass der alte Text in dieser Sache irreparablen Schaden anrichten könnte. Wir müssen ihn zurückholen.«

Bruder Lucidus lächelte matt. »Das betonst du unentwegt. Allerdings werde ich wohl derjenige sein, der ihn dir zurückbringt.«

»Wie willst du das bewerkstelligen?«

»Ich werde die zwei irischen Pilger aufspüren und feststellen, woher sie kommen. Falls sie mit dem Buch bereits auf dem Weg in die Fünf Königreiche sind, werde ich ihnen folgen und es wieder an mich nehmen – oder es zerstören.«

»Du bist offenbar sehr zuversichtlich«, bemerkte der Ehrwürdige Gelasius, »aber kannst du das alles schaffen? Zunächst musst du herausfinden, wer die Diebe sind. Was, wenn dir das nicht gelingt? Und wo willst du den uralten Text suchen? Gewiss gibt es auf der Insel jede Menge guter Verstecke.«

»Falls sie das Buch in meine Heimat mitnehmen, um das ketzerische Gedankengut, das es enthält, zu verbreiten, dann existieren nur wenige Orte, zu denen sie es bringen könnten. Ich habe einen sehr guten Freund, einen herausragenden Gelehrten, Bruder Sionnach von der Abtei Corcach Mór. Er weiß ungemein viel über die Fünf Königreiche und hat überall Kontakte. Die Insel ist nicht so groß, als dass ich es nicht auftreiben sollte. Tatsächlich wird sich die Neuigkeit, dass die eine oder andere Abtei sich ein derartiges Buch angeeignet hat, wie ein Lauffeuer über die gesamte Insel verbreiten. Die Bruderschaft der Gelehrten wird als eine der ersten davon erfahren.«

»Hast du von Fidelma von Cashel gehört?«, fragte der Nomenklator plötzlich. »Sie war die Frau und Rechtsgelehrte, die ich vor wenigen Minuten Praecipuus Pothinus gegenüber erwähnte.«

Der junge Mann erwiderte gedehnt: »Wer in den Fünf Königreichen hat nicht von Fidelma von Cashel oder ihrem Gefährten, dem sächsischen Bruder Eadulf gehört? Mir ist sie jedenfalls bekannt, ich bin ihr jedoch noch nie begegnet.«

»Sie könnte dir bei deiner Mission, das Buch zurückzuholen, eine große Hilfe sein. Ich werde ihr durch einen der Mönche, die morgen in dieses Königreich aufbrechen, eine Botschaft zukommen lassen, da ich dich jetzt nicht länger aufhalten möchte. Ich werde deine Aufgabe nicht erwähnen, abgesehen von der Tatsache, dass ein Buch gestohlen wurde und du von mir autorisiert bist, es wieder in Besitz zu nehmen. Ich werde ihr schreiben, dass du, falls du ihre Unterstützung benötigst, dich als Lucidus vorstellen und meinen Namen als Legitimation nennen wirst.«

»Ich nehme nur im Notfall Kontakt mit ihr auf«, antwortete Bruder Lucidus zuversichtlich. »Und nach meiner Ankunft in den Fünf Königreichen werde ich den Namen Lucidus ablegen und meinen Geburtsnamen benutzen, solange ich dort bin. Falls ich jedoch Hilfe von Fidelma oder jemand anderem benötige, verwende ich Lucidus und seine Bedeutung als Decknamen. Ich bin allerdings sicher, dass ich die Mission auch ohne ihr Zutun erfolgreich beenden kann.«

»Dann erreichen wir unser Ziel umso schneller, je eher du aufbrichst, Bruder Lucidus. Möge der Herr mit dir sein.«

Der junge Mann neigte den Kopf vor dem Nomenklator und erwiderte mit zynischem Lächeln: »Das walte Gott, Ehrwürdiger Gelasius. Doch diese Aufgabe kann ich meiner Meinung nach allein bewältigen, auch ohne Seine Hilfe – oder die von Fidelma von Cashel.«

Kapitel 2

»Können wir uns das Feuer anschauen, athair

Die Stimme von Klein-Alchú klang ganz aufgeregt, als er auf der anderen Seite des Marktplatzes auf einen gewaltigen Haufen aus Holzscheiten und Ästen deutete, der die umliegenden Häuser fast überragte. Eadulf betrachtete seinen kleinen Sohn amüsiert und liebevoll.

»Was gibt’s denn dort zu sehen, mein kleiner Spürhund? Im Augenblick offenbar nur einen Haufen altes Holz. Morgen wird man ihn anzünden, dann wird es erst interessant.«

Aidan, der junge Krieger der königlichen Leibgarde vom Goldenen Halsreif, der ihnen als Begleiter für den täglichen Morgenritt zugewiesen war, schnaubte empört.

»Wenn man an die symbolische Bedeutung dieses Feuers denkt, handelt es sich doch wohl um mehr als nur einen Haufen altes Holz, Freund Eadulf«, protestierte er.

Die drei kamen gerade aus der Burg von Cashel, aus dem Palast von Colgú, dem König von Muman, der über das südwestlichste und größte der Fünf Königreiche von Éireann herrschte. Sie zügelten ihre Pferde am Rand des Marktplatzes. Normalerweise begleitete Fidelma ihren kleinen Sohn beim morgendlichen Ausritt, doch wenn sie mit Angelegenheiten beschäftigt war, die in ihre Zuständigkeit als Rechtsberaterin ihres Bruders, des Königs, fielen, eskortierte Eadulf den Jungen – allerdings immer zusammen mit einem Mitglied der königlichen Leibwache. Man hatte nicht vergessen, dass das Kind als Baby von Uaman, dem skrupellosen Herrscher über die Pässe von Sliabh Mis, entführt worden war.

»Ein Feuer ist wie das andere«, erwiderte Eadulf; allerdings hätte ein aufmerksamer Beobachter hinter seinem leichthin geäußerten Widerspruch womöglich auch Besorgnis wahrgenommen. Eadulf wusste sehr wohl, was das Feuer symbolisierte und was es für die Bürger der Stadt bedeutete, die schon seit Tagen Holzklötze und Äste aus den umliegenden Wäldern herbeischleppten.

Aidan, dem Eadulfs Unbehagen nicht aufgefallen war, schüttelte tadelnd den Kopf. »Du lebst schon lange genug in diesem Königreich, mein Freund, um zu wissen, dass eine besondere Zeit bevorsteht.«

»Ich weiß alles über das Samhain-Fest.«

»Dann wirst du auch wissen, dass wir uns der Zeit der Dunkelheit nähern«, fuhr der junge Krieger fort. »Gerade deshalb sind die Samhain-Feuer so wichtig. Ihre Flammen verleihen unserer Hoffnung Ausdruck, dass wir die bedrohlichen Schatten der Finsternis überleben und im Licht neu geboren werden. Vergiss nicht, dass morgen Nacht beim Samhain-Fest dunkle Mächte rings um uns lauern. Viel Böses wird erscheinen, alle heimtückischen und rachsüchtigen Kräfte werden unser Land heimsuchen.«

Eadulf versuchte sich zurückzuhalten und den Gefährten wegen seines Geschwätzes nicht zurechtzuweisen. Eadulf war in der vorchristlichen Kultur seines Volkes aufgewachsen. In seinem Dorf Seaxmund’s Ham im Land des Südvolkes der Ostangeln gab es ein ähnliches Fest, das man Modraniht oder die »Nacht der Mutter Erde« nannte. Gleich darauf folgte der Monat Blótmonath, die Zeit der Opfer für die Götter und Göttinnen, damit sie die Menschen vor den übernatürlichen Wesen beschützten, die in düsteren Wäldern und an wüsten Orten hausten und danach trachteten, Unheil anzurichten und Vergeltung zu üben. Eadulf unterdrückte ein Schaudern. Christliche Missionare hatten begonnen, das Königreich der Ostangeln zum Neuen Glauben zu bekehren, und er hatte ihre Lehren schon als Jugendlicher bereitwillig angenommen. Doch die althergebrachten Sitten und Vorstellungen, die seit Urzeiten das tägliche Leben bestimmten, verschwanden nicht so schnell. Es gab immer wieder Momente, in denen er merkte, dass er noch den alten Überzeugungen anhing, die der Neue Glaube nicht gänzlich unterdrücken konnte und deshalb zu integrieren suchte. Selbst der bedeutende römische Papst Gregorius Anicius hatte seine Missionare ermahnt, die heidnischen Heiligtümer und Tempel nicht zu zerstören, sondern sie sich im Namen des Neuen Glaubens anzueignen. Aus diesem Grund wurden viele alte Praktiken und Lehren einfach im Gewand der neuen Religion weitergeführt.

»Können wir nicht zum Feuer hinüberreiten, athair?« Das erneute wehleidige Quengeln seines Sohnes riss Eadulf aus den Gedanken.

Er zögerte. »Wir reiten daran vorbei«, gab er schließlich seufzend nach. »Ich habe deiner Mutter versprochen, Della aufzusuchen, um bei ihr Honig abzuholen.« Mit diesem überflüssigen Satz wollte er das Zugeständnis an seinen Sohn vor sich selbst rechtfertigen.

Sie ritten im Schritttempo über das offene Gelände auf den riesigen, aber noch unfertigen Holzhaufen zu. Obwohl die Morgendämmerung längst vorüber war, lag der Marktplatz fast verlassen da. Viele Bewohner waren bereits zur Arbeit aufgebrochen oder widmeten sich den verschiedenen täglichen Aufgaben, die die Grundlage für das Florieren der Gemeinde bildeten. Seit dem Tag, da Conall Corc König von Muman wurde und seine Festung auf dem Rock of Cashel errichten ließ – einem eindrucksvollen Kalksteinfelsen, der sich mehr als sechzig Meter über die Ebenen erhob und schon aus weiter Ferne sichtbar war –, hatte die Kleinstadt, die sich an seinem Fuß entwickelte, begonnen, stetig zu wachsen und ihren Wohlstand zu mehren. Inzwischen galt sie als Zentrum des Hoheitsgebietes der Eóghanacht.

Die wenigen Bäume in der Mitte des Städtchens hatten ihr sommerlich gefärbtes Laub noch nicht abgeworfen, zum Beispiel die Esche mit der kuppelförmigen Krone und den charakteristischen Blättern, die in dem kalkhaltigen Boden prächtig gedieh. Der Platz wirkte merkwürdig nackt, nachdem die zahlreichen Wildblumen, die ihn mit leuchtenden Farbklecksen übersät hatten, vor Einbruch des Winters verschwunden waren. Das entfernte Klirren von Metall auf Metall – Hammerschläge eines Schmiedes, der seinem Gewerbe nachging – durchbrach die Stille. Dazwischen hörten sie das unbeirrbare Zwitschern der Spatzen, die nahebei unter den Dachgesimsen der Häuser nisteten und sich ein warmes Plätzchen für bevorstehende Zeiten sicherten. Das nächstliegende Gebäude beherbergte das Gasthaus von Rumann mit der angrenzenden Brauerei. Der große, gutmütige Gastwirt war gerade im Eingang erschienen und machte sich fürs Tagesgeschäft bereit. Er sah die Reiter und hob seine Hand zum Gruß.

Klein-Alchú hatte sein Pony angehalten, obwohl Eadulf ausdrücklich von Vorbeireiten gesprochen hatte. Er beugte sich über den Hals seines Pferdes und musterte etwas zwischen den Holzscheiten.

»Da drin liegt ein Bündel Lumpen, athair.« Der Junge deutete darauf. »Wofür ist das denn?«

Bevor Eadulf antworten konnte, rief Aidan aus: »Damit ruiniert man das schönste Feuer! Lumpen produzieren nur Rauch und geben den Flammen keine rechte Nahrung.«

Er lenkte sein Pferd neben das Pony des Jungen, folgte Alchús Zeigefinger und murmelte: »Welcher Idiot würde ein Bündel Lumpen unter den Holzstapel schieben …?« Er verstummte, und Eadulf, der schon ein Stück vorausgeritten war, zog die Zügel an und drehte sich, verärgert über die Verzögerung, um, ohne den entsetzten Gesichtsausdruck des Kriegers zu bemerken.

»Freund Eadulf«, sagte Aidan ruhig, »würde es dir etwas ausmachen, den kleinen Alchú zu Rumann zu bringen, damit er kurz auf ihn aufpasst, während du wieder herkommst?«

Eadulf wunderte sich über diese Bitte, begriff jedoch rasch, dass etwas nicht stimmte, und wandte sich ohne weitere Einwände an seinen Sohn: »Los, kleiner Spürhund. Wir überreden Rumann, dir einen kalten Apfelsaft zu spendieren.«

Der schlagfertige Alchú spürte die Spannung, die in der Luft lag. »Warum kann ich nicht hierbleiben und sehen, was wir gefunden haben?«, fragte er.

»Ich bin nicht sicher, ob wir überhaupt etwas gefunden haben«, antwortete Eadulf streng. »Wir wollen nur einen Blick auf das Bündel Lumpen werfen, die das Feuer ruinieren würden. Jetzt komm schon. Wir sind gleich wieder bei dir.«

Widerwillig folgte der Junge seinem Vater hinüber zum Wirt, der ihnen entgegenlief, um sie zu begrüßen.

»Einen guten Tag für dich, Bruder Eadulf. Ich sehe, dass ihr euch bester Gesundheit erfreut, du und dein Sohn. Geht es Lady Fidelma ebenfalls gut?«

»Ja, Rumann, sehr gut«, versicherte ihm Eadulf. »Uns fiel auf, dass jemand alte Lumpen unter den Holzstapel für das Samhain-Feuer geschoben hat. So wird es nicht gut brennen. Aidan und ich kümmern uns darum, bevor wir weiterreiten, und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du Klein-Alchú unterdessen etwas zu trinken geben und ihn im Auge behalten würdest.«

»Selbstverständlich«, antwortete der Mann und fügte hinzu: »Lumpen? Das ist doch lächerlich! Vielleicht spielende Kinder? Selbst ein Schwachsinniger würde nicht versuchen, die heiligen Samhain-Feuer eine Nacht vor dem Entzünden zu ruinieren. Curnan wird das gar nicht gefallen.«

»Curnan?« Eadulf runzelte die Stirn.

»Er ist Waldarbeiter in dem Gebiet westlich der Stadt. Dieses Jahr ist er zuständig für das Feuer und wird sich ganz schön aufregen, wenn er erfährt, dass jemand daran herumgepfuscht hat. Wie auch immer, ich behalte deinen Sohn hier, während du Aidan hilfst. Ich werde Curnan davon berichten, wenn er kommt, um das restliche Holz aufzuschichten.«

Nachdem Eadulf Alchú ein paar Anweisungen gegeben hatte, kehrte er zu Aidan zurück, der inzwischen abgestiegen war und aufgeregt in dem Stapel aus Holzscheiten und Baumstämmen herumstocherte. Eadulf ließ sein Pferd neben Aidans stehen und gesellte sich zu ihm.

»Warum machst du so viel Aufhebens darum?«, fragte er. »Gewiss können wir ein Bündel Lumpen auch ohne das entsorgen.«

Aidan zog eine Grimasse. »Es wird noch mehr Aufhebens geben, Freund Eadulf. In diesen Lumpen steckt der Körper eines Mannes.«

»Was?« Eadulf starrte seinen Begleiter an, bevor er den Blick langsam zu der Stelle wandte, wo Aidan die ersten Zweige beiseitegeräumt hatte.

Ein bleicher Arm ragte steif aus dem Holzhaufen.

Ohne ein weiteres Wort machten sich die beiden Männer daran, möglichst viel Holz von dem Bündel, bei dem es sich offensichtlich um einen Leichnam handelte, zu entfernen. Dabei mussten sie behutsam vorgehen und darauf achten, den riesigen Holzstapel nicht ins Wanken zu bringen. Schon bald konnten sie den Körper an den Schultern aus seinem kurzzeitigen Grab heraus- und vom Holzhaufen wegziehen, ohne dass dieser zusammenbrach. Dann standen sie, keuchend vor Anstrengung, vor der Leiche und starrten sie an.

Der Tote trug ein schlichtes braunes Mönchsgewand. Seine ausgezehrten Gesichtszüge wurden von einer grob geschnittenen Tonsur gekrönt … der Tonsur des heiligen Johannes anstelle der leicht erkennbaren Tonsur des heiligen Petrus von Rom, was ihn als Anhänger der Kirche der Fünf Königreiche kennzeichnete. Er hatte die erste Lebenshälfte längst hinter sich; sein Gesicht war vom Wetter gegerbt und abgemagert. In Eadulfs Augen entsprach seine Erscheinung ganz und gar nicht der eines Mönchs – doch das war eine persönliche Meinung. Plötzlich nahm er einen Duft wahr und schnüffelte. Es roch intensiv nach … nach was? Er kannte die Pflanze von seiner Erforschung der Heilkräuter. Die Griechen nannten sie nardus, die Römer dagegen lavandurius, denn sie verwendeten sie zum Baden. Der Leichnam verströmte unverkennbar diesen Duft.

Er wollte gerade den Blick abwenden, als ihm auffiel, dass der Mann ihm merkwürdig bekannt vorkam. Er hatte ihn schon irgendwo gesehen … Doch obwohl er sein Gedächtnis durchforstete, konnte er nicht sagen, wann oder wo.

»Erkennst du ihn wieder?«, fragte er schließlich Aidan.

»Das Gleiche wollte ich dich gerade fragen«, antwortete der Krieger. »Ich glaube, ich bin ihm schon mal irgendwo begegnet – ganz sicher weiß ich es nicht.«

Eadulf kniete sich neben die Leiche und begann, die Wunden des Mannes zu untersuchen.

»Er kann noch nicht lange tot sein«, murmelte er, als er die Steifheit der Arme kontrollierte. »Er hat viel Blut verloren, das stellenweise noch nicht ganz getrocknet ist.«

»Hat er sich umgebracht?«, fragte Aidan. »Sogar ich erkenne, dass seine Kehle durchgeschnitten ist.«

Angesichts der Frage des jungen Kriegers konnte sich Eadulf trotz der grauenvollen Umstände ein Lächeln nicht verkneifen. »Ein Mann bringt sich nicht um und kommt anschließend auf die Idee, seinen Körper unter einem Holzstapel zu verstecken, damit er verbrannt wird.«

»Also wurde er ermordet?«

Eadulf schürzte nachdenklich die Lippen. »Richtig. Die Kehle wurde durchschnitten … und zwar äußerst brutal. Du wirst wohl auch die Risse in seinem Gewand bemerkt haben.« Er schob den Stoff zurück, sodass die zerfetzte, blutige Haut sichtbar wurde. »Da – ein Messerstich mitten ins Herz.«

Aidan atmete leise aus. »Ein Mönch, der hier ermordet wurde? Das kann doch nicht wahr sein. Wer würde so etwas tun – und warum?«

»Du stellst Fragen, auf die ich keine Antwort weiß, mein Freund.« Eadulf zog die Kapuze der Kutte vom Hals des Toten und drehte behutsam den Kopf zur Seite. »Er hat auch einen heftigen Schlag auf den Kopf erhalten; der Verletzung nach zu urteilen hätte der allein schon ausgereicht, um ihn zu töten.«

Plötzlich wurde Aidan leichenblass. Er bewegte eine Zeitlang stumm die Lippen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Sein starrer Blick wanderte von dem Toten zu Eadulfs Gesicht und wieder zurück. Schließlich gelang es ihm, langsam zu sprechen: »Du hast lange genug bei uns gelebt, um zu wissen, was das bedeutet.«

Eadulf war jedoch nicht ganz sicher, was Aidan meinte, und fragte deshalb: »Was bedeutet es denn?«

»Mensch … Das ist der dreifache Tod!«, stieß Aidan hervor. Sein Tonfall verriet Angst. »Gott schütze uns! Wir haben es mit einer Ritualtötung zu tun.«

Eadulf presste die Lippen aufeinander. »Eine Ritualtötung? Aber wieso? Wozu?«

Aidan deutete auf den Holzstapel. »Morgen Abend feiern wir Samhain. Dieses Fest wird von den Christen toleriert, aber sein Ursprung geht weit zurück, bis in die Zeit vor den Druiden. Was könnte das bedeuten, wenn nicht die Erfüllung irgendeines althergebrachten Ritus?«

Eadulf erhob sich langsam und klopfte den Staub aus seinen Kleidern. »Eines weiß ich, mein Freund: Ziehe niemals Schlüsse, ohne die Fakten zu kennen.« Er schaute zu Rumanns Gasthaus hinüber. »Ich möchte, dass du die Leiche bewachst. Die Nachricht von ihrer Entdeckung wird sich schnell verbreiten, doch zunächst musst du dafür sorgen, dass niemand diesen Bereich betritt oder den Toten berührt.«

»Und was hast du vor?«

»Ich bringe Alchú zurück in die Festung und melde den Vorfall. Man wird Fíthel, den Obersten Brehon, informieren müssen. Ich werde ihn holen, damit die Untersuchung unverzüglich beginnen kann.«

»Ich langweile mich!«

Colgú, der König von Cashel, blickte von seinem Amtssessel auf und betrachtete seine rothaarige Schwester mit einem müden Lächeln.

»Das hast du erwähnt …, und zwar schon mehrmals heute Vormittag«, erwiderte er mit theatralischem Seufzen.

Fidelma von Cashel reagierte ungehalten. »Ich erwarte kein Mitgefühl. Ich möchte lediglich etwas zu tun haben«, blaffte sie ihn an. »Eine Beschäftigung für meinen Geist.«

»Ich hatte nicht vor, dir Mitgefühl anzubieten«, erwiderte ihr Bruder trocken.

»Na ja, zumindest hättest du anstelle von Fíthel mich mit der Aufgabe betrauen können, zu den Arada Cliach zu reisen und herauszufinden, was für ein Problem sie dort haben. Man sagte mir, gestern Abend sei eine Botschaft eingetroffen, und Fíthel sei heute in aller Frühe aufgebrochen. Es muss sich um etwas Wichtiges handeln.«

»Fíthel ist der Oberste Brehon dieses Königreichs, Fidelma«, erinnerte sie ihr Bruder. »Deshalb erscheint es mir angemessen, dass er dem Anliegen unseres Cousins, Prinz Gilcach, nachgeht.«

Gilcach regierte einen wohlhabenden Teil des Königreichs; wohlhabend durch die zahlreichen Silberminen auf seinem Gebiet. In einem der Berge hatte man so viel Silbererz gefunden, dass man ihn Sliabh an Airgid nannte, den Silbernen Berg.

»Was ist Gilcachs Problem?«, fragte Fidelma.

»Offenbar hat er während der Sommermonate mehrere Schiffsladungen von geschmolzenem Silber verloren.«

»Verloren?«

»Das geschmolzene Erz wird auf Fuhrwerken zu den Booten auf dem großen Fluss Suir transportiert. Von da aus bringt man es bis hinunter zum Seehafen Port Lairge, um es ins Ausland zu verkaufen. In letzter Zeit sind einige dieser Schiffsladungen verschwunden.«

»Was – ganze Boote? Schickt er keine Krieger zur Bewachung mit?«

»Nicht ganze Boote«, korrigierte sie ihr Bruder. »Es sind die Säcke voll Silbererz, die entwendet werden. Die Boote wurden von einem halben Dutzend Dieben angegriffen und geentert: Sie waren mit Armbrüsten bewaffnet.«

»Diese Art Waffe würden unsere Leute niemals wählen«, erklärte Fidelma.

»Obwohl sie äußerst wirkungsvoll ist. Wer Widerstand leistet, wird getötet oder schwer verletzt.«

»Gewiss ist Prinz Gilcach in der Lage, so eine kleine Räuberbande aufzuspüren. Wo finden die Überfälle statt?«

»Gleich nördlich von Gabhailín, an der Flussgabelung.«

»Das ist nicht sehr weit von hier.«

»Nach den ersten zwei Angriffen schickte Gilcach Krieger als Begleitschutz mit – doch die Gauner tauchten nicht mehr auf. Sobald man annahm, sie hätten aufgegeben, und die Krieger zurückzog, wurden die Boote erneut überfallen. Als ob die Diebe einen guten Riecher für günstige Gelegenheiten hätten – oder aber interne Informationen erhielten.«

»Also warum ist Fíthel nach Norden zu Gilcachs Festung in Béal Ata Gabhann gereist? Die Antwort wird er dort nicht finden. Wenn die Boote gleich nördlich der Flussgabelung überfallen werden, muss er sich doch gewiss dort umsehen.«

»Er muss schließlich irgendwo mit seinen Ermittlungen beginnen«, entgegnete ihr Bruder. »Er wollte zunächst versuchen herauszufinden, wer der Diebesbande verrät, welche Schiffe Silber geladen haben und wo sie am leichtesten zu überfallen und auszurauben sind. Vermutlich steht der Schuldige in direktem Kontakt zu den Bergwerken.«

Mit einer ungeduldigen Kopfbewegung warf Fidelma ihr rotes Haar nach hinten.

»Ich hätte mich darum kümmern können«, erklärte sie Colgú. »Ich habe schon einmal ein Problem für Gilcach gelöst und kenne die Silberminen. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, die Gegend erneut zu besuchen.«

»Es wird mir doch wohl erlaubt sein, die Angelegenheiten des Königreichs so zu regeln, wie ich es für angemessen halte?« Die Antwort kam leise, allerdings mit einer gewissen Schärfe, die darauf hinwies, dass ihr Bruder ihrem hitzigen Wesen in nichts nachstand.

»Nun ja, aber es muss dennoch etwas geben, was ich tun kann. Ich mag es nicht, wenn mein Geist untätig bleibt, obwohl er eine Herausforderung sucht oder ein Rätsel lösen möchte. Dabei fällt mir ein«, sagte sie und überlegte mit gerunzelter Stirn, »dass gestern drei merkwürdige Mönche zu unterschiedlichen Zeiten hier eintrafen. Offensichtlich wurden sie erwartet. Was hat es mit ihnen auf sich?«

Ihr Bruder seufzte. »Eine Bitte des neuen Abtes von Imleach, Abt Cuán, in seiner Rolle als Oberster Bischof. Es handelt sich um ein religiöses Konzil über die Disziplin kleinerer Gemeinschaften. Die Geistlichen sind Gelehrte und repräsentieren einige der Lehrabteien des Königreichs. Ard Mór, Ros Ailithir und Corcach Mór.«

»Warum sind Imleach oder Mungairit nicht vertreten, wenn Abt Cuán sie zusammengerufen hat, um solche Themen zu diskutieren? Es ist doch merkwürdig, zwei der führenden Lehrabteien im Lande auszuschließen«, bemerkte Fidelma.

»Abt Cuán schickt seinen Verwalter, der ihn vertritt und bald hier eintreffen wird.«

»Und warum wählt er ausgerechnet Cashel, um über theologische Fragen zu diskutieren?«, fragte Fidelma verwundert. »Gewiss wäre es doch angemessener, eine solche Diskussion in Imleach selbst zu führen.«

»Abt Cuán schien sich über die Loyalität einiger Mitglieder seiner Abtei nicht im Klaren zu sein«, erklärte Colgú. »Deshalb sollten sich die Gelehrten woanders treffen, fernab jeglichen unzulässigen Einflusses.«