Tödliche Provence

Die Autorin

Sandra Åslund – Foto © Sascha Nau

Sandra Åslund, geboren 1976, ist am Niederrhein nahe der holländischen Grenze aufgewachsen. Sie studierte zunächst Lehramt, bevor sie sich zur Maskenbildnerin an der Oper Köln ausbilden ließ. Aus Liebe zum Schreiben absolvierte sie zusätzlich ein Fernstudium in Kreativem Schreiben an der Textmanufaktur. Die Autorin veröffentlichte unter ihrem Mädchennamen Sandra Maus bereits diverse Kurzgeschichten und Erzählungen in Anthologien sowie den Erzählband »Vielleicht war es nur der Wind«. Sie ist Mitglied im Autorenkreis Würzburg und bei den Mörderischen Schwestern. Von 2007 bis 2011 moderierte und gestaltete sie das Kleinkunstformat LiteraturLounge. Mit ihrem Roman »Mord in der Provence« startete die Autorin ihre Krimireihe um die Kölner Kommissarin Hannah Richter. Sandra Åslund lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Berlin.

Das Buch

Ein neuer Fall für Kommissarin Hannah Richter

Endlich Urlaub! Kommissarin Hannah Richter reist in die Provence, um ihre Freundin Penelope zu besuchen. Doch die Idylle trügt. Als Penelopes Nachbar tot in seinem Haus gefunden wird, übernimmt Hannahs ehemalige Kollegin die Ermittlungen. Sie bittet Hannah, Augen und Ohren in der Nachbarschaft offen zu halten. Penelope erinnert sich indes, dass der Tote vor seinem Ableben Andeutungen über ein düsteres Geheimnis in seiner Vergangenheit gemacht hatte. Hannahs Neugier ist geweckt und sie verfolgt die Spur ihrer Freundin. Dabei ahnt die junge Kommissarin nicht, dass der Täter ihr bereits auf den Fersen ist … 

Von Sandra Åslund sind bei Midnight by Ullstein erschienen:
Mord in der Provence (Hannah Richter 1)
Tödliche Provence (Hannah Richter 2)

Sandra Åslund

Tödliche Provence

Kriminalroman

Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Mai 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © Sascha Nau

ISBN 978-3-95819-126-6

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Jeder Mensch ist ein Abgrund;
es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.
Georg Büchner, Woyzeck

Prolog

Freitag, 05. Januar 1962

»Du bist raus.« Die Kunstdrucke an der Wand gegenüber verschwammen vor seinen Augen zu einem grellen Farbenbrei. Wie sollte es weitergehen? »Du bist raus und hast ab sofort nichts mehr mit uns zu tun. Die Papiere erhältst du mit der Post.«

Er fühlte einen Kloß im Hals und schluckte. Seit Jahren hatte er nicht geweint. Wann hatte er das letzte Mal seine Tränen auf den Wangen gespürt? Jetzt war er kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Reiß dich zusammen, reiß dich zusammen! Es half nichts. Die Worte, die er eben vernommen hatte, hallten in seinen Ohren wider, füllten seinen Kopf aus, wanderten in seinen Körper und schwollen dort an, bis für nichts anderes Platz war. »Du bist raus und allein für diese Dinge verantwortlich. Falls du dir überlegen solltest, etwas zu unternehmen, irgendwelche Maßnahmen einzuleiten – denk daran, du hast nichts gegen uns in der Hand.«

Er wusste, dass es stimmte. Auch wenn er sich anfänglich gesträubt hatte, stand nun überall seine Unterschrift. Nur seine Unterschrift. Er war gefangen in einem Netz, das er nie hatte spinnen wollen. Die Warnzeichen hatte er gesehen, hatte noch versucht, einen Ausweg zu finden, erst vor wenigen Tagen. Zu spät. Die Katastrophe war eingetreten. Sie hatten einen Judas Iskariot aus ihm gemacht.

Langsam stieg er die Treppe zum Dachboden hinauf. Bleischwere Gewichte an seinen Beinen zogen ihn bei jeder Stufe wieder hinunter. Je näher er dem Ende der Treppe kam, desto stockender wurden seine Schritte. Aus dem Abgrund, in den er geblickt hatte, gab es kein Entkommen. Dennoch weigerte sich sein Verstand, diese Tatsache zu akzeptieren. Welch ein Segen, dass er gerade allein war. Oder vielleicht nicht? Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn jemand bei ihm gewesen wäre, in dieser nachtschwarzen Stunde? Wie hätte er dann reagiert?

Er war oben angelangt und sperrte die Tür auf, sie quietschte in den Angeln. Bis zu dem alten, massiven Schrank war es nicht weit. Und doch kam es ihm vor, als würde es eine Ewigkeit dauern, diese letzten Meter hinter sich zu bringen. Bei jedem Schritt dieselben Fragen: Gab es noch einen Ausweg? Hatte er etwas übersehen? Etwas, das eine andere Lösung offenbarte?

Dann geschah das Wunderliche: Als er den Schrank erreichte und die Schubladen mit den rostigen Griffen vor sich sah, verschwanden mit einem Mal alle Fragen und Zweifel. Lösten sich vor seinem inneren Auge auf wie die Rauchschwaden der Pfeife, die er vorhin genossen hatte. In einem anderen Leben. Ehe der Anruf kam.

Zurück blieb nichts als eine mechanische Klarheit. Er zog die unterste Schublade heraus. Räumte die Schachteln, die obenauf gestapelt waren, beiseite. Bis das schwarze Etui im schwachen Licht glänzte. Er nahm es an sich wie einen Schatz. Kostbar und bedrohlich zugleich. Hielt es für einen Moment in den Händen, ehe er es öffnete. Da lag sie, in roten Samt eingeschlagen. Hatte auf ihn gewartet. All die Jahre. Auf diesen Tag.

Kapitel 1

Donnerstag, 18. September 2014

»Matthieu ist verschwunden!« Der Ruf von Alice Joselet riss Hannah aus dem Rhythmus ihres Laufs.

Auch im Urlaub versuchte die Kommissarin ihr morgendliches Training zu absolvieren. Vor fünf Tagen war sie in der Provence angekommen, und bisher hatte sie eisern durchgehalten.

Im vergangenen Sommer hatte Hannah im Rahmen eines EU-Austauschprogramms drei Monate bei der provenzalischen Polizei verbracht. Ihre erste Station hatte sie nach Vaison-la-Romaine geführt, jene kleine Touristenstadt im Vaucluse, die sich rühmte, Frankreichs größtes galloromanisches Ausgrabungsgelände zu beherbergen. Da Hannahs Leidenschaft die römische Geschichte war, hatte es neben der Arbeit viel für sie zu entdecken gegeben. Einige der Menschen, die sie während ihres Aufenthalts getroffen hatte, waren inzwischen enge Freunde geworden, und so hatte sie beschlossen, in diesem Jahr ihren Urlaub hier zu verbringen.

»Mademoiselle Hannah!« Die alte Frau winkte sie zu sich heran. Wie üblich trug sie ihre weißen Haare in der Mitte gescheitelt und zu einem ordentlichen Nackenknoten gebunden. »Haben Sie einen Moment Zeit für mich?«

Ihrem Gesichtsausdruck nach war etwas Ernstes geschehen, und so joggte Hannah näher und öffnete die niedrige Gartenpforte. »Bonjour, Madame Joselet, was ist passiert?«

»Ach, kommen Sie doch auf einen Tee herein.«

Hannah folgte der schmalen Frau, die trotz ihrer mehr als siebzig Jahre kein bisschen gebrechlich wirkte, ins Innere des kleinen, hell verputzten Hauses.

Bald darauf saß sie auf einer Holzbank auf der Terrasse, einen Becher schwarzen Tee vor sich, und sah Alice Joselet erwartungsvoll an. »Was haben Sie denn auf dem Herzen?«

»Matthieu ist vorgestern Abend nicht nach Hause gekommen.« Bekümmert umklammerte die betagte Frau mit den Händen ihre Tasse. »Das ist an sich keine große Geschichte, er bleibt öfter über Nacht weg – alt genug ist er ja.« Sie lächelte matt. »Aber er hat sich gestern den ganzen Tag nicht blicken lassen, und das ist ziemlich ungewöhnlich. Er weiß genau, dass er mein Ein und Alles ist, und …« Sie zögerte kurz, dann schaute sie Hannah direkt an. »Ich bin sicher, dass ihm etwas passiert ist! Sie sind Polizistin, ich habe gedacht …«

»Nun ja, Madame Joselet, ich bin im Urlaub. Sie wissen ja, dass ich in Köln, also in Deutschland, lebe. Haben Sie schon die örtliche Polizei alarmiert?«

Alice Joselet stöhnte auf. »Die von der police municipale sind doch allesamt unfähig! Und diesen Bernard konnte ich von Anfang an nicht leiden.«

Hannah verkniff sich ein Grinsen. Auch sie hatte während ihrer Zeit bei der Gendarmerie von Vaison ihre Schwierigkeiten mit Capitaine Claude-Jean Bernard gehabt. Zu guter Letzt hatten sie eine versöhnliche Ebene gefunden. Allerdings war der Weg dahin steinig und von einigen heftigen Auseinandersetzungen gezeichnet gewesen.

Hannah nippte an ihrem Tee und versuchte sich die wenigen, kurzen Gespräche ins Gedächtnis zu rufen, die sie mit Alice Joselet geführt hatte. War da schon einmal der Name Matthieu gefallen? Madame war seit einigen Jahren Witwe. Einen neuen Lebensgefährten hatte sie nicht erwähnt, ihr einziger Sohn lebte in Aix-en-Provence und besuchte sie nur gelegentlich.

»Wie … sieht er denn aus?«, begann Hannah vorsichtig.

»Na, recht groß ist er, ein bisschen übergewichtig … er ist halt faul geworden in der letzten Zeit. Früher, da war er so agil.«

»Haarfarbe?«

»Rot … aber …«

»Und die Augen?«

»Grün.«

»Und der Name war … Matthieu?«

»Genau.«

»Und wie weiter?«

»Weiter?« Die alte Frau sah Hannah verständnislos an.

»Na, der Nachname.«

»Ach so. Hat er nicht. Nur Matthieu.«

»Hm. Wie lange kennen Sie diesen Matthieu schon?«

»Kennen? Na, quasi seit seiner Geburt.«

»Wie alt ist Matthieu?«

»Im Februar ist er sechzehn geworden.«

Ein Teenager also. Da würde sie wohl doch Bernard informieren müssen.

»Ein stolzes Alter für einen Stromer wie ihn«, fügte Alice Joselet hinzu.

Hannah versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie keine Ahnung hatte, wovon ihr Gegenüber sprach. »Also, ich fasse mal kurz zusammen: Der verschwundene Junge ist groß und ein bisschen übergewichtig, hat rote Haare und grüne Augen und ist sechzehn Jahre alt.«

»Was meinen Sie mit ›Junge‹?«

»Na, sprechen wir etwa nicht von einem Jungen?«

»Non.« Alice Joselet sah sie ernst, beinahe entrüstet an. »Matthieu ist doch kein Junge! Matthieu ist mein Kater!«

»Ach so!« Hannah unterdrückte ein Lachen.

»Werden Sie sich um die Angelegenheit kümmern?« Der flehentlich-bittende Gesichtsausdruck war auf das Gesicht der alten Frau zurückgekehrt.

»Madame Joselet, ich …« Hannah zögerte. Sie dachte an ihre Großmutter, die als junge Frau der Liebe wegen ihre Heimatstadt Dijon verlassen hatte und in die Pfalz gezogen war. Frankreich hatte sie ihr Leben lang vermisst. Als Hannahs Opa gestorben war, hatte sich grand-mère ihr Schoßhündchen Poupette zugelegt. Das kleine braune Wollknäuel war in den letzten Jahren ihres Lebens ihr einziger Lichtblick gewesen. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«

»Ich danke Ihnen!« Mit beiden Händen umklammerte Alice Joselet Hannahs Rechte. »Wissen Sie, als Marc-Henry damals verschwand …« Sie ließ Hannahs Hand wieder los. »Ich habe solche Angst, dass mein kleiner Liebling nicht zurückkommt.«

»War das auch eine Katze von Ihnen?«

»Marc-Henry? Oh nein! Er war ein Cousin von mir. Eine tragische Geschichte. Aber das ist schon so lange her. Ich weiß nicht, warum es mir ausgerechnet jetzt einfällt. Ich erzähle es Ihnen beim nächsten Mal.«

»Machen Sie das, Madame Joselet. Ich laufe mal weiter. Vielleicht begegne ich Ihrem Matthieu ja auf meiner Runde.«

»Dann müssen Sie ihn einfangen, s’il vous plaît! Er ist ganz brav und zutraulich, zeigt fast nie seine Krallen.«

Hannah hatte ihre Vorbehalte fremden Katzen gegenüber, doch das sagte sie Alice Joselet lieber nicht. Sie verabschiedete sich und setzte ihre Laufrunde fort.


Wenig später kehrte sie zu dem winzigen Natursteinhaus zurück, das ihre Freundin Penelope ihr für die Dauer des Urlaubs überlassen hatte. Es lag abseits der Stadt mitten im Grünen, umgeben von einem herrlichen Garten. Penelope, die im Biosupermarkt von Vaison arbeitete, hatte das Häuschen in erster Linie wegen des Gartens gemietet. Sie hatte ihn mit viel Liebe gestaltet und baute ihr eigenes Gemüse an. Die nächsten Nachbarn waren ein ganzes Stück entfernt, und Hannah hatte gewusst, hier würde sie sich so richtig entspannen können.

Im Briefkasten am Zaun steckte eine bunt bedruckte Zeitschrift. Kurzerhand zog Hannah sie heraus. Es handelte sich um eines dieser Gratisexemplare, die Penelope hasste. Bei Gelegenheit würde sie der Freundin einen Aufkleber pas de circulaires besorgen. Hannah spähte in den Briefkasten. Der Postbote war schon da gewesen. Sie angelte nach den beiden Umschlägen im Kasten. Der eine war von Crédit Agricole, der andere jedoch sah besonders aus. Eingehend betrachtete sie den cremefarbenen Briefumschlag. Jemand hatte ihn in altmodisch verschnörkelter Schrift an »Mademoiselle Penelope« adressiert. Auf dem edlen Papier war kein Absender vermerkt.

Hannah durchquerte den Vorgarten und schloss die dunkelrot gestrichene Haustür auf. Der enge Flur führte in eine geräumige Wohnküche, deren hinteren Teil Penelope mit einem transparenten Vorhang als Lesezimmer abgetrennt hatte. Überhaupt bestand das Haus nur aus zwei großen Räumen. Neben dem Wohnbereich im Erdgeschoss gab es ein Schlafzimmer im ersten Stock, zu dem man über eine Holzstiege gelangte. Dicke, dunkelbraune Holzbalken durchzogen die Dachschrägen, unter denen ein breites, niedriges Bett stand. Hannah, die einen schlichten Stil bevorzugte, fühlte sich inmitten der zahllosen samtenen Kissen, Seidendecken und Kerzen in ornamentverzierten Leuchtern in einen Film aus Tausendundeiner Nacht versetzt. Sie verstand gut, warum Penelope und ihr Freund Anatole sich fürs Erste darauf geeinigt hatten, nicht zusammenzuziehen.

Dass die beiden ein Paar geworden waren, überraschte Hannah nach wie vor. Niemand hätte damit gerechnet, dass sich die quirlige Halbspanierin für den humorvollen, aber leicht verschrobenen Weinbauer entscheiden würde. Hannah konnte sich noch gut erinnern, dass sie am Anfang befürchtet hatte, Penelope und Serge würden ernsthaft zueinanderfinden.

Auch wenn sie es sich damals zunächst nicht hatte eingestehen wollen, so hatte Hannah sich doch vom ersten Moment an zu dem Pariser Musikwissenschaftler hingezogen gefühlt. Attraktiv und charmant, das war ihr erster Eindruck gewesen, nachdem er ihr hinterhergelaufen war, als sie in einem Straßencafé ihren Schal liegen gelassen hatte.

Mittlerweile bedeutete Serge ihr so viel mehr. Ihr Kontakt war immer intensiver geworden, und das auf allen Ebenen. Hannah spürte eine warme Zuneigung in sich aufwallen, wenn sie an Serge dachte. Sie sehnte sich nach ihm. Trotzdem scheute sie davor zurück, ihre Verbindung als Beziehung zu bezeichnen. Keiner von ihnen hatte bisher versucht, das, was zwischen ihnen war, zu definieren. Beide hatten sie ihre Vergangenheit, die bewältigt werden wollte. Hannahs Trennung von Justus, ihrem langjährigen Lebensgefährten, hatte noch nicht lang zurückgelegen. Und auch Serge hatte in einer schwierigen Lebensphase gesteckt. Sie hatten sich gegenseitig Zeit geben, nichts überstürzen wollen.

Inzwischen gehörte er so selbstverständlich zu Hannahs Alltag, dass es beinahe überflüssig wirkte, dem Kind einen Namen zu geben. Und doch blieb eine Art Unverbindlichkeit, die Hannah manchmal beunruhigte. Sie sollten endlich einmal über ihre Beziehung sprechen.

Hannah legte Penelopes Post auf den rustikalen Esstisch, stieg in das Obergeschoss und nahm eine Dusche in dem kleinen Bad unter der Dachschräge. Dann kehrte sie in die Wohnküche zurück. Es wurde Zeit für ihren Morgenkaffee. Sie füllte ihre Cafetiere mit Wasser und dachte an Serges Worte: »Diesmal wirst du wohl dein Kaffee-Survival-Kit direkt mitnehmen, n’est-ce pas? Nach all den grässlichen Koffeinerlebnissen letztes Jahr …«

Es stimmte leider. Vergeblich hatte sie damals in Vaison nach einem Café gesucht, das ihren Ansprüchen gerecht wurde. Letztlich hatte sie aufgegeben und sich von ihrer Kölner Nachbarin ihre Kaffeemühle, den Milchaufschäumer mit den zwei Geschwindigkeitsstufen und die Cafetiere aus Edelstahl sowie anständige Kaffeebohnen schicken lassen.

Während sich der Kaffeeduft allmählich in dem gemütlich eingerichteten Wohnraum ausbreitete, goss Hannah sich ein Glas Orangensaft ein und nahm einen Becher Joghurt aus dem Kühlschrank.

Sie hatte ihr Glück nicht fassen können, dass ihr Urlaubsantrag über vier Wochen bewilligt worden war. Als Kinderlose musste Hannah ihren Urlaub in die ferienfreie Zeit legen, was ihr im Grunde recht war. In diesem Jahr hatte sie eine Menge Überstunden nehmen können, die durch den Auslandsaufenthalt im vergangenen Sommer entstanden waren. So hatte sie im Frühling bereits eine Reise mit Serge nach Italien unternommen. Sie waren in Rom gestartet und hatten dort seinen sechsundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Danach hatten sie Neapel besucht, Pompeji natürlich nicht ausgelassen und zuletzt ein paar Tage auf Capri verbracht. Es war eine entspannte Zeit gewesen, in der sie sich noch besser kennengelernt hatten. Alles hatte sich ganz zwanglos ergeben. Kein einziges Mal hatten sie über die Tagesgestaltung diskutieren müssen. Nach zwei herrlichen Wochen war sie schweren Herzens in ihren Kölner Polizeialltag zurückgekehrt. Mit regelmäßigen Skypegesprächen und Wochenendbesuchen schafften sie es zwar, die räumliche Distanz zu überbrücken. Doch Hannah war froh, dass sie bald endlich wieder eine längere Zeit zusammen sein würden.

Sie wärmte die Milch auf und blieb dabei am Herd stehen. An die Geschwindigkeit von Penelopes altem Gasherd musste sie sich gewöhnen. Als der erste feine Dampf aus der Cafetiere strömte, schaltete sie die Herdplatte aus und griff nach dem Milchaufschäumer.

Mit dem Kaffeebecher ging sie zum Tisch hinüber. Ehe sie sich setzte, nahm sie den gediegenen Briefumschlag mit der verschnörkelten Schrift in die Hand. Kurz entschlossen rief sie Penelope an.

Die Freundin ließ sich Zeit, erst, als Hannah bereits auflegen wollte, hörte sie ein verschlafenes »Oui?«.

»Oh, pardon, habe ich dich geweckt?«

»Hannah?«

»Oui

»Pas de problème. Ich muss sowieso langsam mal aufstehen. Anatole und ich haben gestern bis spät in die Nacht über Plänen gesessen für … ach, das muss ich dir in Ruhe erzählen. Was gibt‘s denn?«

»Deine Post – du hast einen besonders aussehenden Brief bekommen, ohne Absender. Als Adresse steht lediglich ›Mademoiselle Penelope‹ darauf.«

»Ein cremefarbener Umschlag?«

»Genau. Teures Papier.«

»Ah, der ist von Louis Prinderre. Er wohnt in der Nähe. Ein feiner alter Mann. Im Frühling ist er achtzig geworden. Seit seine Frau vor einigen Jahren gestorben ist, besuche ich ihn ab und an. Das heißt, vielmehr lädt er mich formvollendet auf postalischem Wege ein.« Ihr perlendes Lachen schallte durch den Hörer. »Ein Kavalier der alten Schule, wie du ihn dir gelungener nicht vorstellen kannst. Meist schreibt er etwas wie: ›Werte Mademoiselle Penelope, hätten Sie die Güte, mich am Freitag, wenn der Tag sich verabschiedet, auf ein Glas Wein zu beehren? Hochachtungsvoll, Ihr Louis Prinderre.‹« Sie lachte erneut. »Und dann sitzen wir zwei, drei Stunden auf seiner Terrasse, trinken Rotwein, und er erzählt Episoden aus seinem langen Leben. Schwelgt in alten Erinnerungen. Er ist ein brillanter Geschichtenerzähler. Ich schätze ihn sehr. – Ach, weißt du was, lies mir doch den Brief vor, s‘il te plaît

Hannah holte ein Messer aus der Besteckschublade und schlitzte den Umschlag auf. Darin steckte ein zweimal gefalteter Bogen desselben Papiers. Auf dem Blatt stand in der altmodischen Schrift:

Verehrte Mademoiselle Penelope, ich würde mich sehr glücklich schätzen, falls Sie am morgigen Donnerstagnachmittag, wenn die Glocken fünfmal geschlagen haben, bei mir vorbeikommen könnten.

Très cordialement,

Ihr Louis Prinderre

Hannah las Penelope die kurze Mitteilung vor.

»Oh, heute schaff ich es beim besten Willen nicht. Ich hab Spätschicht, da komm ich vor zwanzig Uhr nicht aus dem Laden.« Die Freundin machte eine kurze Pause, als würde sie überlegen. »Magst du nicht für mich bei ihm vorbeigehen?«

»Ich? Nun ja …«

»Er würde sich bestimmt freuen, dich kennenzulernen. Und umgekehrt auch – ich bin mir sicher, dass ihr euch gut versteht!«

Das war Penelope, wie sie sie im letzten Jahr kennengelernt hatte – spontan und impulsiv. Aber was sprach eigentlich dagegen? Hannah hatte noch keine Pläne für den weiteren Tagesverlauf. Mit einem alteingesessenen Vaisoner Wein zu trinken und spannenden Geschichten zu lauschen, klang durchaus interessant. »D‘accord. Wo genau wohnt er denn?«

»Du bist ein Schatz! Ich bin sicher, du wirst es nicht bereuen. Es ist gar nicht weit. Wenn du aus dem Haus kommst und dich links hältst, musst du bis zum Ende der Straße gehen. Dort gibt‘s doch diesen Feldweg, das ist eine Abkürzung. An dessen Ende biegst du wieder links ab, und dann ist es das Haus auf der rechten Seite. Gleich vor dem kleinen Friedhof.«

»Alles klar.«

»Ach, und kannst du etwas für ihn mitnehmen? Ich wollte ihm einen Tee geben, eine Eigenkreation zum besseren Einschlafen. Steht bei den anderen Teesorten, ein braunes Glas, ich hab’s beschriftet. Lavendel, Melisse, Hopfen und Fenchel.«

»Warte mal«, Hannah lief zum Küchenschrank hinüber. »Hab’s gefunden. Sonst noch was?«

»Das war’s schon. Er ist immer bestens vorbereitet. Es macht ihm Freude, andere zu bewirten. Bestell ihm einen ganz lieben Gruß von mir, und sag ihm, dass ich heute leider keine Zeit habe und dich als meine Stellvertreterin schicke.«


Nach dem Frühstück verzog sich Hannah mit einem Buch über die Ausgrabungen in Pompeij, das Serge ihr am Ende ihrer Reise als Erinnerung geschenkt hatte, in Penelopes Garten. Die zahlreichen Blumen und Kräuter sowie die gepflegten Gemüsebeete hatte sie bereits am Morgen vor ihrer Joggingrunde gründlich gewässert.

Als Penelope ihr während eines Skypegesprächs vorgeschlagen hatte, den September in der Provence zu verbringen, hatte Hannah nicht lange gezögert.

»Du kannst mein Häuschen haben. Ich wohne in der Zeit bei Anatole. Ein guter Test, ob wir’s wirklich miteinander aushalten.« Penelope hatte gelacht.

Serge war noch in Paris beschäftigt, würde aber in anderthalb Wochen nachkommen. So hatte sie die erste Hälfte ihres Urlaubs für sich, konnte nach Herzenslust in den Tag hineinleben, sich mit Penelope treffen oder Emma in Nîmes besuchen. Den Kontakt zu der patenten und bodenständigen Kollegin bei der dort ansässigen Gendarmerie hatte sie von Köln aus weitergeführt. Sie freute sich schon, Emma bald wiederzusehen. Emmanuelle Moreau, so ihr voller Name, hatte Hannah im vergangenen Sommer bei den Recherchen enorm unterstützt, und Hannah war ihr noch den einen oder anderen Wein schuldig.

Bei Nicolas Furaille, dem ehemaligen Gendarmeriechef von Vaison, der seit seiner Pensionierung eine Crêperie betrieb und ihr damals ebenfalls viel geholfen hatte, war sie gleich nach ihrer Ankunft vorbeigegangen. Es war ein herzliches Wiedersehen gewesen.

»Quelle surprise – Hannah! Du bist wieder da?« Nicolas‘ Bass hatte das kleine Lokal erfüllt, als er sie zur Tür hatte hereinkommen sehen. Mit ausgebreiteten Armen hatte er sie empfangen und sie sogleich dazu verdonnert, erst einmal ordentlich zu essen und zu trinken. Als er gehört hatte, dass Serge in Kürze auch nach Vaison kommen würde, war das Lächeln auf seinem Gesicht noch breiter geworden. »Hab ich‘s doch gewusst!« Vergnügt hatte er an seinem Schnurrbart gezwirbelt, ehe er in die Küche geeilt war, um Hannah ein Drei-Gänge-Menü zu kredenzen.

Wenn sie an Nicolas‘ Reaktion zurückdachte, musste Hannah schmunzeln. Tatsächlich hatte er als einer der Ersten erkannt, dass es zwischen ihr und Serge gefunkt hatte. Erneut versenkte sie sich in ihr Buch und tauchte in die Zeit vor dem Untergang der antiken Stadt ab. Sie kehrte erst wieder in die Gegenwart zurück, als sich die Sonnenstrahlen unangenehm auf ihren Schultern bemerkbar machten.


Gegen Viertel vor fünf brach Hannah zum Haus von Louis Prinderre auf. Sie hatte eine ausgiebige Siesta im Schatten des Sonnenschirms genossen. Obwohl es kein Hochsommer mehr war, erreichten die Temperaturen tagsüber spielend die Dreißig-Grad-Marke.

Hannah band sich ihre Haare im Nacken zusammen, lieh sich einen von Penelopes Strohhüten und lief mit der Wegbeschreibung der Freundin im Kopf gut gelaunt los. Nach wenigen Minuten war sie an dem Feldweg angelangt, der sich zwischen Rebstöcken hindurchschlängelte.

Im September begann allmählich die Weinlese. Hannah betrachtete die purpur glänzenden Trauben. Bald würde es auch auf diesem Feld so weit sein. Sie sah sich um, dann pflückte sie mit einer raschen Bewegung eine Traube und steckte sie in den Mund. Die pralle Frucht platzte auf, und Hannah genoss den zuckersüßen Saft, in dem sich die Wärme und Kraft eines langen Sommers gesammelt hatten.

Am Ende des Weges stieß sie wie angekündigt auf eine Landstraße. Sie folgte ihr nach links, und schon nach kurzer Zeit sah sie rechter Hand das Haus, bei dem es sich um das von Louis Prinderre handeln musste. Die Größe des Anwesens überraschte Hannah. Sie hatte damit gerechnet, dass der alte Mann, ähnlich wie Alice Joselet, in einem bescheidenen Haus leben würde. Doch auf dem weitläufigen Grundstück mit sorgsam geschnittenen Hecken und Obstbäumen thronte ein imposantes, zweistöckiges Natursteinhaus, flankiert von zwei niedrigen Nebengebäuden. Die hellblauen Holzläden der Fenster waren geöffnet. Mittig über dem Eingang zierte ein breiter schmiedeeiserner Balkon die Fassade. Die Balkontür stand weit offen.

Hannah schob den Riegel des weißen Gartentors auf und lief über den schmalen Kiesweg zur Haustür. »Prinderre« las sie auf einem Holzschild oberhalb der Klingel. Ein melodischer Glockenklang ertönte, als sie auf den Knopf drückte. Niemand öffnete. Sie klingelte erneut. Drinnen regte sich nichts. Hannah sah auf ihre Armbanduhr. Es war fünf nach fünf.

Nach kurzem Warten wandte sie sich dem rechten Nebengebäude zu, offensichtlich eine Garage, und schaute durch das Sprossenfenster des doppelflügeligen Tores. Dort parkte ein rostroter Wagen älteren Baujahrs, der noch recht gut in Schuss war.

Sie drehte sich um und blickte zum gegenüberliegenden Grundstück. Ein lavendelfarben gestrichenes Häuschen inmitten eines ebenfalls gepflegten, wenngleich sichtbar kleineren Gartens. Die Fensterläden waren geschlossen. Vermutlich handelte es sich um eine Sommerresidenz. Also keine Chance, einen Nachbarn nach Louis Prinderre zu fragen.

Hannah lief um die Garage herum in den rückwärtigen Garten. Auf einer geräumigen Terrasse aus Terrakottafliesen standen ein runder Tisch und mehrere weiß lackierte Stühle. Ein hölzerner Sonnenstuhl mit dickem, rotweiß gestreiftem Polster lud zum Verweilen ein. Doch auch hier war der alte Mann nicht. Etwas in Hannah schlug leise Alarm. Ihr Bauchgefühl riet ihr, ins Haus zu gehen und nach dem Rentner zu sehen. Womöglich war er gestürzt und konnte sich nicht bemerkbar machen? Vielleicht sah sie aber auch Gespenster, und er war nur gerade im Bad.

Eine der beiden Terrassentüren stand einen Spalt offen. Hannah zögerte einen Moment, dann ging sie über die Terrasse zur Tür hinüber und spähte nach drinnen in ein aufgeräumtes Wohnzimmer. »Monsieur Prinderre?«, rief sie von der Türschwelle ins Haus hinein.

Alles blieb still. Kurz entschlossen trat sie ein. Mit flüchtigem Blick erfasste Hannah eine elegante, stilsichere Einrichtung in dem ordentlichen Zimmer. »Hallo?« Sie blieb stehen und lauschte. Kein Laut war zu hören.

Durch eine Verbindungstür gelangte Hannah in die angrenzende, geräumige Küche. Auch hier herrschte eine angenehme Grundordnung. Offenbar kam der alte Mann noch gut allein zurecht.

»Monsieur Prinderre?«, rief Hannah erneut. Doch wieder bekam sie keine Antwort. Bis auf ein – Hannah lauschte aufmerksam. Ein Winseln. Ein gedämpftes, hohes Stimmchen. Überrascht sah sie sich um. Links von ihr in der Ecke entdeckte sie eine kleine Tür, die lediglich angelehnt war, vermutlich führte sie zu einer Speisekammer. »Hallo?«

Das Winseln kam eindeutig von dort. Mit wenigen Schritten erreichte Hannah die Tür und öffnete sie. Zwischen Regalen voller Vorräte kauerte in einem leeren Fach auf Bodenhöhe ein schwarzes Fellbündel.

»He, wer bist du denn?« Hannah hockte sich hin und streckte die rechte Hand aus. Das Fellbündel rührte sich nicht, blickte sie nur aus großen dunklen Augen verängstigt an. Ein Labrador Collie. Angesichts der grauen Schnauze und den feinen weißen Haaren im schwarzen Fell schon ein älteres Semester.

»Na, wo steckt dein Herrchen?«

Der Hund winselte erneut, kroch aber zögernd aus dem Fach heraus. Hannah streckte noch einmal die Hand aus. Wie in Zeitlupe näherte sich das Tier und schnupperte vorsichtig an ihren Fingern. Auf einmal drehte es sich um und lief aus der Küche.

»Willst du mir etwas zeigen?« Hannah ging ihm nach und betrat einen T-förmigen Flur. Ein paar Meter weiter rechts befand sich eine Tür ins Wohnzimmer. Das lange Ende führte nach links in den vorderen Teil des Hauses. Der Labrador Collie war bereits in diese Richtung verschwunden, kehrte nun jedoch zurück und sah Hannah auffordernd an. Als sie ihm mit raschen Schritten folgte, lief er sogleich wieder los und begann herzerweichend zu jaulen. Mit schlimmsten Vorahnungen bog Hannah um die Ecke.

Der Flur endete an der Eingangstür, neben der eine Holztreppe in das obere Stockwerk führte. Am Fuß der Treppe saß der jaulende Hund. Dicht bei ihm lag bäuchlings, den Kopf von ihr weggedreht, ein Mann mit grauem Haar.