DIE VELOMINATI SIND EIN INTERNATIONALES KOLLEKTIV BEGEISTERTER RENNRADFAHRER UND RADSPORT-LIEBHABER. IHRE WEBSITE VELOMINATI.COM ZÄHLT ZU DEN POPULÄRSTEN UND AM SCHNELLSTEN WACHSENDEN RADSPORT-PORTALEN IM INTERNET. GEGRÜNDET IM JAHR 2009, UM DIE PASSION FÜRS RENNRADFAHREN ZU FÖRDERN, ERFREUEN SICH DIE VELOMINATI HEUTE EINER GROSSEN UND ÜBERAUS LOYALEN GEFOLG- UND LESERSCHAFT AUS ALLEN ECKEN DER ERDE.

DIE REGELN

Kodex für Radsportjünger

Inhalt

// Einleitung von William Fotheringham

// Prolog

TEIL I: Die Jünger

Regel #1 // Befolge die Regeln. Regel #2 // Geh mit gutem Beispiel voran. Regel #3 // Leite die Uneingeweihten an. Regel #4 // Alles dreht sich ums Rad. Regel #11 // Nicht die Familie kommt an erster Stelle. Es ist das Rad. Regel #12 // Die korrekte Anzahl Räder, die man besitzen sollte, lautet N+1, wobei N für die Zahl der derzeit im Besitz befindlichen Räder steht. Regel #13 // Wenn du die Startnummer 13 ziehst, dreh sie auf den Kopf. Regel #24 // Geschwindigkeiten und Entfernungen sind in Kilometern zu erfassen und anzugeben. Regel #25 // Die Räder auf dem Dach deines Autos sollten mehr wert sein als das Auto. Regel #43 // Führ dich nicht wie ein Idiot auf. Regel #47 // Trink Tripel, aber lass die Finger von Dreifach-Kurbeln. Regel #51 // Livestrong-Armbänder sind Cockringe fürs Handgelenk. Regel #58 // Unterstütze deinen Radladen vor Ort. Regel #77 // Respektiere die Umwelt: Schmeiß deinen Müll nicht einfach in die Gegend. Regel #81 // Halte den Ball flach. Regel #89 // Sprich die Dinge richtig aus. Regel #93 // Abfahrten dienen nicht der Erholung. Erholen kannst du dich beim Regenerationsbier. Regel #94 // Verwende stets das richtige Werkzeug und verwende dein Werkzeug stets richtig.

TEIL II: Die Ausfahrt

Regel #6 // Befreie deinen Geist und deine Beine werden folgen. Regel #20 // Bei Schmerz helfen nur drei Dinge. Regel #38 // Spiel nicht Bockspringen. Regel #39 // Fahr niemals ohne Brille. Regel #42 // Einem Radrennen sollte niemals ein Schwimmen vorausgehen und/oder ein Lauf folgen. Regel #49 // Die Gummiseite bleibt unten. Regel #55 // Verdien dir deine Kurven. Regel #59 // Halte deine Linie. Regel #63 // Zeige die Richtung an, in die du abbiegst. Regel #64 // Das Zutrauen beim Kurvenfahren wächst mit den Jahren und der Erfahrung. Regel #67 // Erledige deinen Teil der Arbeit im Wind. Regel #68 // Ausfahrten bemisst man nach ihrer Qualität. Regel #79 // Sprinte ernsthaft mit. Regel #83 // Du musst dir selbst zu helfen wissen. Regel #84 // Bewahre Anstand. Regel #85 // Fahr ab wie ein Profi. Regel #86 // Halfwheeling nervt. Regel #87 // Die Ausfahrt startet pünktlich. Ohne Ausnahme. Regel #88 // Keine ruckartigen Tempoverschärfungen. Regel #92 // Gesprintet wird im Unterlenkergriff.

TEIL III: Das Rad

Regel #8 // Sattel, Lenker und Reifen sind sorgfältig aufeinander abzustimmen. Regel #26 // Mach dein Rad fotogen. Regel #29 // Keine rückwärtig baumelnden Gepäckfächer unterm Hintern. Regel #30 // Keine rahmenmontierten Pumpen. Regel #34 // MTB-Schuhe und -Pedale haben ihren Platz. Regel #40 // Reifen sind so aufzuziehen, dass sich das Herstellerlogo mittig über dem Ventil befindet. Regel #41 // Die Schnellspannhebel sind sorgfältig auszurichten. Regel #48 // Der Sattel sollte waagerecht und nach hinten versetzt sein. Regel #54 // Kein Aerolenker am Rennrad. Regel #57 // Aufkleber stinken. Regel #60 // Weg mit der Staubkappe und der Felgenmutter am Ventil. Regel #61 // Ein Sattel sollte sein wie deine beiden Geschütze: hart und geschmeidig. Regel #65 // Pflege und respektiere deine Maschine. Regel #66 // Keine Rückspiegel. Regel #69 // Radschuhe und Räder sind dafür da, um zu fahren. Regel #73 // Schalt- und Bremszüge sind auf die optimale Länge zu kürzen. Regel #74 // Verwende ausschließlich dein V-Meter oder einen kleinen Radcomputer. Regel #75 // Startnummern nur im Rennen.

TEIL IV: Der Ästhet

Regel #7 // Bräunungskanten sind zu kultivieren und messerscharf zu halten. Regel #14 // Radhosen sollten schwarz sein. Regel #15 // Auch zu Wertungstrikots sind schwarze Hosen zu tragen. Regel #16 // Respektiere das Trikot. Regel #17 // Teamkleidung ist für Mitglieder des Teams. Regel #18 // Wähle dem Anlass angemessene Kleidung. Regel #19 // Stell dich vor. Regel #21 // Schlechtwetterkleidung ist für schlechtes Wetter. Regel #22 // Radmützen sind fürs Radfahren. Regel #23 // Nase am Vorbau erst bei Fluchtgeschwindigkeit. Regel #27 // Hosen und Socken sollten die perfekte Länge haben. Regel #28 // Socken können jede verdammte Farbe haben, die dir gefällt. Regel #31 // Ersatzschlauch, Multi-Tool und Flickzeug gehören in die Trikottasche. Regel #32 // Höcker sind für Kamele: Keine Trinkrucksäcke. Regel #33 // Rasiere deine Geschütze. Regel #35 // Kein Helm mit Visier beim Rennradfahren. Regel #36 // Verwende nur richtige Radbrillen. Regel #37 // Die Bügel der Radbrille sollten stets über den Gurten des Helms sitzen. Regel #44 // Die Position ist wichtig. Regel #45 // Vorbau runter. Regel #46 // Lenker waagerecht. Regel #50 // Die Gesichtsbehaarung ist sorgsam im Zaum zu halten. Regel #53 // Halte deine Kleidung sauber und in Schuss. Regel #56 // Nur Espresso oder Macchiato. Regel #62 // Fahr nicht mit Kopfhörern. Regel #76 // Häng deinen Helm an den Vorbau. Regel #78 // Entferne alle unnötige Ausrüstung. Regel #80 // Sei immer und überall sorgsam nonchalant. Regel #82 // Schließe die Lücke. Regel #95 // Hebe nie dein Rad über den Kopf.

TEIL V: Die Kämpfernaturen

Regel #5 // Beiß verflucht noch mal auf die Zähne. Regel #9 // Wenn du bei schlechtem Wetter fährst, heißt das, dass du ein harter Hund bist. Basta. Regel #10 // Es wird niemals einfacher, du wirst nur schneller. Regel #52 // Mäßige dich beim Trinken. Regel #70 // Rennen fährt man, um zu gewinnen. Regel #71 // Trainier vernünftig. Regel #72 // Beine sagen mehr als tausend Worte. Regel #90 // Bleib auf dem großen Blatt. Regel #91 // Keine Verpflegung bei Trainingsfahrten unter vier Stunden.

// Finale

// Danksagung

// Bildnachweis

// Glossar

// Verzeichnis der Regeln

// The Keepers of the Cog

Einleitung

// von William Fotheringham

Vor ein paar Tagen schneite es bei uns in der Gegend und ich wollte meine Tochter vor die Tür bringen. Sie war nicht in der Stimmung dazu. Nun, sagte ich, du weißt doch, wie das bei uns läuft, wenn’s ums Radfahren geht. Regel #5, antwortete sie. Sie ist noch nie widerwillig aufs Rad gestiegen.

Man kann ein kulturelles Phänomen auf verschiedene Arten als solches erkennen, aber der entscheidende Punkt, an dem eine Sache zum Selbstläufer wird, ist, wenn sie keine Erklärung mehr benötigt. Sobald etwas wirklich Teil der Kultur geworden ist, muss man nicht mehr großartige Überlegungen anstellen, was es ist und warum es so ist. Genau das ist der Status, den die Regeln der Velominati bemerkenswerterweise inzwischen in vielen Radsport-Haushalten erreicht haben, wie die Episode mit meiner Tochter zeigte. Auch Sie haben bestimmt Ihre Regel #5-Momente. Auch Sie kennen Regel #5-Ausfahrten.

Wir alle haben unsere eigenen Regeln für das Rennradfahren, einen ungeschriebenen Verhaltenskodex, an dem wir uns orientieren. Ich habe einen langjährigen Freund, der mit dem Notizbuch arbeitet: Wenn du dich auf dem Rennrad wie ein Idiot benimmst, landet dein Name umgehend in seinem Notizbuch. Dieses Notizbuch existiert nicht im physischen Sinne, sondern nur in seinem Kopf. Wer aber definitiv im Notizbuch stand, das war der Typ, der uns schon seit Jahr und Tag bei jeder einzelnen Vereinsausfahrt attackiert hatte. Als er schließlich bei einer solchen Ausfahrt mal schutzlos auf der windzu-gewandten Seite ganz rechts am Rand der Straße fuhr, war der Tag der Abrechnung gekommen. Serge, wie ihn die Velominati nennen würden, wusste nicht einmal, dass er im Wind war, da erschien ihm auch schon der Mann mit dem Hammer, um ihn niederzustrecken.

An diesem Punkt sagte mein Freund weise: »Er stand im Notizbuch.« Das Notizbuch ist beinahe biblisch: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Früher oder später. Das Notizbuch ist aber nicht einfach eine Schwarze Liste von Leuten, denen man in Der Pate-Manier einen abgetrennten Pferdekopf ins Bett packt. Es ist viel subtiler. Eher so, dass die Leute, die auf die Konventionen scheißen, auch nicht mit Mitgefühl rechnen dürfen, wenn sie selbst in Schwierigkeiten kommen. Mit anderen Worten: Befolge die Regeln.

Mein alter Kumpel ist, fast unnötig zu erwähnen, ein erfolgreicher Absolvent der Eddy-und-Roger-Schule. Diese Schule zeichnet sich dadurch aus, dass alle Verhaltensfragen in Bezug aufs Rennradfahren nach demselben Maßstab bewertet werden: Was hätten Eddy und/oder Roger getan? Koteletten? Gut. Hände an den Bremshebeln, Rücken flach, Unterarme flach? Gut. Schlauchreifen erst 20 Jahre im Keller lagern, bevor man sie aufzieht? Gut. Rennen im Schneesturm? Obligatorisch. Kettenblätter ausbohren? Ja. (Sorry, das waren die 1970er.) Die Ehrenmitglieder der Eddy-und-Roger-Schule sind die Kämpfernaturen, die richtig harten Burschen des Radsports, und sie werden – selbstverständlich! – auch im weiteren Verlauf dieses Buches immer mal wieder auftauchen. Da wäre zum Beispiel Sean Kelly: ein Fahrer, den ich einmal gesehen habe, wie er bei Temperaturen um den Gefrierpunkt über einen schlammbedeckten, glitschigen Wirtschaftsweg irgendwo in Irland bretterte, als wäre es der Wald von Arenberg, nur um bei einem weihnachtlichen Spaß-Rennen einen Haufen Amateure zu besiegen, denn das besagte Rennen fand in seiner Heimatstadt statt und wurde von seinem Radsportverein ausgerichtet. Oder Laurent Fignon, dessen unnachahmliche Coolness bei der Tour 1984 bedeutet, dass er der Einzige war, der es je gewagt hat, Bernard Hinault in der Öffentlichkeit auszulachen, und die Sache überlebt hat. Und so weiter. Der Mitfavorit der Tour de France, der sich beschwerte, dass es bei der 2011er Ausgabe zu viele gefährliche Abfahrten gäbe, war hingegen eindeutig kein Schüler von Eddy und Roger. (Wir alle wissen, wer gemeint ist.)

Im Chez Fotheringham haben wir auch eine Regel #5a, die ich als geeignete Ergänzung für den Kodex erachten würde. Es sind nur fünf Wörter, die alles sagen: Eddy hat sich nie beschwert. Es gibt sicherlich Puristen, die argumentieren würden, dass sich Eddy sehr wohl beschwert hat, sogar recht häufig, und an diesem Einwand ist durchaus etwas dran. Eddy war dafür bekannt, seine Gegner beim Warten vor dem Start darauf hinzuweisen, dass er Kopfschmerzen/ein lädiertes Knie/ein Ziehen im Ellbogen/eine leichte Erkältung habe. Aber er ließ sich davon nicht aufhalten und gewann das besagte Rennen auch so. Und niemals hätte er das Zipperlein als Ausrede benutzt, um das Rennen sausen zu lassen.

Die Regeln überlappen sich teils mit einem eher obskuren Verhaltenskodex namens »Das Wissen«, das all denjenigen bekannt sein wird, die die Weisheiten von Robert Millar studiert haben. »Das Wissen« ist eine Sammlung von Konventionen des Radsports, die Millar in den 1980ern als einer der damals nur sehr wenigen englischsprachigen Profis im Peloton lernte zu befolgen. Mitte der 1990er Jahre verkündete er sie dann dem britischen Publikum in einigen Artikeln im Magazin Cycle Sport: Man isst nicht das weichere Innere des Baguettes. Hotelzimmer und Teamautos dürfen keine Klimaanlage haben. Wenn man nicht auf dem Rad sitzt, sollte man immer eine Wollmütze tragen, außer im Hochsommer. Man muss der Versuchung widerstehen, in kurzen Hose zu trainieren, vor allem wenn es 40 Grad im Schatten sind. Man stellt sich unter die Dusche und nimmt kein Bad in der Wanne, denn Baden zerstört den Muskeltonus. Die Velominati-Regel, dass man sich niemals am Tag vor einem Rennen rasieren darf, weil dies einen schwächt, ist direkt von Millar übernommen.

Worauf sich die Regeln, »Das Wissen« und die Eddy-und-Roger-Schule gleichermaßen stützen, das ist Passion. Vor langer Zeit fragte ich Eddy einmal, was ihn antrieb, so ziemlich jedes Radrennen zu gewinnen, das es wert war, sich eine Startnummer anzuheften (außer Paris–Tours, für die Pedanten unter Ihnen), und er hatte eine einfache Antwort: Leidenschaft, einfach nur Leidenschaft. »Sie war stärker als ich. Ich war ihr hörig.«

Das Wichtigste an Leidenschaft ist, dass stets die Robert-Millar-Regel gilt. Diese Regel besagt, dass begnadete Kletterer am Berg nicht etwa weniger leiden würden als wir anderen, sie leiden genauso, sie fahren nur schneller bergauf. Was ich damit sagen möchte, ist, dass Passion in vielen Erscheinungsformen und Intensitätsstufen daherkommt und dass sie uns an ganz verschiedene Orte führt.

Leidenschaft ist nicht auf Eddy und Roger beschränkt. Sie ist die Triebfeder allen Sports, und das gilt in besonderem Maße für unseren Sport, denn Rennradfahren ist nicht einfach etwas, was man am Wochenende gerne unternimmt. Für die meisten von uns ist der Radsport viel, viel mehr: Er ist ein Lebensstil. Und das, so glaube ich, offenbart sich immer wieder während der Lektüre dieses Buches.

Leidenschaft ist das schwer in Worte zu fassende Element, das uns als Radsportler verbindet. Leidenschaft ist es, was wir mit den Jungs gemeinsam haben, die gut genug sind, um mit Radfahren ihren Lebensunterhalt zu verdienen und die Rennen zu gewinnen, von denen wir nur träumen, sie eines Tages bestreiten zu dürfen. Auch sie haben einst geträumt; ob es Tom Simpson war mit den Postern von Fausto Coppi an der Wand seines Kinderzimmers oder der 16-jährige Eddy in seinem geschenkten Faema-Trikot, von dem er den aufgestickten Sponsorennamen abknibbelte, um an seinem ersten Rennen teilnehmen zu können. Passion für den Radsport ist es, was diese Heroen mit dem Kerl verbindet, der neulich bei der Winterbahn-Serie im Velodrom unvermittelt von der Überhöhung in die nicht vorhandene Lücke vor mir herabschoss. (Er steht selbstredend im Notizbuch.)

Ich denke nicht oft über den Stellenwert nach, den der Radsport in meinem Leben hat, aber ich wurde dazu gezwungen, als mir neulich jemand sagte: »Es muss schön sein, dass Sie Ihr Hobby zum Beruf machen konnten.« Hobby? Hobby? Ich war seltsam empört über den Ausdruck. Hobby, das hört sich in meinen Ohren nach etwas Zwanglosem an, nach etwas, was man einfach so anfangen und wieder drangeben kann, nach etwas, was man in seiner Freizeit tut, nur aus Lust und Laune und ohne jeden Ernst. Klar, Radsport macht Spaß und natürlich ist er im Vergleich zu den wirklich ernsten Dingen des Lebens eine entspannte Sache. Wenn es hart auf hart kommt, gehen andere Dinge vor, aber dennoch habe ich das Rennradfahren nie als lockeren Spaß empfunden. Vielmehr habe ich die Idee, mich auf dem Rad mit anderen zu messen, weitaus ernster genommen als die meisten anderen Dinge in meinem Leben und ich habe auf jeden Fall viel mehr Gedanken daran verschwendet. Ich hatte unglaubliches Glück, dieser Leidenschaft auf meine Weise folgen konnte: dass ich auf mäßigem Niveau selbst Rennen bestritten habe (und immer noch bestreite), dass ich die Chance hatte, wichtige Radrennen hautnah zu erleben, und dass ich einige der ganz Großen persönlich treffen durfte. Es war für mich nie einfach nur eine Möglichkeit, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, obschon ich das Glück hatte, dies zu tun.

Also, worum handelt es sich bei dieser Sache, die unsere Gedanken dermaßen bannt und die so viele unserer wachen Stunden für sich beansprucht. Um Sport? Viel mehr als das. Um einen Lebensstil? Viel zu klinisch. Vielleicht um das Leben selbst? Im Sinne von »Get a life«? Ach, ich bitte Sie. Es ist einfach eine Leidenschaft. Eine Passion. Das ist alles. Und dies könnte die wichtigste Regel von allen sein.

 

William Fotheringham begleitet den internationalen Profiradsport seit 1994 als Korrespondent für den Guardian, er war Gründungsmitglied der Radsportmagazine Cycle Sport und Procycling, und er nimmt selbst seit 1980 an Radrennen teil. Zu den zahlreichen Büchern, die er bereits zum Thema veröffentlicht hat, gehören viel beachtete Biografien von Eddy Merckx, Fausto Coppi und Tom Simpson. Letztere ist – unter dem Titel »Put me back on my bike« – auch in einer deutschsprachigen Ausgabe im Covadonga Verlag erschienen.

Prolog

Der Radsport ist ein mächtiger Sport mit einer reichen und überaus vielschichtigen Historie. Ob Rennfahrer, Unternehmen, Teil der Bekleidung oder Komponente: Praktisch alles und jedes in diesem Sport hat seine eigene Legende oder erzählt seine eigene Geschichte – ein wichtiger Grund, warum viele Menschen eine solche Passion für den Radsport aufbringen. In vielen Fällen besitzen diese Geschichten und Legenden sogar eine ganz persönliche und nostalgische Verbindung zu unserem eigenen Leben.

Obschon er so stark in Traditionen verwurzelt ist, ist der Radsport gleichzeitig auch unbändig modern und strebt stets nach Fortschritt mittels Technik und Wissenschaft. Eine Tatsache, die seine Komplexität nur noch mehrt.

Aus dieser fragilen Balance zwischen Tradition und Fortschrittswillen rührt seit jeher ein besonderer Sinn für Etikette. Die Vorgaben für akzeptables Verhalten unter Rennradfahrern haben sich im Laufe vieler Jahre entwickelt. Sie sind ebenso das Resultat der dem Radsport innewohnenden Gefahren wie auch der steten wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Fahrern, die für diesen Sport kennzeichnend sind. Entstanden ist daraus ein komplexes Geflecht von Übereinkünften, die regeln, was für einen Radsportler akzeptabel ist und was nicht. Die Bandbreite reicht von rein ästhetischen bis hin zu rein funktionalen Konventionen.

Wir sind die Velominati, der heilige Orden der Radsportjünger. Wir verbringen unsere Tage damit, über die Essenz des Radsports nachzudenken, zu seinem Kern vorzudringen, um zu verstehen, was ihn zu einem solch farbigen, schillernden Universum formt. Das ist der Raison d’Être der Velominati.

La Vie Velominatus ist ein Ausdruck, den die Velominati häufig verwenden, um die Lebensweise eines wahrhaften Radsportlers zu beschreiben: eines Rennradfahrers, der diesen Sport, seine Geschichte, seine Kultur, seine Etikette und seine Ausübung in einem beinahe religiösen Kontext betrachtet.

La Vie ist Französisch und bedeutet »das Leben«. Aber es würde viel zu kurz greifen, wenn man den Ausdruck nur in diesem Sinne verstünde, denn es hieße, sich nur auf eine Bedeutungsebene zu konzentrieren, auf nur eine Facette, und gleichzeitig etwas Wichtigeres außer Acht zu lassen: nämlich die Gemeinschaft der vielen anderen gleichgesinnten Seelen, mit denen wir diese schöne Erfahrung teilen.

Es geht nicht um das Individuum; es geht um das Kollektiv. Um eine Art zu leben und das Leben zu betrachten. Das ist der gemeinsame Weg der Radsportjünger.

La Vie Velominatus steht und fällt mit Passion, und diese Passion wird durch fünf entscheidende Aspekte befeuert.

Erstens: Wir glauben, dass die beste Herangehensweise, um ein besserer Radsportler zu werden, einfach darin besteht, so oft wie möglich Rad zu fahren, und zwar so ambitioniert wie möglich.

Zweitens: Wir halten die Historie des Radsports in Ehren. Wir bewundern jene, die vor uns da waren und für uns gelitten haben. Aber wir betrachten auch die heutige Radsportkultur mit derselben Demut wie die Radsportkultur jener Generationen, denen wir nachfolgen.

Drittens: Wir betreiben und betrachten unseren Sport in dem Wissen, dass stetige Weiterentwicklung der Schlüssel ist, um auf Dauer bestehen zu können. Die Art und Weise, wie man die Dinge früher gemacht hat, muss nicht unbedingt die Art und Weise sein, wie man sie heute machen sollte. Wir lieben die Tradition, aber wir begrüßen die Zukunft mit offenen Armen.

Viertens: Wir glauben, dass Ästhetik eine entscheidende Rolle spielt, damit ein Fahrer das erforderliche Maß an Motivation entwickeln kann, um den Radsport in einer Weise auszuüben, dass er tatsächlich das meiste aus seinen Möglichkeiten macht und Tag für Tag aufs Rad steigt, Saison für verregnete Saison, Jahr für Jahr. Wenn man gut aussieht, dann fühlt man sich gut. Oder wie der Schriftsteller Paul Fournel es ausdrückt: Schön zu sein, heißt auch, schnell zu sein.

Fünftens und vermutlich am wichtigsten: Wir glauben, dass man, um die ersten vier Aspekte bestmöglich umsetzen zu können, einen gesunden Sinn für Humor braucht und nach Möglichkeit auch einen gewissen schwarzen Humor.

Die Regeln bilden eine der Säulen von La Vie Velominatus. Unser Kodex ist dabei weit mehr als nur eine simple Auflistung von allerlei Gesetzen und Geboten, die für Außenstehende auf den ersten Blick mehr oder weniger willkürlich oder unsinnig erscheinen mögen. Vielmehr fassen die Regeln die grundlegenden Prinzipien zusammen, nach denen ein Jünger des Radsports sein Leben lebt. Auch wenn einige Punkte vielleicht seltsam erscheinen und andere so wirken, als wären sie rein ästhetisch motiviert, so haben doch alle ihren Ursprung in der Geschichte, Kultur und Etikette unseres Sports und dienen letztlich allesamt einem Zweck: die Leute zu motivieren, öfter aufs Rennrad zu steigen und den Radsport und das Radfahren noch inniger zu lieben als bisher.

Du wirst bei der Lektüre dieses Buches schnell merken, dass es eine oberste Regel gibt, und zwar ist dies die Regel #5: Beiß verflucht noch mal auf die Zähne! Das ist das zentrale Element des Kodex der Velominati. Wir sprechen auch gern einfach von der V (»Die Fünf«), wenn wir uns auf diesen Kerngedanken beziehen. Radsport ist nun mal ein harter Sport, und das erfordert von uns im Umkehrschluss, dass wir hart im Nehmen sein müssen. Die V steckt in jedem von uns, wie ein tiefer Brunnen, den wir anzapfen können, wenn wir ihn am meisten brauchen. Die V durchdringt uns, sie ist immer um uns, sie hält unseren Sport zusammen.

Unter den Velominati gibt es einige, die der Regel #5 dermaßen große Wertschätzung entgegenbringen, dass sie das Gefühl haben, alle anderen Regeln wären überflüssig. Diese Regel #5-Fundamentalisten haben vielleicht nicht gänzlich Unrecht, aber die Dinge auf ihren simplen Kern zu verkürzen, würde doch auch bedeuten, den größeren Gedanken zu negieren, dass aus Komplexität unermessliche Freude entspringen kann. Es mag ja sein, dass ein Glas Wasser genügt, um seinen Durst auf die denkbar erfrischendste Weise zu stillen, und doch kann man gleichzeitig auch einen guten Wein wertschätzen, der sich durch die Tiefe seines Geschmacks und seine Unverwechselbarkeit abhebt. Wir haben uns entschieden, mit offenen Armen der Vielfalt an Weisheiten zu begegnen, die durch die übrigen Regeln vermittelt wird – sei es, das Training in schlechtem Wetter zu genießen (siehe Regel #9), lieber das Radsport-Fachgeschäft vor Ort zu beehren, als im Online-Handel einzukaufen (siehe Regel #58), oder immer und überall zu versuchen, sorgsame Nonchalance zu verkörpern (siehe Regel #80). In der Tat versuchen die Velominati sich auszuzeichnen, indem sie die Subtilität dieses glorreichen Sports feiern.

Dieses Buch setzt nichts voraus außer Passion: Als Leser wirst du nichts benötigen als eine, wie auch immer geartete, Leidenschaft für den Radsport. Wir werden dir keine Lektionen in Radsportgeschichte erteilen, und wir werden dir nicht erklären, was ein Schnellspanner ist. Es gibt andere Bücher und sonstige Medien, die viel besser geeignet sind, um etwa die Geheimnisse des Trainings oder der richtigen Tritttechnik zu erläutern.

Vielmehr möchte dieses Buch dich inspirieren, selbst aufs Rennrad zu steigen – ganz gleich, ob du das erst gestern noch gemacht hast oder zum letzten Mal vor zehn Jahren. Wir hoffen, einen Beitrag dazu zu leisten, dass du genau dieselbe Liebe und Neugier für diesen Sport, für das Rad und diese Art zu leben – La Vie Velominatus – entdecken wirst wie wir. Dies ist eine unerschöpfliche Quelle der Motivation, der Freude und des Vergnügens, die uns immer wieder aufs Neue inspiriert, eine Runde mit dem Rad zu drehen, mehr über unseren Sport zu lernen und nicht nur bessere Radsportler zu werden, sondern bessere Menschen.

Die Regeln und unser Glossar haben sich im Laufe der Jahre organisch weiterentwickelt, und was uns heute vorliegt ist eine Liste mit insgesamt fünfundneunzig Regeln. Die Regeln sind chronologisch durchnummeriert, also nach dem Zeitpunkt, an dem sie dem Kanon hinzugefügt wurden – und nicht etwa geordnet nach ihrer Bedeutsamkeit. Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, die Regeln für dieses Buch in fünf Abschnitte zu untergliedern, die jeweils unter einer thematischen Überschrift stehen, anstatt sie in der Reihenfolge zu belassen, in der sie auf Velominati.com aufgeführt sind. Jede Regel hat jedoch ihre ursprüngliche Nummer beibehalten. Im Laufe der Jahre haben wir zudem ein eigenes Vokabular entwickelt; solltest du also mal einen Begriff nicht auf Anhieb verstehen, konsultiere einfach das Glossar am Ende dieses Buches oder die Community von Velominati.com.

Vive la Vie Velominatus.

TEIL I:

Die Jünger

Es war ein langer, allmählicher Prozess, diese Reise, die uns zu Jüngern des Radsports machte. Vielleicht begann alles mit diesem Gefühl zu fliegen, als wir uns zum allerersten Mal auf einem Fahrrad vorwärtsbewegten, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und nach ein paar wackligen Metern umzufallen. Oder vielleicht war es das erste Mal, dass wir eigenhändig ein neues Lenkerband aufzogen und erstaunt waren, wie frisch unser Rennrad nun aussah. Oder womöglich das erste Mal, dass wir eine seltsam vertraute Schwermut bemerkten, ja, ein Gefühl des Verlustes sogar, als wir aus irgendeinem Grund, den wir nicht beeinflussen konnten, einige Zeit ohne unser geliebtes Rad auskommen mussten.

Der Radsport ist ein schwerer Sport. Nicht schwer in dem Sinne, dass man frontal über den Haufen gelaufen würde wie beim Rugby oder American Football. Nicht schwer in dem Sinne, dass man gegen das Ertrinken kämpfen müsste wie beim Schwimmen. Nicht schwer in dem Sinne, dass man einen kleinen Ball mit einem schmalen Holzschläger treffen müsste wie beim Baseball. Der Radsport ist schwer, weil unsere Ausfahrten und Rennen in Stunden und in Hunderten von Kilometern gemessen werden. Dieser Sport ist schwer in dem Sinne, dass das größte Hindernis nicht etwa das Rad ist oder das Streckenprofil, sondern unser Geist: Wir müssen der Verlockung widerstehen, drinnen auf dem Sofa zu bleiben, wenn es draußen aus Kübeln schüttet, wir müssen die Courage aufbringen, auch dann weiterzumachen, wenn unsere Beine furchtbar schmerzen, und wir müssen genügend Standhaftigkeit beweisen, um bitterer Kälte ebenso zu trotzen wie erdrückender Hitze.

Radsportler ticken anders als andere Menschen. Wir streben danach, die höchsten Pässe in der kürzest möglichen Zeit hinaufzufahren; wir brennen darauf, über die schmalsten, ruppigsten Wirtschaftswege ganz Europas zu brettern. Wir ziehen die Vorhänge zur Seite, sehen nichts als dunkle Wolken und verregnete Straßen und packen doch eiligst unsere Klamotten zusammen, um uns so schnell wie möglich der grausamen Pracht einer Ausfahrt bei widrigen Bedingungen hinzugeben.

Wenn ein Radsportler davon spricht, »sich großartig zu fühlen«, meint einer wie wir damit etwas anderes als die meisten Menschen. Jünger des Radsports müssen gelernt haben, auch dann den Druck auf den Pedalen aufrechtzuerhalten, wenn die Lunge zu explodieren droht und das Herz versucht, mit einem mächtigen Satz der Enge des Brustkorbs zu entkommen. Und das alles, während der Körper von so viel Laktatsäure geflutet wird, dass der Kiefer beginnt zu schmerzen, die Muskeln sich in brennende Kohleklumpen verwandeln und die Sehkraft schwindet.

Dann nicht einzuknicken und stattdessen noch mal den Druck auf dem Pedal zu erhöhen, um einfach noch ein bisschen mehr Tempo aus uns und unserem Rad herauszupressen, bedeutet für uns, »sich großartig zu fühlen«.

Der Radsport besitzt eine reiche und überaus vielschichtige Historie. Alles in diesem Sport, jedes Unternehmen, jeder Rennfahrer, jedes Teil der Bekleidung und jede Komponente, hat seine eigene Legende. Und oft besitzen diese Dinge auch eine ganz persönliche und nostalgische Verbindung zu unserem eigenen Leben. Bilder unserer Heroen – die Großtaten von Merckx, Coppi, Hinault – geistern uns im Kopf herum, wenn wir einen berühmten Berg hochbolzen oder unsere Konturen im flämischen Spiegel betrachten, den der regennasse Asphalt bildet.

Obschon er so stark in Traditionen verwurzelt ist, ist der Radsport gleichzeitig auch unbändig modern und strebt stets nach Fortschritt mittels Technik und Wissenschaft. Eine Tatsache, die seine Komplexität nur noch mehrt. Wir werden von den Legenden der Vergangenheit inspiriert, aber was uns letztlich antreibt, ist Fortschritt: leichteres und steiferes Material; atmungsaktivere Kleidung, die besser mit Feuchtigkeit zurechtkommt, ganz gleich, ob sie aus unseren Poren strömt oder vom Himmel herunterprasselt. Keine dieser Neuerungen wird jedoch einfach kritiklos akzeptiert; alles muss sich erst bewähren im Kontext unseres großartigen Sports und vor dem Hintergrund des gemeinsamen Weges, den wir alle gefahren sind.

Dieser Dualismus verleiht uns eine Perspektive und hilft uns, uns weiterzuentwickeln, ohne unsere Wurzeln zu vergessen. Er hält uns vor Augen, dass ein wahrer Velominatus ein Radsportjünger höchsten Ranges ist. Wir verbringen unsere Tage damit, über den Kern dessen nachzudenken, was unseren Sport so besonders macht und ihn zu einem solch farbigen, schillernden Universum formt. Das ist der Raison d’Être der Velominati. Das ist unsere Agonie – unser Ehrenabzeichen – unsere Sünde.

 

Der Prophet Eddy Merckx überbringt das heilige V-estament.

REGEL #1 //

BEFOLGE DIE REGELN

Die Ronde van Vlaanderen 1969: In seiner vielleicht stärksten Saison preschte Merckx bei einer nassen und verregneten Ausgabe der Ronde mit noch kuschligen 80 Rennkilometern vor der Brust vorne aus dem Feld heraus. Als einsamer Solist stürmte er gegen den beißenden Wind an. Da wies ihn sein Teamleiter an, die Beine hochzunehmen und auf die Meute zu warten. »Leck mich«, antwortete der Prophet. Merckx teilte die Fluten am Mount Velomis – niemand konnte ihn aufhalten.

Eine alte Velominati-Legende:

Er stand oben auf dem Mount Velomis, halb Mensch, halb Rad. Als er auf die Welt hinabblickte, die zu schaffen ihn so viele Mühen gekostet hatte, wurde ihm bewusst, dass seine Jünger weich geworden waren.

Sie beschwerten sich über Kälte, über Regen, über gefährliche Abfahrten. Sie beschwerten sich über Wind, über Hitze, über lange Tage im Sattel. Sie fuhren in abgetragenen Shorts und Trikots, die nicht zusammenpassten, und unter ihren Hintern befanden sich rückwärtig baumelnde Gepäckfächer. Auf ihren ungepflegten, nachlässig gewarteten Maschinen brachten sie Schande über alles, wofür er stand.

So geschah es, hoch oben auf dem Mount Velomis, dass er noch einmal auf sein Rad stieg. Und während seine Reifen langsam wieder zu summen begannen auf seiner mächtigen Rolle, legte er los und trat in die Pedale, erst voller Verzweiflung, dann voller Wut, dann voller Fürsorge.

Als sich sein Feuer schließlich in Erbarmen aufgelöst hatte und der Schweiß begann, von den mächtigen Geschützen seiner Beine auf den uralten Fels unter ihm zu tropfen, da formten die heiligen Mächte den Granit des Mount Velomis, so dass sie fortan in Stein gehauen dort zu lesen waren.
Die Regeln.

Der Mount Velomis erhebt sich wie der Olymp über einer großartigen Kultur geprägt von Traditionen und Etikette, er erhebt sich über einem Jahrhundert Radsportgeschichte von den frühen Heldentaten von Major Taylor und Henri Desgrange bis hin zu den vergötterten Bravourstücken von Coppi, Bobet, Merckx und Hinault. Sein Schatten reicht weit über die Erfindung des Schnellspanners und der Kettenschaltung hinaus – allesamt Dinge, die wir in unserem ruhmreichen Sport seit langem für eine Selbstverständlichkeit halten. Wie ein mächtiger Fluss strömen von seinen Hängen all die zu erlernenden Lektionen herab, weitergetragen durch die kollektive Erfahrung von Mechanikern, die in Diensten anspruchsvoller Rennfahrer standen, die Wert auf kleinste Details legten. Die pochenden Herzen der Radsportjünger entfachen gemeinsam einen mächtigen Sturm, wenn wir uns völlig verausgaben, bis an unsere Grenzen und noch ein Stückchen mehr.

Wenn Radsportler sich in Schale werfen und auf ihr Rad steigen, stehen sie nicht auf den Schultern von Giganten; sie stehen auf einem gewaltigen Berg geformt aus Geschichte und Legenden. Sie stehen auf dem mächtigen Fels des Mount Velomis.

Wir sind Radsportler. Der Rest der Welt fährt einfach bloß Rad.

Befolge die Regeln.

REGEL #2 //

GEH MIT GUTEM BEISPIEL VORAN

Jedem, der mit den Regeln vertraut ist, ist es strikt verboten, wissentlich einer anderen Person dabei behilflich zu sein, sie zu brechen.

Einige oder vielleicht sogar alle von uns haben irgendwann mal beiläufig die Bemerkung fallen lassen, dass wir, obschon wir doch die Regeln aufstellen, uns nicht immer und überall hundertprozentig an sie halten müssen. Das klingt ein bisschen wie eine Ausrede eines aufgeflogenen Dopers: »Ja, okay, ich hab dieses Zeug genommen und, ja, ich habe darüber gelogen, aber was blieb mir denn anderes übrig, ich musste es tun, weil alle anderen es auch taten.« Das ist natürlich Larifari. Niemand kauft einem so etwas ab, also sollte man gefälligst aufhören, anderen so einen windelweichen Sermon zu erzählen. Wenn also ein guter Freund dich um Rat fragt, ob er beim Rennradfahren einen Helmspiegel verwenden sollte oder nicht, dann solltest du instinktiv die richtige Antwort wissen, die du ihm geben musst.

Aber was ist, wenn derselbe Freund den Helmspiegel nun mal partout möchte oder wenn ihm von seinen Angehörigen eingetrichtert wurde, dass man sich erheblich weniger Sorgen um ihn machen würde, wenn er sich eine solche Monstrosität an die Rübe schraubt, ganz gleich, wie bescheuert man damit aussieht? Bittest du ihn, in Ruhe abzuwägen, ob er wirklich wie ein Depp aussehen möchte, wenn er hinterrücks von einem Sattelschlepper zermalmt wird, oder ob er in derselben Situation doch lieber nicht wie ein Depp aussehen möchte, wenn er hinterrücks von einem Sattelschlepper zermalmt wird? Wäre das ein überzeugendes Argument? Oder sagst du einfach: »Naja, dann schraub das Ding halt dran, wenn du dich damit sicherer fühlst oder wenn es dich davor bewahrt, für unbestimmte Zeit auf der Couch schlafen zu müssen, weil du den Wunsch deiner besseren Hälfte missachtet hast.«?

Ja, du kennst die Antwort. Wir müssen unsere Mit-Velominati nicht vor Lastwagen oder Autos oder ihren Ehepartnern beschützen: Wir müssen sie davor bewahren, dass sie in tadellosem Ornat fahren, das Rad akkurat geputzt und perfekt eingestellt, und das alles dann durch einen Akt des Wahnsinns verderben, indem sie zum Beispiel wegen eines subjektiv empfundenen Sicherheitsnutzens eine neongelbe Ordnerjacke (NGOJ) überstreifen oder einen Spiegel am Helm montieren. Du musst mit Nachdruck darauf bestehen, dass solche Gegenstände keinen Platz in der Garderobe oder Ausrüstung deiner Freunde haben. Bläue ihnen ein, dass man mit so etwas riskiert, von den anderen Fahrern in der Gruppe (die in solchen Fragen natürlich allesamt bereits sehr versiert sind, wenn du deine Überzeugungsarbeit im Rahmen deiner Möglichkeiten ordnungsgemäß erfüllt hast) aufs Entschiedenste zurechtgewiesen zu werden. Wenn sie dennoch darauf bestehen, bleibt dir nichts anderes übrig, als resignierend die Hände zu heben und noch mal klarzustellen, dass du an allem, was in dieser Angelegenheit noch folgen wird, schuldlos bist. In ein paar Wochen oder Monaten, wenn der Frevler seinen Fehler eingesehen hat, werden dich seine Worte des Dankes und der Entschuldigung ausreichend entschädigen. Du kannst also in Ruhe und Bescheidenheit der Dinge harren, im Wissen, dass du deinen Teil getan hast und dass die Vernunft und der gute Geschmack sich letztlich einmal mehr durchsetzen.

REGEL #3 //

LEITE DIE UNEINGEWEIHTEN AN

Ganz gleich, für wie gut du deinen Grund hältst, wissentlich gegen die Regeln zu verstoßen, du kannst dir sicher sein: Er ist niemals gut genug.

Vielen Uneingeweihten erscheinen die Regeln oft willkürlich oder obskur. Aber für den Velominatus haben sie eine große Bedeutung, bieten sie ihm doch einen Weg zu Erleuchtung und Aufklärung in allen radsportlichen Dingen. Wie sehr wir als Rennradfahrer auch manchmal auf uns allein gestellt sein mögen, so treffen wir doch unweigerlich immer wieder auf andere Radsportler. Regel #3 bezieht sich auf die Verantwortung, die wir gegenüber unserem Sport haben, andere Menschen auf ihrem Weg zur Erkenntnis anzuleiten, während wir selbst auf diesem Weg dahinrollen.

Die Einhaltung von Regel #3 erfordert, dass wir zunächst einmal erkennen, wer die Regeln erschaffen hat: niemand und alle. Die Regeln wurden am Altar der Landstraße prophezeit und im Tiegel der Radsporttradition geschmiedet von den Generationen von Radsportlern, die uns vorausgegangen sind. Verfalle um Merckx’ willen niemals in den Irrglauben, dass sich die Regeln vornehmlich um so etwas wie Style oder Eitelkeiten drehen würden. Und zweifle auch nicht für eine Sekunde daran, dass diese Wahrheiten, die aus Notwendigkeit geboren und für die Nachwelt aufgezeichnet wurden, auf Millionen von Kilometern Landstraße getestet wurden, auf Kopfsteinpflaster-Sektoren, an langen Anstiegen im Hochgebirge, auf Wirtschaftswegen inmitten windgepeitschter Äcker. Diese kollektive Weisheit ist es, die den Regeln ihre Macht verleiht, denn sie sind größer als wir alle zusammen und sie repräsentieren Jahrzehnte der Schmerzen und des Leidens auf dem Fahrrad. Sobald man das begriffen ist, wird die übliche, reflexartig vorgetragene Kritik an den Regeln, diese Litanei, sie seien letztlich doch nur reiner »Rennradfahrer-Snobismus«, als grenzenlos ignorant entlarvt. Kurzum: Die Gurte deines Helmes (siehe Regel #37) und die Hersteller-Labels deiner Reifen (siehe Regel #40) sind aus gutem Grund in ganz bestimmter Weise zu platzieren, und genau dieser Grund ist es auch, weshalb man auf die besagte Weise fantastisch aussieht.

Regel #3 ist ein Ruf zur Pflicht für den Velominatus. Im Wesentlichen besagt sie, dass wir, sobald uns der Weg von den Altvorderen gezeigt wurde, anderen Orientierung bieten müssen, wenn sie sich auf ihre Reise begeben. Denk jedoch daran, dass Regel #3 nicht festlegt, wie wir es anstellen, andere zu führen. Der eine oder andere mag dazu neigen, sich bei jeder Gelegenheit zu Wort zu melden und sein Urteil barsch und fest entschlossen zu verkünden. Diese Methode mag auf diejenigen überzeugend wirken, die die Welt gern in Schwarz und Weiß, Gut und Böse unterteilen oder den Weg zum Cognoscenti im Grunde bereits eingeschlagen haben. Aber bei diesem Ansatz läuft man stets Gefahr, Regel #43 zu verletzen (Führ dich nicht wie ein Idiot auf) oder – schlimmer noch – den interessierten Pedalwan zu verschrecken und vom richtigen Weg abzubringen. Im Gegensatz dazu kann man auch die sokratische Methode wählen und auf diese Weise zu einem Radsport-Sensei werden, der die Lernenden ihre intrinsische Motivation entdecken lässt, den Weg aus freien Stücken zu gehen. Das Risiko besteht hierbei darin, dass man nur vage Ideen verbreitet oder, Merckx bewahre, sogar der Disziplinlosigkeit das Wort redet und auf diese Weise die Regeln als etwas Fakultatives erscheinen lässt. Aber wie auch immer du es anstellst: Die Bereitschaft, die Uneingeweihten anzuleiten, wird deine eigene Entschlossenheit festigen und dich darin bestätigen, dass du selbst auf dem richtigen Weg durchs Leben fährst.

REGEL #4 //

ALLES DREHT SICH UMS RAD

Es geht, absolut, ohne Frage, ganz eindeutig, um das Rad. Wer etwas anderes behauptet, ist offensichtlich ein Schwachkopf.

»Wenn ein Fahrrad sexy sein kann, dann ist dieses Fahrrad definitiv sexy.«

Ich stand stolz neben meiner neu aufgebauten Rennmaschine, einem Rad, von dem ich fast fünf Jahre lang geträumt hatte, immer in der Hoffnung, irgendwann ein Bein über seinen Sattel werfen zu dürfen.

Die Zusammenstellung des Rosses, bis hin zu seinen einzelnen Komponenten, war mühsam und aufwändig abgewogen und festgelegt und dann noch mal komplett neu durchdacht und überarbeitet worden, ehe ich mich daran wagte, überhaupt irgendein Teil zu kaufen. Also zum Teufel, ja, ein Fahrrad kann sexy sein. Und zur Hölle, ja, dieses Fahrrad war definitiv sexy.

Viel kann sich in der Zeit ändern, die es braucht, um ein Fahrrad aufzubauen. Es hatte mich über fünf Jahre gekostet, bis ich schließlich jenes Rad fertiggestellt hatte, das ich an diesem Tag meinen Freunden vorführte. Der Stand der Technik, das Material, das meine Idole fuhren, die gewünschte Lackierung des Rahmens – all diese Dinge hatten sich in einem fließenden Prozess immer wieder verändert wie Schlamm von Flanderns Äckern, der zwischen regennassen Pflastersteinen hinabrinnt.

Die Auswahl einer Komponente ist eine Entscheidung, die man sich über Wochen oder Monate hinweg erarbeiten muss, auch indem man sie immer wieder hartnäckig überdenkt und ausführlich mit jedem bespricht, der zu höflich ist, um wegzulaufen. Aber trotz all dieser Aufmerksamkeit, die man dem Thema widmet, unterläuft einem mitunter ein Fehler und das betreffende Teil muss gegen eines ausgetauscht werden, das sich besser anfühlt oder besser mit der Ästhetik des Rades harmoniert.

Und dabei sind entscheidende Elemente wie die Frage, für welche Rahmengröße man sich entscheidet, noch nicht mal angesprochen. Als Junge war ich immer Räder gefahren, die zu groß für mich waren – ich sollte gewissermaßen in sie hineinwachsen, während ich langsam erwachsen wurde (mitunter bekomme ich zu hören, dass dies bis heute nicht der Fall ist). Ich selbst war nicht scharf darauf gewesen, mal wieder einen zu großen Rahmen zu kaufen, aber wenn man einen zu kleinen Rahmen kauft, hat man ein ernsthaftes Problem, nämlich eines, für das es keine Lösung gibt. Monate des angestrengten Nachdenkens wurden daher nun dieser kritischen Entscheidung gewidmet, und zwar mit Hilfe von Geometrie- und Trigonometrie-Lehrbüchern von der Highschool, die ich wieder ausgrub und die mir unverzichtbare Unterstützung in der Frage boten, welche Rahmengröße mir zu den geeigneten Rohrmaßen und -winkeln verhelfen würde, damit ich mich vom Esel in ein Vollblut verwandeln konnte.

Selbst die Details, die sich zu einem späteren Zeitpunkt leicht noch ändern lassen, erfordern lange Überlegungen, ganz einfach, weil der allererste Eindruck, den du von einer neu aufgebauten Maschine bekommst, sich auf ewig in deine Psyche einbrennen wird. Wenn du versehentlich ein Lenkerband in der falschen Farbe oder einen falschen Sattel wählst, würde das einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen, der sich nicht so leicht wegspülen lässt (obwohl dafür ein gut gehopftes Ale sicherlich ein brauchbarer Anfang wäre).

Sorgfältig wurde bei jeder Komponente darauf geachtet, wie sich die Kosten in Relation zu Gewicht und Langlebigkeit verhielten. Für mich als großen, schlaksigen Kerl ist der Flex des Rahmens von primärem Interesse, dennoch gehe ich, gerade auch angesichts des beträchtlichen Gesamtgewichts von Fahrer und Rad, beim Materialgewicht nicht leichtfertig Kompromisse ein. Die Herausforderung, eine vernünftige Balance zwischen diesen Faktoren herzustellen, war eine Reminiszenz an meinen Versuch, das Gleichgewicht zu halten, als ich das erste Mal ohne die helfende, stabilisierende Hand meines neben mir herlaufenden Vaters am Sattel fuhr.

Dieses spezielle Rad lebte ein halbes Jahrzehnt lang in meinem Herzen, bevor ich erstmals eines seiner Rohre berührte. Seit ich es besitze, lebt und wächst es mit mir, wird immer mal wieder ein wenig angepasst, um meiner Entwicklung als Fahrer gerecht zu werden oder den jeweiligen Bedingungen und Anforderungen bestmöglich zu entsprechen. Für Hochgebirgspässe, Kopfsteinpflaster oder Trainingsfahrten werden jeweils entsprechende Laufräder ausgewählt. Gepolstertes Lenkerband kommt zum Einsatz, um die Unvermeidbarkeit von ermüdeten Händen auf dem Pavé ein wenig zu lindern. Die Kassette wird in Abhängigkeit vom erwarteten Streckenprofil ausgetauscht. Und vielleicht am wichtigsten: Die Breite und das Profil der Reifen werden danach ausgesucht, wohin Asphalt und Schotter mich tragen könnten. Letzten Endes wird dieses Rad für immer in meinem Herzen weiterleben, auch wenn es schon längst aufgestiegen ist in den ewigen Schrotthaufen an den Hängen des Mount Velomis.

Wenn ich nur einen Bruchteil der Gedanken, die ich der Zusammenstellung, Pflege und Instandhaltung dieses Rades gewidmet habe, in meinen Job investiert hätte – oder auch in die Entwicklung meines Charakters –, wäre ich bestimmt längst ein sehr mächtiger Mann und steinreich noch dazu.

Aber das stört mich nicht im Geringsten. Denn alles dreht sich ums Rad.