BILDNACHWEIS

Seite 20: Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv FA 15/002.02, Foto: unbekannt

Seite 22: Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv FA 15/004.10a, Foto: unbekannt

Seite 27: Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv FA 16/002.31, Foto: Christian Kraushaar

Seite 33: Alfred Hagel: Karl Kraus am Vorlesertisch

Seite 60: Deutsches Theatermuseum München, Archiv Willy Saeger

Seite 78: Akademie der Künste, Berlin, Hanns-Eisler-Archiv 3206, Zeichnung aus The New Masses

Seite 80: Getty Images, Foto: Leonard McCombe

Seite 93: Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv FA 15/010.18, Foto: Karl Heinz Drescher

Seite 95: Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv FA 05/061, Foto: Heinz Schubert

Seite 116: Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv FA 17/007.01, Foto: unbekannt

Seite 122: Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv FA 57/124, Foto: Vera Tenschert

Jost Hermand – Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers

Jost Hermand
Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers
Brecht-Studien

Recherchen 137

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Lektorat: Viola van Beek
Coverbild: Bertolt Brecht, 1937. © picture alliance / Fred Stein
Covergestaltung: Kerstin Bigalke
Gestaltung: Bild1Druck GmbH, Berlin

Printed in Germany

ISBN 978-3-95749-141-1

Jost Hermand

DIE AUFHALTSAME WIRKUNGSLOSIGKEIT EINES KLASSIKERS

Brecht-Studien

Theater der Zeit
Recherchen 137

Vorwort

Bertolt Brecht und die Literaturwissenschaft

Die Bewohnbarmachung der Erde

Brechts Verhältnis zu Stadt und Natur

Bertolt Brecht und Karl Kraus

Über die Vergleichbarkeit des Unvergleichlichen

Gescheiterter Antifaschismus

Von Tollers Der entfesselte Wotan (1923) bis zu Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches (1935–1938)

Lediglich harmlose Blödeleien?

Brechts Schweyk im Zweiten Weltkrieg (1943)

Brecht und die drei Eislers

Die vier „Deutschen“ vor dem House Un-American Activities Committee (1947)

„Böser Morgen“

Widersprüchliches in Brechts „Buckower Elegien“ (1953)

Gerechte Kriege – ungerechte Kriege

Brechts Pauken und Trompeten (1955)

Ein geflochtener Kranz

Helene Weigel als Schauspielerin

Ästhetik und Gemeinsinn

Das unverminderte Faszinosum „Brecht“

Über den Autor

Anmerkungen

Bildnachweis

VORWORT

Bertolt Brecht und die Literaturwissenschaft

I

Angesichts der inzwischen ins Uferlose angeschwollenen Brecht-Literatur etwas Sinnvolles zum Thema „Brecht und die Literaturwissenschaft“ zu sagen, ist ein geradezu herkulisches Unterfangen. Um mich dabei nicht auf das rein Aufzählende zu beschränken, was die Kenner notwendig langweilen und die mit diesen Schriften weniger Vertrauten eher abschrecken würde, verfahre ich deshalb im Folgenden – im Hinblick auf die verschiedenen Phasen dieser Forschungsrichtung – lieber argumentativ, indem ich sie vorwiegend auf ihren ideologischen Stellenwert befrage. Ja, nicht nur das. Um dem Ganzen einen gesellschaftspolitischen Fokus zu geben, fasse ich dabei – wohl oder übel – lediglich die innerdeutsche Entwicklung der sich mit Brecht beschäftigenden Sekundärliteratur ins Auge und gehe auf die außerdeutsche Auseinandersetzung mit Brecht nur dort ein, wo sie auf die Forschung in der DDR, der alten BRD und der heutigen sogenannten Berliner Republik eingewirkt hat. Und selbst dabei übergehe ich die geradezu unübersehbare Fülle an journalistischen Beiträgen und Theaterkritiken und erwähne nur das, worin die wichtigsten Literatur- und Theaterwissenschaftler dieser drei Staaten die Bedeutsamkeit von Brecht gesehen haben. Doch im Rahmen eines abrissartigen Vorworts wird selbst das etwas kursorisch ausfallen.

II

Eine spezifisch literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bertolt Brechts Œuvre und seinen darin vertretenen gesellschaftspolitischen Anschauungen begann – nach 15 Jahren einer relativen Nichtbeachtung während des skandinavischen und US-amerikanischen Exils – erst, als Brecht in der Anfangsphase des Kalten Kriegs 1948 im sowjetzonalen Ostberlin Fuß zu fassen versuchte. Wie sehr man dort diese Entscheidung begrüßte, beweist schon ein im Jahr 1949 von Peter Huchel herausgegebenes Sonderheft von Sinn und Form, das ausschließlich seinem Werk gewidmet war. Allerdings verhinderte die zum gleichen Zeitpunkt in der Sowjetischen Besatzungszone beginnende Formalismus-Debatte, in der, wie wir wissen, einige einflussreiche SED-Kulturfunktionäre Brecht Verstöße gegen die alleingültige Doktrin des sozialistischen Realismus vorwarfen, erst einmal ein genaueres Eingehen auf die Grundprinzipien seiner literarischen Schreibweise.

Erst nach dem zwischen 1952 und 1954 einsetzenden Ruhm seines Berliner Ensembles trat daher in der inzwischen gegründeten DDR eine parteipolitische und literaturwissenschaftliche Würdigung seiner Werke ein. Dafür sprechen nicht nur die Gedenkreden, die Walter Ulbricht, Johannes R. Becher, Paul Wandel und Georg Lukács nach Brechts Tod im August 1956 unter dem Motto „Du verließest uns viel zu früh“ an seinem Grabe oder im Berliner Ensemble hielten, sondern auch die ersten über ihn verfassten literaturwissenschaftlichen Studien, allen voran Ernst Schumacher mit seinem Buch Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918–1933 (1955), mit dem er kurz zuvor bei Hans Mayer und Ernst Bloch in Leipzig promoviert hatte. Darauf erschienen in der DDR in schneller Folge weitere Brecht-Studien von Hans-Joachim Bunge, Käthe Rülicke-Weiler und Gerhard Zwerenz sowie das zweite Brecht-Sonderheft von Sinn und Form. In ihnen ging es vor allem darum, die Entwicklung Brechts von seiner anarchistischen Jugendphase zu seinen späteren marxistisch orientierten Positionen herauszustellen. Damit waren die wichtigsten Voraussetzungen für die Entfaltung einer breitgefächerten Brecht-Forschung in der DDR geschaffen, zu deren Hauptvertretern zwischen 1960 und 1965 vor allem Werner Hecht, Hans Kaufmann, Klaus Schuhmann und besonders Werner Mittenzwei gehörten, die sich inzwischen weitgehend aus den Fesseln der Formalismus-Debatte gelöst hatten und neben Brechts marxistischer Grundhaltung auch die Bedeutung seiner Verfremdungstechnik sowie seiner Materialwerttheorie akzentuierten, statt ihm weiterhin auf erpenbeckmessersche Weise den Vorwurf zu machen, sich nicht an die maßstabsetzenden Lehren Konstantin Stanislawskis gehalten zu haben.

III

Wie zu erwarten, vollzog sich in der BRD die politische und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Brecht während der fünfziger und frühen sechziger Jahre unter völlig anderen ideologischen Vorbedingungen. Hier schwieg man sich, ob nun auf konservativer oder neoliberaler Ebene – aufgrund der herrschenden antikommunistischen Propaganda wellen – über ihn, wie auch über andere linksorientierte Exilautoren, entweder aus oder trat jenen Theaterregisseuren, die es dennoch wagten, einige seiner Stücke zu inszenieren, vor allem in den spannungsreichen Jahren 1953 (17. Juni), 1956 (Ungarnaufstand) und 1961 (Mauerbau), mit massiven Boykottdrohungen entgegen. Und auch die mit der Adenauerschen Restaurationspolitik konformgehende bundesrepublikanische Germanistik, die sich fast ausschließlich mit goethezeitlichen oder romantischen Dichtungen beziehungsweise der biedermeierlichen Literatur der Metternichschen Restaurationsperiode beschäftigte, ging – wegen der faschistischen Vergangenheit vieler ihrer maßgeblichen Vertreter – aus begreiflicher Berührungsangst allen als „politisch“ geltenden Literaturwerken von vornherein aus dem Wege. Dafür nur ein Beispiel: Als ich 1957, nach einem längeren Aufenthalt in Ostberlin, vor Marburger Studenten einen Vortrag über „Bertolt Brecht und das Berliner Ensemble“ hielt, sagte einer der führenden westdeutschen Neugermanisten dieser Jahre anschließend ironisch lächelnd zu mir: „Ja, aber wer ist denn dieser Herr Brecht?“

Was damals in der westdeutschen Germanistik – unter völliger Nichtbeachtung irgendwelcher gesellschaftskritischen Aspekte – als positiv galt, waren weitgehend die sogenannten literarischen Bauformen, aber nicht der ideologische Aussagewert von Dichtungen. Wer sich deshalb in diesem Staat überhaupt literaturwissenschaftlich mit Brecht beschäftigte, stellte daher, wie Franz Herbert Crumbach, Otto Mann oder Jürgen Rühle, Brechts Weltanschauung von vornherein als „verfehlt“ hin oder bezichtigte ihn im Jargon des Kalten Kriegs, lediglich ein literarischer Handlanger jenes „Schinderregimes“ jenseits des Eisernen Vorhangs gewesen zu sein, in dem man jede freiheitlich-individuelle Regung rücksichtslos unterdrückt habe.

Die ersten, die dieser Haltung in der frühen BRD auf germanistischer Seite widersprachen, waren zwischen 1957 und 1959 Reinhold Grimm, Walter Hinck, Marianne Kesting, Volker Klotz und Klaus Völker, die sich in Anlehnung an Peter Szondis Theorien über offene und geschlossene Bauformen des Dramas, wenn auch unter Weglassung aller von Brecht ge forderten Grundprinzipien des dialektischen Materialismus marxistischer Prägung, vornehmlich mit der Herausstellung bestimmter dramaturgischer Techniken, durch Komik erzielter Verfremdungseffekte sowie ähnlich gearteter Themenstellungen beschäftigten, sich also bei ihren Rechtfertigungsstrategien vor allem auf formale Kriterien stützten. Falls dabei überhaupt ideologische Aspekte ins Spiel kamen, wichen Autoren und Autorinnen wie Marianne Kesting zumeist ins Journalistisch-Unverbindliche aus, indem sie Brecht als eine „geheimnisvolle Widerstandsfigur“ charakterisierten,1 der es vornehmlich um die Durchsetzung ihrer Form des Theaters, aber nicht um irgendwelche gesellschaftskritische oder gar weltverändernde Absichten gegangen sei.

IV

Eine Politisierung des Brechtschen Œuvres trat in der BRD erst ein, als in den frühen sechziger Jahren unter westdeutschen Intellektuellen wie Jürgen Habermas, Alexander Mitscherlich, Georg Picht, Hans Werner Richter und Martin Walser – aus Sympathie mit dem gegen die Adenauersche Kalte-Kriegs-Politik auftretenden SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt – eine Wendung ins Linksliberale einsetzte, was schließlich einen Verleger wie Siegfried Unseld bewegte, 1967 im Suhrkamp Verlag jene zwanzigbändige Taschenbuchausgabe der Gesammelten Werke Brechts herauszubringen, die sich über Nacht als ein durchschlagender Erfolg erwies.2

Danach war plötzlich auch in der neugermanistischen Literaturwissenschaft der BRD – trotz der antagonistischen Haltung mancher älteren Ordinarien – überall von Brecht die Rede, wovon beispielsweise die in diesem Zeitraum veröffentlichten Brecht-Studien von Klaus-Detlef Müller, Henning Rischbieter und Dieter Schmidt zeugen, die neben formalen Aspekten auch auf die ideologischen Grundvoraussetzungen des Brechtschen Schaffens eingingen und dabei selbst die Werke ostdeutscher Brecht-Forscher wie Werner Hecht, Hans Mayer, Werner Mittenzwei und Käthe Rülicke-Weiler, die zwischen 1961 und 1966 erschienen waren, keineswegs unberücksichtigt ließen.

Einen weiteren Anstoß erlebte die westdeutsche Brecht-Forschung selbstverständlich durch jene aufmüpfige 68er-Bewegung, deren studentische Vertreter zum Teil mit der 1968 gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei sympathisierten, eine verschärfte Vergangenheitsbewältigung anstrebten, sich mit der antifaschistischen Exilliteratur auseinandersetzten und dabei Brecht zu einem ihrer politischen Kronzeugen, wenn nicht gar zum wichtigsten Vorbild einer dem sogenannten „Spätkapitalismus“ entgegentretenden ideologischen Haltung erhoben. Das bekannteste Beispiel dafür ist die 1969 an der Kieler Universität angenommene Dissertation von Reiner Steinweg, Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung, die kurz darauf beim Metzler Verlag und dann in der Edition Suhrkamp erschien und vor allem die Rotzeg-Gruppen sowie die Anhänger des Marxistischen Studentenbunds Spartakus zu Revolutionshoffnungen gegen das herrschende „Establishment“ beflügelte.

Doch diese von Brechts Werken angefeuerte Euphorie nahm schnell weit über die außenparlamentarische Gesinnung der westdeutschen Studentenbewegung (APO) gehende Formen an. Überall fanden in der Folgezeit plötzlich Brecht-Kongresse statt, wurden Brecht-Seminare abgehalten, ja einige seiner Stücke sogar in westdeutschen Oberschulen unterrichtet, worauf der Suhrkamp Verlag allein von Brechts Drama Mutter Courage und ihre Kinder fast eine Million Exemplare absetzen konnte.

Ja, der inzwischen von Frankfurt an die University of Wisconsin in Madison berufene Reinhold Grimm gründete im Jahr 1970 mit Ulrich Weisstein, Gisela Bahr, John Fuegi und mir in den USA die Internationale Brecht-Gesellschaft, worauf wir beide ab 1971 erst bei Athenäum und dann bei Suhrkamp das Brecht-Jahrbuch herausgaben. Doch auch sonst schwoll die Brecht-Literatur zu diesem Zeitpunkt so schnell an, dass Grimm in der dritten Auflage seines 1971 bei Metzler erschienenen Materialienbuchs zu Brecht für die inzwischen publizierte Sekundärliteratur, in der Brecht immer stärker als der bedeutendste Dramatiker des 20. Jahrhunderts herausgestellt wurde, bereits dreißig petitgedruckte Seiten benötigte. Doch dieser ins Maßlose ausufernde innerdeutsche Brecht-Enthusiasmus währte, wie die 68er-Bewegung, nur wenige Jahre, da die von manchen ihrer Anführer erhofften „Wirkungen in der Praxis“ ausblieben und ihnen die westdeutsche sozialliberale Koalition zudem nach 1972/73 mit antilinken Radikalenerlassen und Berufsverboten entgegentrat.

Eines der aufschlussreichsten Dokumente der darauf einsetzenden ideologischen Ernüchterung ist jener 1974 von Jan Knopf herausgebrachte Forschungsbericht, den er im Untertitel Fragwürdiges in der Brecht-Forschung nannte und in dem er sich sowohl von den marxistisch-engagierten als auch den bürgerlich-formalistischen Brecht-Interpretationen absetzte, die beide lediglich Symptome „affirmativer Gesellschaften“ seien, die der auf das Prinzip der „Negation“ eingeschworene Brecht zeit seines Lebens abgelehnt habe. Dem hielt Knopf entgegen, sich bei der Interpretation Brechtscher Texte lieber der hegelianischen Dialektik zu bedienen, mit der Brecht ständig auf die „Widersprüche“ innerhalb aller gesellschaftlichen Ordnungen hingewiesen habe.3 Doch davon ließ sich eine Reihe an den gesellschaftlich „eingreifenden“ Tendenzen in Brechts Werken interessierter Theater- oder Literaturwissenschaftler weder in der BRD oder gar in der DDR beirren.

Hierfür sprechen auf westdeutscher Seite vor allem die Schriften von Wolfgang Fritz Haug und seiner Argument-Gruppe sowie im Osten die weiterhin erscheinenden Brecht-Studien von Hans-Joachim Bunge, Werner Hecht, Werner Mittenzwei und Ernst Schumacher, die nach wie vor an ihrem Konzept einer konsequenten antikapitalistischen Haltung des mittleren und späten Brecht festhielten. Die besten Beispiele dafür sind vor allem Mittenzweis Buch Der Realismus-Streit um Brecht. Grundriß der Brecht-Rezeption in der DDR, 1945–1975 (1978) sowie seine 1979 in Ostberlin arrangierte Akademie-Tagung „Avantgarde und Exil“ am Zentralinstitut für Literaturgeschichte, auf der auch die formalen Neuerungen Brechts als durchaus marxistisch herausgestellt wurden.

In der BRD flaute dagegen in den späten siebziger Jahren – im Zuge der einsetzenden Subjektivitätswelle sowie einer mit feministischer Furore gegen Brechts angeblich infame Ausnutzung weiblicher Mitarbeiter argumentierenden Forschungsrichtung – das Interesse an seinen linkskritischen Anschauungen so stark ab, dass sich der Suhrkamp Verlag schließlich gezwungen sah, das Brecht-Jahrbuch im Jahr 1980 einzustellen. Doch davon ließen sich einige weiterhin an solidaritätsstiftenden Konzepten festhaltende Brecht-Forscher keineswegs entmutigen. Vor allem in der DDR hörte man nach wie vor nicht auf, diesen Autor anlässlich der alljährlich stattfindenden Brecht-Tagungen im Brecht-Haus in der Chausseestraße als einen der „ihren“ zu feiern, ja, ihn fast zum Staatsklassiker zu erheben. Eine Änderung in dieser Hinsicht setzte dort erst im Gefolge der Honeckerschen Enttabuisierung des subjektiven Faktors ein, das heißt des steigenden Interesses an „Eigensinn“ und „persönlicher Handschrift“, was selbst Mittenzwei nach seinen fünf vorausgegangenen literaturtheoretischen Büchern über Brecht dazu bewegte, jetzt endlich eine umfassende zweibändige Brecht-Biographie zu schreiben, die 1986 unter dem Titel Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln beim Aufbau Verlag herauskam. In ihr hielt er allerdings weiterhin an seiner Grundüberzeugung fest, die Brüche und Spannungen in Brechts Anschauungen als dialektische Widersprüche hinzustellen, denen stets das Bemühen nach sozialbetonten „Lösungen“ zugrunde gelegen habe.

V

Doch diesem – gesellschaftspolitisch gesehen – wohl bedeutendsten Buch der älteren Brecht-Forschung blieb die in ihm angestrebte Wirkung versagt. Schon drei Jahre später wandte sich die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung gegen eine Weiterführung sozialistischer Hoffnungen. Selbst in der folgenden Kohl-Ära der neunziger Jahre blieb im wiedervereinigten Deutschland die Kalte-Kriegs-Mentalität weiterhin eine der dominierenden Ideologien. Im Bereich der Brecht-Forschung äußerte sich diese Tendenzwende am eklatantesten in John Fuegis Monographie Brecht and Company (1994), die 1997 in deutscher Übersetzung erschien und der sogar die Bild-Zeitung wegen der in diesem Buch vorherrschenden Kommunismuskritik, der angeblich weiberverbrauchenden Lebenshaltung Brechts sowie seiner Geldgier eine überschwängliche Besprechung widmete.

Zu ähnlichen Verunglimpfungen Brechts kam es im Jahr 1998 anlässlich seines hundertsten Geburtstags, als er in vielen systemkonformen Zeitungen der BRD als ein mit der DDR untergegangener Autor abgekanzelt wurde, dessen banale Sentenzen „man endlich satt“ habe.4 Doch so leicht ließ sich Brecht, der letztlich bedeutendste Dramatiker des 20. Jahrhunderts, nicht einfach beerdigen. Bei anderen ehemals linken Autoren, ob nun Peter Weiss, Friedrich Wolf oder Arnold Zweig, wirkten sich solche Attacken geradezu tödlich aus. Nicht so bei Brecht. Er blieb trotz alledem, und zwar durch die Aktivitäten der Brecht-Gesellschaft, das neue Brecht-Jahrbuch, seine weltweite Wirkung sowie auch durch viele seiner in Deutschland aufgeführten Stücke weiterhin am Leben.

Schließlich haben die Krisen des von ihm attackierten sogenannten „Spätkapitalismus“ keineswegs aufgehört. Manche von Brechts Anschauungen, ob nun die beißende Kritik an der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsgesellschaft in Die heilige Johanna der Schlachthöfe oder die ebenso gnadenlose Satire auf die kapitalistische Freizeitwelt in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, warten auch heute noch auf Geschichte, wie Ernst Schumacher bereits kurz nach der Jahrhundertwende in der Berliner Zeitung schrieb.5 Und so sind trotz der allgewaltigen „Theodizee des Kapitalismus“, wie Joseph Vogl unsere heutige Gesellschaft jüngst charakterisierte,6 die sich zu Brecht bekennenden Stimmen keineswegs verstummt. So konnte etwa die 1988 begonnene Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe seiner Werke bis zum Jahr 2000 abgeschlossen werden und auch das neu konzipierte Brecht-Handbuch in fünf Bänden (2001–2003), das erstmals zweibändig in den achtziger Jahren erschienen war, blieb nicht unbeachtet.

Ja, die Bremer Germanistin Wendula Dahle brachte im Jahr 2007 sogar ein Buch unter dem Titel Die Geschäfte mit dem armen B. B. Vom geschmähten Kommunisten zum Dichter „deutscher Spitzenklasse“ heraus, in dem sie sich scharf dagegen verwahrte, Brecht lediglich als einen zwar bedeutenden, aber veralteten literarischen Klassiker zu betrachten, und dafür aussprach, ihn – angesichts der heutigen Weltlage – als einen auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse drängenden Autor zu würdigen. Und das sollten nicht nur die Gesellschaftswissenschaftler, sondern auch all jene Neugermanisten beherzigen, die sich weiterhin mit Brecht beschäftigen und ihre Ansichten auch über die engen Grenzen ihrer Zunft zu verbreiten suchen, statt sich lediglich in den Dienst des gegenwärtigen Infotainments zu stellen oder nur irrelevante, lediglich ihrer Karriere dienliche Bücher zu schreiben.7

DIE BEWOHNBARMACHUNG DER ERDE

Brechts Verhältnis zu Stadt und Natur

I

Bertolt Brechts Größe besteht vor allem darin, dass er sich als ein wahrhaft „katholischer“ Autor verstand, wie er es bewusst provozierend formulierte. Er fasste – je älter er wurde – in nahezu allen seinen Werken, Notaten und mündlichen Äußerungen, die uns überliefert sind, stets das Ganze, das heißt die universalen Aspekte sämtlicher politischen, ideologischen und sozioökonomischen Verhältnisse ins Auge, statt sich lediglich mit partikularen Fragen bestimmter individueller oder tagespolitischer Problemstellungen abzugeben. Ihm ging es nicht um das Vereinzelte, nur ihn Betreffende, sondern um einen grundsätzlichen, alle Menschen angehenden „Umgang mit den Welträtseln“, wie es im Untertitel von Werner Mittenzweis großer Brecht-Biographie von 1986 heißt.1

Man mag das angesichts der äußerst komplexen Weltlage, der sich Brecht gegenübersah, hybrid oder gar anmaßend nennen, ja, ihn als einen „plumpen“ Vereinfacher abtun, der besser getan hätte, sich mit einer differenzierten Analyse bestimmter Einzelprobleme der angeblich ins Pluralistische ausartenden modernen Industriegesellschaften zu begnügen und endlich einzusehen, dass es im Hinblick auf das Ende der älteren „Meistererzählungen“, die sich noch um eindimensionale Veränderungskonzepte bemüht hätten, schon längst keine „einfachen Lösungen“ mehr gebe. Doch im Gegensatz zu den unnötig verschachtelten Formulierungsbemühungen eines Theodor W. Adorno ist gerade das „Plumpe“ an Brechts Sehweise und Sprachgebung, wie es bei Walter Benjamin einmal heißt,2 das letztlich Bedeutsame an Brecht, der sich stets bemüht hat, alle anstehenden Probleme politischer, wirtschaftlicher, philosophischer und naturwissenschaftlicher Art so „radikal“ wie nur möglich auf die ihnen zugrunde liegenden und relativ einfach zu erklärenden Wurzeln zurückzuführen.

Selbstverständlich wurde Brecht diese Haltung nicht schon in der Wiege mitgegeben. Sich zu einer solchen Einstellung der Welt gegenüber durchzuringen, dazu bedurfte es vieler freiwillig eingegangener oder auch auferzwungener Erfahrungen sowie der sich daraus ergebenden Wandlungen. Aufgewachsen während der Spätzeit der wilhelminischen Ära, bemühte er sich nach dem Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution in der frühen Weimarer Republik erst einmal darum, sich als literarisches Genie und zugleich ungebärdig auftretender Bürgerschreck einen aufsehenerregenden Namen zu machen, bis ihn der heraufziehende Nazifaschismus, seine Hinwendung zu den Klassikern des Marxismus und die Exilierung nach 1933 zu der Einsicht bewegten, sich nicht weiterhin als ein Einzelner zu empfinden, sondern in allen politischen und sozialen Konflikten als gesamtgesellschaftlich denkender Zeitgenosse ideologisch Stellung zu beziehen. Wie bereits oft dargestellt, wählte er dafür zunehmend die Haltung eines Lernend-Belehrenden, der nicht nachließ, den Ursachen seiner Erfahrungen, die ihn aus der Bahn geworfen hatten, nachzugehen und sie zugleich anderen zu vermitteln.

Und zwar konzentrierte sich Brecht dabei nicht allein auf die jeweils anstehenden tagespolitischen Konfliktsituationen, so dringlich ihm diese auch erschienen, sondern behielt zugleich in utopischen Vorgriffen stets eine sinnvollere Weltordnung im Blick, in der – jenseits der kapitalistischen Ausbeutung der „Armen und Entrechteten“, einer hektisch übersteigerten Industrialisierung sowie der Verwüstung der Natur durch imperialistische Raubkriege – einmal alle Menschen im Rahmen sozialistischer Gemeinschaftsformen in friedlichen, von der Natur vorgegebenen Bedingungen leben könnten. Ja, Brecht hoffte, dass er in der Verwirklichung derartiger Verhältnisse nicht nur den Part eines literarischen Vollzugsfunktionärs irgendwelcher sich als sozialbewusst aufspielenden, aber weiterhin auf der Ausbeutung des Menschen und der Natur beruhenden Gesellschaften übernehmen könne, sondern dass man ihm dabei eine relative Autonomie gewähren würde, wie er das – noch immer im Exil lebend – in der Figur Arkadi Tscheidses seines als Utopie angelegten Dramas Der kaukasische Kreidekreis (1943–1945) darzustellen versuchte, welcher sich bemüht, durch die Aufführung eines seiner Stücke dem Volk die Lehren der Partei, aber auch der Partei die Weisheit des Volkes zu vermitteln.3 Diese Rolle zu spielen, war zwar Brecht in seinen letzten Jahren in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der frühen DDR nur teilweise vergönnt, dennoch hielt er an diesem universalen Grundkonzept bis zu seinem Tode im Jahr 1956 hartnäckig fest, nämlich für eine „Bewohnbarmachung der Erde“ einzutreten, in der alle Menschen nicht nur untereinander, sondern auch im Hinblick auf ihre naturgegebene Umwelt „friedliche“ Verhältnisse anstreben würden.

Doch genug der „goldenen Worte“. Versuchen wir lieber, diesen Entwicklungsgang vom Subjektiv-Ungezügelten zum Kommunitaristisch-Besonnenen anhand der dafür in Frage kommenden Äußerungen in Brechts Werken und den damit zusammenhängenden Notaten, Briefen und Interviewaussagen so konkret wie nur möglich nachzuzeichnen.

II

In Brechts Anfängen ist von seiner späteren Forderung einer friedlichen „Bewohnbarmachung der Erde“ noch nirgendwo die Rede. Als Sohn aus sogenanntem guten Hause legte er seinem subjektiv-instinkthaften Durchsetzungsdrang erst einmal keinerlei Zügel an. Mit „kaltem“ Intellekt und „heißem“ Herzen, wie er in seinen frühen Autobiographischen Aufzeichnungen beteuerte,4 erschien dem zwanzigjährigen Brecht nur das als wahrhaft lebenswert, was ihm – jenseits aller konventionellen Moral- und Berufsvorstellungen – eine möglichst genussvolle Absättigung seines persönlichen Lustverlangens versprach. Und das waren in erster Linie sexuelle Libidoempfindungen, orgienhafte Gelage mit Freunden, Ausflüge in die „freie Natur“ sowie literarische „Schocker“, mit denen er die Leisetreter und Ich-Leichen seiner bürgerlichen Umwelt so krass wie möglich vor den Kopf zu stoßen versuchte.

Wohl das beste Beispiel dafür ist sein Erstlingsdrama Baal (1918/19), dem Brecht anfangs den Titel „Baal frißt! Baal tanzt! Baal verklärt sich!!!“ gab. In ihm geht es um einen vagabundierenden Dichter, der sich angesichts der Sinnleere der Schöpfung alles, was ihm momentane Lustbereicherung verschafft, ob nun Alkoholika, Jungfrauen oder Damen der höheren Gesellschaft, ohne die geringsten moralischen Skrupel einverleibt. Unter „Natur“ wird also in diesem Drama nur das verstanden, was im Rahmen der lebensfeindlichen Konventionen seiner Umwelt als triebhaft-ungezügelt und damit lasterhaft gilt. Während sich die Spießer weiterhin an Gottes Gebote halten, heißt es einmal, ist Baals Himmel „voll von Bäumen und Leibern“.5 Daher zieht es ihn am Schluss in den „ewigen Wald“, wo er im Einssein mit der Natur nach all seinen wahllosen Triebbefriedigungen einsam verröchelt.

Die gleiche Stimmung herrscht in vielen Gedichten und Balladen Brechts aus diesen Jahren. Auch in ihnen geht es ständig um eine möglichst „natürliche“, das heißt betont antireligiöse, ja geradezu nihilistische Lusterfüllung. Statt dabei in die mystischen Gefühlswelten der neuromantischen Naturverklärung oder die naturverkultenden Heimatkunstkonzepte der Zeit um 1900 zurückzufallen, ist in ihnen fast durchgehend vom „Schwimmen in Flüssen und Seen“ oder vom „Klettern in Bäumen“ die Rede,6 was wie in seinem Baal-Drama lediglich als ein lustvolles Hinge-gebensein an momentane Gefühlsaufwallungen beschworen wird. Wie in seinen Gedichten über die Seeräuber oder andere Abenteurer dominiert in ihnen ein hemmungsloses Umhergetriebensein, das unter wahrhafter Lebenserfüllung – ohne Rücksicht auf irgendeine Mitmenschlichkeit – allein einen ungezügelten Egoismus zu verstehen scheint.

III

Eine gewisse Änderung in dieser Hinsicht macht sich erst in jenen Werken Brechts bemerkbar, die er nach 1920 verfasste, als er sich entschloss, das heimatliche Augsburg zu verlassen und sich in den Dschungel der Großstadtmetropole Berlin zu begeben, um sich als genialisch auftretender Bürgerschreck auf möglichst provozierende Weise in die dort herrschenden literarischen Konflikte und Konfrontationen einzumischen. Angesichts der ihn in dieser Millionencity überwältigenden Häuserschluchten sah er sich plötzlich – halb berauscht, halb abgestoßen – nicht mehr von Wäldern und Seen, sondern von Asphalt und Steinen umgeben. Die bis dahin vielbeschworene „Natur“ tritt daher in seinen danach geschriebenen Werken immer stärker in den Hintergrund. Was blieb, war jedoch – trotz der Unzahl von Menschen, die ihm in Berlin begegneten – das Gefühl, weiterhin ein Einzelner zu sein. Während er bisher wenigstens das Einssein mit der Natur zu verspüren glaubte, kam ihm jetzt selbst das abhanden. Überall schien in dieser Asphaltwüste nur die kälteste Selbstsucht zu herrschen, überall dominierte ein erbarmungsloses Gewinnstreben, überall hatte sich eine berechnende Unnatur breitgemacht, die kein Untertauchen in naturverbundenen Rauschzuständen mehr erlaubte.

Sein erstes Drama, in dem er diesen Schockeffekt zu verarbeiten suchte, war das Stück Im Dickicht der Städte (1921–1924), das im Zuge der damaligen Amerika-Orientierung in einer imaginierten Chicago-Welt spielt, wo als zwingende Notwendigkeit der Großstadtwirklichkeit lediglich das Prinzip des Kampfes aller gegen alle zu herrschen scheint. Verglichen mit dem hier dargestellten Milieu wirkt sein Baal fast wie ein letzter Schwanengesang auf die Reize der natürlichen Umwelt. Während dort noch das Schreiben mit dem „heißen Herzen“ den Ton angegeben hatte, hat sich hier das Schreiben mit dem „kalten Blick“ durchgesetzt.7 In Im Dickicht der Städte geht es im Kampf zweier Männer um ökonomische Vorherrschaft nicht mehr um ein anarchisches Umhergetriebensein, sondern nur noch um genau kalkulierte Taktiken.

Und Brecht passte sich in seinem Bestreben um literarische Anerkennung diesem rücksichtslosen Behaviorismus so gut es ging an. „In der Asphaltstadt bin ich daheim“, heißt es 1925 mit zynischer Attitüde in seinem Gedicht „Vom armen B. B.“: „Versehen mit jedem Sterbsakrament: / Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein. / Mißtrauisch und faul und zufrieden am End.“8 Alles, was wir im „Dschungel der Großstädte errei-chen können“, schrieb er kurz darauf in seinem „Lesebuch für Städtebewohner“ (1926/27), ist „ungestörte Bitterkeit“.9 Doch das war nur die halbe Wahrheit. Mitte der zwanziger Jahre ließ sich auch Brecht von der vielbeschworenen „relativen Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse“ der Weimarer Republik verführen, vorübergehend als ein Wortführer jener Neuen Sachlichkeit aufzutreten, die sich vor allem in Berlin als der letzte Schrei der neuen Großstadtmentalität verstand. Kurzum: Er kaufte sich ein Auto, nahm an Sportveranstaltungen teil, begann Kriminalromane zu lesen, ging ins Kino, interessierte sich für Jazz und was sonst noch an Errungenschaften der sogenannten „Moderne“ angepriesen wurde. Ja, selbst im Theater setzte er seine Hoffnungen auf das neue „Sportpublikum“, das vor allem am siegreichen „Finish“ der jeweils dargestellten Kämpfe interessiert sei, wie er am 26. Februar 1926 im Berliner Börsen-Courier erklärte.10

Doch das waren relativ kurzlebige Illusionen. Schon bald beschlichen ihn immer wieder Zweifel an seiner partiellen Übereinstimmung mit dem herrschenden „Zeitgeist“. So schrieb er in seinem „Lesebuch für Städtebewohner“ mit ironisierender Distanziertheit: „Und nicht schlecht ist die Welt / Sondern / Voll.“ Und: „Wir wissen nicht, was kommt, und haben nichts Besseres / Aber dich wollen wir nicht mehr.“11 Ebenso nachdenklich heißt es 1927 in seinen Autobiographischen Aufzeichnungen : „Ich habe mich schwer an die Städte gewöhnt.“12 Was ihn in diesem Zusammen hang besonders verstörte, waren die weitverbreiteten Lobeshymnen auf die fort schreitende Industrialisierung von Seiten jener „Sachlizisten“, wie sie damals hießen, die im Zeichen des allerorts gepriesenen Fordismus und Taylorismus selbst in den übelsten Auswüchsen der zunehmenden Technikverkultung nur Ausdrucksformen eines segenbringenden „Fortschritts“ sahen. Wohl die schärfste Attacke gegen diese zeitverhaftete Kurzsichtigkeit ist sein 1927 geschriebenes Gedicht „700 Intellektuelle beten einen Öltank an“, das sich gegen all jene wendet, die im Namen der „Elektrifizierung, der Ratio und der Statistik“ sogar die Anlage jener Ölfelder begrüßten, wo einstmals „Gras wuchs“, der „Wind wehte“ und „langsam mah lende Mühlen“ standen.13

Doch selbst in diesem Gedicht herrscht noch eher ein satirischer als ein kämpferischer Ton vor. Einen grundsätzlichen Abgesang auf die Neue Sachlichkeit stimmte Brecht erst an, als er sich 1928 in das Studium der marxistischen Klassiker vertiefte und ein Jahr später der New Yorker Börsenkrach vom 24. Oktober allen Hoffnungen auf einen unaufhörlichen Fortschritt und die sich daraus ergebende Wohlstandssteigerung ein jähes Ende bereitete.

IV

Die Konsequenzen, die Brecht daraus zog, sind allbekannt. Statt wie in der Dreigroschenoper von 1928 lediglich auf halb zynische, halb vergnüg liche Weise das verbrecherische Treiben einer lumpenproletarischen Gangsterclique darzustellen, entschloss er sich in seinen folgenden Werken zu einer wesentlich schärferen Gangart. Dafür sprechen vor allem kommunistisch inspirierte Stücke wie Die Maßnahme (1929/30) und Die Mutter (1931), in denen fast durchgehend das Agitatorische im Vordergrund steht, um damit den Kampf der KPD gegen die verheerenden Folgen des kapitalistischen Wirtschaftssystems sowie die Gefahr einer nazifaschistischen Machtübernahme zu unterstützen.

Aber auch das Bild vom entmenschenden Leben in den großen Städten, jetzt eindeutig ins Antikapitalistische gewendet, ließ Brecht nicht zur Ruhe kommen. So schrieb er nach dem Wall-Street-Crash von 1929 das weit ausholende Gedicht „Verschollener Ruhm der Riesenstadt New York“ über jene Stadt, die selbst ihm in seinen Anfängen – im Gegensatz zu dem als „langweilig“ empfundenen Deutschland – wegen ihrer „riesigen Bauwerke“, „nie endenden Straßen“, „breitbrüstigen Männer“, „Eisenbahn zügen, die rollenden Hotels gleichen“, ihren „Schallplatten“ und „filmischen“ Darstellungen als faszinierender Inbegriff alles Neuartigen erschienen war und sich jetzt durch die Machenschaften geldgieriger Bankherren in eine Trümmerstätte gescheiterter Hoffnungen verwandelt hatte.14

Und auch in anderen Schreckbildern der „großen Städte“ nahm Brecht in diesem Zeitraum immer wieder die USA aufs Korn, so in dem bereits 1927 konzipierten, aber erst 1930 endgültig abgeschlossenen opernhaften Stück Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, in dem es nur um Suff und Sex, das heißt das sinnentleerte Treiben in einer an Las Vegas gemahnenden Vergnügungsmetropole geht, wo erotisch ausgehungerte Männer für jedes Quäntchen Lust ihre mühsam verdienten Dollarnoten hergeben müssen, und dann in dem marxistisch konzipierten Drama Die heilige Johanna der Schlachthöfe (1929–1931), bei dem es sich – auf der Grundlage des Romans The Jungle (1906) von Upton Sinclair – um eine Analyse der innigen Verquickung der Chicagoer Fleischindustrie mit den Bankenbaronen der Wall Street handelt, um so das ständige Auf und Ab der kapitalistischen Wirtschaftszyklen unter die Lupe nehmen zu können.

Ja, Brechts Abneigung gegen die Unmenschlichkeit der großen Städte nahm in diesen Jahren derart zu, dass er sich im Herbst 1932 – noch immer nicht an einen möglichen Sieg der Nazifaschisten glaubend – entschloss, im bayrischen Utting eine Landhausvilla zu erwerben, um dort mit seiner Familie endlich in einer friedlichen, naturgemäßen und seiner Herkunft entsprechenden Umgebung zu leben. Was ihn besonders beglückte, war, dass dieses Haus von einem weitläufigen Garten mit „vielen Sträuchern“, einer „riesigen Erle“, „schwarzen Fichten“, „Wiesen“ und „lang blühenden Blumen“ umgeben war, so dass man sich dort fast wie in einem „kleinen Wald“ fühlen konnte.15