Über das Buch

Weil Mama Spätschicht hat und Papa ganz weit weg ist, haben Merle und Moritz eine neue Nachtfrau. Sie heißt Gesine Wolkenstein, hat schmale Lippen und unheimliche Augen, die erst grasgrün sind, dann schwarz und zuletzt hellblau und durchsichtig. Ausgerechnet sie soll die Kinder ins Bett bringen! Doch in den Nächten ist da plötzlich Frau Wolle. Sie regiert das Reich hinter der schwarzen Tür, von dem Papa früher erzählt hat. Dort wohnen die Spitzzahntrolle, die nur in Reimen reden, und der wachsame Waisenfuchs Silberträne. Da gibt es das Lager der verlorenen Sachen und den Saal der Bonabären, da findet man die Gedankenbremse, und wenn es im Weltempfänger rauscht, können Merle und Moritz Papas Stimme hören. Und das tröstet ungemein.

Jutta Richter

Frau Wolle

und der Duft von Schokolade

Roman

Mit Illustrationen von
Günter Mattei

Carl Hanser Verlag

Für alle Kinder,
die wissen wollen,
wie die Welt hinter der Welt aussieht.
Für die Angsthasen und die Löwenherzen.
Für die Schmetterlingsschützer
und die Glücksbringer.
Für die Kopfschüttler und die Neinsager.
Für die Sachensucher und die Sachenfinder.
Und ganz besonders
für Lili.

06

Hasenwegkinder

Es ging das Gerücht, dass Gesine Wolkensteins schwarzer Laden Kinder verschlucke.

Zoe Sodenkamp behauptete sogar, zwei dieser Kinder gekannt zu haben. Aber das konnte nicht sein, denn Zoe Sodenkamp war neu im Hasenweg. Wir wohnten schon immer dort.

Als Hasenwegkind führt dein Schulweg durch die Sperbergasse. Vorbei am blauen Haus, vorbei am gelben Haus, vorbei am roten Haus, vorbei an Tozzis grünem Eisentor, wo Tozzis Dackel kläfft und wütend hochspringt und mit den Krallen dieses Krietschgeräusch macht, wenn er am Eisen abrutscht. Und dann vorbei am schwarzen Laden von Gesine Wolkenstein …

Da hielten wir die Luft an, fassten uns an den Händen, machten uns unsichtbar, rannten mit gesenkten Köpfen vorbei und atmeten erst wieder, wenn wir den Rathausplatz erreicht hatten.

Dort waren die Fenster weit geöffnet, der Sommermorgen funkelte wie verrückt und schmiss die Sonne mit beiden Händen auf das Kopfsteinpflaster …

Senf und Servietten

Zoe Sodenkamp wohnte mit ihrer Mutter bei Niemanns unterm Dach. In der kleinsten Wohnung der Welt. Deshalb durften wir auch nie bei ihr spielen.

»Wenn Mama und ich zu Hause sind, ist die Wohnung voll. Ich sag euch Bescheid, wenn Mama mal weggeht.«

Aber Zoes Mama ging nie weg.

Bei uns war das anders. Unsere Mama war den ganzen Tag weg, und wenn sie abends nach Hause kam, war sie müde und hatte dunkle Ringe unter den Augen.

»Wie war’s in der Schule?«, fragte sie.

»Schön«, antworteten wir.

»Besondere Vorkommnisse?«

»Keine«, antworteten wir.

»Elternpost?«

»Ja«, sagten wir.

»Ach, du liebe Zeit«, stöhnte Mama. »Kuchenspende für das Schulfest! Das schaff ich nie im Leben!«

»Dann mach’s doch wie immer«, sagten wir.

»Senf und Servietten?«

»Ja, Senf und Servietten.«

»Du bist schließlich alleinerziehend«, sagte Moritz.

»Celinas Mutter macht gar nichts«, sagte ich. »Die ist alleinerziehend und stillt nach Bedarf.«

»Ach.« Mama zog die Augenbrauen hoch. »Ist das neue Kind schon da?«

»Vier Wochen schon. Celina hat erzählt, es schreit die ganze Nacht!«

»Wie schrecklich«, sagte Mama. »Also gut, Senf und Servietten. Ich leg jetzt mal die Füße hoch. Braucht ihr noch was?«

Moritz und ich schüttelten den Kopf.

Wir gingen in die Küche und machten Schnittchen. Einen kleinen Teller für Mama, einen großen für uns selbst.

Mama liebte es, abends bedient zu werden. Schnittchen mit Sommerwurst. Bananenscheiben, Tomatenviertel. Ein Glas eiskaltes Wasser.

Moritz und ich wussten genau, was Mama brauchte.

Der Radiopapa

»Ich will jetzt nichts mehr hören!«, rief Mama. Das rief sie jeden Abend. »Ich will jetzt nichts mehr hören!«

Moritz und ich lagen in unseren Betten. Es war stockfinster, nur ein schmaler Lichtstreifen fiel unter der Tür durch. Wir lauschten in die Dunkelheit. Wir hörten Mamas Schritte. Wir hörten, wie sie den Kühlschrank öffnete und wieder schloss. Sie ging ins Wohnzimmer. Wir hörten, wie sie sich in den Sessel fallen ließ, dann lief der Fernseher.

»Jetzt«, flüsterte Moritz.

Er schlug die Bettdecke zurück und kam in mein Bett. Wir zogen die Decke über unsere Köpfe, und dann schalteten wir den Weltempfänger ein.

Der Weltempfänger war ein Papa-Geschenk. Eigentlich ein Papa-Abschiedsgeschenk, obwohl wir das an jenem Weihnachtsabend noch nicht gewusst hatten. Papa hatte mir das Paket in die Hand gedrückt und gesagt: »Merle, du bist die Ältere, aber es ist für euch beide.«

Ungeduldig hatte ich das Geschenkpapier abgerissen, während Moritz mir über die Schulter guckte. Das Ding hatte wie ein stinknormales Radio ausgesehen. Moritz verzog das Gesicht.

»Mensch, Papa! Was sollen wir denn damit? Wir haben doch schon den Ghettoblaster!«

»Das ist ein Weltempfänger«, hatte Papa gesagt. »Mit einem Weltempfänger kann man Radio von überall hören. Radio von ganz weit weg, aus Afrika oder Alaska, aus Finnland oder Feuerland. Wenn man Französisch könnte, könnte man damit sogar den Polizeifunk von Paris empfangen.«

»Aber das kann man mit einem Internetradio doch auch.«

»Nein, mein Schatz«, hatte Papa gesagt. »Für ein Internet­radio brauchst du das Internet. Für einen Weltempfänger reicht eine Batterie.«

Zuerst war da nur ein Rauschen. Ich drehte ganz langsam am Sendersucher. Ein leises Fiepen legte sich über das Rauschen, Stimmfetzen kamen dazu. Die Stimmfetzen wurden deutlicher. Eine Sängerin schrie: »Oh, noho.«

»Weiter«, flüsterte Moritz.

Ich drehte noch langsamer. Jetzt kam es auf Millimeter an.

»Das ist er«, flüsterte Moritz.

Aus dem Weltempfänger kam Papas Stimme. Zuerst noch etwas rauschig, aber dann klarer und immer klarer. Die tiefe Stimme war ganz nah, so nah, als ob er neben uns liegen würde. Es war plötzlich ein bisschen wie früher, wenn wir am Sonntagmorgen in sein Bett gekrabbelt waren und unsere Köpfe auf seine Brust legten. Da hatte er Geschichten erzählt, Geschichten aus der Murkelei, Geschichten aus der Walachei, Geschichten aus Tertschenien und Minamar, denn unser Papa wollte schon immer weit weg.

»Liebe Hörerinnen und Hörer, wo auch immer Sie sein mögen, ich werde Sie durch die Nacht begleiten. Gemeinsam werden wir eine musikalische Reise unternehmen. Von St. Petersburg über Istanbul nach Timbuktu. Wir werden Burkina Faso besuchen, das Land der aufrichtigen Menschen, wir werden Odessa musikalisch erkunden, Palermo und Tunis liegen auf unserer Strecke. Kommen Sie mit, wo auch immer Sie uns zuhören, packen Sie die Reisetasche! Ich verspreche Ihnen eine aufregende Nacht. Sie werden es nicht bereuen, wach geblieben zu sein, denn die Welt ist groß und schön, und weit hinterm Horizont warten die musikalischen Abenteuer auf uns …«

»Glaubst du, er hat uns gemeint?«, fragte Moritz, als die Musik einsetzte. »Meinst du, er weiß, dass wir ihn hören?«

»Na klar«, flüsterte ich.

Moritz seufzte zufrieden. Er kuschelte sich eng an mich. Seine Atemzüge wurden tiefer. Ich lag ganz still. Ich hörte Moritz’ Schlafatem, lauschte der Musik, die mein Vater aus St. Petersburg mitgebracht hatte, und wartete auf seine Stimme.

13

Zettelkram

Mama war strubbelig. Sie saß im Schlafanzug am Küchentisch und fuhr sich immer wieder mit den Händen durchs Haar. Vor ihr lagen ein Kugelschreiber und ein Stapel weißes Papier.

»Das schaff ich nie …«, murmelte sie. »Es wird eine Katastrophe geben.«

Sie zerknüllte einen Papierbogen und nahm ein neues Blatt.

»Wusstest du, dass Burkina Faso das Land der aufrichtigen Menschen ist?«, fragte Moritz.

Mama starrte ihn an, als hätte sie ihn noch nie gesehen. »Was redest du da?«

»Burkina Faso«, sagte Moritz. »Burkina Faso ist das Land der aufrichtigen Menschen …«

»Sagt wer?«, fragte Mama.

»Sagt Papa«, antwortete Moritz.

Mama setzte sich kerzengrade auf.

»Ist er wieder da? Hast du ihn gesehen? Nun rede schon!«

Moritz grinste. »Nein.«

»Was nein?«

»Papa hat mir das mal erzählt. Früher.«

»Ach so.«

Mama sackte wieder zurück. Sie kaute auf dem Kugelschreiber, was eigentlich strengstens verboten war.

»Was schreibst du denn da?«, fragte ich.

Mama antwortete nicht.

»Zettelkram!« Moritz zuckte die Achseln.

Draußen schlug die Kirchturmuhr elf Mal. Bald würde der Sonntagmorgen vorbei sein. Wir nickten uns zu, dann standen wir auf und schlichen leise ins Fernsehzimmer.

In der spannendsten Szene des Märchenfilms stellte sich Mama zwischen uns und den Fernseher.

»Mensch, Mama!«, schimpfte Moritz.

Er versuchte, an Mama vorbeizugucken. Keine Chance: Mama stand da wie eine Mauer.

»Also, ihr Lieben«, sagte sie und schnappte sich blitzschnell die Fernbedienung. »Ich mach dann mal aus.«

Moritz und ich jaulten auf.

»Das ist unfair!«

»Blödsinn«, sagte Mama. »Ihr kennt das Märchen doch. Aber das hier« – sie hielt einen beschriebenen Zettel hoch – »das hier kennt ihr noch nicht. Hört zu!«

Nachtfrau gesucht

Dringend gesucht!

Für meine Herzenskinder Merle (11) und Moritz (8) suche ich eine Nachtfrau, die die beiden abends ins Bett bringt und bis zum Morgen bei ihnen bleibt. Sie sollte zuverlässig und freundlich sein und Erfahrung im Umgang mit Kindern haben. Bitte melden Sie sich, wenn Sie unsere gute Fee werden wollen!

Tel: 01 71/8167081

Wir warten auf Sie!

»Na, wie findet ihr den Text?«, fragte Mama. »Raus mit der Sprache und ganz ehrlich.«

Wir sahen uns an. Wir schüttelten beide den Kopf.

»Was soll der Quatsch?«, fragte ich dann. »Wieso brauchen wir eine fremde Frau, die uns ins Bett bringt? Wir gehen schon seit Jahren allein ins Bett! Wir kommen doch klar! Warum soll uns denn jetzt plötzlich jemand ins Bett bringen? Und du bist doch auch immer da!«

Mama legte den Kopf schief und die Stirn in Falten, dann sagte sie: »Eben nicht. Ab nächste Woche habe ich Nachtdienst. Ich muss um 20.00 Uhr in der Klinik sein und komme erst am nächsten Morgen um halb sieben zurück.«

»Mist!«, sagte Moritz.

»Aber ich bin doch schon elf. Ich kann doch auf Moritz aufpassen«, sagte ich.

»Den Bock zum Gärtner machen? Auf gar keinen Fall«, sagte Mama. »Da hätte ich ja keine ruhige Minute in der Klinik.«

»Aber du könntest uns doch einen Hund kaufen«, schlug Moritz vor. »Hunde sind richtig gute Aufpasser. Am besten sind die ungarischen Hütehunde. Die können selbstständig arbeiten, sind wachsam und lieben Kinder. Sie können sogar Kuhherden beschützen. In Ungarn treiben sie die Zackelschafe und Wollschweine auf die Weiden.«

»Ach ja? Und wenn du krank bist, kocht der Hund dir Fencheltee und macht dir einen Halswickel, nicht wahr?«

»Solche Hunde gibt es auch. Die nennt man Assistenzhunde«, sagte Moritz.

Mama machte ihr Schluss-Aus-Themawechsel-Gesicht. »Ihr Lieben, wir brauchen keinen Hund, wir brauchen eine Nachtfrau, und damit basta!«

Die Hoffnung

Moritz und ich waren ziemlich sauer, denn uns war klar, dass »Nachtfrau« nur ein anderes Wort für Babysitter war und dass Mama genau gewusst hatte, dass wir bei so was nicht mitspielen würden.

»Warum fragt sie uns eigentlich?«, schimpfte Moritz. »Warum fragt sie uns eigentlich, wenn doch sowieso alles schon entschieden ist?«

»Alle werden uns auslachen«, sagte ich.