image

Am 14. Juli 1918 in Uppsala als Sohn eines Pastors geboren, wächst Bergman in bürgerlichen Verhältnissen auf. Mit 20 Jahren bricht er mit seinem autoritären Elternhaus – für ihn ein Ort der Gewalt und der Demütigungen, der auch seine Filmwelten nachhaltig prägen wird. Bergman studiert Literatur- und Kunstgeschichte in Stockholm. 1942 bringt er sein erstes Stück, Kaspars Tod, auf die Bühne und bekommt prompt eine feste Anstellung als Drehbuchautor bei Svensk Filmindustri. Von da an pendelt der Autor und Regisseur zwischen Film und Bühne.

Anfang der 50er Jahre beginnt die große Zeit des schwedischen Regisseurs. Mit Einen Sommer lang (1950) und Sehnsucht der Frauen (1952) hebt eine veritable Serie von Meisterwerken an und es entstehen über vierzig Filme, für die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, darunter drei Oscars; 1997 wurde ihm in Cannes »die Palme der Palmen« für sein Lebenswerk verliehen.

Mit seinem Film Das Siebte Siegel (1957) gelingt Bergman auch in den USA der Durchbruch – ein Platz unter den bedeutendsten Regisseuren der Welt ist ihm von nun an sicher. Bis 1982 dreht er mehr als 40 Kinofilme, dann zieht er sich aus dem Filmgeschäft zurück und kehrt zum Theater zurück, wo auch seine Laufbahn begann.

Sein Leben hält Bergman in seiner im September 1986 beendeten Autobiographie Laterna magica fest.

Am 30. Juli 2007 stirbt Ingmar Bergman in seinem Haus auf der schwedischen Ostseeinsel Fårö.

Ingmar Bergman

LATERNA MAGICA

Mein Leben

Aus dem Schwedischen von
Hans-Joachim Maass

image

Dritte durchgesehene Auflage 2018

© für diese Ausgabe by Alexander Verlag Berlin 2018

Alexander Wewerka, Frederciastr. 8, 14050 Berlin

info@alexander-verlag.com

www.alexander-verlag.com

Umschlag: Antje Wewerka unter Verwendung eines Fotos aus dem Film

Det sjunde inseglet (Das siebente Siegel), 1957.

Originalausgabe Laterna magica © Ingmar Bergman, first published by Norstedts, Sweden, in 1987. Published by agreement with Norstedts Agency.

Alle Rechte vorbehalten.

eISBN 978-3-89581-493-8

Inhalt

VORWORT

Laterna Magica

NACHWORT

REGISTER

FILMOGRAPHIE (AUSWAHL)

BIBLIOGRAPHIE (AUSWAHL)

VORWORT

Wir kannten den Künstler Ingmar Bergman, den genialen Cineasten von Wilde Erdbeeren, Das Gesicht, Das Lächeln einer Sommernacht, Schreie und Flüstern. Wir mussten nur noch den Menschen Bergman kennenlernen.

Laterna Magica, dieses einzigartige Buch, eine Mischung aus intimen Bekenntnissen, dem Logbuch eines schöpferischen Menschen, aus erbarmungslosen Pamphleten wider seine Zeitgenossen und einer Liebeserklärung an Theater und Kino, zeigt uns Bergman, so wie er ist, wie er sein will, ohne Konzessionen, ohne unnötige Rücksichtnahmen, ohne falsche Bescheidenheit und latente Überheblichkeit.

Das Buch zeigt den Menschen: zunächst das Kind, das, was sechzig Jahre später noch von ihm vorhanden ist und was er nicht verraten will. Den kränklichen, übersensiblen kleinen Jungen, das in einem Raubvogelnest geborene zarte Vögelchen, außer sich vor Liebe zu seiner Mutter, Zielscheibe der Brutalität eines fanatischen, grausamen Kirchenmannes und der Rivalität seiner Geschwister, einen Jungen, der lernen muss, hart zu werden und zu lügen, um zu überleben.

Dieses Erinnerungsdokument besteht durchgehend aus Unsicherheit und Fragen, genauso wie das Leben des Künstlers selbst. Reisenotizen, Augenblicke im Leben eines Film- und Theatermenschen, seine Begegnungen, seine Enttäuschungen, seine Leidenschaften, Tag für Tag (oder fast jedenfalls) zu Papier gebracht und lange danach zu einem Ganzen zusammengefügt. Das Leben ist kein epischer Roman und erst recht keine Anleitung, wie man sich zu verhalten hat: Es ist, wie Bergman sagt, eine Mischung aus Zeiten und Genres, ein Wiederauftauchen alter Erinnerungen, es ist Widerspruch. Nichts ist weniger kohärent, weniger logisch als diese Aufzeichnungen. Wie die Bilderschleifen, die der kleine Junge auf seinem Kinematographen laufen ließ – Frau Holle, die nicht aufhörte, aus ihrem Bett zu steigen und sich aufrecht vor es hinzustellen –, setzen Bergmans Erinnerungen dort wieder ein, wo er sie zurückgelassen hat, kehren wieder, wenn er nicht darauf gefasst ist, unterminieren die Gegenwart, das Handeln, die Siegesgefühle des reifen Alters. »Ich werde keine Memoiren schreiben«, hat Isidore Ducasse in seinen Poésies stolz erklärt. Ingmar Bergman übernimmt diesen vortrefflichen Grundsatz, er erliegt nicht, wie andere vor ihm, der Versuchung, von sich selbst zu reden, sich ins rechte Licht zu rücken. Er braucht nichts zu beweisen, er muss sich für nichts rechtfertigen. Er legt ganz einfach dieses eigentümliche Schicksal dar, das ihm widerfahren ist, dessen Herr er aber nicht wirklich ist. Das ist der Preis der Wahrheit.

Das große Thema seines Lebens waren wohl die Frauen. Nicht die Eroberungsobjekte Don Juans (auch wenn er ziemlich schnell von der einen zur anderen wechselt – und zu was für welchen, Schauspielerinnen, die seine Zeit zum Träumen bringen, Ulla Jacobsson, Liv Ullman, die großartige Ingrid Thulin, Harriet und Bibi Andersson, Objekte der Begierde für unzählige Männer und für zahllose Frauen Gegenstand des Neids) – die Frauen als reale Präsenz des Geheimnisvollen. In seinem Werk sind sie Schönheit, Jugend, Respektlosigkeit, sie besitzen noch etwas vom alten schwedischen Heidentum, Kraft, Sinnlichkeit, und sie widersetzen sich ganz entschieden der schulmeisterlichen Tristesse der puritanischen Gesellschaft. Sie begleiten ihn sein ganzes Leben lang, sind um ihn herum, verraten ihn – oder er verrät sie –, verlassen ihn, aber er bewahrt sie alle in sich und verleugnet keine. Entscheidend dabei ist wohl das Bild seiner Mutter, dieser zugleich harten und in sich gekehrten Frau, die wegen einer anderen Liebe ihren Mann und ihre Kinder verlassen wollte, aber so etwas tat man damals nicht, und er, Ingmar, hat den Verlust noch mehr gefürchtet als sein Vater, er hat die Szene nie vergessen, als seine Mutter trotz des Mannes, der sie am Fortgehen hindert, schon an der Tür steht, dann zu Boden gestoßen wird und aus der Nase blutet, und das vor Entsetzen erstarrte Kind stößt einen markerschütternden Schrei aus. Nichts weiter als ein Ehestreit, doch der prägt ihn für immer. Die andere wichtige Frau ist seine Großmutter, die ihn in ihr Haus in Våroms [Bei uns] in Dalarna aufnimmt und die die Einzige ist, die ihn als gleichwertig behandelt, eine Frau, die über alles und jedes »philosophiert« und ihn die Freiheit lehrt. Dann die Frauen, die ihn in die Liebe einführen, Märta, die keusche, unbefangene Liebe eines Sommers zu einem gleichaltrigen Mädchen (sie wird die Monika in Die Zeit mit Monika, seinem romantischsten Film, sein), die animalische Liebe zu der hässlichen Anna mit dem massigen Körper und die Sexualität, die ihn plötzlich trifft wie ein Blitzschlag.

Das zweite große Thema Bergmans, das sich gut mit dem ersten verträgt, ist seine bedingungslose Liebe zum Theater. Laterna Magica ist das »logbook« des langjährigen Umgangs, den der Cineast mit der Bühnenkunst gepflegt hat – vor allem mit dem, was neben und hinter der Bühne passiert: Regie, Bühnenbild, Proben, Auswahl der Schauspieler, die hitzigen Diskussionen mit der Theaterleitung, die Geldprobleme. Bergman hat wie Molière und vor ihm wohl auch Shakespeare alles mitgemacht und erlebt, vom Souffleurkasten bis zur beneidenswerten, für ihn aber untragbaren Position des Direktors des Königlichen Schauspielhauses, einer Rolle, die er seinen großen Bekanntheit verdankt, die ihm aber schon bald eine schwer zu ertragende Zwangsjacke anlegt. Die Liebe zu den Frauen, die Liebe zum Theater, das ist ein und dasselbe für den Mann, der im kulturellen Leben nur einen Lehrmeister hatte: August Strindberg, dessen Theaterstücke, insbesondere Fräulein Julie, er allesamt geliebt hat und als dessen Erbe oder, besser gesagt, als dessen treuer Diener er sich fühlte. Es ist dieselbe zugleich artifizielle und strukturierte Welt, dieselbe essenziell weibliche »Verschönerungskunst« – eigentlich das genaue Gegenteil der athletischen Virilität der Hitlertruppen, deren teuflischer Verlockung bis hin zum finalen »Sieg heil!« er einmal für den Zeitraum eines Aufmarsches in Deutschland erlegen ist. Im Theater langweilt sich Bergman nie. Dort ist er ganz in seinem Element: Sprache, Bühnenbild, Kostüme, die Stimmen, das Deklamieren, die Spannung. Dort entdeckt er seinen Hass auf »Gedankensysteme«, die schickliche Mittelmäßigkeit, die scheinheilig-freundliche christliche Tyrannei. Im Theater ist irgendwo immer der Teufel zugegen, und der vom Pastor aus Uppsala tyrannisierte Sohn braucht gerade ihn. Das ist seine Revanche, seine Rache an der bestehenden Ordnung. Es ist auch das, was ihn reizt und bezaubert. Das Theater, das Kino sind wie das Leben vor allem eine unwiderstehliche Nicht-Ordnung, eine bestimmte Begierde. Bergman hat sich, wie man sich denken kann, von Beginn seines schöpferischen Abenteuers an die Maxime William Faulkners zu eigen gemacht: »Kill your darlings!«

Das Theater, das Kino, die Frauen. Das heißt, der Gegensatz zur Realität, wenn man Strindberg glauben darf. »Es gibt Augenblicke«, gestand dieser (und Bergman begreift das als Motto), »in denen ich daran zweifle, dass das Leben realer als meine Fiktionen ist.« Freilich müssen diese erst einmal zu Papier gebracht werden. Und Bergman kann sich die Kunst nicht ohne das Schreiben vorstellen. Es gibt nichts, was er mehr verabscheut als das Improvisieren. Alle seine Filme, und bis zu einem bestimmten Punkt auch alle seine Theaterinszenierungen, sind zunächst einmal Bücher. Er schreibt sie, lässt sie drucken und binden und händigt sie vor den Dreharbeiten anstelle des Skripts den Schauspielern aus. Seine Richtschnur ist die Strenge, doch das schließt nicht das Wunderbare aus, etwa wenn sich plötzlich das Unvorhergesehene hereindrängt und die Kamera es zufällig einfängt. Wie bei der zerbrechlichen Freundschaft, die ihn einen Film lang trotz des Alters mit dem unvergesslichen Victor Sjöström in Wilde Erdbeeren verbindet.

Ja, wir werden uns zurückbesinnen müssen auf die Kunst, mit den Frauen zu leben, die etwas anderes ist, als in der Gesellschaft zu leben. Bergman ist ein moralfreier oder, besser, ein nicht soziabler Mensch, und nur der Umgang mit den Frauen, die er sich aussucht, verhilft ihm zu einem Metier, einem Halt – einem Lebensinhalt. Wohl weil die Kunst für ihn – er sagt es in diesem erstaunlichen und tiefgründigen, unzusammenhängenden und wie aus einem Guss geschriebenen Buch – dieses Gewebe aus Lügen, Eifersüchteleien, erotischen Spielen und halb komischen, halb tragischen Dramen ist, das die klarsichtige Intelligenz hervorbringt, das wie ein Schlachtfeld ist, auf dem es nichts zu erobern, aber alles festzuhalten gilt. Lesen Sie Laterna Magica, Sie werden als besserer Mensch daraus hervorgehen. Was für ein Schriftsteller, dieser Regisseur!

Jean-Marie Gustave Le Clézio

ALS ich im Juli 1918 geboren wurde, hatte Mutter die Spanische Grippe, und da es nicht danach aussah, als wenn ich überleben würde, erhielt ich noch im Krankenhaus die Nottaufe. Eines Tages bekam die Familie Besuch von unserem alten Hausarzt, der mich anblickte und sagte: »Der Kleine stirbt uns ja an Unterernährung.« Großmutter nahm mich dann zum Sommerhaus in der Provinz Dalarna mit. Während der Bahnfahrt, die damals einen Tag dauerte, fütterte sie mich mit Sandtorte, die sie zuvor in Wasser aufgeweicht hatte. Als wir ankamen, war ich beinahe tot. Großmutter fand trotzdem eine Amme – ein liebes blondes Mädchen aus einem Nachbardorf. Mein Zustand besserte sich zwar allmählich, aber ich übergab mich oft und hatte ständig Bauchschmerzen.

Außerdem wurde ich von einer Reihe undefinierbarer Krankheiten heimgesucht und konnte mich nicht recht entschließen, ob ich leben oder sterben wollte. Aus den Tiefen meines Bewusstseins kann ich mir den Zustand ins Gedächtnis zurückrufen: den Gestank der Körperausscheidungen, die feuchten, scheuernden und kratzenden Kleider, den sanften Schein der Nachttischlampe, die Tür zum Nachbarzimmer, die einen Spaltbreit geöffnet war, die tiefen Atemzüge des Kindermädchens, tapsende Schritte, flüsternde Stimmen, die Sonnenreflexe in der Wasserkaraffe. An all dies kann ich mich erinnern, aber nicht an Angst. Die kam erst später.

Das Esszimmer führte nach hinten auf einen dunklen Hinterhof mit hoher Ziegelmauer, Plumpsklo, Mülltonnen, fetten Ratten und einem Gestell zum Teppichklopfen. Ich saß bei irgendjemandem auf dem Schoß und wurde mit Brei gefüttert. Der Teller stand auf einem grauen Wachstuch mit roter Umrandung. Das Email war weiß mit blauen Blumen, es spiegelte das spärliche Licht von den Fenstern. Ich beugte mich zu den Seiten und nach vorn und probierte so verschiedene Blickwinkel aus. Je nachdem, wie ich den Kopf bewegte, veränderten sich die Reflexe in dem Teller mit dem Brei und bildeten neue Muster. Plötzlich übergab ich mich und reiherte alles voll.

Dies ist vermutlich meine erste Erinnerung: Die Familie wohnte im ersten Stock des Eckhauses Skeppargatan-Storgatan in Stockholm.

Im Herbst 1920 bezogen wir eine Wohnung in der Villagatan 22 im Stadtteil Östermalm.

Es duftet nach frischer Farbe und gebohnerten Parkettfußböden. Im Kinderzimmer ein sonnengelber Korkteppich und helle Rollgardinen mit Ritterburg und Wiesenblumen. Mutters Hände sind weich, und sie nimmt sich Zeit, Märchen zu erzählen. Als Vater eines Morgens aufsteht, tritt er aus Versehen in den Nachttopf und ruft: »Pfui, Spinne!« In der Küche hantieren zwei Mädchen aus Dalarna, die oft und gern singen. Auf derselben Etage wohnt eine gleichaltrige Spielkameradin, die Tippan heißt. Sie ist voller Fantasie und Initiative. Wir vergleichen unseren Körperbau und finden interessante Unterschiede. Jemand ertappt uns, verrät aber nichts.

Meine Schwester wird geboren, ich bin vier Jahre alt, und die Situation ändert sich radikal: eine fette, missgestaltete Figur spielt plötzlich die Hauptrolle. Ich werde aus dem Bett meiner Mutter vertrieben, mein Vater strahlt, wenn er das brüllende Bündel ansieht. Der Dämon der Eifersucht hat mein Herz mit seinen Krallen gepackt, ich tobe, weine, scheiße auf den Fußboden und schmiere mich voll. Mein älterer Bruder und ich, normalerweise Todfeinde, schließen Frieden und brüten Methoden aus, das widerwärtige Wesen umzubringen. Aus irgendeinem Grund ist mein Bruder der Meinung, dass ich mich am besten für die unabwendbare Tat eigne. Ich fühle mich geschmeichelt, und wir warten auf eine passende Gelegenheit.

Eines stillen, sonnigen Nachmittags glaube ich mich allein in der Wohnung und stehle mich ins Schlafzimmer der Eltern, in dem das Wesen in seinem rosafarbenen Korb schläft. Ich ziehe mir einen Stuhl heran und klettere hinauf, stehe da und betrachte das geschwollene Gesicht und den sabbernden Mund. Mein Bruder hatte mir klare Anweisungen gegeben, wie ich vorgehen sollte. Ich hatte seine Befehle aber missverstanden. Statt meiner Schwester den Hals zuzudrücken, versuche ich ihren Brustkorb zusammenzupressen. Sie wacht sofort mit einem durchdringenden Schrei auf, ich verschließe ihr mit der Hand den Mund, die wässrigen hellblauen Augen schielen und starren, ich mache einen Schritt nach vorn, um einen besseren Griff zu bekommen, verliere aber den Boden unter den Füßen und falle hin.

Ich erinnere mich, dass die eigentliche Tat mit starkem Wohlbehagen verbunden ist, das schnell in Entsetzen übergeht.

Ich beuge mich über Fotografien aus der Kindheit und studiere durchs Vergrößerungsglas das Gesicht meiner Mutter, versuche vermoderte Gefühle zu durchdringen. O ja, ich liebte sie, und sie sieht auf dem Bild dort sehr anziehend aus: das kräftige, in der Mitte gescheitelte Haar über der niedrigen, breiten Stirn, das weiche Gesichtsoval, der freundliche, sinnliche Mund, der warme, unverstellte Blick unter dunklen, wohlgeformten Augenbrauen, die kleinen, starken Hände.

Mein vierjähriges Herz verzehrte sich in hündischer Liebe.

Das Verhältnis war trotzdem nicht unkompliziert: Meine Ergebenheit störte und irritierte sie, meine Zärtlichkeitsbezeugungen und heftigen Ausbrüche beunruhigten sie. Sie schickte mich oft mit einer kühlen, ironischen Bemerkung weg. Ich weinte vor Wut und Enttäuschung. Ihre Beziehung zu meinem Bruder war einfacher, da sie ihn ständig gegen meinen Vater in Schutz nehmen musste, der ihn mit rigoroser Härte erzog, bei der brutale körperliche Züchtigung ein ständig wiederholtes Argument war.

Ich sah allmählich ein, dass meine mal wehleidige, mal wütende Anbetung kaum Wirkung zeigte. Ich begann also schon früh damit, ein Verhalten zu erproben, das ihr gefallen und ihr Interesse wecken würde. Wer beispielsweise krank wurde, durfte ihrer Teilnahme sicher sein. Da ich ein kränkelndes Kind mit unzähligen Gebrechen war, fand ich hier einen zwar schmerzhaften, aber unfehlbaren Weg zu ihrer Zärtlichkeit. Simulationen wurden dagegen schnell durchschaut und exemplarisch bestraft – Mutter war ausgebildete Krankenschwester.

Ein anderer Weg zu ihrer Aufmerksamkeit war gefährlicher. Ich fand heraus, dass Mutter Gleichgültigkeit und Desinteresse nicht ertragen konnte: das waren ja ihre Waffen. Ich lernte also, meine Leidenschaft zu zügeln, und begann ein seltsames Spiel, bei dem Arroganz und kühle Freundlichkeit die wichtigsten Bestandteile waren. Ich weiß nicht mehr, wie ich mich dabei anstellte, aber Liebe macht erfinderisch, und es gelang mir schnell, Interesse an meinem blutenden Selbstwertgefühl zu wecken.

Das schwierigste Problem war nur, dass ich nie die Möglichkeit bekam, mein Spiel zu verraten, die Maske abzulegen und mich von erwiderter Liebe einhüllen zu lassen.

Viele Jahre später, als Mutter mit ihrem zweiten Herzinfarkt und einem Schlauch in der Nase im Krankenhaus lag, sprachen wir endlich miteinander über unser Leben. Ich erzählte von der Leidenschaft meiner Kindheit, und sie gestand, die habe sie gequält, aber nicht so, wie ich gedacht hatte. Sie habe sich besorgt einem berühmten Kinderarzt anvertraut, der sie mit ernsten Worten ermahnt und ihr den Rat gegeben habe, meine, wie er sich ausdrückte, »krankhaften Annäherungen« mit Festigkeit zurückzuweisen. Jede Nachgiebigkeit könne mich fürs Leben schädigen. Das war Anfang der zwanziger Jahre.

Ich erinnere mich noch undeutlich an einen Besuch bei diesem Kinderarzt. Der Grund dafür war, dass ich mich trotz meiner sechs Jahre weigerte, in die Schule zu gehen. Tag für Tag wurde ich vor Angst brüllend ins Klassenzimmer geschleift oder getragen. Ich übergab mich auf alles, was mir unter die Augen kam, fiel in Ohnmacht und litt unter Gleichgewichtsstörungen. Am Ende siegte ich aber, und mein Schulbesuch wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Doch der Besuch bei dem bekannten Kinderarzt ließ sich nicht vermeiden.

Der Doktor hatte einen großen Bart, einen hohen Stehkragen und roch nach Zigarre. Er zog mir die Hose herunter, ergriff mit einer Hand mein unbedeutendes Organ und beschrieb mit dem Zeigefinger der anderen Hand über dem Schritt ein Dreieck. Er sagte zu meiner Mutter, die mit ihrem pelzbesetzten Mantel und ihrem dunkelgrünen Samthut mit Schleier schräg hinter mir saß: »Hier sieht der Knabe immer noch wie ein Kind aus.«

Als wir von dem Arztbesuch nach Hause kamen, zog man mir meine blassgelbe Schürze mit den roten Borten an; die Tasche war mit einer Katze bestickt. Ich bekam warme Schokolade und ein Käsebrot. Dann betrat ich das zurückeroberte Kinderzimmer; mein Bruder hatte Scharlach und wohnte woanders (ich hoffte natürlich, dass er sterben würde, das war damals ja eine gefährliche Krankheit). Aus dem Spielzeugschrank holte ich eine Holzkarre mit roten Rädern und gelben Speichen hervor und spannte ein Holzpferd davor. Die drohende Schule war zu einer angenehmen Erinnerung an einen Erfolg verblasst.

An einem stürmischen Wintertag Anfang 1965 rief Mutter im Theater an und erzählte, Vater liege im Krankenhaus und solle wegen einer bösartigen Geschwulst in der Speiseröhre operiert werden. Sie wollte, dass ich ihn besuchte. Ich erwiderte, ich hätte weder Lust noch Zeit; mein Vater und ich hätten uns nichts zu sagen, er sei für mich eine gleichgültige Person, und ich würde ihn mit meinem Besuch an dem eventuellen Totenbett sicher nur erschrecken und verlegen machen. Mutter wurde böse. Sie ließ nicht locker. Ich regte mich ebenfalls auf und verbat mir gefühlsmäßige Erpressung. Diese ewige Erpressung: Dann tu es doch für mich. Mutter wurde wütend und fing an zu weinen. Ich wies darauf hin, dass Tränen auf mich noch nie Eindruck gemacht hätten. Worauf ich den Hörer auf die Gabel knallte.

Am selben Abend hatte ich im Theater Dienst. Ich spazierte in den Kulissen herum, sprach mit den Schauspielern und schob Zuschauer in den Saal, die sich wegen eines heftigen Schneesturms verspätet hatten. Meist saß ich jedoch in meinem Zimmer und arbeitete an dem Bühnenbild zu Peter Weiss’ Die Ermittlung.

Das Telefon läutete, das Mädchen in der Zentrale berichtete, neben ihr stehe eine Frau Bergman und verlange, den Herrn Intendanten zu sprechen. Da immerhin einige »Frau Bergman« zur Wahl standen, fragte ich böse, welche verfluchte Frau Bergman. Das Mädchen in der Zentrale erwiderte leicht verängstigt, es sei die Mutter des Herrn Intendanten, die ihren Sohn sprechen wolle – sofort.

Ich holte meine Mutter ab, die sich durch den Schneesturm bis zum Theater vorgekämpft hatte. Sie war noch immer völlig außer Atem, sowohl vor Anstrengung und Zorn wie wegen ihres schwachen Herzens. Ich bat sie, sich zu setzen, und fragte, ob ich ihr eine Tasse Tee anbieten dürfe. Sie entgegnete, sie denke nicht daran, sich zu setzen, und sie habe keineswegs den Wunsch, Tee zu trinken. Sie habe nur eins auf dem Herzen: sie wolle all die Grobheiten, Herzlosigkeiten und Gemeinheiten, die ich am selben Vormittag am Telefon geäußert hätte, noch einmal aus meinem Munde hören. Sie wolle mir ins Gesicht sehen, wenn ich meine Eltern verleugnete und ihnen Schande machte.

Der Schnee schmolz an der pelzgekleideten kleinen Person dahin und bildete auf dem Teppich dunkle Flecke. Sie war sehr blass, die Augen schwarz vor Zorn, die Nase gerötet.

Ich versuchte, sie zu umarmen und zu küssen, aber sie stieß mich zurück und gab mir eine Ohrfeige. (Mutters Ohrfeigentechnik war nicht zu überbieten. Der Schlag wurde blitzschnell und mit der linken Hand ausgeführt, an der zwei schwere Eheringe der Strafe schmerzhaften Nachdruck verliehen.) Ich lachte, und Mutter begann zu schluchzen. Sie sank – durchaus nicht ungeschickt – auf einen Stuhl am Konferenztisch und verbarg das Gesicht in der rechten Hand, während sie mit der linken in der Handtasche nach einem Taschentuch suchte.

Ich setzte mich neben sie und versicherte, selbstverständlich würde ich meinen Vater besuchen, es täte mir leid, was ich gesagt hätte, und ich bäte sie aus ganzem Herzen, mir zu verzeihen.

Sie umarmte mich heftig und erklärte, jetzt wolle sie mich nicht eine Minute länger stören.

Danach tranken wir Tee und unterhielten uns friedlich bis zwei Uhr nachts.

All das ereignete sich an einem Dienstag. Am folgenden Sonntagmorgen rief ein Bekannter der Familie, der während Vaters Krankenhausaufenthalt bei Mutter wohnte, bei mir an und bat mich, sofort zu kommen, da es Mutter sehr schlecht gehe. Mutters Ärztin, Professor Nanna Schwartz, sei unterwegs, und im Augenblick sei der Anfall vorüber. Ich eilte in die Storgatan 7. Die Ärztin machte auf und sagte mir sofort, meine Mutter sei vor ein paar Minuten gestorben.

Zu meinem Erstaunen begann ich heftig und unkontrolliert zu weinen. Es ging schnell vorüber, die alte Ärztin stand stumm da und hielt meine Hand. Nachdem ich mich beruhigt hatte, erzählte sie, es sei alles recht schnell gegangen, in zwei Wellen von je zwanzig Minuten.

Kurze Zeit später war ich in der stillen Wohnung mit Mutter allein.

Sie lag in ihrem Bett, trug ein weißes Flanellnachthemd und eine gestrickte blaue Bettjacke. Der Kopf war ein wenig zur Seite geneigt, die Lippen waren leicht geöffnet. Sie war bleich, hatte Schatten um die Augen, das noch dunkle Haar war sorgfältig gekämmt – nein, das Haar war nicht mehr dunkel, es war eisengrau, und sie hatte es in den letzten Jahren kurz getragen, aber das Erinnerungsbild sagt mir, dass ihr Haar dunkel war, möglicherweise mit grauen Strähnen. Die Hände ruhten auf der Brust. Am linken Zeigefinger saß ein kleines Pflaster.

Der Raum war plötzlich von einem starken Spätwinterlicht erfüllt. Der kleine Wecker auf dem Nachttisch tickte eifrig.

Ich hatte das Gefühl, dass Mutter atmete, dass die Brust sich hob, dass ich ein leises Atmen hörte, ich meinte, ein Zucken der Augenlider zu sehen, hatte das Gefühl, dass sie schlief und gleich aufwachen würde: das trügerische Spiel der Gewohnheit mit der Wirklichkeit.

Ich saß mehrere Stunden dort. Die Glocken der Hedwig-Eleonora-Kirche läuteten zum Gottesdienst, das Licht wanderte, von irgendwoher war Klaviermusik zu hören. Ich glaube nicht, dass ich Trauer empfand, ich glaube auch nicht, dass ich etwas dachte, ich glaube nicht einmal, dass ich mich selbst beobachtete oder inszenierte – diese Berufskrankheit, die mir so gnadenlos durchs Leben gefolgt ist und mir meine tiefsten Erlebnisse so oft gestohlen oder von mir abgespalten hat.

Ich weiß nicht mehr viel von den Stunden in Mutters Zimmer. Die stärkste Erinnerung ist das kleine Pflaster an ihrem linken Zeigefinger. Am selben Nachmittag besuchte ich Vater im Krankenhaus und erzählte ihm von Mutters Tod. Er hatte die Operation und eine nachfolgende Lungenentzündung überstanden. Jetzt saß er im blauen Lehnstuhl des Krankenzimmers, trug seinen alten Morgenmantel, war wohlrasiert und adrett, die lange, knochige Hand stützte sich auf den Griff des Stocks. Er sah mich starr an. Die Augen waren klar, ruhig, weit geöffnet. Als ich ihm erzählte, was ich wusste, nickte er nur und bat mich, ihn allein zu lassen.

Unsere Erziehung beruhte hauptsächlich auf Begriffen wie Sünde, Bekenntnis, Strafe, Vergebung und Gnade – sie waren konkrete Faktoren in den Beziehungen von Eltern und Kindern zueinander und zu Gott. Darin war eine Logik, die wir akzeptierten und zu verstehen meinten. Möglicherweise trug dieser Umstand dazu bei, dass wir so blauäugig und arglos auf die Nazis reinfielen. Wir hatten noch nie etwas von Freiheit gehört, und noch weniger wussten wir, wie sie schmeckt. In einem hierarchischen System sind alle Türen verschlossen.

Strafen waren folglich etwas Selbstverständliches, das nie in Frage gestellt wurde. Sie konnten schnell und einfach kommen wie Ohrfeigen oder Schläge auf den Hosenboden, konnten aber auch äußerst kompliziert sein, durch Generationen hindurch verfeinert. Wenn Ernst Ingmar in die Hose machte, was nur allzu oft und allzu leicht passierte, musste er für den Rest des Tages einen kniekurzen, roten Rock tragen. Das wurde als harmlose Strafe, aber als lächerlich angesehen.

Schwerere Vergehen wurden exemplarisch bestraft: Es begann mit der Entdeckung des Verbrechens. Der Verbrecher legte in erster Instanz ein Geständnis ab, das heißt vor den Dienstmädchen oder Mutter oder einer der zahlreichen weiblichen Verwandten, die öfter im Pfarrhof wohnten.

Die unmittelbare Folge des Geständnisses war, dass man den Täter schnitt. Niemand sprach mit ihm, niemand antwortete ihm. Soviel ich verstehe, sollte das den Täter dazu bringen, sich nach Strafe oder Vergebung zu sehnen. Nach dem Mittagessen und dem Kaffee wurden die Parteien in Vaters Zimmer gerufen. Dort kam es zu neuen Verhören und neuen Geständnissen. Darauf wurde der Teppichklopfer geholt, und man durfte selbst angeben, wie viele Schläge man zu verdienen meinte. Nachdem das Strafmaß festgestellt worden war, holte man ein grünes, fest gestopftes Kissen, Hose und Unterhose wurden heruntergelassen, man wurde bäuchlings auf das Kissen gelegt, jemand hielt den Verbrecher am Hals fest, und die Schläge wurden ausgeteilt.

Ich kann nicht behaupten, dass es sonderlich weh tat, es waren das Ritual und die Demütigung, die wirklich schmerzten. Meinem Bruder erging es weit schlimmer. Mutter saß oft an seinem Bett und kühlte ihm mit nassen Wickeln den Rücken, auf dem die Hiebe die Haut abgelöst und blutige Streifen hinterlassen hatten. Da ich meinen Bruder hasste und seinen plötzlich aufflammenden Zorn fürchtete, fand ich große Befriedigung darin, dass er so hart bestraft wurde.

Nachdem die Schläge verabreicht waren, musste man Vater die Hand küssen, worauf einem die Vergebung erteilt wurde. Die Sündenlast fiel zur Erde, es kam zu Befreiung und Gnade, man musste zwar ohne Abendessen und Abendlektüre ins Bett gehen, fühlte sich aber dennoch beträchtlich erleichtert.

Daneben gab es noch eine Art spontaner Strafe, die für ein Kind, das sich vor dem Dunkeln fürchtete, sehr unangenehm sein konnte, nämlich ein längeres oder kürzeres Einsperren in einer besonderen Garderobe. Alma hatte nämlich in der Küche erzählt, dass gerade in dieser Garderobe ein kleines Wesen wohnte, das bösen Kindern die Zehen abfraß. Ich konnte deutlich hören, dass sich da drinnen im Dunkeln etwas bewegte. Mein Entsetzen war total. Ich weiß nicht mehr, was ich unternahm. Vermutlich kletterte ich auf Regale und hängte mich an Haken auf, damit mir die Zehen nicht aufgefressen wurden. Nachdem ich eine Lösung gefunden hatte, machte mir diese Form der Bestrafung keine Angst mehr: Ich versteckte in einer Ecke eine Taschenlampe mit rotem und grünem Licht. Kaum hatte man mich eingesperrt, suchte ich mir meine Lampe, richtete den Lichtkegel auf die Wand und stellte mir dabei vor, ich wäre im Kino. Als einmal die Tür geöffnet wurde, lag ich mit geschlossenen Augen auf dem Fußboden und spielte den Bewusstlosen. Alle bekamen es mit der Angst, nur Mutter nicht, die mich im Verdacht hatte, bloß zu simulieren, aber da mir nichts nachgewiesen werden konnte, blieben weitere Strafen aus.

Andere Strafen waren Kinoverbot, Essensverbot, Verbannung ins Bett, Stubenarrest, Strafarbeiten im Rechnen, Schläge mit dem Teppichklopfer auf die Hände, Reißen an den Haaren, dass man in die Küche abkommandiert wurde (was manchmal recht angenehm sein konnte) oder dass man für eine bestimmte Zeit gemieden wurde, und so weiter.

Heute verstehe ich die Verzweiflung meiner Eltern. Eine Pastorenfamilie lebt wie auf dem Präsentierteller, allen Einblicken völlig preisgegeben. Das Haus muss immer offen stehen. Kritik und Kommentare der Gemeinde hören nie auf. Sowohl Vater wie Mutter waren Perfektionisten, die diesem unerträglichen Druck ganz sicher nicht gewachsen waren. Ihr Arbeitstag war unbegrenzt, ihre Ehe nicht einfach, ihre Selbstdisziplin eisenhart. In den beiden Söhnen spiegelten sich Charakterzüge, die sie unablässig bei sich selbst züchtigten. Mein Bruder konnte sich und seine Revolte nicht schützen. Vater bot seine ganze Willenskraft auf, um ihn zu zerbrechen, was ihm beinahe gelungen wäre. Meine Schwester wurde von beiden Elternteilen heftig und besitzergreifend geliebt. Sie reagierte mit Selbstaufgabe und weicher Ängstlichkeit.

Ich glaube, ich kam noch am besten davon, weil ich mich zum Lügner ausbildete. Ich schuf eine äußere Person, die mit meinem wirklichen Ich sehr wenig zu tun hatte. Da ich Maske und Ich nicht auseinanderhalten konnte, hatten diese Schäden noch Konsequenzen, als ich längst erwachsen war, und sie beeinträchtigten auch meine Kreativität. Manchmal musste ich mich damit trösten, dass der, der in der Lüge gelebt hat, die Wahrheit liebt.

Meine erste bewusste Lüge steht mir noch klar vor Augen. Vater war Krankenhauspfarrer geworden. Wir bezogen eine gelbe Villa am Rand des großen Parks, der an den Lill-Jans-Wald grenzt. Es war ein kalter Wintertag. Mein Bruder, seine Spielkameraden und ich hatten das Gewächshaus am Rand des Parks mit Schneebällen beworfen. Viele Fensterscheiben waren zu Bruch gegangen. Der Gärtner hatte uns sofort im Verdacht und meldete die Sache meinem Vater. Es kam zu Verhören. Mein Bruder gestand, seine Kumpane gestanden. Ich war in der Küche und trank ein Glas Milch. Alma knetete am Küchentisch Kuchenteig. Durch das beschlagene Fenster hindurch konnte ich den Giebel des beschädigten Gewächshauses ahnen. Siri kam in die Küche und erzählte etwas von entsetzlichen Strafen, die gerade verabfolgt würden. Sie fragte, ob ich mit von der Partie gewesen sei, was ich schon bei einem ersten Verhör geleugnet hatte (aus Mangel an Beweisen vorübergehend freigesprochen). Als Siri scherzhaft und fast beiläufig fragte, ob es auch mir gelungen sei, ein paar Scheiben zu zertrümmern, ging mir sofort auf, dass sie mich in eine Falle locken wollte, und ich antwortete mit ruhiger Stimme, ich hätte eine Weile zugesehen, ein paar lose Schneebälle geworfen, die meinen Bruder getroffen hätten, dass ich aber dann weggegangen sei, weil ich kalte Füße gehabt hätte. Ich weiß noch genau, dass ich dachte: So stellt man es an, wenn man lügt.

Das war eine entscheidende Entdeckung. Fast so kühl und berechnend wie Molières Don Juan entschloss ich mich, ein Heuchler zu werden. Ich will nicht behaupten, dass mir das immer geglückt ist. Manchmal durchschaute man mich wegen meiner fehlenden Erfahrung, manchmal griffen Außenstehende ein.

Die Familie besaß eine unermesslich reiche Wohltäterin namens Tante Anna. Sie gab große Kinderfeste mit Zauberkunststücken und anderen Lustbarkeiten, sie machte immer teure und heißersehnte Weihnachtsgeschenke, und jedes Jahr ging sie mit uns zur Premiere des Zirkus Schumann in Djurgården. Dieses Ereignis versetzte mich in fieberhafte Erregung: die Autofahrt mit Tante Annas livriertem Chauffeur, das Betreten des gewaltigen, grell erleuchteten Holzgebäudes, die geheimnisvollen Düfte, Tante Annas riesiger Hut, das krachend laute Orchester, die Magie der Vorbereitungen, das Fauchen der Raubtiere hinter den roten Vorhängen der Laufgänge. Jemand flüsterte, in einer dunklen Nische unter der Zirkuskuppel habe sich ein Löwe gezeigt, die Clowns waren furchterregend und böse, ich schlief vor Gemütsbewegung ein und wachte bei wunderbarer Musik wieder auf: Eine junge Frau in Weiß ritt auf einem gewaltigen schwarzen Hengst.

Mich ergriff Liebe zu der jungen Frau. Ich schloss sie in meine Fantasiespiele ein und nannte sie Esmeralda (vielleicht hieß sie wirklich so). Meine Fantasien vollzogen am Ende den allzu gefährlichen Schritt in die Wirklichkeit hinaus, als ich meinem Klassenkameraden Nisse unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute, meine Eltern hätten mich an den Zirkus Schumann verkauft, man werde mich bald zu Hause abholen und mich zusammen mit Esmeralda, der schönsten Frau der Welt, zum Akrobaten ausbilden. Am nächsten Tag war meine Fantasie in aller Munde und geschändet.

Meine Klassenlehrerin nahm die Sache so ernst, dass sie meiner Mutter einen empörten Brief schrieb. Es kam zu einem schrecklichen Prozess. Ich wurde gedemütigt und mit Schimpf und Schande an den Pranger gestellt, zu Hause wie in der Schule.

Fünfzig Jahre später fragte ich Mutter, ob sie sich an meinen Verkauf an den Zirkus erinnern könne. Sie erinnerte sich sehr gut. Ich fragte dann, warum damals niemand gelacht oder Zärtlichkeit empfunden habe, als ich so viel Fantasie und Kühnheit an den Tag legte. Es hätte sich ja auch jemand fragen können, wie es kommt, dass ein Siebenjähriger sein Elternhaus verlassen will, um an einen Zirkus verkauft zu werden. Mutter erwiderte, meine Verlogenheit und meine Fantasien hätten ihr und meinem Vater schon zu oft Kummer gemacht. In ihrer großen Angst habe sie den berühmten Kinderarzt konsultiert. Er habe betont, wie wichtig es für ein Kind sei, frühzeitig zwischen Fantasie und Wirklichkeit unterscheiden zu lernen. Da man nun vor einer frechen und offenkundigen Lüge gestanden habe, musste die sofort exemplarisch bestraft werden.

Ich selbst rächte mich an meinem ehemaligen Freund, indem ich ihn mit dem Dolch meines Bruders über den Schulhof jagte. Als eine Lehrerin dazwischenging, versuchte ich, sie umzubringen.

Ich wurde vom Schulbesuch ausgeschlossen und bezog reichlich Prügel. Später bekam mein falscher Freund Kinderlähmung und starb, was mir große Freude machte. Die Klasse wurde wie üblich drei Wochen lang beurlaubt, und alles geriet in Vergessenheit. Ich fantasierte jedoch weiterhin von Esmeralda. Unsere Abenteuer wurden immer gefährlicher, und unsere Liebe immer leidenschaftlicher. Unterdessen schaffte ich es aber noch, mich mit einem Mädchen aus der Klasse zu verloben, das Gladys hieß. Mit der betrog ich Tippan, meine treue Spielgefährtin.

Der Park des Sophiahemmet-Hospitals ist groß, seine Vorderseite grenzt an Valhallavägen, die eine Seite an das Olympiastadion, die andere an die Technische Hochschule, und er dringt tief in den Lill-Jans-Wald ein. Die damals noch nicht sehr zahlreichen Gebäude lagen über ein großes, hügeliges Gelände verstreut.

Hier konnte ich frei umherstreifen und erlebte einiges. Besonders die Grabkapelle, ein kleiner Backsteinbau tief im Park, zog mein Interesse auf sich. Durch die Freundschaft mit dem Hausmeister des Krankenhauses, der die Transporte zwischen Krankenhaus und Grabkapelle besorgte, bekam ich viele gute Geschichten zu hören und durfte mir viele Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung ansehen. Ein anderes Gebäude, zu dem der Zutritt eigentlich verboten war, war das Maschinenhaus, in dem vier gewaltige, lautstark brennende Öfen standen. Die Kohle wurde auf Holzkarren herangefahren und von schwarzen Gestalten ins Feuer gewuchtet. Von schweren Ardenner-Pferden gezogene Lastwagen kamen mehrmals in der Woche an. Die Säcke wurden von Männern mit Kapuzen aus Sackleinen zu den offenen Stahlluken geschleppt. Gelegentlich kamen auch geheime Transporte mit blutigen Organen und abgeschnittenen Gliedmaßen an, die in den Öfen verbrannt wurden.

Jeden zweiten Sonntag hielt mein Vater in der Kapelle des Krankenhauses einen Gottesdienst ab. Das Gotteshaus füllte sich mit Krankenschwestern in schwarzen Sonntagsuniformen mit gestärkten weißen Schürzen und den Hauben des Sophiahemmet-Hospitals auf den sorgfältig gepflegten Frisuren. Gegenüber dem Pfarrhof lag das Sonnenheim, dort wohnten die sehr alten Schwestern, die ihr ganzes Leben im Krankenhaus verbracht hatten. Sie traten wie ein Nonnenorden mit strengen Klosterregeln auf.

Die Bewohner des Sonnenheims konnten ungehindert in den Pfarrhof hineinsehen. Das taten sie auch.

Ich muss gestehen, dass ich mit Lust und Neugier an meine frühen Jahre denke. Fantasie und Sinne erhielten reichlich Nahrung, und ich kann mich nicht erinnern, mich je gelangweilt zu haben. Vielmehr explodierten Tage und Stunden vor lauter Besonderheiten, unerwarteten Ereignissen, magischen Augenblicken. Ich kann die Landschaft meiner Kindheit noch immer durchstreifen und Licht, Düfte, Menschen, Räume, Augenblicke, Gesten, Tonfälle und Gegenstände wiederaufleben lassen. Es sind selten Episoden, über die sich etwas erzählen ließe, vielmehr kurze oder lange, wie absichtslos gedrehte Filme ohne Pointen.

Das Vorrecht der Kindheit: sich zwischen Magie und Haferbrei ungehindert zu bewegen, zwischen grenzenlosem Entsetzen und überschäumender Freude. Es gab keine Grenzen außer den Verboten und Regeln, die aber schattenhaft waren, meist unbegreiflich. So weiß ich etwa noch, dass ich nicht begriff, was Zeit bedeutete: Du musst endlich lernen, pünktlich zu sein, wir haben dir doch eine Uhr geschenkt, du weißt, wie man sie liest. Gleichwohl gab es keine Zeit für mich. Ich kam zu spät zur Schule, ich kam zu spät zu den Mahlzeiten. Ich streifte unbekümmert im Krankenhauspark umher, sah und fantasierte, es gab keine Zeit mehr, irgendetwas erinnerte mich daran, dass ich wahrscheinlich hungrig war, und dann gab es Krach.

Meine Fantasien waren nur schwer von dem zu trennen, was als wirklich angesehen wurde. Wenn ich mir Mühe gab, gelang es mir vielleicht, die Wirklichkeit wirklich bleiben zu lassen, aber da gab es ja auch noch Gespenster und Geister. Wie sollte ich mit denen verfahren? Und die Märchen, waren die wirklich? Gott und die Engel? Jesus Christus? Adam und Eva? Die Sintflut? Wie war das eigentlich mit Abraham und Isaak, wollte er seinem Sohn wirklich den Hals durchschneiden? Ich starrte Dorés Radierung aufgeregt an, identifizierte mich mit Isaak, dies war Wirklichkeit: Vater will Ingmar den Hals durchschneiden, was soll werden, wenn der Engel zu spät auftaucht? Dann werden sie weinen. Blut fließt, und Ingmar lächelt blass. Wirklichkeit.

Dann kam der Kinematograph.

Es waren die Wochen vor Weihnachten. Der livrierte Herr Jansson der unermesslich reichen Tante Anna hatte schon eine Menge Weihnachtsgeschenke abgeliefert, die wie gewohnt in der Abstellkammer unter der Treppe zum ersten Stock in einen großen Korb gelegt wurden. Vor allem ein Paket zog meine aufgeregte Neugier auf sich: Es war braun und eckig, und auf dem Packpapier stand »Forsners«. Forsners war eine Fotofirma in Hamngatsbacken. Dort wurden nicht nur Fotoapparate verkauft, sondern auch richtige Kinematographen.

Mehr als alles andere wünschte ich mir einen Kinematographen. Vor einem Jahr war ich zum ersten Mal im Kino gewesen und hatte einen Film über ein Pferd gesehen, ich glaube, er hieß Der schöne Rappe und war nach einem berühmten Kinderbuch gedreht worden. Der Film lief im Sture-Kino, und wir saßen im ersten Rang in der ersten Reihe. Für mich war es der Anfang. Ich bekam ein Fieber, das mich seitdem nie mehr losgelassen hat. Die lautlosen Schatten wenden mir ihre bleichen Gesichter zu und sprechen mit unhörbaren Stimmen mein geheimstes Gefühl an. Sechzig Jahre sind vergangen, nichts hat sich verändert, es ist das gleiche Fieber.

Später in diesem Herbst besuchte ich einen Klassenkameraden. Er besaß einen Kinematographen und ein paar Filme und lud Tippan und mich pflichtschuldigst zu einer Vorstellung ein. Ich durfte die Kurbel betätigen, während der Gastgeber mit Tippan knutschte.

Weihnachten war eine Explosion von Vergnügungen. Mutter führte mit fester Hand Regie. Hinter dieser Orgie aus Gastfreundschaft, Mahlzeiten, anreisenden Verwandten, Weihnachtsgeschenken und kirchlichen Ereignissen muss eine beachtliche Organisation gesteckt haben.

Heiligabend war bei uns eine recht stille Veranstaltung, die um fünf Uhr mit dem Weihnachtsgebet in der Kirche begann und dann mit einer fröhlichen, aber beherrschten Mahlzeit weiterging; dann wurden die Kerzen am Tannenbaum angezündet, die Weihnachtsgeschichte vorgelesen, worauf wir zeitig ins Bett geschickt wurden, da wir am nächsten Morgen zum Frühgottesdienst mussten, der damals im wahrsten Sinne des Wortes in aller Herrgottsfrühe stattfand. Es wurden noch keine Weihnachtsgeschenke verteilt, aber der Abend war fröhlich, ein erregender Prolog zu den Festlichkeiten des Weihnachtstages. Nach dem Frühgottesdienst mit brennenden Kerzen und Trompeten brach das Weihnachtsfrühstück aus. Vater hatte seine beruflichen Verpflichtungen hinter sich gebracht und vertauschte den Talar mit seiner Hausjacke. Er war bester Laune und hielt vor den Gästen eine improvisierte Rede, sang ein eigens komponiertes Lied, prostete mit Branntwein, imitierte seine Amtsbrüder und brachte alle zum Lachen. Ich denke manchmal an seine muntere Leichtigkeit, seine Sorglosigkeit, Zärtlichkeit, Freundlichkeit, seinen Übermut. All das, was so leicht von Dunkelheit, Schwere, Brutalität, Verschlossenheit verdeckt wurde. Ich glaube, ich habe meinem Vater später oft großes Unrecht getan.

Nach dem Frühstück gingen alle zu Bett und schliefen mehrere Stunden. Die innere Organisation muss trotzdem weitergearbeitet haben, um zwei Uhr, in der Dämmerung, gab es Nachmittagskaffee. Wir hielten offenes Haus für alle, die Lust hatten, im Pfarrhof frohe Weihnachten zu wünschen. Mehrere der Freunde waren Berufsmusiker, und zur nachmittäglichen Festlichkeit gehörte meist ein improvisiertes Konzert. Dann näherte sich der lukullische Höhepunkt des Weihnachtstages, das Abendessen. Es fand in der geräumigen Küche statt, in der die soziale Rangordnung vorübergehend aufgehoben worden war. Alle Speisen waren auf Serviertischen und überdeckten Spülen angerichtet. Die Weihnachtsgeschenke wurden am Esstisch verteilt. Man trug die Körbe herein, Vater waltete mit Zigarre und Punschglas seines Amtes, die Geschenke wurden überreicht, Verse wurden vorgelesen, mit Beifall bedacht und kommentiert, keine Geschenke ohne Verse.

Jetzt kommt die Geschichte mit dem Kinematographen: Mein Bruder bekam ihn.

Ich fing sofort an zu heulen, wurde angeschnauzt, verschwand unter dem Tisch, wo ich weitertobte. Man sagte mir, ich solle wenigstens den Mund halten. Ich rannte ins Kinderzimmer, fluchte und verdammte, wollte ausreißen, schlief am Ende vor Kummer ein.

Das Fest ging weiter.

Später am Abend wachte ich auf. Gertrud sang dort unten ein Volkslied; die Nachttischlampe brannte. Ein Transparent mit der Weihnachtskrippe und der Anbetung durch die Heiligen Drei Könige glühte schwach auf der hohen Kommode. Auf dem weißen Klapptisch, unter den sonstigen Weihnachtsgeschenken meines Bruders, stand der Kinematograph mit seinem gekrümmten Schornstein, seiner fein geformten Messinglinse und dem Gestell für die Filmrollen.

Ich fasste einen schnellen Entschluss, weckte meinen Bruder und schlug ihm ein Geschäft vor. Ich bot ihm meine hundert Zinnsoldaten für seinen Kinematographen. Da Dag eine große Armee besaß und mit seinen Freunden immer in kriegerische Vorhaben verwickelt war, schlossen wir einen Vertrag, der beide Seiten zufriedenstellte.

Der Kinematograph gehörte mir.

Es war keine komplizierte Maschine. Lichtquelle war eine Petroleumlampe, die Kurbel war mit einem Zahnrad und einem Malteserkreuz verbunden. An der hinteren Schmalseite des Blechgehäuses saß ein einfacher Reflexspiegel. Hinter der Linse befand sich ein Halter für kolorierte Lichtbilder. Zu dem Apparat gehörte auch eine violette Schachtel. Sie enthielt teils einige Glasbilder, teils einen sepiafarbenen Filmstreifen (35 mm). Er war etwa drei Meter lang und zu einer großen Schleife zusammengeklebt. Auf dem Deckel fand sich ein Hinweis: Der Film hieß Frau Holle. Wer diese Frau Holle war, wusste niemand, aber später stellte sich heraus, dass sie ein volkstümliches Gegenstück zur Liebesgöttin der Mittelmeerländer ist.

Am nächsten Morgen zog ich mich in die geräumige Garderobe des Kinderzimmers zurück, stellte den Kinematographen auf eine Zuckerkiste, zündete die Petroleumlampe an und richtete die Lichtquelle auf die weißgestrichene Wand. Danach legte ich den Film ein.

An der Wand erschien das Bild einer Wiese. Auf der Wiese schlummerte eine junge Frau, die offenbar eine Nationaltracht trug. Als ich die Kurbel betätigte – es lässt sich nicht erklären; ich kann meine Erregung nicht mit Worten beschreiben, kann mir aber jederzeit den Geruch des heißen Metalls ins Gedächtnis zurückrufen, den Duft der Garderobe nach Mottenkugeln und Staub, die Kurbel in meiner Hand, das zitternde Rechteck an der Wand.

Ich betätigte die Kurbel. Das Mädchen erwachte, richtete sich auf, erhob sich langsam, streckte die Arme aus, drehte sich um und verschwand nach rechts. Wenn ich weiterkurbelte, lag sie wieder da und wiederholte genau die gleichen Bewegungen.

Sie bewegte sich.

DIE Kindheit im Pfarrhof des Sophiahemmet-Hospitals: der alltägliche Rhythmus, die Geburtstage, die kirchlichen Feiertage, die Sonntage. Pflichten, Spiele, Freiheit, Gesetzmäßigkeit und Geborgenheit. Der lange, dunkle Schulweg im Winter, im Frühjahr Murmelspiel und Radtouren, im Herbst Sonntagabende mit Vorlesen und Kaminfeuer.

Wir wussten nicht, dass Mutter eine heftige Verliebtheit durchlebte und dass Vater von einer schweren Depression heimgesucht wurde. Mutter machte sich bereit, aus der Ehe auszubrechen, Vater drohte, sich das Leben zu nehmen. Sie versöhnten sich und beschlossen, »der Kinder wegen« zusammenzubleiben, wie es damals hieß. Wir merkten nichts oder nur sehr wenig.

Eines Abends im Herbst war ich im Kinderzimmer mit meinem Filmapparat beschäftigt. Meine Schwester war in Mutters Zimmer eingeschlafen, und mein Bruder war zu einer Schießübung. Plötzlich hörte ich aus dem Untergeschoss eine heftige Auseinandersetzung. Mutter weinte, und Vater sprach mit zorniger Stimme. Das waren erschreckende Laute, die ich noch nie gehört hatte. Ich stahl mich auf die Treppe hinaus und sah Mutter und Vater dort unten in der Halle, in einem heftigen Wortwechsel begriffen. Mutter versuchte, ihren Mantel an sich zu reißen, aber Vater hielt ihn fest. Nach einigen Augenblicken ließ sie den Mantel los und rannte auf die Flurtür zu. Vater kam ihr zuvor und schubste sie zur Seite, stellte sich vor die Tür. Mutter stürzte sich auf ihn, sie rangen miteinander.

Mutter schlug Vater ins Gesicht, und Vater stieß sie gegen die Wand. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel. Ich schrie laut. Meine Schwester wurde durch den Lärm geweckt und erschien auf der Treppe. Sie fing sofort an zu weinen. Mutter und Vater hielten inne.