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Ralf Isau

Das Allerweltshaus

Roman

hockebooks

Die Kronenschmiede

Gerade hatten sie eine nietenbesetzte Tür aus verrostetem Eisenblech erreicht. Es war vermutlich der Hinterausgang der …

Kronenschmiede

So jedenfalls stand es auf dem Sandsteintürsturz.

Der Meisterdieb stieß die Tür auf und fiel der Länge nach in die Schmiede. Die anderen drängten hinterher. Hitze und Lärm schlugen ihnen entgegen. Jan schloss als Letzter den Durchgang.

Drei Blutsauger schafften es noch durch den sich schließenden Spalt. Zielstrebig schossen sie auf Milas zu. Jan wirbelte herum und stach zu: einmal, zweimal … Kaum hatte er das letzte Biest aufgespießt, hörte er Lisas entsetzten Schrei.

»Igitt! An ihm hängt eine Assel.«

Milas lag auf dem schmutzigen Steinboden der Kronenschmiede, das Gesicht unter Schmerzen verzogen, und versuchte den Blutsauger abzuschütteln, der sich an seiner Fußfessel festgebissen hatte.

Jan trat einen Schritt vor und holte mit dem Schwert aus. Ohne nachzudenken, ließ er es durch die Luft fauchen. Die Spitze zerteilte das Tier der Länge nach in zwei Teile. Hierauf sah man zur Rechten wie zur Linken beide Hälften niedersinken. Nur der Kopf der Dogmaassel hing weiter am Fuß des Gebissenen. Innen war er schwarz wie Tinte.

»Bist du von Sinnen!«, keuchte Milas. »Du hättest mir den Fuß abhacken können, du Dieb!«

»Hab ich aber nicht«, sagte Jan grinsend und präsentierte stolz seine Klinge. »Seit ich meine Schiebermütze trage, komme ich erstaunlich gut mit dem Ding zurecht. Vielleicht wird es in meiner Hand zum Schwert der Gerechtigkeit.« Er hatte das eher scherzhaft gemeint, der Hutmacher indes nickte mit wissendem Lächeln.

»Steck endlich das Ding weg«, zischte Lisa mit zornig funkelnden Augen.

Widerstrebend erfüllte Jan ihr den Wunsch. Dabei suchte er mit den Augen nach neuen Gefahren. Sie befanden sich in einem zur Schmiede hin offen Nebenraum. An den Backsteinwänden stapelten sich Kisten, Fässer, Brennmaterial, Eisenstangen und Werkzeuge. Aus den Weiten der Werkstatt drangen allerlei metallische Geräusche zu ihnen: Klappern, Rasseln und vielstimmiges Hämmern. Regelmäßig erscholl in größeren Abständen ein mächtiges Wumms! , unter dem die ganze Kronenschmiede erbebte.

Ein melancholischer Zug umspielte den Mund des Hutmachers. Er lauschte ergriffen dem Lärm und lächelte. »Dieser Ort ist älter als das Allerweltshaus. Hier war ich früher öfters, mit meinem Vater.« Einen Moment lang hatte er für nichts anderes Augen und Ohren.

Lisa kniete sich neben den Meisterdieb und musterte angewidert den Asselkopf. Milas hatte das Bein angewinkelt und fingerte an dem Ding herum. Die Beißwerkzeuge saßen ihm tief im Fleisch. Er biss die Zähne zusammen und sog geräuschvoll die Luft ein.

»Halt!«, rief Davár. Unbemerkt von den anderen hatte er sich von seinen Erinnerungen losgerissen und dem Asselopfer zugewandt. »Lass mich mal sehen. Fuß hoch«, verlangte er streng. In seiner Rechten blitzte die goldene Schere.

»Aber wehe, Ihr stehlt ihn mir, alter Dieb«, warnte Milas den Hutmacher und reckte sein Bein in die Höhe, damit der Operateur sich nicht bücken musste.

Wumms!, hallte es durch die Schmiede.

Davár sah seinen Patienten einen Augenblick lang durchdringend an. Hierauf neigte er sich zu Jan hinüber und sagte stimmlos, nur mit den Lippen: »Die Assel hat ihn vergiftet. Er denkt, alle Menschen seien Diebe.« Sodann machte er sich mit gewohnter Geschicklichkeit an die Entfernung der Beißwerkzeuge.

Lisa tätschelte Milas derweil die Hand. Im Verlauf des Eingriffs bewies Davár ein verblüffendes Zeitgespür. Immer im richtigen Augenblick hielt er inne, um das erschütternde Wumms! aus der Schmiede abzuwarten. Abschließend verschloss er die Wunde mit der Wünschelschere. »Fast wie neu«, beurteilte er seine eigene Arbeit und gab dem geheilten Fuß einen Klaps.

»Danke, du Dieb«, sagte Milas.

»Darf ich fragen, was Ihr hier sucht?«, fragte unvermittelt eine schnarrende Stimme. Ein muskulöser Mann mit verschwitztem, nacktem Oberkörper und Lederschürze trat in den Nebenraum. Er hatte einen großen Schnauzbart, eine Glatze, eine winzige Lederkappe und ein Glasauge. Auf seiner Schulter lag der Stiel eines gewichtigen Schmiedehammers.

»Wer ist das?«, flüsterte Lisa.

»Auch nur ein Dieb«, brummte Milas.

Wumms!, dröhnte es.

Davár drückte das Kreuz durch und watschelte auf den Schmied zu. »Ich bin der Hutmacher.«

Der Mann lachte. »Und ich bin Hauron.«

»Wohl kaum. Wie ein Haus siehst du nicht gerade aus.« Davár öffnete seine Dschubbe und tippte bedeutsam auf den goldenen Sklavenring. »Kennst du das da? Achte auf die besondere Form.«

»Nie gesehen«, antwortete der Glatzkopf kopfschüttelnd.

Der Alte wirkte bestürzt. Er deutete auf seine weiße Kraushaarfrisur. »Dann fällt dir aber bestimmt etwas an meiner Kopfbedeckung auf?«

Der Bärtige kniff das starre Glasauge zu. »Ist das eine Perücke?«

»Kokolores! Das sind meine Haare.«

Wumms!

»Ihr meint, eine Eigenhaarperücke?«

»Kann man so vernagelt sein?«, entrüstete sich Davár, griff sich in den Schopf und zog mehrmals daran. »Die sind angewachsen.«

»Ah!«, machte der Schnauzbart. »Ein Hutimplantat. Hab schon davon gehört.«

Davár stöhnte. »Ich geb’s auf. Der Kerl hat nur Nägel im Kopf.«

Jan trat neben den Hutmacher und lächelte begütigend. »Ich bin der Whistler. Seid Ihr der verantwortliche Schmied hier?«

Wumms!

»Kronenschmied!«, betonte der Gefragte pikiert. »Mein Name ist Lamas.«

»Angenehm, Lamas. Ich sehe, keine Purpurlinie an Eurem Hals. Ihr seid also ein Original?«

»Das will ich wohl meinen, Herr Whistler. Ich habe schon dem alten Kunstschmied als Geselle gedient, als wir in die fünfte bis achte Dimension abrutschten. Der Meister ist beim König in Ungnade gefallen und läuft nun als Straußenvogel herum.«

»Verstehe. Kanntet Ihr auch den Vorgänger Eures Vorgängers?«

Wumms!

»Selbstverständlich. Damals war ich ein Halbwüchsiger, der …«

»Dann seht Euch jetzt diesen Mann noch einmal genau an. Fällt Euch etwas an ihm auf?« Jan deutete auf den Hutmacher.

Lamas näherte sich diesem um einen weiteren Schritt, neigte den Kopf zur Seite und musterte ihn ausgiebig. Plötzlich riss er die Augen auf – das richtige und das falsche. »Ihr seid Meister Rávad, Sohn des legendären Kunst- und Juwelenschmieds Kalat, dem wir unser Läuterungsfeuer verdanken!«

Wumms!

»Es geschehen noch Zeichen und Wunder«, sagte Davár tonlos.

»Bitte verzeiht, ich muss blind gewesen sein.«

Der Hutmacher lächelte säuerlich. »Zumindest halbseitig.«

»Seid Ihr zur Inspektion hier, Herr?«

»Nun … So etwas Ähnliches. Du weißt ja: Ich entwerfe ebenfalls regelmäßig Kronen.«

»Das eine kann man wohl kaum mit dem anderen vergleichen. Eure Stücke sind Meisterwerke, unsere Pfuschwerke des Zufalls. Aber was soll man machen? Der König will es so.«

Wumms!

»Das musst du mir genauer erklären.«

»Kommt, ich zeig es Euch. Wenn Ihr erlaubt, gehe ich voran.« Der Schmied wies mit seiner schwieligen Hand zum Ende des Nebenraums.

»Momo!«, rief Jan die Hündin zu sich und bedeutete ihr, ihm nicht von der Seite zu weichen. Die anderen schlossen sich ihnen an.

Lamas gab einen ausgezeichneten Führer ab. So beschränkt sein geistiger Horizont auch erschien, so beschlagen war er im Schmiedehandwerk. Obwohl in seinem gut geheizten Reich alles Mögliche hergestellt werde, erklärte er, sei die Produktion von Kronen ihr Hauptzweck. Viele Hilfsschmiede hätten früher in der Manufraktur ihre ersten Erfahrungen in Sachen Schnelllebigkeit gesammelt. In der Kronenschmiede habe man diese Kunst zur Perfektion gesteigert.

Die Schmiedewerkstatt bestand aus einer Flucht von Gewölben, in denen Dutzende rußverschmierter, schwitzender Handwerker arbeiteten. In verschiedenen Essen brannten Kohlefeuer. Zur Beleuchtung benutzten sie Fackeln, die in Ringen an den Wänden und Säulen steckten. Die Luft war stickig, trüb und heiß.

Der kahlköpfige Schnauzbart nahm Kurs auf eine monströse Maschine, die er »die Dicke Fortuna« nannte. Fünf oder sechs Gesellen hielten sie bei Laune, so der Meister. Jan staunte über den großen Schmiedehammer, der Lamas zufolge im Laufe der Jahrhunderte immer wieder auf den neuesten technischen Stand gebracht worden sei. Derzeit arbeite er mit Dampf. Alle paar Sekunden fuhr er herab und schmiedete mit nur einem Schlag aus glühendem Metall irgendetwas, von dem man sich erhoffte, dass es zufällig wie eine Königskrone beschaffen war. »Eigentlich prägen wir die Stücke«, geriet Lamas ins Fachsimpeln. »Bis heute haben wir einhundert Prozent Ausschuss produziert.«

Wumms!

Jan dachte, sich verhört zu haben. »Ihr meint, einhundert Prozent Qualität?«

Lamas lachte rau. »Wenn dem so wäre, würden wir uns wohl längst wieder voll und ganz der alten Schmiedekunst widmen. Nein, Hauron sucht die verlorene Königskrone. Er glaubt, Meister Zufall könne ihm zurückgeben, was ein Dieb ihm einst gestohlen hat.«

Der Schmied führte die Besucher zu der sogenannten Glückstrommel, die mehr einer großen Kristallkugel glich. Darin klimperten diverse Metallteile, etwa so groß wie die nummerierten Glückskugeln bei der Lottoziehung, nur in mannigfacher Gestalt. Lamas nannte sie »Prägewerkzeuge«. Die Trommel drehte sich unablässig, wobei regelmäßig ein wahllos zusammengewürfelter Satz Werkzeuge in eine Prägeform fiel. Obenauf kam ein im Läuterungsfeuer zum Glühen gebrachter Rohling, eine schlichte Scheibe.

Wumms!

Während der Kettenzug den Schmiedehammer wieder hochhievte, nahmen die Gehilfen das Zufallsprodukt aus der Form. In den allermeisten Fällen hatte es nicht einmal Ähnlichkeit mit einer Krone und wanderte umgehend zum Altmetall. Einige Stücke, in denen man mit einer hinreichenden Portion Fantasie einen nützlichen Entwicklungsschritt zu erkennen glaubte, gelangten in den Testraum.

Wumms!

Lamas zeigte mit dem Hammer, als wäre es ein federleichter Dirigentenstab, zu einem Durchgang. Darüber – Jan zuckte unwillkürlich zusammen – hing eine Hauronbüste, pechschwarz vom Ruß der Schmiedefeuer. Er machte sofort Lisa, Davár und Milas auf den Königskopf aufmerksam. Sie scharten sich rasch enger um ihn und Momo.

Der ganz in seinen Vortrag vertiefte Schmiedemeister bemerkte nichts von der Nervosität der Besucher. Er schwadronierte weiter über den »Optimierungsprozess« im Testraum. Hier werde ausprobiert, ob der Zufall und das Läuterungsfeuer dem Werkstück eine nützliche Wirkung eingehaucht hätten, erklärte Lamas. Ein Tester setze es sich aufs Haupt und versuche dann durch angestrenges Nachdenken Macht auszuüben. »Aus Rationalisierungsgründen verwenden wir dabei Fruchtfliegen und weiße Mäuse als Versuchskaninchen«, sagte der Meister. »Ziel ist es, die Fliegen in Formation fliegen und die Nager auf einem Tisch tanzen zu lassen.«

Wumms!

»Hat es schon mal funktioniert?«, fragte Lisa skeptisch.

»Eigentlich nicht«, räumte Lamas ein. »Wenn überhaupt keine Veränderung zu beobachten ist, werden die Prägungen sofort wieder zerstört. Manchmal geht eine Maus auf die Hinterbeine oder ein paar Fliegen fliegen nebeneinander her. In diesem Fall messen wir, ob die Tiere nach dem Experiment größere Portionen fressen als vorher.«

»Wieso das denn?«, wunderte sich Jan.

»Wir glauben, dass ein Geschöpf, das sich einem fremden Willen unterwerfen muss, mehr Hunger hat.«

Wumms!

»Ist das wissenschaftlich belegt?«

»Nein, aber an irgendwas muss man sich ja halten. Wird mehr gefressen, hat das Prägestück mehr Macht – so lautet die Regel. Dann fließt die erfolgreiche Zwischenform in die weitere Produktion ein, das heißt, die Prägebank wird so eingestellt, dass die Glückstrommel weniger Veränderungen vornehmen kann.«

»Völlig bescheuert«, schnaubte Lisa im Hintergrund.

»Alles Diebe, sag ich dir«, murmelte Milas verdrießlich.

Wumms!

»Ihr macht das doch schon unheimlich lange«, gab Jan zu bedenken. »Wenn die Methode Hand und Fuß hätte, müsstet Ihr da die Königskrone nicht längst gefunden haben?«

»Sagt das ja nicht zu laut«, raunte der Schmied hinter vorgehaltener Hand und deutete zu dem bärtigen Königskopf, der den ganzen Prozess überwachte. »Wer an der Methode zweifelt, gilt als Hochverräter und verliert seinen Kopf. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Die meisten sogenannten Verbesserungen führen in Sackgassen und werden irgendwann aufgegeben. Außerdem verstellt das wuchtige Wumms! ständig die Prägebank, sodass mancher Fortschritt wieder verpufft. Würden wir nicht ab und zu eingreifen, um die optimierte Form zu halten, käme überhaupt nichts zustande.«

Wumms!

»Nicht die äußere, sondern die innere Form ist entscheidend«, murmelte Milas in seinen flaumigen Schnurrbart.

»Was?«, fragt Lamas.

»Sie sind ein Dieb. Alle hier sind Diebe«, antwortete der Dieb.

Davár trat rasch an seine Seite und klopfte ihm beruhigend auf den Rücken. »Eine Dogmaassel hat ihn gebissen.«

Der Schmiedemeister nickte verständnisvoll. »Eine echte Plage die Biester. Sie belagern die Kronenschmiede regelrecht. Wir vertreiben sie täglich mit dem Läuterungsfeuer. Nach kurzer Zeit sind sie wieder da.«

»Alles Diebe«, zischte Milas.

Wumms!

»Könnte ich das Feuer sehen?«, fragte Jan.

»Ja«, antwortete Lamas wahrheitsgemäß, zögerte jedoch.

»Stimmt irgendwas nicht?«

»Eigentlich ist das Schmiedefeuer Betriebsgeheimnis, aber …« Sein Blick wanderte zu Davár. »Warum sollte ich vor dem Mann etwas verbergen, dessen Vater das Geheimnis des Feuers gefunden hat?«

»Auch wieder wahr«, bemerkte der Hutmacher. »Kommt mit! Die Esse ist dort drüben.«

Wumms!

Er führte die Besucher an einem rechteckigen Becken vorbei, ungefähr drei mal fünf Meter groß. Darin befand sich etwas weißlich Graues, das Jan nicht recht zuordnen konnte. »Was ist das?«, fragte er den Schmiedemeister.

»Schlacke.«

»Also Abfall?«

»Kann man so sagen. Da ist viel Kalk und Silikat drin, das die Güte der verschiedenen Erze schmälern würde, die wir für unsere Testreihen brauchen. Wir verhütten sie in einem anderen Raum der Schmiede, um alle möglichen Veredelungen auszuprobieren. Die Schlacke schwimmt oben auf der Schmelze und wird als Dünger verwendet.«

»So wie Jauche?«, wunderte sich Lisa.

Wumms!

Lamas nickte. Die Gruppe kam vor einem auffallend großen, hüfthohen, quadratischen Herd aus Schamottsteinen zum Stehen. Darin glühten schneeweiße Kohlen und etliche Prägerohlinge aus Gold, Silber und manch anderem Metall. Rötliche Flämmchen züngelten allüberall. Über dem Geviert hing ein auf Hochglanz polierter Rauchfang.

»Unser Läuterungsfeuer ist von ganz besonderer Art«, erklärte Lamas nicht ohne Stolz. »Davárs Vater Kalat hat das Geheimnis der weißen Kohle entdeckt. Was immer an ihr entzündet wird, brennt mit roter Flamme. Ein Meisterschmied vermag in dieser Glut Gegenstände mit Macht zu füllen. Man sagt, eine reine Seele könne sich an dem Feuer nicht verbrennen.«

Wumms !

»Stimmt das?«, staunte Jan. Ihm schwirrte ein Gedanke durch den Kopf.

»Ich hab mich schon hundert Mal daran verbrannt.«

Jan lief zu einem großen Weidenkorb, in dem Pechfackeln lagen, nahm eine heraus und stieß sie ins Läuterungsfeuer. Lamas meldete förmlichen Protest an. Es wummste. Jan achtete weder auf den einen noch auf das andere.

Die Fackel geriet rasch in Brand, blutrote Flammen züngelten empor. Vielleicht konnten sie ihm verraten, ob Lisas Rückfall nur vorübergehend war oder doch tiefer saß. Er hielt seine Hand vor das Feuer. Es wummste erneut. Einen Augenblick lang glaubte er tatsächlich, es könne ihm nichts anhaben, dann jedoch biss die Hitze plötzlich zu.

»Au!«

»Du bist ein Dieb«, meinte Milas unaufgeregt.

Wuff, wuff! , widersprach Momo.

Davár schüttelte den Kopf. »Ich denke eher, du hast noch Schlacke in dir, Jan. Irgendetwas, das dein Inneres verdunkelt. Wenn du jemals wahres Glück im Leben finden willst, musst du es aus dir entfernen.«

»Leichter gesagt als getan«, brummte Jan.

Der Hutmacher lächelte verständnisvoll. »Mach dir deshalb keine Sorgen. Sogar Gold muss geläutert werden.«

Wumms !

Jan machte sich trotzdem Sorgen. Irgendwie hatte er gehofft, das Feuer würde ihm ein reines Herz bescheinigen. Du hast zu viele Fantasyromane gelesen.

Lisa hatte sich inzwischen an ihren Bruder herangeschlichen und streckte ihre Rechte nach den roten Flammen aus. Ihre Augen glänzten besorgniserregend, während sie wisperte: »Kann eine unsterbliche Seele etwas anderes als lauter sein?«

»Autsch!«, japste sie und zuckte zurück. Zornig stampfte sie mit dem Fuß auf. »Ach, manno!«

Wumms !

Milas tätschelte ihr den Rücken. »Nimm’s nicht so schwer. Unsterbliche Seelen gibt es nicht. Es gibt nur Diebe, die jeder kennt, und Diebe, die noch keiner als Diebe erkannt hat.«

Sie lutschte an ihrem verbrannten Finger und funkelte ihn wütend an.

»Wenn ihr euch durch das Feuer läutern wollt, müsst ihr damit in die Höhle der verlorenen Gedanken gehen«, merkte Lamas an. Er klang verschnupft, vermutlich, weil die Geschwister seine Warnungen missachtet hatten.

»Das halte ich für keine gute Idee«, brummte Davár.

Wumms !

Der Schmiedemeister zuckte mit den Schultern. »Ich meine ja nur.«

»Wir nehmen ein paar von den Fackeln mit«, beschloss Jan.

Milas nickte, lief zum Weidenkorb und sammelte ungefähr zehn in seinen Arm. Als er sich im Aufrichten wieder seinen Gefährten zuwandte, riss er Mund und Augen auf.

»Ach du heilige Schlacke!«, stieß Lamas hervor.

Damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Als Jan sich ebenfalls umdrehte, sah er eine Gestalt aus dem Schlackebecken steigen.

Wumms!

Sie war ungefähr drei Meter groß und sah aus wie ein Mensch, der gerade aus einem Ganzkörperschlammbad kam, nur in Aschgrau. Und mit Haurons Gesichtszügen.

»Du liebe Güte!«, entfuhr es dem Hutmacher.

Lisa kreischte.

Momo bellte.

»Flieht! Ich lenke den Kotzbrocken ab«, rief Jan, ließ die Fackel fallen und riss sein Schwert aus der Scheide.

»Bist du irre?«, schrie Lisa. Sie schnappte sich einen kleineren Schmiedehammer.

Jan rannte brüllend auf die Gestalt zu, dicht gefolgt von seiner Schwester.

Das schlackige Haurongesicht grinste.

Jan zielte auf den Bauch des Riesen und schlug mit der Kraft des Zorns zu.

Sein Schwert brach entzwei.

Keuchend taumelte er zurück.

Lisa schleuderte mit wütendem Knurren ihre Waffe. Nach kurzem Flug knallte sie dem Schlackemann gegen das Schienbein.

Pling !

»Hammerwerfen war nie deine Stärke«, keuchte Jan und warf seinen Schwertgriff nach dem Kopf der unheimlichen Gestalt. Er prallte wirkungslos von ihrer Stirn ab.

Pling ! Wumms!

Der Schlackeriese sah an sich herab und bückte sich nach dem Hammer.

»Der Dieb macht euch platt. Kommt sofort weg da!«, rief Milas.

Die Geschwister griffen sich bei den Händen und rannten los.

»Die Inspektion ist vorbei«, sagte der Hutmacher zum Schmiedemeister. »Habt Ihr noch einen anderen Ausgang, möglichst klein, wenn es sich einrichten lässt?«

Lamas deutete zu einer winzigen Rundbogentür am Ende des Raums. Seine weit aufgerissenen Augen blieben auf den grauen Riesen gerichtet. Als er sich dann doch zu Davár umwandte, war der schon verschwunden.

Wumms!

Milas und Momo schlossen sich dem Alten an, dicht gefolgt von den Geschwistern. Jan bückte sich im Laufen nach der fallen gelassenen Fackel und hob sie auf.

Hinter ihnen dröhnte das Stampfen des Schlackeriesen. Hauron brüllte vor Zorn. Man konnte meinen, eine Ladung Schotter ergieße sich in die Schmiede. Handwerker sprangen schreiend aus dem Weg. Der graue Riese kam näher.

»Schneller, der Dieb holt uns ein!«, rief Milas. Er hatte sich mit seinem Bündel Fackeln an die Spitze gesetzt.

»Ich bin kein Windhund!«, japste Davár.

Wuff , wuff !

Wumms !

Jan und Lisa griffen dem Alten unter die Arme. Halb schleppten sie, halb schoben sie ihn auf die Tür zu.

Hauron schleuderte den Hammer.

Milas riss die winzige Tür auf.

Das Wurfgeschoss wirbelte durch den Ausgang, hinein in die Dunkelheit und zerschmetterte ein schwarzgraues Pantoffeltier.

»Na toll!«, stöhnte Jan und verzog angewidert das Gesicht. »Asseln!« Er senkte die Fackel.

Die Dogmaasseln stoben klickend davon.

Momo und Milas flohen als Letzte aus der Schmiede.

Der Schlackeriese prallte gegen die Wand. Er war zu groß, um durch den Türausschnitt zu passen. Mit wütendem Grollen reckte er seinen Arm hindurch, bekam den Meisterdieb und die Hündin aber nicht mehr zu fassen.

»Bleib, wo du bist, verdammter Dieb«, schrie Milas empört.

Die Hauronfigur hämmerte gegen den Türsturz. Tonziegel zersplitterten und hagelten in den Korridor.

»Der gibt so schnell nicht auf«, sagte Davár. »Wir sollten uns sputen, damit wir einen ordentlichen Vorsprung gewinnen.«

Jan leuchtete mit der Fackel in den düsteren Kellergang. Darin wuselte es nur so vor Asseln. »Vom Regen in die Traufe«, murmelte er.

Wumms!

Die Hatz

Milas ging mit einer Fackel voran und Jonas bildete mit der seinen das Schlusslicht. Ohne das Läuterungsfeuer wären sie längst alle, um Davárs Worte zu gebrauchen, dumm wie Brot. Die Dogmaasseln hielten gerade genug Abstand zu den Fackeln, um sich nicht daran zu verbrennen. Auf des Wahnsinns fette Beute verzichten wollten sie aber auch nicht.

Zu allem Übel dröhnten auch noch die Schritte des Schlackeriesen durch den düsteren Gang. Er hatte sich den Nebenausgang der Schmiede wohl aufs passende Maß zurechtgehämmert und wieder die Verfolgung aufgenommen.

»Das war ganz schön mutig von dir, wie du auf den Kotzbrocken losgegangen bist«, sagte Jan zu Lisa. Sie lief vor ihm.

Sie drehte sich um und grinste. »Hammerhart, was?«

»Das trifft’s ziemlich genau.« Er ließ seine Fackel einmal mehr über den Boden fauchen.

Knisternd und klickend huschten die Dogmaasseln davon.

»Wer was erreichen will, muss sich eben durchsetzen«, sagte Lisa.

Jan schluckte. »Wie meinst du das?«

»Das war einer von Ricks Leitsprüchen. Er meinte, die Ellbogengesellschaft heißt nicht deshalb so, weil man sich mit Wattebäuschen beschmeißt. Für den Erfolgreichen gehört die Leiche im Keller sozusagen zum guten Ton.«

»Meinst du Leichen wie Faron Jones?«

Sie blieb abrupt stehen und fuhr zu ihm herum. »Warum sagst du das? Faron war mein Freund.«

»Ist nicht jede Leiche der Freund von irgendjemand?«

Sie funkelte ihn aus ihren blaugrünen Augen wütend an.

Jan funkelte zurück.

Unüberhörbar kam der Schlackeriese rasch näher.

»Nicht trödeln!«, mahnte Davárs Stimme von der Mitte des Zugs.

Schnaufend drehte sich Lisa wieder um und stapfte weiter.

Eine Weile lang liefen sie schweigend voreinander her.

Jan ärgerte sich mehr über sich selbst als über seine Schwester. Der Vergleich mit Faron war gemein gewesen. Sie trug ein Diadem, das es ihr unmöglich machte, klar zu denken. Ausgerechnet du musst an ihr herummäkeln, haderte er mit sich selbst. Du hast doch auch Schlacke im Kopf! Irgendetwas verdunkele sein Inneres, hatte Davár gesagt. Was er nur damit gemeint hatte? Vielleicht das Gefühl, den Vater ständig nur zu enttäuschen. Du bist mir für deine Schwester verantwortlich, hallten einmal mehr dessen Worte durch Jans Geist.

Er seufzte. »Du willst also immer noch unsterblich werden?«, fragte er Lisa in deutlich sanfterem Ton.

»Ja«, antwortete sie trotzig, ohne sich umzudrehen.

Jan spürte, dass jedes weitere Wort sie nur noch mehr reizen würde. Also schwieg er.

Die Schritte ihres schlackigen Verfolgers dröhnten von Minute zu Minute lauter. Ab und zu hallte auch ein beängstigendes Kratzen und Knistern durch den tunnelartigen Gang. Jeden Moment konnte er hinter ihnen auftauchen. »Wenn nicht bald ein paar Abzweige kommen, holt der Königsdieb uns ein«, meldete sich Milas von vorn.

»Das hat er doch längst, wir stecken mitten in seinen Eingeweiden«, japste Davár. »Das Wesen hinter uns ist nicht Hauron. Es ist nur ein Wurmfortsatz von ihm, belebt von seinem Bewusstsein, so wie diese hässlichen Büsten, diese Warzen auf seinem Angesicht.«

»Das nehme ich jetzt persönlich«, sagte unvermittelt eine dunkle, knirschende Stimme von oben.

Momo bellte.

Jan riss die Fackel herum.

Unter der Decke hing ein Haurongesicht, ein Relief, das tief ins Backsteingewölbe eingegraben war. Es grinste nicht. Es zog die Mundwinkel herab. Davár hatte das Bewusstsein wohl ernsthaft beleidigt.

»Lauft!«, rief er.

Das war ein frommer Wunsch, denn den letzten Kilometer hatte er ohnehin schon fast in persönlicher Bestleistung zurückgelegt.

»Hilf mir!«, forderte Jan seine Schwester auf.

Sie griffen dem Alten unter die Arme. Bald rann Jan der Schweiß übers Gesicht. Er musste ihnen ja mit der Fackel noch zusätzlich die Dogmaasseln vom Leib halten. Als er sich umdrehte, sah er im Dunkel hinter sich einen Schemen. »Au Backe, der Kotzbrocken!«, keuchte er.

Lisa schrie erschrocken auf.

Momo bellte abermals.

»Da kommt ein Abzweig«, meldete Milas von vorn.

»Kannst du den Typen nicht einfach verflüssigen?«, rief Jan.

Milas schnaubte empört. »Er ist ein Dieb. Ich verrate meine Tricks doch nicht an die Konkurrenz.«

»Aber …«

»Lass ihn, ein Dogmatiker lässt sich nicht umstimmen«, japste Davár. Gestützt auf die Geschwister lief er so schnell wie seit zweitausend Jahren nicht mehr. Trotzdem holte der Schlackemann auf. Ab und zu stoben über ihm die Funken, wenn er an der niedrigen Tunneldecke entlangschrammte und ein weiteres Stück des schimmernden Lichtschlauchs zerfetzte.

»Jan, oben!«, rief Lisa.

Er blickte zur Decke. Da hatte sich ein Riss gebildet, aus dem etwas Dunkles herabrieselte.

»Igitt!«, schrie Lisa.

»Das sind nur Schieferkakerlaken«, japste Davár.

»Nur?«

»Du weißt doch: Nicht verschlucken.«

Die ekelhaften Krabbeltiere waren groß wie Maikäfer und ziemlich umtriebig. Sobald sie aus dem sich ständig weitenden Riss auf den Boden gefallen waren, krabbelten sie an allem hoch, was sich zum Hochkrabbeln eignete: Wände, Menschen, Hunde …

Momo jaulte, schüttelte die Beine und hüpfte wie ein Gummiball.

Milas reichte Davár und Lisa zwei brennende Fackeln. »Passt auf, dass ihr euch nicht selbst in Brand steckt.«

Sie eilten weiter, jeder damit beschäftigt, die Kakerlaken mit roten Feuerstößen auf Abstand zu halten. Hinter ihnen stampfte und knirschte es. Der Schlackeriese zermalmte die Asselbande. Kaum mehr hundert Meter, dann hatte er sie eingeholt.

»Da geht’s raus!«, rief Lisa unvermittelt und streckte die Hand nach einer Klinke aus. Jan hätte die Tür glatt übersehen, so unscheinbar fügte sie sich in die Wand.

»Nicht!«, schrie Davár.

Zu spät. Lisas Ekel und Angst waren mächtiger als jede Vorsicht. Sie wollte nur noch weg von den Asseln, den Kakerlaken und dem Schlackemann. Die Tür sprang auf …

… und Lisa flog beinahe hindurch.

Jan starrte entsetzt auf das Nichts hinter der Tür. Ihm fiel kein besseres Wort dafür ein. Die beklemmende lichtlose Leere zerrte mit Gewalt an seiner Schwester. Ihre Füße rutschten immer weiter darauf zu.

»Gut festhalten«, ächzte Davár. Er hielt Lisa fest und Jan hielt den Hutmacher fest. Trotzdem zog das Nichts die Dreierkette immer näher zu sich heran.

Weiter vorne im Gang jaulte Momo. Sie lag flach wie eine Flunder auf dem Boden, um dem Sog zu widerstehen. Die leichteren Schieferkakerlaken flogen scharenweise durch die Tür.

Plötzlich war Milas da. »Bleibt lieber hier. Da findet ihr auch nur Diebe«, rief er und warf die Tür zu.

Der Sog verebbte augenblicklich.

Ein wütendes Knirschen lenkte die Aufmerksamkeit der fünf wieder auf den Schlackeriesen. Er fräste gerade mit seinem zackigen Kronenhut eine Wagenladung Backsteine aus der Decke. Ohne dieses Handicap hätte er die Fliehenden wohl längst eingeholt. Gut fünfzig Meter trennten ihn noch von den Gefährten.

»Kommt ihr?«, fragte Milas beiläufig. Er hob seine fortgeworfenen Fackeln auf und lief weiter. Die anderen keuchten hinterher.

Und ihr Vorsprung schrumpfte.

Der Gang mündete in einen breiteren Querweg mit Kreuzrippengewölbe. Gebrannte Ziegelsteine bildeten die Verstrebungen, die Füllungen dazwischen waren weiß verputzt.

Milas blickte nach links und schrie: »Diebesbande!«

Als Jan die Einmündung erreichte, sah auch er die Haupt-Leute. Es waren mindestens zwanzig. Und vorneweg lief – wie konnte es anders sein? – Syrte.

»Rechts lang«, keuchte Davár und deutete in einen gebogenen Korridor.

Der Meisterdieb schüttelte den Kopf. »Da geht es …«

»Ich weiß, aber uns bleibt keine Wahl«, schnitt der Hutmacher ihm das Wort ab.

Sie hetzten weiter. Jan hatte das ungute Gefühl, schon wieder vom Regen in die Traufe zu kommen. »Wohin führt dieser Gang?«, fragte er Davár.

Der Alte presste trotzig die Lippen aufeinander.

»Wo endet dieser Korridor?«, verlangte Jan eine Antwort.

»Im Marstall«, stieß Davár hervor. Die Wahrheit spritzte förmlich aus ihm heraus.

»Du meinst die Pferdeställe des Königs? Was ist so schrecklich daran?« Jan sah sich um. Der Schlackeriese quetschte gerade einen Robenmann an die Wand. Nicht mehr als dreißig Schritte und die Verfolger hätten sie eingeholt.

»Es war früher der Marstall. Hauron hatte die Tiere in einer Höhle untergebracht, in der es auch im Sommer schön kühl war. Heute befindet sich dort …«

»Wir sind da«, unterbrach Milas den Alten.

Jan warf den Kopf herum und starrte auf die in Stein gemeißelten Lettern.

Höhle der verlorenen Gedanken

»Seht mich nicht so an, Prinz. Öffnet endlich die Tür«, sagte Davár aufgeregt.

Milas gehorchte.

Jan erschauderte. Er sah in dem oben abgerundeten Türausschnitt nur Schwärze, anders als das saugstarke Nichts, doch keineswegs weniger bedrohlich. Ein Kohlenkeller war die reinste Disco dagegen.

»Schnell hinein!«, drängte der Hutmacher und schritt als Erster durch die Tür.

Momo winselte.

»Du auch«, verlangte er.

Sie gehorchte mit eingezogenem Schwanz, dicht gefolgt von Milas. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube betrat auch Jan die Höhle. Lisa wich ihm nicht von der Seite.

»Tür zu!«, blaffte Davár.

Die Höhle der verlorenen Gedanken

Es schien, als entziehe die Höhle den roten Flammen das Licht. Ohne das Läuterungsfeuer wären die fünf völlig blind gewesen. Jan starrte in die Dunkelheit und hatte das ungute Gefühl, sie könnte ihn hypnotisieren. Er kämpfte dagegen an, zwang sich an irgendetwas zu denken.

Hat Davár den Meisterdieb eben Prinz genannt?

»Immer schön weiterdenken«, sagte Davár. Seine Stimme klang seltsam gedämpft.

»Wohin sollen wir gehen?«, raunte Jan. Laut zu sprechen wäre ihm ungehörig vorgekommen.

»Egal. Einfach geradeaus. Haurons Wurmfortsatz und Syrtes Truppe werden uns sowieso nicht folgen. Sogar das Bewusstsein hat Angst, sich an diesem Ort zu vergiften.«

»Vergiften?«, echote Lisa. Man hätte meinen können, sie spräche in ein Kissen. »Womit denn?«

»Mit verlorenen Gedanken. Sie geistern überall in dieser Höhle herum. Der König nennt sie ›die Kloake‹: Durch Röhren, die wie Luftabzugsschächte aussehen, fließt hier alles zusammen, was die Gedankenwäscherei aus den Köpfen spült. Genauso beim Kabinett der Hüte: Sobald du eine Kopfbedeckung aufsetzt, gibt es für dich nur noch deinen größten Herzenswunsch. Wie ein Kuckuckskind wächst er und wächst, bis er alle anderen Gedankenküken aus dem Nest geschubst hat.«

»Die Gedankenkloake des Weltenhauses?«, murmelte Jan und schüttelte den Kopf.

»Nicht nur das. Ihr findet hier sogar Gedanken und Erinnerungen aus der ersten bis vierten Dimension.«

»Wie das?«

»Ich weiß es nicht, Jan. Offenbar hat Hauron so eine Art Blitzableiter für Geistesblitze, die von ihren Besitzern aus irgendwelchen Gründen aufgegeben werden. Menschen lockt er ja auch hierher.«

»Er ist der größte Dieb von allen«, sagte Milas. Es klang wie ein Glaubensbekenntnis.

Jan ignorierte ihn. »Warum müssen wir hier unablässig denken, Davár?«

»Die herrenlosen Gedanken suchen einen neuen Sinn. Einen Geist, in dem sie sich festsetzen können. Sie sind wie streunende Hunde, die ja auch nicht gern allein bleiben. Wenn du den Streunern hier ein leeres Plätzchen in deinem Kopf anbietest, machen sie sich darin breit und gehen vielleicht nie mehr fort.«

Wuff!, hallte es dumpf durch das Dunkel.

»Ich habe das Gefühl, meine Festplatte ist gerade gecrasht«, sagte Lisa.

Davár sah sie stirnrunzelnd an. »Wie bitte?«

»Mein Kopf entleert sich wie ’ne Kloschüssel.«

»Ach so! Das liegt am zwanghaften Denken. Bleibt einfach ganz locker. Zählt Schäfchen, falls euch nichts Besseres einfällt. Oder achtet auf Lichtblitze, während wir die Höhle durchqueren.«

Jan erinnerte sich an seinen Blick durch das Schlüsselloch des Gedankenarchivs. »Warum sind manche Gedanken sichtbar und andere nicht?«

»Hier«, betonte Davár, »seht ihr nur eure eigenen Geistesblitze und Erinnerungen. Vor ihnen braucht ihr euch nicht zu fürchten, wenn ich mich nicht irre.«

»Je eher wir losgehen, desto früher kommen wir an«, sagte Jan und schlüpfte in die Rolle des Anführers.

Nach wenigen Schritten blieb er wieder stehen. Es war gespenstisch ruhig geworden. Nicht einmal Momos klickende Krallen auf dem Höhlenboden hörte er mehr. Er drehte sich um.

Um ihn herum war niemand. Nur ein paar ferne Blitze, die durch die Dunkelheit irrlichterten.

»Ja-aan!«, rief Lisa zum wiederholten Mal. Warum antwortete er nicht? Sie versuchte ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen, um nicht in Ohnmacht zu fallen wie auf dem Broadway. Dann könnte sie ja nicht mehr denken. Und wenn sie nicht dachte, kämen diese Hausbesetzer, giftige Gedanken von durchgeknallten Typen, Perversen, Vergewaltigern … Sie schluckte. Davor fürchtete sie sich am meisten. Warum hatte sie auch nicht aufgepasst? Eine winzige Unachtsamkeit und sie war plötzlich allein gewesen in dieser ekelhaften Sickergrube für Gedankendurchfall.

Die Höhle der verlorenen Gedanken hatte ihre eigenen Gesetze, so viel stand fest. Sie saugte alles auf wie ein trockener Schwamm. Oder wie Aktivkohle: kleine Abmessungen, große Oberfläche – hatte Lisa in Chemie gelernt. Wahrscheinlich lief die Gedankenkloake deshalb nicht über von all den ausgeschiedenen Geistesblitzen, die hier landeten. Sogar das Licht der Fackel reichte kaum bis zum Fußboden.

»Jan, das ist nicht lustig. Antworte endlich!«, verlangte Lisa. Sie konnte seinen Namen schreien, so laut sie wollte, die Reaktion blieb aus. Nicht einmal ein Echo meldete sich. Ihre Stimme klang so gedämpft, als stehe sie in einer Gummizelle.

»Keine Panik!«, flüsterte sie. »Nicht hyperventilieren. Und immer schön weiterdenken.« Nur, worüber? Am besten über die Karriere als Popstar. Das war ein ergiebiges Thema.

Das Fantasieren half ihr über die Angstgefühle hinweg, und sie lief weiter. Nur, wohin? Davár hatte gesagt, es sei egal. Einfach geradeaus. Nur, wie soll man wissen, was gerade ist, wenn einem jegliche Orientierung fehlt? Immerhin, machte sie sich Mut, ist auch das ein Gedanke.

Auf einmal sah sie ein irrlichterndes Band. Wie gebannt blieb sie stehen. Es war enorm lang und rosarot. Lisa hatte sich als Achtjährige in rhythmischer Sportgymnastik versucht, weil sie die fliegenden Satinbänder der Sportlerinnen so entzückten. Spontan erinnerte sie sich jetzt daran zurück, nur dass man hier weder Mensch noch Stab sah, nur das in verschlungenen Bahnen durch die Dunkelheit jagende Band. Es hüpfte auf und ab, flog Loopings, Achten, sauste lautlos hin und her. Allmählich bewegte es sich dabei auf die Beobachterin zu.

Warum laufe ich wieder?, wunderte sich Lisa auf einmal. Das Irrlicht zog sie wie magisch an. Welcher ihrer Gedanken hatte sich wohl in das Allerweltshaus verirrt? Fast zum Greifen nah war sie schon dem übermütigen Leuchtband. Unvermittelt verharrte es in der Luft, so als habe es das Mädchen gerade erst bemerkt. Das Band schien Lisa zu beobachten.

Sie schreckte zurück und blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Halt suchender Sinn war auf eine Erinnerung gestoßen. Sogar das Bewusstsein hat Angst, sich an diesem Ort zu vergiften . Davárs Worte hatten wie eine Warnung geklungen.

In Lisas Fantasie verwandelte sich die leuchtende Erscheinung in eine Königskobra, die aus ihrem Korb aufstieg …

Plötzlich schoss das Band auf sie zu. Ehe sie reagieren konnte, zischte es ihr durch die Augen in den Kopf. Lisa schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende. Dann hellte sich die Höhle auf, und sie sah ihre Mutter.

Julia, in schlabbriger Leinenbluse, saß auf der Couch in der Wohnstube und hielt ein schreiendes Baby im Arm. Wie winzig es war! Es trug einen rosa Strampelanzug, die gleiche Farbe, die das irrlichternde Band gehabt hatte. Ist das Mali?, fragte sich Lisa. Die kleine Schwester, von der Jan erzählt hatte? Nein, Moms Frisur ist total out … Das bin ICH!

Ein dicker Kloß bildete sich in Lisas Hals. Tränen liefen ihr über die Wangen. Ja, sie sah hier ihre eigenen Erinnerungen, wahrscheinlich vermischt mit den Erzählungen anderer. Wie sonst hätte sie sich selbst beobachten können, so als würde ein Team von »Die versteckte Kamera« die Szene filmen.

Julia öffnete ihre Bluse und legte sich das Kind an die Brust. Klein Lisa nuckelte genüsslich. Unwillkürlich spitzte auch die große Lisa ihre Lippen und saugte, so als sei sie nun dieser niedliche Fratz. Sie glaubte den Duft der Mutter zu riechen. Wie schön er war! Sie empfand ihre Wärme, hörte ihr Herz klopfen, fühlte sich so geborgen bei ihr wie danach vielleicht nie wieder im Leben. Sie wusste mit jeder Faser, wie sehr Mom sie liebte.

Nach kurzer Zeit verdrehte Klein Lisa die Augen und wurde schläfrig. Mom streichelte ihr mit dem Finger die Wange, um sie wach zu halten. Dann kehrte die Dunkelheit in die Höhle zurück.

Lisa wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Dabei entdeckte sie ein anderes Licht, ein anderes Band, eine andere Erinnerung. Es war dunkelblau und entfernte sich von ihr. Sie lief ihm hinterher, holte auf, bis es die Verfolgerin bemerkte und ihr in den Kopf schoss.

Wieder verschwand die Dunkelheit und Lisa sah sich mit ihrem Vater an einem Strand. Er trug eine dunkelblaue Badehose. Sie war höchstens zwei Jahre alt und im Evaskostüm. Mit großem Ernst bauten sie gemeinsam an einer riesigen Sandburg. Lisa meinte, die feinen Sandkörnchen zwischen den Fingern zu spüren. Übermütig bespritzte sie ihren Dad mit der Plastikgießkanne und quietschte vor Vergnügen. Er spritzte zurück. Sie weinte. Die Tränen schmeckten salzig, wie das Meer. Dad tröstete Klein Lisa. Sie spürte seine Kraft, die so sanft sein konnte. Er herzte sie, und sie hörte seine liebevolle, warme Stimme. Und dann lachten sie beide wieder. Dunkelheit kehrte in die Höhle zurück und die Tränen auf Groß Lisas Lippen schmeckten immer noch wie das Meer.

Begierig hielt sie Ausschau nach weiteren Erinnerungen. Sie irrte eine Weile mit ihrer Fackel in der Finsternis umher. Da! Diesmal war das Band hellblau. Lisa rannte darauf zu und das Licht bahnte sich seinen Weg durch ihre Augen ins Bewusstsein.

Da war Jan, vielleicht sechs Jahre alt. Sie spielten mit einem länglichen Karton Titanic. Es war ziemlich dramatisch, als der papierene Ozeanriese den Eisberg rammte. Das Schiff wankte, geriet gefährlich in Schieflage und Lisa schnitt sich an der Pappe. Sie weinte. Wieder mal. Ihr großer Bruder verband die Wunde fachmännisch mit einem Tempotaschentuch und tröstete sie. Danach spielte er ihr auf seiner Piccoloflöte ein lustiges Lied vor. Lisa stimmte mit ihrer Kleinmädchenstimme übermütig ein und vergaß darüber ihre Verletzung und den Schiffbruch. Als erneut die Finsternis in der Höhle der verlorenen Gedanken Einzug hielt, sang sie immer noch das fröhliche Lied.

Ihr Blick ruhte auf dem Läuterungsfeuer, während sie sich mit dem T-Shirt-Saum die Tränen von den Wangen wischte. Sie schniefte, wollte endlich nach Hause, zurück zu ihrer Familie. Ihre Augen suchten im Dunkeln nach einem Weg.

Da sah sie die Tür.

Denken hatte Jan noch nie als übermäßig anstrengend empfunden. Er machte sich Sorgen um Lisa, das half. Die Vorstellung, ohne sie heimzukehren, fand er dagegen weniger hilfreich. Der Gedanke hatte die Sprengkraft einer Fliegerbombe, er fegte alle anderen Überlegungen in weitem Umkreis weg. Ground Zero im Kopf – das brauchte er nun wirklich nicht.

Schon hörte er wieder die Stimme seines Vaters. Sei der große Bruder, auf den wir uns verlassen können. Zornig ließ Jan seine Fackel durch die Luft fauchen. Warum konnte er nicht einmal auf seine Schwester aufpassen, so wie Vater es von ihm erwartete? Papa, ich hab’s versucht, aber eine verdammte Höhle hat mich kaltgestellt. Nein, mit dieser Ausrede sollte er ihm lieber nicht kommen.

Unvermittelt entdeckte Jan in der Dunkelheit ein blaues Irrlicht. Er streckte die Fackel nach hinten, um es besser beobachten zu können. Davárs Erklärungen kamen ihm wieder in den Sinn. Nur die eigenen Geistesblitze und Erinnerungen seien an diesem Ort sichtbar. Neugierig lief Jan auf das huschende Lichtband zu. Es peitschte durch die Luft wie der Schwanz des Papierdrachens, mit dem er als Kind gespielt hatte. Seine Schwester machte gerade nur wenige Meter entfernt eine ganz ähnliche Erfahrung. Doch sie bemerkten einander nicht.

Das leuchtende Band drang durch seine Augen in ihn ein und erfüllte, so schien es, die Höhle mit Licht.

Jan sah sich selbst im Kinderzimmer. Er war ungefähr ein Jahr alt und weinte bitterlich, weil er seinem Teddy ein Ohr abgerissen hatte und mit dem Ergebnis nicht zufrieden war. Sein Vater eilte herbei. Nicht Mama, Papa kam! Und was für lange Haare er hatte! Er bückte sich, hob den plärrenden Sohnemann auf, drückte ihn sanft an sich, schuckelte ihn, und auf einmal sang er. Jan konnte sich nicht entsinnen, ihn jemals so schön singen gehört zu haben. Natürlich wusste er, dass beide Eltern sich als Musikstudenten auf der Uni kennen- und lieben gelernt hatten. Trotz seines Talents war Papa aus irgendwelchen Gründen ins Fach Betriebswirtschaft gewechselt. Dann ging er an die Elbstätter Oper. Als Chefeinkäufer. Was für eine Vergeudung!, dachte Jan, als er den Belcanto seines Vaters hörte.

Die Gesangsdarbietung überzeugte auch den Sohnemann. Er beruhigte sich, schluchzte aber noch im Abstand von zwei bis drei Sekunden. Da zog Papa wie der Zauberer das Kaninchen seine Mundharmonika aus der Hosentasche und begann darauf zu spielen. Und wie schön er spielte! Es war ein Protestsong von Bob Dylan. Dem kleinen Jan gefiel er trotzdem. Der große Jan weinte, als das Bild verblasste und die Finsternis zurückkehrte.

Sein Vater hatte für ihn gesungen, für ihn gespielt.

Bald fand Jan ein weiteres blaues Lichtband, das ihn in die Vergangenheit entführte. Da saß er zusammen mit Papa im Keller und bastelte an dem Segelflugzeug von Graupner. Na ja, eigentlich war es mehr der große Junge, der die Balsaholzteile zuschnitt und verklebte. Nichtsdestotrotz machte sich der kleine als Assistent auch nicht schlecht. Unglaubliche zwei Meter Spannweite hatte der stolze Flieger. Er war weiß und blau.

Während Jan in der Höhle nach weiteren Bändern Ausschau hielt, schien es ihm, als lockerten die Fundstücke aus der Vergangenheit in seiner Seele eine dunkle Blutkruste. Doch der Schorf brauchte noch ein oder zwei Erinnerungen, um sich ganz zu lösen … Und dann sah Jan das zuckende Licht. Es war gleißend kühl.

Er rannte darauf zu, und der Blitz zischte ihm in den Sinn.

Plötzlich stand er wieder auf dem zugefrorenen Fluss und brach durch das Eis. Die Kälte raubte ihm fast den Atem. Er keuchte, strampelte mit den Beinen, schrie: »Hilfe! Hilfe!« Niemand schien ihn zu hören. Es war früher Morgen. Er war wie so oft zu den Auen hinuntergelaufen, um ungestört Flöte zu spielen. »Hilfe! Hilfe!« Jan schluckte Wasser. Er hatte das Gefühl, es nicht mehr lang zu machen. Ihm wurde schwarz vor Augen.

Auf einmal war eine Hand da. Sie packte ihn am Kragen und zog ihn, halb besinnungslos, aus dem Eisloch. Es war Papa! Er hatte nach ihm gesucht, ihn gefunden, sich flach aufs Eis geworfen, war zu dem Loch gerobbt – und nun rettete er ihn. Er zog ihn zu einer Stelle, wo das Eis dicker war, drehte sich mit ihm auf den Rücken und hüllte den Parka um das triefend nasse Kind auf seinem Bauch. »Jan«, sagte er mit tränenerstickter Stimme. »Du darfst nicht sterben. Wenn du stirbst, will ich auch nicht mehr leben. Komm, Junge. Bleib bei mir. Ich liebe dich, Jan. Ich werde dich immer lieben.« Die Szene verblasste, und das Dunkel kehrte zurück.

Jan fand sich bäuchlings auf dem Höhlenboden, er heulte wie ein Schlosshund. Wie hatte all das aus seinem Gedächtnis verschwinden können? Natürlich wusste er aus den Erzählungen anderer, dass er mit elf in die Elbe gefallen und beinahe ertrunken war. Doch die Einzelheiten hatte sein Bewusstsein von sich gestoßen, um das Trauma nie wieder zu durchleben. So hatte er auch das Versprechen seines Vaters vergessen: Ich werde dich immer lieben. Das war nicht gelogen, keine Gefühlsduselei, das hatte er ernst gemeint. Bastian Nachtwey war ein Mann, der zu seinem Wort stand. Schluchzend hob Jan den Kopf.

Nur eine Armeslänge von ihm entfernt lag die Fackel. Er musste sie fallen gelassen haben, als er das Unglück nochmals durchlebte. Jan streckte die Hand danach aus, kam jedoch nicht ans Ende des Stiels heran. Er ließ die Finger höher krabbeln, bis er den hölzernen Schaft schließlich dicht unter dem lodernden Pechkopf zu greifen bekam. Plötzlich stutzte er.

Da war keine Hitze. Jedenfalls spürte er sie nicht. Das blutrote Läuterungsfeuer war nicht einmal warm. Hatte er sein Schmerzempfinden verloren? Skeptisch zog er die Hand zurück und betrachtete seine Fingerspitzen. Die Haut war völlig unversehrt.

Abermals streckte er den Arm aus, und diesmal griff er direkt in die Flammen. Es machte ihm nichts aus.

Die Fackel glimmte nur noch. Jan fand die Vorstellung erschreckend, durch ein Meer verlorener Gedanken zu laufen und nichts zu sehen. Doch genau das passierte in diesem Moment. Das Läuterungsfeuer erlosch.

Und als hätte sich seine Sicht erst dadurch geklärt, entdeckte er plötzlich zu seiner Rechten ein rotes Leuchten, kaum größer als die Glut einer Zigarette am anderen Flussufer.

»Hey!«, rief er und lief so schnell er konnte. »Leute! Ich bin hier.«

Das Glimmen wuchs zu einem Flämmchen und bald zu einer Flamme heran. Und dann hörte er Momos Bellen. Die Hündin kam schwanzwedelnd auf ihn zugelaufen und sprang an ihm hoch. Beide begrüßen sich überschwänglich.

»Hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, vernahm er kurz darauf Davárs gedämpfte Stimme. Der Hutmacher tauchte mit Milas aus der Dunkelheit auf. Letzterer hielt einen geschrumpften Vorrat Fackeln im Arm.

»Da ist ja unser Whistler«, freute sich der Meisterdieb.

Jan runzelte die Stirn » Whistler? Wolltest du nicht Dieb sagen?«

Milas lachte. »Davon bin ich geheilt. Ich hatte mich verlaufen, und die Höhle hat mich in meine Vergangenheit entführt.«

»Als Prinz von Damaskus«, fügte Davár hinzu. »Milas – damals hieß er Salim – war der Thronerbe von König Ostanes. Er hat als Einziger überlebt, als Hauron die Familie austilgte.«

»Und dann ist er Dieb geworden«, sagte Jan. Es war keine Frage. Aus irgendeinem Grund überraschte ihn diese Wendung nicht.

»Sagen wir, ich wollte weiter für mein Volk sorgen«, erklärte Milas. »Als Herrscher durfte ich es nicht, also nahm ich den fetten Kriechern, die vor Hauron katzbuckelten, einen Teil ihres Reichtums weg und gab es den Armen. Diese Gewohnheit habe ich hier später beibehalten.«

»Und bist dabei zum Meisterdieb aufgestiegen«, schloss Jan die Geschichte ab.

»Wir hatten gehofft, deine Schwester bei dir zu finden«, sagte der Hutmacher.

»Und ich dachte, sie sei bei euch. Das beunruhigt mich jetzt.«

»Sie kann nicht weit sein. Momo hat schon Milas und dich wiedergefunden. Wir setzen sie einfach auf Lisas Fährte.«

»Ich habe nichts von ihr, mit dem Momo die Witterung aufnehmen könnte.«

»Das braucht sie nicht. Sie kennt ihren Geruch. Nicht wahr, Fräulein?«

Wuff!

Jan bückte sich und kraulte ihr den Nacken. »Aber lauf langsam, meine Kleine, damit wir uns nicht gleich wieder verlieren.«

Also trippelte Momo im Schongang durch die Höhle, sehr zur Erleichterung von Davár.

Kein Pferdestall ist so groß, dass man endlos darin herumirren kann. So fand der Suchtrupp Lisa auch nach wenigen Minuten. Sie saß mit dem Rücken an der Ausgangstür und empfing ihre Freunde mit einem Lächeln, das Jan ausgesprochen gut gefiel. Es war so natürlich. So wie früher.

Lisa stand auf und umarmte ihn. Das gefiel ihm ebenfalls. »Hast du in der Höhle irgendwas gesehen?«, fragte er leise.

»Ja, wo mein Zuhause ist«, antwortete sie.

Danach umarmte sie Milas.

Das gefiel Jan weniger.

Der Prinz von Damaskus

Milas hatte in der Höhle der verlorenen Gedanken