image

Ilse Wellershoff-Schuur

Am Kreuz der Erde

Ein Reisejournal
aus dem Heiligen Land

image

Inhalt

Yallah!

Die Reise als Möglichkeit | Yallah!

Vor der Reise

Vorbereitungen für die Reise | Bücherweisheit | Geografische Betrachtungen | Die »Situation« | Das dritte Narrativ | Die vorchristliche Zeit – Erzväter und Landnahme | Die vorchristliche Zeit – Könige – Tempel und Verfall | Nach der Zeitenwende | Die Kreuzzüge und ihre Folgen | Die Neuzeit – eine unbedeutende osmanische Provinz | Eine neue Zeit beginnt – das 19. Jahrhundert | So weit – so gut? | Eine Bemerkung zum Gebrauch der Namen des Landes

Auf dem Wege …

Zur Methodik des Reisetagebuchs | Ankunft am Flughafen Ben Gurion

Orientierung

Vor Sonnenaufgang | Der leuchtende Edelstein | Die Zitadelle | Der Kaiser kommt | Der Muristan | Ein Gang auf der Stadtmauer | An der Mauer | In der Markuskirche | Waldorf in Israel

Heilige Stätten

Der Tempelberg | Die Teiche von Bethesda | Zum Ölberg | Bei Basti und im Österreichischen | Das Grab ist leer | Hala Bukhari – Begegnung mit dem Sufismus

Geburt des Neuen …

Schmelztiegel oder Salatschüssel? | Die Hirtenfelder in Beit Sahour | Geburtskirche | Bethlehem – Manger Square | Herodion | Ein Abend mit Pater Gregor

Am tiefsten Punkt

Mosaike, Museen und Naturschutzgebiete | Kalya, Kibbuz, Siedlung: Idee und Wirklichkeit | Hin und her von oben und unten | Kabbalat Shabbat | Reisen in der Vergangenheit

Wüstenleben

Oase | Ausflug zu den Essäern | Taufstelle in der Wüste | Der heilige Hieronymus

Flussaufwärts

Sonntagsgebet und Abschied von Kalya | Flussaufwärts | Im Kibbuz Harduf | Im Sawa’ed-Dorf | Nazareth | Das Grab des Gerechten

Zu den Quellen

Das Speisehaus in Harduf | Nach Norden | Wanderung am Fluss | Wem gehört das Wasser? | Grenzen | Am See | Vorbereitungen für die Arbeit an den Quellen | Harry, der Heilige

Neue Gemeinschaft

Gottesdienst | Naturerleben | Die Geschichte des Kibbuz Harduf | Gemeinschaftsbildung | Sha’ar laAdam – Bab l’il Insan

Auf der Höhe

Auf dem Berg Tabor | Flussabwärts: Neve Shalom – Wahat as-Salam | Rast in Palästina | Festival in der Altstadt

Zwei Seiten und mehr

Die Peacemakers of Jerusalem und Eliyahu McLean | Al-Khalil: Das palästinensische Narrativ | Hebron: Das Siedler-Narrativ | Gedanken im Gespräch

Opfertaten

Schatten der Vergangenheit | Die Mission des jüdischen Volkes und der Messias | Opfergeschichten | Der jüdische Staat | Das arabische Opfer | Israel-Museum | Ein christlicher Impuls?

Nach Hause

Das neue Jerusalem und das alte | Das Tor zum Menschwerden | Zukunft im Heiligen Land?

Weitere Wege

Glossar

Verwendete und weiterführende Literatur

Yallah!

Seit Jahren ist dieses Buch im Entstehen begriffen. Immer wieder wird daran gearbeitet. Und seit Jahren ist es schwer, das Manuskript fertig zu schreiben. Obwohl das Thema viel Stoff bereithält, obwohl ein Schatz an Geschichten und Erlebnissen aus zwanzig Jahren Reise- und Projekterfahrungen darauf wartet, als zusammenhängende Darstellung bearbeitet zu werden, bleibt die Arbeit seltsam ungeschmeidig. Was für ein Buch soll es werden? Ein Geschichtsbuch? Eine Reportage? Eine Sammlung von Aufsätzen? Gedanken, Erlebnisse, Begegnungen reihen sich aneinander – zusammenhängend und doch ohne zwingende Linienführung. Bunt wie das Leben in diesem Land. Wild, ein bisschen aufregend, sehr intensiv, scheinbar zufällig und willkürlich – gesucht wird: der rote Faden …

Und wenn es gar kein Faden ist, sondern ein Gewebe? Verflochten, verwoben, verstrickt, verschiedene Strukturen bildend – und doch eine Hülle bildend für etwas, das werden will im scheinbaren Chaos?

Es gibt viel Material, das darauf wartet, nach irgendeinem Gesichtspunkt geordnet zu werden. Und doch fehlten bisher zwei wesentliche Dinge, damit es ein Buch werden konnte: Das eine war der Faktor Zeit, denn ein bisschen Ruhe am Stück braucht es schon, wenn all die Ideen, Beobachtungen, Erlebnisse, aber auch die Erkenntnisse aus dem Studium der Geschichte und der Kulturen zu einem Text aus einem Guss werden sollen. Zum anderen braucht die Idee, die dem Buch zugrunde liegt, eine Form, einen Aufbau, der nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich hilft, die Komplexität dieses Landes, seine Vielschichtigkeit und damit seine Bedeutung zu begreifen.

Nun wage ich den Versuch, in einer begrenzten Zeit zu einem vorläufigen Ende zu kommen. Fertig wird man mit der Sache sowieso nicht … Vor mir liegen etwa zwei Wochen, in denen mein Mann und ich eine Studienreise ins Heilige Land leiten werden. Plötzlich ist der Gedanke da, in diesen Tagen eine Art Tagebuch zu führen, in dem ich das Land zu erklären versuche – und dabei einflechte, was an Hintergrund, an Notizen und Beschreibungen an den jeweiligen Orten hilfreich sein könnte. So könnte ein Gesamteindruck entstehen. Der Leser wird zum stillen Reiseteilnehmer.

Die Reise als Möglichkeit

Eigentlich ist es eine gute Chance. Als Gemeindepfarrerin weiß ich, dass es in nächster Zeit keine Möglichkeit geben wird, eine Auszeit zu nehmen. Auch wird dies die letzte Reise dieser Art sein, weil ich nicht mehr in »Bildungsreisen« einiger weniger Teilnehmer investieren kann. Die Projekte in Israel, an denen ich beteiligt bin, brauchen ebenso wie die damit zusammenhängende interkulturelle Jugendarbeit Zeit und Engagement, was neben der Arbeit in der Gemeinde kaum zu leisten ist. Die Studienreisen wirken da wie ein elitärer Luxus für wenige.

Umso verlockender erscheint mir die Möglichkeit, die Reise mit mehr Menschen zu teilen als den sechzehn Teilnehmern, die uns in den nächsten zwei Wochen begleiten werden. Vielleicht kann das Buch eine Art Aufmunterung für andere werden, einmal selbst dieses Land zu erkunden, das – so verwirrend es scheint – doch ein so wundervolles Reiseziel ist, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich kann vor Beginn dieser Reise nicht sicher sein, ob und wie das Vorhaben gelingen wird, und doch scheint mir ein guter Stern über dem Unternehmen zu stehen: Zwei Wochen fern vom Alltag, mit geregeltem Nachtschlaf, manchmal einer Mittagspause – da müsste doch Zeit sein zum begleitenden Schreiben?

Yallah!

Es ist ein Versuch, den ich hier – im Zug nach Berlin, auf der Anreise zum Treffpunkt – beginne. Wenn Sie also nunmehr ein Buch in den Händen halten, ist das Experiment gelungen. Darüber freue ich mich, denn ich fühle, dass ich vielen Menschen diese Zusammenfassung unseres Engagements im Heiligen Land schulde: Allen, die mir das Reisen ermöglicht haben – von der ersten privaten Reise 1993 an, als noch meine Mutter meine Kinder hütete und meine erste Freundin im Lande mir in ihrem damals noch sehr bescheidenen Kibbuz-Häuschen ein kleines Kämmerlein als Herberge richtete. Allen, die als Mitfahrer Reisen mitgestaltet haben und durch Fragen und Beobachtungen Erkenntnis weckten, den Jugendlichen vor allem. Allen, die mich zu Hause und in der Gemeinde gebraucht hätten, als ich mich mal wieder im Nahen Osten herumtrieb. Allen, die gern noch einmal mitgefahren wären, das aber aus verschiedenen Gründen nie tun konnten. Allen, denen ich angekündigt habe, dass es eines Tages ein Buch über das Heilige Land geben würde, in dem all das vorkommt, was ich auf den Reisen, Friedensübungswochen im Lande, aber auch auf Vorträgen und Tagungen und Seminaren sowie bei Begegnungen anderer Art erzählt habe.

Ihnen allen wünsche ich viel Freude, einiges an erstaunlichen und vielleicht sogar religiös belebenden Erkenntnissen und vor allem eine Bereicherung ihres Bewusstseins dessen, dass alles Menschsein auf Erden als sinnvoll und zielgerichtet erlebt werden kann, auch da, wo es schwierig oder tragisch erscheint. Es lohnt sich immer, sich einzusetzen für das Zukünftige im Menschensein, für das sich dem Gruppenhaften entringende freie Individuelle, das sich überall auf der Welt findet – vielleicht im Heiligen Land, diesem besonderen Brennpunkt der Kulturen in unserer Zeit, in ganz besonders herausfordernder Weise.

Ich freue mich, dass Sie auf diesem Wege mitkommen auf die Reise!

Yallah, lassen Sie uns aufbrechen!

Vor der Reise

Sonntag, den 10. März 2013

image

Pilger vor der Grabeskirche

Vorbereitungen für die Reise

Wer ins Heilige Land reist, wird sich in unterschiedlichster Weise inhaltlich vorbereiten, abhängig von den Schwerpunkten, die er mit der Reise setzen will. Man kann mit den verschiedensten Motiven in dieses Land fahren: als Erholungssuchender, Forscher, Geschäftsreisender, als Besucher von Freunden und Verwandten – am häufigsten aber trifft man hier auf Reisende, die irgendwie »Pilger« sind. Die meisten sind christliche Pilger, aber natürlich gibt es auch viele Juden, die in das Land ihrer Vorfahren, das Land ihrer Verheißung, reisen. Auch muslimische Pilger kommen hierher, denn immerhin ist der Tempelberg in Jerusalem nach Mekka und Medina die drittheiligste Stätte des Islam (und – was kaum einer weiß – Hebron, auf Arabisch Al-Khalil, die viertheiligste), selbst wenn die politischen Verhältnisse dafür sorgen, dass Reisende aus arabischen Ländern selten sind, schon weil viele den Staat Israel prinzipiell boykottieren. Nicht-arabische Muslime kommen aber immer öfter, Indonesier und Afrikaner, während viele Palästinenser aus den besetzten Gebieten, die doch diesen Heiligtümern so nahe sind, nur selten eine Genehmigung für rein religiös motivierte Reisen erhalten.

Doch zurück zu der christlichen Pilgerreise besonderer Art, die unser gemeinsamer Weg vielleicht sein will, und zu uns, die wir uns nun eine Vorbereitung wünschen. Was können wir im Vorfeld der Reise tun? Was werden wir überhaupt sehen? Ist das Grab nicht leer, der Christus überall zu finden, ausgegossen in die Welt, die Herzen der Menschen, der Ort damit für das Christentum irrelevant?

Wer die Reise antreten will, scheint das nicht so zu sehen. Für uns als Pilger gibt es verschiedene Motivschichten: Orte sehen, an denen etwas geschehen ist, das die Welt verändert hat, Stimmungen nachspüren, die etwas von dem enthalten, was das Geschehen der Zeitenwende möglich machte – oder eben auch in den heutigen Verhältnissen Spuren lesen, vielleicht sogar aktuelle Aufgabenstellungen sehen, die den Christenmenschen betreffen.

Bücherweisheit

Das wichtigste Buch zur Vorbereitung ist die Bibel, die ja zum großen Teil im Lande »spielt«. Das sogenannte »Alte« Testament, die Hebräische Bibel, und die Evangelienberichte sowie die Entstehungsgeschichte des frühen Christentums in der Apostelgeschichte. Das Buch der Bücher bildet den Hintergrund, den Untergrund, den Grund überhaupt, für alles, was wir heute im Land erleben. Und für viel mehr natürlich, überall in der Welt. Aber vor allem für das, was hier im Land an Besonderem erlebt werden kann.

image

Bücher und Schriften

Dazu all die Bücher, die die Geistes- und Kulturgeschichte des Landes in allen Facetten einzufangen versuchen. Und davon gibt es viele – historische, theologische, politische, kunsthistorische Bücher, Reiseliteratur und Studienmaterial in Hülle und Fülle. Warum weckt das Land überhaupt ein solches Interesse? Und warum ist es derart erklärungsbedürftig? Warum ist das Thema immer wieder neu aktuell? So aktuell sogar, dass viele dieser Bücher eine sehr kurze Halbwertzeit haben?

Es ist aufschlussreich, einmal in einem gut sortierten Antiquariat zu erforschen, welche Bücher es zum Thema Heiliges Land, Israel, Palästina und den vielen verwandten Einzelthemen dort gibt, denn gerade in den Antiquariaten finden sich die Bücher, die oft durch ihr Alter zeitlose Aussagen über dieses Land enthalten, das jenseits aller Zeiten Bedeutung zu haben scheint. Bücher, die unerwartete Blicke erlauben in das, was den Ewigkeitswert ausmacht, der unter all dem aktuellen Gebrodel verloren zu gehen droht. In vielen alten landeskundlichen Werken, die in Details überholt sein mögen, ist eine Stimmung bewahrt, die manches wenigstens anfänglich erklärt, das sonst schwer zu verstehen ist. Vieles, was in der Zeit der »Leben-Jesu-Forschung« im ausgehenden 19. Jahrhundert geschrieben wurde, fällt in diese Kategorie.

Aber auch in der frühen und neueren Schönliteratur zum Heiligen Land, von Selma Lagerlöfs Jerusalem über die Werke des ersten und bisher einzigen Literatur-Nobelpreisträgers hebräischer Sprache, S.Y. Agnon, bis zu unseren Zeitgenossen Amos Oz, David Grossmann, Sayed Kashua, Assaf Gavron, Zeruya und Meir Shalev oder auch Batya Gurs Kriminalromanen und denen des walisischen Journalisten Matt Beynon Rees zeichnen Schriftsteller ein buntes Bild der Geschichte und jeweiligen Gegenwart des Landes. Eines Landes, das heute als ein Gewirr verschiedenster Welten und Interessen erscheint, Überreste alter Sehnsüchte vermengt mit den nicht sterben wollenden Resten nationaler Sentimente, genährt von den Traumata des letzten Jahrhunderts sowie von machtpolitischen Einwürfen, die sich jeder wirklich menschlichen Vernunft angstbesetzt entgegenstemmen, als gälte es, den Untergang des Abendlandes wie des Morgenlandes durch größtmögliche Irrationalität zu beschleunigen.

Und dann weiter zu den Reisebeschreibungen verflossener Zeiten: Da waren die frühen Pilger und ersten »Forschungsreisenden« der neueren Art wie Ida Pfeiffer, die 1842 als österreichische Hausfrau unter abenteuerlichen Bedingungen die damals wirklich fast menschenleere türkische Provinz bereiste. Oder der deutsche Journalist Alfons Paquet, der vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs festhielt, was ihn beeindruckte auf der Reise zu schwäbischen wie jüdischen Neu-Siedlern in jenem Land, das sich seit Ida Pfeiffers Reise offensichtlich schon deutlich gefüllt hatte. Bekannt sind auch die Reisetagebücher des Mitbegründers der Christengemeinschaft Emil Bock, der das Land 1932 und 1934 bereits besucht hatte.

In den Darstellungen älteren Datums sind es selbstverständlich nicht die praktischen Informationen und die Beschreibung der Sehenswürdigkeiten, die uns weiterhelfen. Die Stärken älterer Bücher liegen in der Beschreibung von Stimmungen und Alltäglichem; sie fügen dem gegenwärtigen Eindruck etwas hinzu, das heute schwer zu entdecken, aber in seiner Essenz unsterblich und zeitlos ist. Sie weisen uns auf eine historische Dimension hin, die etwas erklärt, das oft unerkannt bleibt, weil die erst später entstehenden Umstände es für den heutigen Blick verdecken.

So manche Ansicht des Landes und seiner früheren Wirklichkeit lässt ahnen, wie die heutigen Verhältnisse entstanden sind. In diesem Land, dessen Bevölkerung sich in den letzten 130 Jahren über vierzigfach vergrößert hat, sind heute Reisende erwünscht, die mit ihren Erlebnissen an der Oberfläche bleiben und möglichst nicht zu genau auf die menschlichen Wirklichkeiten aller Art schauen – weder in dem Staat, der den Namen Israel trägt, noch in dem hoffnungsvoll werdenden oder auch nur resigniert so genannten Staat Palästina. Der Eindruck entsteht, dass frühere Reisende langsamer und genauer hingeschaut haben. Und dass weniger Schichten an Komplikationen ihren klaren Blick auf das Land als Phänomen hinderten oder fesselten.

Immer und überall wird deutlich, dass es sich hier nicht um irgendein Land handelt, in dem »zufällig« wichtige Begebenheiten der Religionsgeschichte stattgefunden haben. Was ist es, das schon immer fasziniert hat? Erschöpft sich das Besondere in der Religionsgeschichte? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Begebenheiten, von denen die abrahamitischen Religionen erzählen, hier stattfinden mussten, weil es sich um einen besonderen Ort im Gesamtzusammenhang der Erde handelt?

Geografische Betrachtungen

Wir sollten uns auf der Suche nach dem Besonderen, das hier lebt, zuerst mit den geografischen Bedingungen beschäftigen, um uns auf die Reise vorzubereiten.

Was ins Auge fällt, wenn wir uns die Lage des Landes anschauen, sind zunächst die besonderen geologischen Gegebenheiten: zwischen Mittelmeer und dem tiefen Grabenbruch der Erde, auf dem Weg von Afrika nach Eurasien. Ein schmales Land, das Wegcharakter hat, wie man schon am Zug der Vögel sehen kann, die hier jeden Frühling und jeden Herbst flugs Afrika mit Europa verbinden. Es wird vermutet, dass schon in den Zeiten, aus denen die ersten Funde menschlichen Lebens stammen, hier Wanderbewegungen stattgefunden haben – das ganze Land ein Weg?

Der Grabenbruch selbst wird oft als »Wunde« charakterisiert, die durch größere geologische Ereignisse in urferner Vergangenheit entstanden ist, und die die Geologen zu erklären versuchen. Schon beim Anblick dieses ungeheuren Risses in der Erdoberfläche wird verständlich, warum hier schon immer ein offener Punkt gesehen wurde – der Nabel der Welt, an dem sich Geistiges in Materielles umgestülpt hat.

Hier liegt mit dem Toten Meer der tiefste Punkt der Erde – der Jordan als natürlicher Grenzfluss entspringt im Hochgebirge und fließt als der »Herabsteigende« vom Hermon-Massiv bis 400 Meter unter dem Meeresspiegel in das salzhaltige Gewässer, wo sein Wasser in extremer Hitze verdunstet, sodass der Salzgehalt im Toten Meer mit der Zeit immer weiter ansteigt. Der Wasserspiegel sinkt in jüngster Zeit ständig ab, da im Verlaufe des Jordans Wasser abgezweigt wird für die vielen im Lande lebenden Menschen, so viel, dass der tiefste Punkt der Erdoberfläche jedes Jahr etwa einen Meter tiefer liegt. In den letzten vier Jahrzehnten ist die Oberfläche des Sees so um etwa ein Drittel geschrumpft. Dem Salzmeer gegenüber ist der Tempelberg in Jerusalem, der nur etwa 40 Kilometer vom Toten Meer entfernt auf ca. 750 Meter über dem Meeresspiegel liegt, mehr als 1100 Meter höher gelegen.

Nicht nur in der Ebstorfer Weltkarte aus dem 13. Jahrhundert ist Jerusalem als Mittelpunkt der Erde dargestellt. Eigentümlich mutet das an in dieser trotz allem europäischen Perspektive. Das Heilige Land, Jerusalem, als Dreh- und Angelpunkt der Welt …

image

Ebstorfer Weltkarte mit Jerusalem als Mittelpunkt

image

Kleeblatt-Karte Heinrich Büntings

Eine andere Darstellung dieser Art ist die Kleeblattkarte von Heinrich Bünting aus Hannover aus dem Jahr 1581. Hier liegt Jerusalem als Schnittpunkt dreier Kontinente in der Mitte der Welt – Europa, Asien und Afrika.

Es ist eine berechtigte Anschauungsweise, in der Lage des Landes einen Kreuzungspunkt zu sehen: Auf dem Weg zwischen Ost und West, der die Kulturräume Vorderasiens und Nordostafrikas miteinander verbindet, sowie dem zwischen Nord und Süd, zwischen Europa und Afrika, der dem Großen Grabenbruch folgt.

Das Kreuz nimmt noch einmal klarere Konturen an, wenn man ein Diagonalkreuz zwischen den Kulturräumen daraus macht: Dann haben wir einerseits das alte Spannungsfeld zwischen Ägypten und Vorderasien, wie es in biblischen Zeiten aktuell war – und spätestens seit dem Mittelalter und der Begründung des Islams das Spannungsfeld zwischen Europa und Arabien als zweite Diagonale. Diese Kreuzmotive sind keine Abstraktionen – sie sind wirkliche Wege, die sich genau an diesem Fleckchen Erde schneiden: Verkehr und Handel, Kulturaustausch, Begegnung, Berührung und auch Auseinandersetzung und Krieg fanden und finden hier statt und führen nicht nur zu Konflikten, sondern auch zu Bereicherung, Wachheit, Bewusstsein und einer Art anfänglichem, globalem Menschheitsbewusstsein. Die Menschen, die hier leben, stammen aus den Kulturen dieser Spannungsfelder. Nicht erst mit dem modernen Zionismus gibt es in diesem Land immer wieder besondere Immigrationsbestrebungen von verschiedenster Seite.

image

Jerusalem – das Kreuz der Erde

Ein Völkergemisch, das schon vor Jahrhunderten und Jahrtausenden bereitet wurde, nicht auf Dauer angelegt, im ständigen Wandel, erfüllt von dem Gefühl des Fremdseins, und doch von dem Lebensgefühl durchdrungen, am Urquell der Menschheit zu leben. Das jüdische Volk mit seinem einzigartigen Schicksal trägt zum ungewöhnlichen Charakter dieses Ortes bei, indem es eine besondere Mission für die ganze Menschheit empfindet und gleichzeitig durch zweitausend Jahre Diaspora fast überall auf der Erde fremd war, in der Fremde mitunter heimisch wurde, wo das nicht geschah aber auch der Sehnsucht verhaftet blieb, an den Ursprung und den Ort seiner Verheißung zurückzukehren: in das Land, das ihm zum Wohl der ganzen Menschheit von Gott versprochen wurde. So ist es kein Wunder, dass an diesem Ort immer auch die Frage des Menschheitsschicksals mit seinem Ursprung und Ziel im Mittelpunkt stand.

Vielleicht ist es insofern in höherem Sinne verständlich, dass sich hier die aktuellen Fragestellungen der Welt in einem Brennpunkt versammeln, wie um darauf hinzuweisen, dass es gerade heute keine einfachen Lösungen, keine Patentrezepte, und auch keine eindeutigen Schuldzuweisungen geben kann. Alle typischen Probleme der Menschheit erscheinen gerade hier in überdeutlicher Form. Insofern können wir mit einigem Recht sagen: Überall ist Israel. Oder eben auch: »Wir müssen da nicht hinfahren, um diese Fragestellungen zu erkennen …«

Andererseits bleibt die vielleicht mythisch anmutende Frage, ob nicht ein Angehen der Verwicklungen an dieser wunden Stelle der Menschheit dazu beitragen kann, auch anderswo etwas zu heilen, was verfahren erscheint. Und ob wir mit unserem Verhalten andernorts nicht alle eine Art globale Verantwortung für das tragen, was hier geschieht. Nicht nur aus der Vergangenheit heraus, die uns unlösbar miteinander verbindet, sondern weil wir gerade heute in einer Gegenwart leben, in der es nichts Unzusammenhängendes mehr gibt, geben kann. Die Gegensätze, die hier Spannungen erzeugen, warten auf Heilung. Und so ist das Heilige Land vom christlichen Standpunkt aus nicht Geschichte, sondern seine Geschichten rufen nach Gegenwart, nach wirklicher Geistes-Gegenwart. Sie rufen uns auf, Mensch zu werden, Liebe, Barmherzigkeit, Offenheit, Verantwortungsbereitschaft im Kleinen und dadurch im immer Größeren zu verwirklichen.

Indem wir solche Gedanken denken, beginnen wir schon vor der Reise, etwas von der Bedeutung dieses Landes in der heutigen Zeit zu ahnen.

Die »Situation«

Schon wenn wir darüber nachdenken, ob das Land denn auch »sicher« genug ist für unsere Reise, nehmen wir die aktuellen Dimensionen in den Blick. Auch das wird ein Teil der Vorbereitung sein: Nachrichten, Zeitungen, Filme – aus den verschiedensten Quellen speist sich unser Bild einer komplexen politischen Realität. Je nachdem, wo wir gern hinschauen, wird dieses Bild gefärbt sein von den Ansichten bestimmter Protagonisten oder Zuschauer des »Konfliktes«, der eigentlich aus vielen verschiedenen, zum Teil undurchsichtig miteinander verbundenen Konflikten besteht. Am liebsten würden die meisten Reisenden das verdrängen, und tatsächlich sind viele Reisen ins Heilige Land so angelegt, dass sie die heutige Realität ausblenden – um nirgends anzuecken vielleicht, um sich auf das vermeintlich Wesentliche zu konzentrieren, aber auch, um den Pilgern das Leben zu erleichtern, sie davor zu schützen, sich Gedanken machen zu müssen, die widersprüchlich sind, sein müssen. Eine Reise soll doch angenehm sein, oder?

Unsere Reisen waren immer anders gemeint. Schon die ersten Reisen mit Jugendlichen hatten ihre besondere Bedeutung darin, dass es immer auch darum ging, »sowohl-als-auch« zu denken, Gegensätze auszuhalten. Dieses Land ist das Paradebeispiel für die Komplexität der heutigen Welt – es gibt so viele Narrative (wie man die Geschichtserzählungen aus den jeweils verschiedenen Perspektiven in der historischen Wissenschaft heute nennt), wie es Menschen im Lande gibt. Man kann sie sehr vereinfacht unterteilen in einen »jüdischen« und einen »arabischen« Narrativ, die die Geschichte des Landes und damit die Genese des Konfliktes höchst unterschiedlich beschreiben. Dabei unterscheiden sich die harten Fakten nur wenig voneinander - es geht vielmehr um Gewichtungen, um Hinschauen und Wegschauen, Vergrößern, Verkleinern oder Negieren von Ereignissen …

Das dritte Narrativ

Neben den Narrativen aus jüdischer und arabischer Sicht möchte ich hier eine dritte Variante anbieten. Auf den ersten Blick erscheint sie vielleicht als das »europäische« oder das »christliche Narrativ«. Bei näherem Hinsehen zeigt sie sich aber als Sichtweise der gewissermaßen außenstehenden und doch betroffenen gesamten Menschheit.

Das Land stand nicht erst seit der Zeitenwende oft im Zentrum besonderer Aufmerksamkeit. Seit damals aber verbindet sich sein Schicksal mit dem Rest der Welt in einer neuen Weise. Damals war es das Römische Reich, das die Herrschaft im Lande ausübte und im Übrigen die Geschicke der Welt bestimmte. Dann verschob sich der kulturelle und politische Schwerpunkt im späten Mittelalter weiter nach Norden, nach Mittel- und Westeuropa (später wurde neben Europa auch Nordamerika als besondere westliche Metamorphose der europäischen Kultur dem Selbstgefühl nach ein weiterer »Nabel der Welt«). Im dritten Narrativ geht es mir darum, skizzenhaft die Bedeutung des Heiligen Landes für das Ganze der Menschheitsentwicklung aus europäischer Sicht anzuschauen.

image

Säulenkapitel Kapernaum

Hier soll also zunächst eine kleine Beschreibung des Verlaufs der Geschichte des Landes folgen, so wie sie sich vielleicht von Europa her, vielleicht eben einfach aus der Sicht eines Weltbürgers darstellt, der von außen schaut. Diese Beschreibung unterscheidet sich wiederum nur durch die Gewichtung der Ereignisse von dem, was man anderswo lesen kann. Und doch scheint es mir für den Verlauf unserer Reise wichtig, dass wir diese Sichtweise einnehmen können, um uns freizumachen von den eindeutigen Haltungen, die wir so gern annehmen, wenn es um komplizierte Gemengelagen geht. Beginnen wir, so gut es geht, ganz von vorn.

Die vorchristliche Zeit – Erzväter und Landnahme

Geprägt vom Christentum, das seinerseits die jüdische Geschichte vor Christus als »Vorbereitung des Heils« in seine Lehre aufgenommen hat, werfen wir erst einmal einen Blick auf die Zeit der Hebräischen Bibel, des sogenannten »Alten« Testamentes, das aus jüdischer Perspektive nicht alt ist, weil es für das Judentum kein »neues« Testament gibt. Der alte Bund besteht nach wie vor und gibt dem jüdischen Volk aus religiöser Sicht seine besondere Aufgabe. Das Heil der Welt soll durch dieses Volk kommen, alles andere ist Vorbereitung dafür.

Es ist das Verdienst des Theologen Emil Bock, genau herausgearbeitet zu haben, wie der Weg der Heraussonderung des Gottesvolkes seit der Berufung Abrahams in einer Art Pendelbewegung verlief, die immer wieder die starke Verbindung aufzeigt, die diese sich formende Kultur mit den beiden Hochkulturen der damaligen Zeit eingeht: einerseits Ägypten, andererseits Mesopotamien mit seinen wechselnden Reichen namens Chaldäa, Sumer, Akkadien, Assyrien, Babylonien und dem noch weiter östlich gelegenen und älteren Persien. Dabei sind die Erzählungen der heiligen Schriften des Judentums eine Art Urbilderschrift, in der sich der mythologische Gehalt des jüdischen Narrativs spiegelt. Da auch das Christentum und der Islam diese Inhalte in ihr Geschichtsbewusstsein aufgenommen haben, hilft es zum Einleben in die Verhältnisse im Lande, die Grundlinien zu kennen und überblicksartig zu verstehen.

Abraham selbst kommt aus dem Zweistromland, und in dem Mythos um seinen Aufbruch klingt schon das wichtigste Motiv der seelischen Entwicklung an, die von seinem Volk geleistet werden soll: Er wird mit der Frage nach der Heimat konfrontiert und aufgefordert, alles hinter sich zu lassen, was ihm bisher Sicherheit gab. Abraham ist derjenige, der sich löst aus den stammesmäßigen Gesetzmäßigkeiten und den Weg geht, der ihm von Gott offenbart wird – ohne Sicherheiten, entgegen jeder Vernunft, ohne Absicherung. Er ist der urbildliche Migrant, der es wagt, in die Fremde zu ziehen.

Kaum dass er aufgebrochen ist, führt ihn der Weg nach Ägypten, in die zweite Hochkultur seiner Zeit. Es ist eigenartig, wie die Inspiration, das Ursprüngliche, die Geistverbindung immer aus dem Osten zu kommen scheint, während im Westen, in Ägypten, die Veräußerlichung, die Erprobung des Mitgebrachten und die Gefährdung durch Entfremdung lauert. Nach Ägypten gehen heißt, das Geistige an die Grenze der Erdenwelt zu bringen, dort geprüft und verwandelt zu werden. Am Ende steht immer die Heimkehr – zumindest in die eigene Mitte.

Übrigens gibt es in der Abraham-Geschichte ein kleines Ereignis, das aus christlicher und weltgeschichtlicher Sicht nicht ganz unwichtig ist: Die Begegnung mit Melchisedek, dem König der Gerechtigkeit, der in Salem wohnt, im »Frieden« selbst, was für die erste Erwähnung Jerusalems, der Ir-u-shalim, der Stadt des Friedens, gehalten wird. Er ist ein Diener des Höchsten, während das Wesen der (sieben) Elohim, der Schöpfergeister und vor allem der mit dem Tetragrammaton, den vier Buchstaben Jud-Heh-Vav-Heh, als JHVH bezeichnete neue Herr des Volkes der »Jenseitigen«, der Ivri (Hebräer), ein den Menschen und der Schöpfung viel näherstehendes Wesen bezeichnet. Vielleicht ist es für unsere Zeit ganz recht, dass in der gängigen jüdischen wie christlichen und islamischen Theologie damit »Gott« bezeichnet ist, und sich dadurch diese Feinheiten verwischen.

Tatsächlich erhält die Geschichte eine neue Nuance, die für unser Narrativ nicht ganz unwichtig ist: Abraham wird in den Dienst der Welt genommen. Sein Volk, das von Gott eine besondere Mission erhält und für diese durch seine schmerzvolle Geschichte ausgebildet wird, tritt in den Dienst der Menschheit. »Auserwählung« bekommt damit einen anderen Klang. Es geht nicht um eine Bevorzugung, sondern um einen Auftrag, der allen Menschen zugutekommen soll. So empfinden das auch viele heutige Juden: Die Auserwählten müssen ein schwereres Leben führen, aber nicht etwa, um allein gerettet zu werden oder etwas Besseres zu sein, sondern für den Fortgang der ganzen Menschheit. Sie nehmen die Last der Welt auf sich.

In der Geschichte der Erzväter setzt sich das Motiv fort, das die Erziehung des Volkes zwischen Ost und West, Zweistromland und Ägypten beschreibt. Das Land selbst ist noch kaum in Besitz genommen, wenn man von den Bäumen, Brunnen und Altären absieht, die die Erzväter an verschiedenen Orten hinterlassen, die den Juden noch heute heilig sind. Die Menschen sind Nomaden, es gibt noch keine Staaten oder Nationen im heutigen Sinne, keine Grenzen. Man lebt miteinander in Stammesgebieten, deren Grenzen sich lebendig bewegen.

Erst nach der ägyptischen Gefangenschaft beginnt sich abzuzeichnen, dass das Land auch wirklich in den Besitz des Gottesvolkes übergehen soll. Aber auch da ist das Land noch nicht wirklich bedeutsam in der äußeren Geschichte, die von anderen Machtzentren geprägt wird. Die Entwicklungen des Zeitalters der ägyptisch-chaldäischen Kulturepoche fegen über den Landstrich zwischen Mittelmeer und Jordan gewissermaßen immer wieder hinweg. Wenn es denn auch damals schon die Mitte der Erde sein sollte, bleibt das noch weitgehend unbemerkt von den äußerlich Mächtigen der Erde, die aber immer wieder anfänglich Bekanntschaft machen mit den Besonderheiten, der Rätselhaftigkeit dieses heranwachsenden und zunehmend andersartigen Volkes. Das Phänomen Moses und das Urbild des Auszugs aus Ägypten nach der Auseinandersetzung mit dem mächtigen Pharao lassen ahnen, dass sich hier etwas menschheitlich Bedeutsames anbahnt. Auch wenn die neue, vom Himmel gesandte Gesetzesgebundenheit, der anfängliche Gottesdienst um die Tafeln des Dekalogs und seine Rituale hier einen weiteren Schritt der Heranbildung eines Volkes der Heimatlosigkeit, der Innerlichkeit, des Dialogs mit Gott und schließlich des Selbstbewusstseins und der Individualität bedeuten, bleibt das noch weitgehend esoterisch im Volk selbst gebunden. Nicht umsonst steht am Anfang ein vierzigjähriger Weg durch die Wüste.

Die Auseinandersetzung mit dem Westen setzt sich im Kampf gegen die Philister fort, die vom Mittelmeer her inzwischen in das Land der Kanaanäer eingedrungen sind und mit den Israeliten um die Landnahme konkurrieren. Heute ist es eine beliebte und von allen Seiten vielfältig ausgenutzte Frage zur scheinbaren Klärung der Legitimität der Besitzverhältnisse im Lande, wer denn eigentlich zuerst da war. Wer lebte »ursprünglich« im Land? Kanaanäer gibt es so gesehen nicht mehr, Philister sind dem Namen nach Palästinenser, auch wenn der Stammvater der arabischen Völker nach allgemeiner Ansicht und der Chronik der Bibel Abrahams älterer Sohn Ismael, der Sohn der ägyptischen Magd ist. Viele Völker haben hier gelebt und sich in den heute hier lebenden Menschen genetisch verewigt. Machtfragen und Religionskriege über Tausende Jahre hinweg tun das Ihre, um Identitäten zu schaffen und zu vermischen.

Die Frage nach der blutsmäßigen Abstammung führt nicht wirklich weiter. Die Menschen von heute, Juden wie Araber, sind nicht die nachweisbaren, biologischen Erben irgendwelcher früherer Bewohner des Landes, auch wenn viel Kraft und Geld investiert wird in ideologisch gefärbte Forschungsprojekte, die genetische Verwandtschaften oder archäologische Nachweise in die Welt stellen, die irgendwem irgendetwas beweisen sollen.

Die Bewegungen lassen sich in der Tora, dem Moses zugeschriebenen Teil der Bibel, und in ihren geschichtlichen Büchern mit Blick auf die besondere Aufgabe von Land und Volk in einzigartigen Bildern nachvollziehen. Hier darf es vielleicht bei einer bruchstückhaften Aufzählung von Berührungspunkten bleiben, die Land und Leute geprägt haben:

Die vorchristliche Zeit – Könige – Tempel und Verfall

Für die Juden ist die Zeit der drei großen Könige Saul, David und Salomo in dieser Hinsicht besonders bedeutsam, denn es ist die einzige Epoche, in der ein geeintes, unabhängiges jüdisches Reich geschichtlich in Erscheinung tritt. Saul eint als vom Propheten Samuel in Gottes Auftrag gesalbter König das Volk der zwölf Stämme (geordnet wie die Sterne am Himmel, wie es Abraham als Prophezeiung empfing). David begründet die Hauptstadt des Reiches Jerusalem am »Nabel der Welt«, dem Ort, an dem Abrahams Gehorsam von Gott mit der Einwilligung in das Opfer des Sohnes geprüft wurde, an dem er von Melchisedek in den Dienst genommen wurde. Und Salomo erbaut das Heiligtum des Volkes für das gottgegebene Allerheiligste, das Haus Gottes, den Tempel auf dem heiligen Berg Moriah, der damals noch außerhalb der Stadt Davids liegt.

Schon nach ihm zerfällt das Reich der zwölf Stämme in Nord- und Südreich, eine Polarität, die sich bis heute in mancherlei Hinsicht erhalten hat. Im Süden Juda: das Zentrum, die Gelehrsamkeit, der Kopf, die Abstraktion, das Bewusstsein, das Absterbende; im Norden: Israel, das »Land der Völker«, der Willenspol, der Umkreis, die Peripherie der äußeren Welt, das Lebendige. Beide können ohne einander auf Dauer nicht überleben, und so fällt zuerst das Nordreich an die Assyrer (722 v.Chr.) und dann das Südreich an Babylon (586 v. Chr., vielleicht auch schon 598 v.Chr.). Der Nabel der Welt wird wieder finstere Provinz, während die Elite des Volkes im babylonischen Exil eine eigene Identität findet.

Die Verschleppung trägt dazu bei, dass das Besondere der Gottesbeziehung ganz neu erlebt wird. Hier werden große Teile der Überlieferungen des Volkes verschriftlicht. Hier entsteht religiöse Sehnsucht, die Sehnsucht nach dem zerstörten Tempel, nach der Wiederverbindung mit der verlorenen göttlichen Heimat.

Als die Perser Babylon erobern, erlässt König Kyros ein Edikt, das besagt, dass die Juden in ihre Heimat zurückkehren und den Tempel wieder aufbauen sollen. In der Esoterik des persischen Volkes hat das Volk Gottes bereits eine Bedeutung, die zum Verständnis dafür führt, dass seine Verbindung mit dem Heiligen Land als Voraussetzung dafür gesehen wird, dass Gott den Menschen wieder näherkommt. Eine Art Messias-Erwartung herrscht bis nach Persien und beendet das Exil ab 538 v.Chr. mit dem Auftrag zum Wiederaufbau des Tempels. Der zweite Tempel ist das Haus Gottes, zu dem die nun wieder im Land lebenden Juden zu den drei höchsten Festen des Jahres gepilgert kommen, um die vorgeschriebenen Opfer zu bringen.

In den folgenden Jahrhunderten steht dieser Tempel den Griechen im Wege, denen die nicht zu bezwingende Eigenkultur der Juden ein Dorn im Auge und eine Bedrohung bei der Errichtung und Erhaltung ihres Weltreiches ist. Alexander der Große erobert das Land, und obwohl er selbst dieser Tatsache keine besondere Bedeutung beizumessen scheint, ergibt sich in der Folge eine völlig neue kulturelle Orientierung im Lande, die das spiegelt, was jetzt im ganzen griechischen Mittelmeerraum lebt, in dem nun die Kulturen von Orient und Okzident miteinander zu verschmelzen beginnen. Das griechische Denken begegnet hier nicht nur dem asiatischen Gedankengut Indiens und Persiens sowie der Geisteswelt der Ägypter. Kunst und Kultur, was damals noch annähernd dasselbe ist, vermischen und beflügeln sich gegenseitig. Auf diesen beiden Säulen ruht die Zukunft des Abendlandes – die religiöse Bilderwelt des Ostens und die gedankliche Aufklärung durch den griechischen Westen. Die jüdische Kultur und Religion, die sich durch strikten Monotheismus und strenge Gebote von den Kulturen der umliegenden Länder und Völker abgrenzen muss, muss sich von nun an auch mit diesen hellenistischen Einflüssen auseinandersetzen.

Die jüdische Sonderwelt, das auserwählte Volk des »Bewusstseins durch Entfremdung«, bekommt einen weiteren Anstoß für sein Werden: Die letzte Herausforderung vor der Inkarnation des Messias in Jesus von Nazareth ist die Hellenisierung des Landes, die zu grausamen anti-jüdischen Provokationen der Griechen und damit letztlich zu den Aufständen der Makkabäer führt. Diese erhalten dann durch ihre äußeren, meist militärischen Erfolge den Tempelkult, wenn auch in verfremdeter Form, bis in die Tage des Jesus von Nazareth.

Die Königslinie des Hauses David, aus der nach alter Prophezeiung der Erlöser hervorgehen soll, ist in dieser Zeit längst in der Verborgenheit verschwunden, denn nach dem Babylonischen Exil gibt es keine exoterischen Könige mehr, die in der ursprünglichen Erbfolge stehen, obwohl die Genealogie der Nachfolge den Eingeweihten des Volkes bekannt ist. Könige sind ab jetzt von Gnaden der eigentlichen hellenistischen und später römischen Machthaber die Makkabäer, auch Hasmonäer genannt. Mit diesen verbindet sich Herodes der Große (ein Idumäer, dessen Volk nach der Eroberung mehr oder weniger zwangsjudaisiert worden war) durch Heirat und erwirkt seine Ernennung zum König durch geschicktes Taktieren in Rom. Er wird so zum ersten »nichtjüdischen« König des Landes. Um das Volk zu besänftigen, hält er sich an die äußeren Regeln des Judentums, die für viele Angehörige des Volkes inzwischen ein veräußerlichtes ethnisches Brauchtum geworden sind. Er lässt den Tempel in großer Pracht renovieren und leidet zeitlebens darunter, kein »wirklicher« König zu sein, was ihn misstrauisch und machtsüchtig macht.

Wir sind in der Zeit der Zeitenwende angekommen, der »dunkelsten Nacht im dunkelsten Winter der Erde«, wie es in einem Hirtenspiel für die Kinder so treffend heißt. Die Stimme Gottes schweigt, und nicht nur das jüdische Volk leidet in der Kälte der Gottferne.

Nach der Zeitenwende

Wenn ich nicht Christ wäre, würde es mich doch stutzig machen, wie sich das Christusleben auf Erden in den Lauf der historischen Ereignisse einfügt, obwohl es noch Hunderte von Jahren dauern soll, bis es sich bei den Mächtigen etabliert. Eine Generation nach dem Ereignis von Golgatha wird der Tempel, der für die Lebensgeschichte des Jesus von Nazareth noch dringend gebraucht wurde, von den Römern zerstört, und nach letzten Aufständen – etwa weitere siebzig Jahre später – sind die Juden in alle Welt zerstreut. Jerusalem heißt Aelia Capitolina, und das jüdisch-israelische Reich Syria Palaestina ist eine verschlafene, bedeutungslose Provinz im riesigen Römischen Reich. Juden – und das sind in den Augen der Römer auch die Anhänger der neuen »jüdischen Sekte« der Christen – werden gnadenlos verfolgt. Dass die (im Lande meist jüdisch-stämmigen) Christen inzwischen auch von den (anderen) Juden verfolgt werden, ist insofern fast ein Nebenkriegsschauplatz – beide sind im Römischen Reich für die Machthaber gefährliche Außenseiter.

Das Römische Reich wird im vierten Jahrhundert allmählich vom Christentum durchsetzt. Kaiser Konstantin siegte im Zeichen des Kreuzes über seinen Rivalen Maxentius an der Milvischen Brücke. Das Christentum wird privilegiert, Konstantins Mutter Helena reist im Heiligen Land umher und sucht dort die Orte auf, an denen wichtige Begebenheiten im Christusleben stattfanden. Erste Kirchen werden gebaut. Das Heilige Land wird erstmalig ein Pilgerort, an den fromme Reisende aus Europa ziehen. Byzantion wird als Konstantinopel Hauptstadt des Ostreiches, Brücke zwischen Orient und Okzident.

Eine interessante Episode aus der Sicht unseres europäischen Narratives ist die Eroberung des Landes durch die Perser im Jahre 614. Auch wenn das Intermezzo nur wenige Jahre dauerte, war der Kampf des zoroastrischen Sassaniden Chosrau II., der die Christen erbittert bekämpfte, obwohl mehrere seiner Frauen Christinnen waren, eine der Ursachen der Schwächung des byzantinischen Reiches, das dann dem sich rasch ausbreitenden Islam unterlag. Das Reich des lichten Sonnengottes Ahura Mazdao bekämpfte das christliche Abendland – und verhalf so dem arabischen Großreich zur Herrschaft im Heiligen Land.

Im Jahr 636 erobert Omar ibn al-Khattab Jerusalem für den Islam – eine Generation nach dem Tod des Propheten Mohammed. Auf dem Tempelberg befinden sich zu dieser Zeit die Ruinen der byzantinischen Kirche, die die Sassaniden zerstört hatten. 686–691 wird an dieser Stelle der Felsendom errichtet, eines der großartigsten Bauwerke der frühen islamischen Epoche. Im Jahr 705 wird auch die Al-Aqsa-Moschee vollendet, und damit wird der Tempelberg als Haram ash-Sharif zum drittheiligsten Ort des Islam. In seiner Himmelfahrtsvision hat Mohammed seine Nachtreise zur »entfernten Moschee« geschildert, einem Bauwerk, das allerdings erst viel später erbaut wurde. Als Kultstätte der Vorgängerreligionen des Islam, des Judentums und Christentums, war Jerusalem auch Mohammed wichtig. Er hatte es sogar zur ursprünglichen Gebetsrichtung ausersehen, und erst als die Vertreter der anderen Buchreligionen, die er verehrte und respektierte, sich ihm nicht anschließen wollten, wandte er sich gegen sie und gen Mekka. Mit Omar beginnt die islamische Geschichte des Landes.

Die Kreuzzüge und ihre Folgen

Was hat die merkwürdige Bewegung ausgelöst, durch die Ritter aus dem »christlichen Abendland« sich einige Hundert Jahre später mit Leib und Leben für die Belange des Heiligen Landes einsetzten? Eine Verbindung wurde spürbar: Europa hatte sich mit dem Christentum durchdrungen, das immer veräußerlichter daherkam, sich immer mehr in der Welt einlebte. Das dumpfe Empfinden dafür, dass dieser immer äußerlicher werdenden Religion etwas fehlte, machte die Menschen dafür empfänglich, dort suchen zu müssen, wo alles seinen Ursprung genommen hatte. Das Grab aber war leer, und die blutigen Auseinandersetzungen mit den Andersgläubigen, den »Heiden«, führten zu einer weiteren Entfremdung von den Quellen. Tatsächlich drückt sich das in einigen der Legenden sehr gut aus, die sich um den großen letzten Heerführer der islamischen Streitmacht ranken, den Sultan Saladin, auf Arabisch: Salah-ad-Din.

image

Karne Hittin

Wir haben uns mit seiner Person immer wieder intensiv auseinandergesetzt, wenn wir Lessings dramatisches Gedicht Nathan der Weise für unsere interreligiöse Schauspielarbeit studierten. Tatsächlich ist dieses Stück, das im Jerusalem zur Zeit Saladins spielt, eine Art Schlüssel zu unserer Arbeit geworden:

War Nathan weise? Interreligiöser Dialog bei Lessing und heute

Gotthold Ephraim Lessing, dramatisches Gedicht Nathan der Weise, 1779 erstmals gedruckt, Schauplatz: Jerusalem im 12. Jahrhundert.

Die Kreuzfahrer haben das Land an die Muslime verloren. Der Feldherr und Sultan Salah ad-Din, in die europäische Geschichtsschreibung eingegangen als Saladin, ist gnädig gegen die Besiegten: Er entlässt die Christen gegen Zahlung eines Kopfgeldes in die Freiheit. Nebenbei bemerkt: Als er erfahren muss, dass die Reichen sich daraufhin gern freikaufen, ohne sich um das Schicksal ihrer armen Glaubensgenossen zu kümmern, ist er so erstaunt und erschüttert, dass er die mittellosen Christen kostenlos ziehen lässt. Unter seiner Herrschaft leben Christen, Juden und Muslime in relativer Ruhe Seite an Seite.

Es geht die Sage, Saladin habe für die Waffenstillstandsverhandlungen besondere Teppiche mit Kreuzmotiven weben lassen, um Respekt vor dem Glauben der Christen zu zeigen – die Kreuzritter seien aber mit ihren schmutzigen Stiefeln darüber getrampelt, ohne es auch nur zu bemerken. Umgekehrt habe er die gesittete Zivilisation der »Franken« bewundert, als er ihr Lager besuchte und dort die fein gedeckten Tafeln mit Silber und feinstem Tischgeschirr erleben konnte. Dann aber der Schock, als er gewahr wurde, wie die armen Kriegsknechte ein tristes Dasein führten, wie groß also die sozialen Gegensätze im Tross der Christen waren. Konnte das die Nächstenliebe sein, für die die Abendländer gerühmt wurden? Es scheint, dass in dem kurdischen Herrscher eine gewisse Neugier gegenüber dem Christentum lebte, die nie richtig gewürdigt wurde.

In diesem Zusammenhang ist die Frage Saladins an Nathan zu sehen, welches der rechte Glaube, die wahre Religion sei. Auf diese Frage antwortet der jüdische Kaufmann Nathan, den das Volk einen Weisen nennt, mit einem Gleichnis, der sogenannten Ringparabel:

Es hatte ein Vater von drei Söhnen von seinen Vorfahren einen wundersamen Ring geerbt, dem von Gott die Eigenschaft verliehen war, denjenigen, der ihn trug im Vertrauen auf seine besondere Eigenschaft, vor Gott und den Menschen »angenehm« zu machen. Dieser Ring sollte immer dem liebsten Sohn vermacht werden, der dann ohne Ansehen seines Alters der Erbe und Nachfolger des Vaters werden sollte. Alle drei Söhne waren dem Vater aber gleich gehorsam und daher in gleichem Maße ans Herz gewachsen, sodass er nicht wusste, wem er den Ring nach seinem Tode zu treuen Händen überlassen sollte. Seine Neigungen zu dem einen, dem andern, dem dritten wechselten beständig, und so hatte er jedem Sohn in einer schwachen Stunde bereits versprochen, dass er den Ring erben werde. Was sollte er tun?

image

Nathan-Aufführung