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Waldemar Fromm · Markus May (Hg.)

»Ein wirrer Traum
entstellte
mir die Nacht«

Neue Perspektiven auf das Werk
Christian Morgensterns

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Inhalt

Einleitung

Waldemar Fromm · Markus May

Christian Morgenstern und die »Umwortung der Worte«

Ernst Kretschmer

Der beleidigte Pathetiker im Spiegelkerker. Morgensterns Sprachmythologie im Kontext von Friedrich Nietzsche und Fritz Mauthner

Tobias Krüger

Die Physiognomien der Satzzeichen bei Christian Morgenstern

Monika Schmitz-Emans

Das Spiel mit den Dingen bei Christian Morgenstern

Waldemar Fromm

»ein Mensch, der in seiner Art ans Ende gekommen war […] noch einmal an den Anfang der Dinge gestellt«. Christian Morgenstern und die Anthroposophie

Christiane Haid

»Ich bin in allen geschäftlichen Dingen so sau dumm«. Christian Morgenstern und seine Verleger

Katharina Osterauer

Vom Stiefel Gingganz bis zum Brunnen Biserbricht. Spuren der Morgenstern-Rezeption in der Gegenwartsliteratur

Markus May

Christian Morgenstern. Werke und Briefe: Der späte Briefwechsel (1909–1914). Ein Werkstattbericht

Agnes Harder

»Ein wirrer Traum entstellte mir die Nacht«. Zu einem unbekannten Gedicht von Christian Morgenstern

Waldemar Fromm · Gabriele von Bassermann-Jordan

Anhang

Siglen

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Autoren

Waldemar Fromm · Markus May

Einleitung

Der vorliegende Band möchte Impulse zu einer Neubestimmung des Werkes von Christian Morgenstern geben. Konträr zur anhaltenden Popularität des Autors und zur editionsphilologischen Erschließung seiner Schriften – mit dem Abschluss des neunten Bandes der Stuttgarter Ausgabe 2018 wird die Werkausgabe vollständig vorliegen – schwindet die literatur- und kulturgeschichtliche Aufmerksamkeit für den Autor. Erstaunlich ist, dass Ernst Kretschmer in einem Forschungsüberblick bereits vor dreißig Jahren Arbeiten aus den 1920er- und frühen 1930er-Jahren zitieren muss, um den Forschungsstand auszuweisen.1 Neben den grundlegenden Studien von Wolfgang Kayser, der 1957 Morgenstern im Zusammenhang mit dem Grotesken untersuchte,2 Alfred Liede, der 1961 Morgenstern im Rahmen der Sprachspieltradition einordnete,3 und Maurice Cureau, der wie Ernst Kretschmer dem Humor eine umfassende Studie widmete,4 sind nur wenige Dissertationen, insbesondere zu den Galgenliedern, erschienen.5 Eine neuerliche Würdigung von Autor und Werk ist vor dem Hintergrund dieser Forschungslage überfällig.6

Gegenwärtig ist Morgenstern vor allem als der Dichter der Galgenlieder präsent, wenngleich das wissenschaftliche Interesse auch diesbezüglich abzunehmen scheint. Der letzte größere Versuch, Morgensterns Rolle umfassender zu beschreiben, findet sich in Clemens Heselhaus’ Studie Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll von 1962 wie auch in seinem Nachwort zur Jubiläumsausgabe von 1979.7 In neueren literaturgeschichtlichen Überblicksdarstellungen fristet Morgenstern, pointiert gesagt, ein Nischendasein in der Rubrik ›komische Lyrik‹.8 Gleichwohl bündelt sich in seinem Werk eine Reihe wesentlicher Tendenzen der Lyrik der Moderne, und von daher lohnt sich ein erneuter Blick auf sein Werk. In diesem Kontext ist Morgensterns Stellung zur Avantgarde zu befragen. Eine solche Perspektive ergibt sich vor allem aus Morgensterns Beschäftigung mit sprachkritischen Impulsen. In der spezifischen Ausprägung bei Morgenstern eröffnet sich die Möglichkeit, eine moderne Variante des Verhältnisses von Kritik und Mystik im Kontext der Sprachreflexionen um 1900 zu erörtern.

Für die sprachkritischen Impulse sind insbesondere intermediale Bezüge hervorzuheben – es darf nicht vergessen werden, dass Morgensterns Großvater und Vater Landschaftsmaler waren, er selbst gibt als ersten Berufswunsch »zukünftiger Landschaftsmaler« an. Übersehen werden darf ebenso wenig das innovatorische Potenzial Morgensterns. Wie schon zu Lebzeiten, entfaltet der spielerische Umgang mit Sprache seine Wirkung bis zu Autoren der Gegenwart. Die Rezeptionsgeschichte, von der Forschung fast gänzlich vernachlässigt, reicht von der frühen Rezeption in Expressionismus und Dada über die Neuansätze der sprachartistischen und -reflexiven Dichtung nach 1945, etwa bei H. C. Artmann und Ernst Jandl, bis zur komisch-satirischen Lyrik der »Neuen Frankfurter Schule«.

Morgensterns Moderneverständnis setzt, wie z. B. im Beitrag Wie moderne Frauen schreiben, auf die Befreiung von der dogmatischen Erstarrung der Traditionsbezüge.

Modern – was heißt das überhaupt? Es ist ein verfänglicher Ausdruck: bedeutet er doch wörtlich »der Mode nach«. Die Mode aber ist eine Eintagsfliege. Er bedeutet indessen noch etwas anderes als die neueste Phase des Zeitgeschmacks, indem er vielmehr wie ein Siegel auf alles gedrückt ist, was unser Jahrhundert und in ihm besonders die letzten Jahrzehnte von früheren Zeitläuften stark unterscheidet. Die Wurzeln dieses Menschentums, das wir modern nennen, liegen überall, wo je eine große Kultur geherrscht hat oder doch angebahnt worden ist. Die Kulturen des alten Asiens, die Antike, das Christentum, die Renaissance, sie alle haben an den Anschauungen des neunzehnten Jahrhunderts mitgearbeitet, Anschauungen, die dahin gehen, eine Wiedergeburt des einzelnen und der Völker aus dem Geiste der Freiheit herbeizuführen. Traditionen sind etwas Ehrwürdiges, aber sie dürfen nicht Netze werden, aus denen niemand mehr herauskann.

Wieviele solcher Netze drohen, die Entwickelung eines Individuums zu ersticken! Ein überkommender Glaube – etwas Wunderbares, wenn der Mensch ihm frei gegenübersteht, etwas Fürchterliches, wenn er ein Gesetz aus ihm macht.9

Der »Geist der Freiheit« lebt von der anti-bürgerlichen Haltung in der Literatur und Kultur um 1900, Morgenstern war sowohl in der Münchner als auch die Berliner Moderne verankert, wie die Briefe zeigen. Aber er hat zeitlebens nicht nur eine Antwort auf die Probleme einer als bürgerlich beengend empfundenen Kultur gefunden. Von heute aus müssen mindestens zwei bedacht werden: die frühe, die mit der Tradition bricht, und die späte, die mit Rekurs auf Rudolf Steiner über den Bruch hinaus versucht, eine moderne Variante des Verhältnisses von Kritik und Mystik zu fundieren. Noch im Tagebuch eines Mystikers wird festgehalten: »Dieser Grundhang, das Leben zu einer Biedermeierei zu erniedrigen, ist es, den ich unter der Bezeichnung ›bürgerlich‹ überall aufspüre und verfolge. [… Man sollte, Anm. d. Hg.] den Menschen in Erinnerung […] rufen, daß sie nicht nur Bürger von diesem Namen und jenem Stand seien, sondern unerforschliche Teile des Unerforschlichen.«10 Zwischen sprachkritischem und sprachmystischem Morgenstern findet also keine »Kehre« statt, wenn man bedenkt, wem er entkommen will. Morgenstern geht es nicht darum, das früher Geschriebene zu revidieren oder als Irrtum zu entlarven, er sucht nach einer Alternative zum bürgerlichen Leben, wohl auch dem der Väter. Die Konsequenz des Übergangs liegt in einer Grundhaltung, die Freiräume des Denkens und Handels erkundet und die ob der Rationalisierungstendenzen in der Moderne schwindelt. Diesen Weg von den Freiheiten einer sozialen und künstlerischen Avantgarde ins Religiöse oder Mystische sind andere Autoren vor und nach Morgenstern auch gegangen. Aus dem frühromantischen Ausbruch aus den Zwängen der Vernunft in den Glauben und die Mystik etwa Clemens Brentano oder August Wilhelm Schlegel, aus dem Überbietungsgestus der Moderne in den Glauben etwa Hermann Bahr oder Hugo Ball, aus der Kritik in die Mystik Fritz Mauthner. Im historischen Abstand von hundert Jahren sollte heute der ganze Morgenstern aus historischer Perspektive in den Blick genommen werden: der Vorreiter der Avantgarde und der Anthroposoph. Diesen Anspruch versuchen die hier versammelten Aufsätze einlösen.

Der erhebliche Eindruck, den die Philosophie Nietzsches auf Morgenstern machte, ist ein durchaus bekanntes Phänomen, wobei allerdings häufig die Frage unterbleibt, wie genau sich dieser Einfluss denn ausgewirkt hat und wie die bei Morgenstern zu verzeichnenden produktiven Adaptionsprozesse präzise zu beschreiben sind. Das Schlagwort von der »Umwortung der Worte« zählt zu den berühmtesten und besonders markierten Bezugnahmen. Ernst Kretschmer geht in seinem Beitrag Christian Morgenstern und die »Umwortung der Worte« zunächst der Frage nach, wie und wann genau denn diese Spur der Nietzsche-Rezeption bei Morgenstern sich nachweisen lässt, um an den Galgenliedern und am Palmström zu demonstrieren, wie sich dieses Prinzip auswirkt. Kretschmer konstatiert hierbei eine Dynamisierung des Verhältnisses von Signifikat und Signifikant, die vor allem in den Neologismen ihre Potenziale entfaltet. Darüber hinaus legt Kretschmer dar, welche sprachphilosophischen und -kritischen Implikationen – und damit letztendlich auch ethische – damit verknüpft sind.

Auch der nächste Beitrag schließt an die sprachkritischen Überlegungen um 1900 als Grundlage des Morgenstern’schen Dichtens an. In seinem Aufsatz Der beleidigte Pathetiker im Spiegelkerker. Morgensterns Sprachmythologie im Kontext von Friedrich Nietzsche und Fritz Mauthner unternimmt Tobias Krüger den Versuch einer Situierung von Morgensterns Sprachkonzeption zwischen den beiden großen Polen der Sprachkritik der Jahrhundertwende. Anders als in der Morgenstern-Forschung bislang üblich, betont Krüger eine stärkere Distanzierung Morgensterns zu Nietzsche, gerade weil Morgenstern das Verhältnis von Spiel und Ernst umkehrt und er auch noch der überbordendsten Phantasie eine »Nabelschnur zur Wirklichkeit« attestiert, wobei allerdings der spezifische Umgang mit der Sprache Ausdruck des Weltverhältnisses des Individuums sei. Einmal mehr erscheint Morgensterns Poetologie in ihrer Radikalität als eine auch philosophisch valide Alternative im Laboratorium der Moderne.

Auf Morgensterns mit avantgardistischen Mitteln formulierten epistemologischen Gültigkeitsanspruch bezieht sich auch der daran anschließende Beitrag von Monika Schmitz-Emans, Die Physiognomien der Satzzeichen bei Christian Morgenstern. Im Rekurs auf Theodor W. Adornos Essay über Satzzeichen analysiert Schmitz-Emans die Spielräume, die durch die grafische Gestaltung des geschriebenen Gedichts und der Sprachkörperlichkeit der Interpunktion bei Morgenstern eröffnet werden. Dabei kontextualisiert Schmitz-Emans die jeweiligen Schreib- und Gestaltungsweisen und rückt Morgenstern so in den Gesamtzusammenhang avantgardistischer Experimentalpoesie der Jahrhundertwende ein.

Im folgenden Aufsatz, Das Spiel mit den Dingen bei Christian Morgenstern, untersucht Waldemar Fromm die besondere Affinität zu den Dingen, die Morgensterns Lyrik auszeichnet. Fromm rekurriert zur Beschreibung der Phänomene auf Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, die den Dingen einen eigenen Status als Aktanten in komplexen und dynamischen Handlungsgeflechten, Netzwerken, zugesteht und mithin eine eigene Handlungsinitiative oder »agency«. Dieser Ansatz eignet sich besonders zur Erfassung der ganz eigenen Ding-Dichtung Morgensterns, in der sich die Gegenstände, wie etwa Stiefel und Stiefelknecht im Gingganz, aus den entfremdeten Zweckzuschreibungen emanzipieren, dissoziieren, dislozieren und sich zu neuen Hybriden synthetisieren. Damit wird eine Aufwertung der dinglichen Welt betrieben, die als eine Art spielerisches, utopisch-phantastisches Gegenprogramm zu den instrumentellen Zurichtungen utilitaristischkapitalistischer Provenienz zu verstehen ist, das in seinen Befunden (nicht aber in seinen ästhetischen Verfahren!) durchaus Berührungspunkte zu ähnlichen Defizitbilanzierungen der Moderne bei Rainer Maria Rilke oder Walter Benjamin aufweist.

Am 8. April 2014, vier Tage vor seinem 86. Geburtstag, verstarb in Hannover der Initiator und Haupteditor der Stuttgarter Ausgabe, Reinhardt Habel. Ab Mitte der 1970er Jahre hatte sich Habel der Arbeit an diesem editorischen Großprojekt verschrieben und ihm einen wesentlichen Teil seiner wissenschaftlichen Tätigkeit der folgenden Jahrzehnte gewidmet. Als Doyen der Morgenstern-Forschung hat Habel diese über einen langen Zeitraum geprägt und wird sie, nicht zuletzt durch die Ausgabe, auch in Zukunft noch maßgeblich beeinflussen. Christiane Haids Beitrag, »ein Mensch, der in seiner Art ans Ende gekommen war […] noch einmal an den Anfang der Dinge gestellt«, der Reinhardt Habel gewidmet ist, untersucht Morgensterns Entwicklung hin zur Anthroposophie Rudolf Steiners, die das Denken seiner letzten Lebensjahre maßgeblich prägte. Dabei findet Haid auch schon entsprechende strukturelle Elemente im Frühwerk von Morgenstern, etwa im Zyklus In Phantas Schloß präfiguriert. Besondere Aufmerksamkeit widmet Haid den das Gesamtwerk durchziehenden triadischen Strukturen.

Als Lyriker auf dem Buchmarkt Fuß zu fassen, war auch in der stark literarisch geprägten bürgerlichen Kultur um 1900 ein schwieriges Unterfangen. Katharina Osterauer analysiert in ihrem Aufsatz »Ich bin in allen geschäftlichen Dingen so sau dumm«. Christian Morgenstern und seine Verleger die Publikationssituation, vor allem anhand der Autor-Verleger-Briefwechsel, soweit sie sich noch rekonstruieren lassen. Nach vielen Verlagswechseln, die das frühe und mittlere Werk Morgensterns begleiteten, fand der Autor erst 1910 in dem Münchner Reinhard Piper einen verständnisvollen Verleger, dem Morgenstern sein weiteres lyrisches Werk bis zu seinem Tod 1914 anvertraute.

Die Bedeutung eines Lyrikers misst sich nicht zuletzt an der Wirkungsmacht und Wirkungsdauer seiner Dichtung, d. h. an der Anschlussfähigkeit, die er für spätere Autoren bereitstellt. Dabei spielt nicht allein eine Rolle, dass und was rezipiert wird, sondern auch auf welche Weise. Dieser Frage geht exemplarisch der Beitrag von Markus May, Vom Stiefel Gingganz bis zum Brunnen Biserbricht. Spuren der Morgenstern-Rezeption in der Gegenwartsliteratur, nach. So figuriert Morgenstern als einer der Gründerväter der »Hochkomik« im Sinne der »Neuen Frankfurter Schule«, insbesondere bei Robert Gernhardt. Aber auch für Formen der verdeckten Schreibweise unter den repressiven Verhältnissen der Diktatur lässt sich auf Morgensterns Verfahren der kritischen Groteske rekurrieren, wie May am Beispiel Oskar Pastiors demonstriert.

Mit der Stuttgarter Ausgabe der Werke und Briefe Christian Morgensterns ist einem Autor der beginnenden Avantgarde des 20. Jahrhunderts nun auch eine Edition zuteil geworden, die seiner Bedeutung gerecht wird. Agnes Harder schildert in dem Beitrag Christian Morgenstern. Werke und Briefe: Der späte Briefwechsel (1909–1914). Ein Werkstattbericht die Arbeit am abschließenden Band aus editorischer Sicht. Gerade die synoptische Gesamtperspektive dieses Briefwechsels gewährt Einblicke in die beeindruckende Vernetzung Morgensterns mit führenden Künstlern und Intellektuellen seiner Zeit und liefert faszinierende Einsichten in werkgenetische Prozesse und publikationsgeschichtliche Kontexte.

Den Band beschließt ein Fund. So sind in einem Nachlass ein bislang unbekanntes Gedicht und ein unbekannter Brief von Christian Morgenstern aufgetaucht, die von Waldemar Fromm und Gabriele von Bassermann-Jordan hier zum ersten Mal publiziert und kommentiert werden.

Das abschließende Literaturverzeichnis wurde von Gabriele von Bassermann-Jordan erstellt. Es enthält die Literaturangaben der Fußnoten, sofern sie Christian Morgenstern betreffen, sowie die wichtigste Forschungsliteratur zu Morgenstern, die seit 1985 erschienen ist.

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Der vorliegende Band geht auf ein Kolloquium zum 100. Todestag des Autors am 25. Oktober 2014 im Lyrik Kabinett München unter dem Titel Neue Perspektiven auf das Werk Christian Morgensterns zurück. Die Veranstaltung wurde freundlicherweise von der Münchener Universitätsgesellschaft, dem Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Monacensia, dem Literaturarchiv der Stadt München, gefördert. Ihnen sei an dieser Stelle gedankt.

1Ernst Kretschmer: Christian Morgenstern. Stuttgart 1985.

2Wolfgang Kayser: Das Groteske in Malerei und Dichtung. Reinbek b. Hamburg 1961; vgl. mit linguistischen Mitteln Christine Palm: Greule Golch und Geigerich. Die Nabelschnur zur Sprach-Wirklichkeit in der grotesken Lyrik von Christian Morgenstern. Uppsala 1983.

3Alfred Liede: Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache. Neu herausgegeben von Walter Pape. 2. Auflage. Berlin u. a. 1992.

4Maurice Cureau: Christian Morgenstern humoriste. La création poétique dans In Phanta’s Schloß et les Galgenlieder. Bern u. a. 1986; Ernst Kretschmer: Die Welt der Galgenlieder Christian Morgensterns und der viktorianische Nonsense. Berlin u. a. 1983.

5Vgl. Ioana Crăciun: Mystik und Erotik in Christian Morgensterns Galgenliedern. Frankfurt a. M. u. a. 1988; Christos Platritis: Christian Morgenstern. Dichtung und Weltanschauung. Frankfurt a. M. u. a. 1992; Anthony T. Wilson: Über die Galgenlieder Christian Morgensterns. Würzburg 2003.

6Zum 100. Todestag erschien lediglich eine Biographie von Jochen Schimmang: Christian Morgenstern. Eine Biografie. St. Pölten u. a. 2013.

7Clemens Heselhaus: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache. Düsseldorf 1961; C. H.: Zur Ausgabe. In: Christian Morgenstern: Jubiläumsausgabe in 4 Bänden. München 1979. Band IV, S. 240–264.

8Vgl. Hans H. Hiebel: Das Spektrum der modernen Poesie. Interpretationen deutschsprachiger Lyrik 1900–2000 im internationalen Kontext der Moderne. Teil I: 1900–1945. Würzburg 2005.

9WuB VI, S. 303f.

10WuB V, S. 321.

Ernst Kretschmer

Christian Morgenstern und die »Umwortung der Worte«

1Einleitung

Bei der Interpretation der »humoristischen« Lyrik Morgensterns greifen Philologen gern auf sein Schlagwort von der »Umwortung aller Worte« zurück.1 Als solches erscheint es am 4. Mai 1928 zum ersten Mal im Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung. Georg Hirschfeld, der als Galgenbruder »Verreckerle« hieß, erinnert sich dort an eine Anekdote aus der Frühzeit des Galgenbergs:

Wir waren in Friedrich Kayßlers Bude, und ein hoher Gast hatte sich eingefunden: ein reicher, junger Verleger aus Dresden. Der wollte eben anfangen und interessierte sich ehrlich für Christian Morgenstern. Als er in die Nietzscheliebe des Dichters Einblick gewann, fragte er, ob er nicht unter diesem Stern etwas Besonderes und Eigenes bringen könne? Morgenstern sah den Wohlgesinnten ernsthaft an – dann sagte er: »O ja – vielleicht eine Umwortung aller Worte?«2

1933 taucht es in Michael Bauers Christian Morgensterns Leben und Werk wieder auf, der es im Kapitel über die Galgenlieder − »Ein Philosoph aus heitrer Höh« – als »Morgensterns Parole« einführt3 und es damit zum ersten Mal als Leit- oder Schlüsselwort verwendet, das dem Verständnis der Gedichte dienen soll. 1987 wird es schließlich in den Aphorismen der Stuttgarter Ausgabe auch textkritisch als Eintrag in das Taschenbuch von 1895 erfasst. Die Datierung kann dort auf den Zeitraum vom Mai bis zum August dieses Jahres eingegrenzt werden.4

Die »Umwortung aller Worte« ist offensichtlich eine Anspielung auf Friedrich Nietzsches »Umwertung aller Werte«. Das philosophische Konzept war Morgenstern zwar schon seit dem Zarathustra bekannt, als dessen »Lerche« er sich 1893 bezeichnete,5 in dieser expliziten Form aber konnte er es zum ersten Mal im Antichrist finden, den das Nietzsche-Archiv 1894 herausgegeben hatte.6 Dass der Dichter das Schlagwort im Frühjahr oder Sommer 1895 in sein Taschenbuch notierte, passt dazu und bestätigt zugleich die von Hirschfeld und Bauer hergestellte Verbindung zu den Galgenliedern, da der Zeitraum auch den legendären Ausflug auf den Galgenberg und die ersten Versammlungen der Galgenbrüder in Berlin umfasst.7

Im Folgenden wird die »Umwortung aller Worte« in zwei Hinsichten thematisiert: Zum einen soll der Relevanz des Schlagworts für das Verständnis der Galgenlieder und des Palmström nachgegangen werden. Zum anderen sollen mit seiner Hilfe die Kategorien »humoristisch« und »seriös« betrachtet werden, nach denen Morgensterns Gesamtwerk philologisch eingeteilt und in der Rezeptionsgeschichte – Erfolg und Nichtbeachtung – auch bewertet wird.

2Die »Umwortung der Worte« als heuristischer Schlüssel zur Deutung der Galgenlieder und des Palmström

2.1Möglichkeiten der Umwortung: Lärmschutz und Der Gingganz

Betrachtet man ein Wort als Zeichen, in dem Signifikant und Signifikat wesenhaft miteinander verbunden sind,8 öffnen sich mit der »Umwortung« verschiedene Facetten des dichterischen Umgangs mit Sprache. Das Bild erfasst die Schwingungen, in die Morgenstern die Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat versetzt, die Erschütterungen, in die gewöhnliche Wörter dabei geraten, um als überraschend anders daraus hervorzugehen. Es lenkt den Blick auch auf den Ausgangspunkt der Bewegung, denn die Umwortung setzt entweder beim Signifikat oder beim Signifikanten ein. An einem der beiden wird das Wort gewissermaßen ausgehebelt und in sich verschoben, sodass eine neue Bedeutung entsteht.

Eine prototypische Umwortung, die vom Signifikat ausgeht, nimmt Morgenstern mit dem Substantiv »Lärmschutz« vor. Er wählt es 1912 zum Titel eines Gedichts und wortet es darin mithilfe eines Klempners greifbar um:

Lärmschutz

Palmström liebt sich in Geräusch zu wickeln,

teils zur Abwehr wider fremde Lärme,

teils um sich vor drittem Ohr zu schirmen.

Und so lässt er sich um seine Zimmer

Wasserröhren legen, welche brausen.

Und ergeht sich, so behütet, oft in

stundenlangen Monologen, stundenlangen

Monologen, gleich dem Redner

von Athen, der in die Brandung brüllte,

gleich Demosthenes am Strand des Meeres.9

Während der Signifikant »Lärmschutz« ein und derselbe bleibt, wird ihm ein neues Signifikat zugeordnet, das sich aus einer Umdeutung der logischen Beziehungen zwischen dem Grundwort und dem Bestimmungswort des Kompositums ergibt: Es bedeutet nicht mehr ›Schutz vor Lärm‹, sondern ›Schutz durch Lärm‹. Ähnliches geschieht mit den Komposita »Käseglocke«10 und »Winkeladvokat«11, wenn aus der ›Glocke für den Käse‹ die ›Glocke aus Käse‹ und dem ›Advokaten ohne Examen, der heimlich im Winkel arbeitet‹ ein solcher wird, ›der einmal ein Winkel war‹. Der »Lebenslauf« und das »Fersengeld«12 stellen Varianten dieser Art der Umwortung dar, wenn sich in ihnen die Metaphern ihrer Grundwörter zu Handlungen und Dingen konkretisieren, sodass ein Mann aus Deutz um sein Leben läuft und sein Verfolger, ein Flame, das Geld, das dieser dabei fallen lässt, in seinen Hut sammeln kann.

Als prototypisches Beispiel für eine Umwortung, die vom Signifikanten ausgeht, stellt Morgenstern in der dritten Auflage der Galgenlieder von 1908 nicht nur den Gingganz bereit, sondern erklärt auch, im Gewand des Philologen Jeremias Mueller, ihre Eigenart:

Der Gingganz

Ein Stiefel wandern und sein Knecht

von Knickebühl gen Entenbrecht.

Urplötzlich auf dem Felde drauß

begehrt der Stiefel: Zieh mich aus!

Der Knecht drauf: Es ist nicht an dem;

doch sagt mir, lieber Herre, –: wem?

Dem Stiefel gibt es einen Ruck:

Fürwahr, beim heiligen Nepomuk,

ich GING GANZ in Gedanken hin …

Du weißt, dass ich ein andrer bin,

seitdem ich meinen Herrn verlor …

Der Knecht wirft beide Arm empor,

als wollt er sagen: Lass doch, lass!

Und weiter zieht das Paar fürbass.13

Verfasser hat sich erlaubt, aus dem Worte des Stiefels: »Ich ging ganz in Gedanken hin!« die Wörter »ging ganz« herauszugreifen und, zu einem Ganzen vereinigt, zum Range eines neuen Substantivs masc. gen. (in allen casibus unveränderlich, ohne Pluralis) zu erheben. Ein Gingganz bedeutet für ihn damit fortan ein in Gedanken Vertiefter, Verlorener, ein Zerstreuter, ein Grübler, Träumer, Sinnierer.14

Die Geburt des »Gingganz« vollzieht sich demnach in zwei Momenten. Seine Bildung als Substantiv folgt dem gängigen Muster der Komposition, dem auch das Substantiv »Lebenslauf« seine Existenz verdankt: Zwei Wörter werden »zu einem Ganzen vereinigt« und »zum Range eines neuen Substantivs« erhoben. Während »Lebenslauf« aber mit seinem Grundwort der Klasse der Nominalkomposita angehört und darin der verbreiteten Formel ›Nomen + Nomen‹ folgt, schwebt der »Gingganz« mit seiner Formel ›flektiertes Verb + graduierendes Adverb‹ über den Kompositaklassen. Die Umwortung von »ging« und »ganz« wird also dadurch eingeleitet, dass sie zu einem neuen Signifikanten verschmolzen werden, obwohl sie den Regeln gemäß in diesem nicht zusammenpassen. Vollendet wird sie dann durch das zweite Moment, das auch Jeremias Mueller erklärt: Dem neu entstandenen Signifikanten wird ein eigenes Signifikat zugewiesen, das sich in diesem Fall aus dem Kontext des Gedichts ergibt: Der Stiefel selbst ist als Sinnierer ein »Gingganz«. Auch diese Kategorie der Umwortung ist reich an Varianten: Die »Fingur«15 entsteht aus der Kontamination von »Finger« und »Figur« und erhält die Bedeutung einer geheimnisvollen Herrscherin im nächtlichen Teich. Der »Ant« geht auf dem Weg der Isolierung aus den Substantiven »Anthologie«, »Gigant« und »Elefant« hervor, um eine zoologische Gattung zu bedeuten.16 Die »Oste«17 ergibt sich über eine Homonymie als Analogie zur »Weste« und bezeichnet somit eine »Jacke mit Rückenknöpfen«.

Die Reihe der »Umwortung[en] der Worte« bei Christian Morgenstern ließe sich fortsetzen und führte im Hinblick auf die Rolle der Signifikanten und Signifikate in diesem Prozess zu weiteren Differenzierungen, die schließlich selbst Das große Lalulā18 und Fisches Nachtgesang19 erfassten:20 Auch wenn für die »phonetische Rhapsodie«21 aus der Frühzeit der Galgenlieder nicht nachgewiesen werden kann, welche Wörter der deutschen Sprache auf dem Weg der phonetischen Assoziation und der morphologischen Kontamination zu einem Signifikanten wie »Kroklokwafzi« umgewortet wurden, muss es sie doch geben. Denn nur so kann der Leser seinerseits das neue Signifikat mit ihm verbinden, das er zwar in keinem Wörterbuch finden, aber doch atmosphärisch erspüren kann. »Das tiefste deutsche Gedicht«22 hingegen belegt, dass Signifikate wie »Schuppe«, »Welle« oder »Maul« über ihre Signifikanten umgewortet werden können, indem man diese durch grafische Zeichen wie Striche und Bögen ersetzt, die sie als Ikonen zeigen.23 Für die Deutung der Galgenlieder und des Palmström insgesamt, so darf man zusammenfassen, ist das heuristische Potenzial der »Umwortung aller Worte« durchaus erheblich. Dennoch ist der Begriff zugleich auch problematisch.

3Die Unmöglichkeit der Umwortung: Die Westküsten

Die Westküsten

Die Westküsten traten eines Tages zusammen

und erklärten, sie seien keine Westküsten,

weder Ostküsten noch Westküsten −

»daß sie nicht wüßten!«

Sie wollten wieder ihre Freiheit haben

und für immer das Joch des Namens abschütteln,

womit eine Horde von Menschenbütteln

sich angemaßt habe, sie zu begaben.

Doch wie sich befreien, wie sich erretten

aus diesen widerwärtigen Ketten?

Ihr Westküsten, fing eine an zu spotten,

gedenkt ihr den Menschen etwan auszurotten?

Und wenn schon! rief eine andre schrill.

Wenn ich seine Magd nicht mehr heißen will? −

Dann blieben aber immer noch die Atlanten −

meinte eine von den asiatischen Tanten.

Schließlich, wie immer in solchen Fällen,

tat man eine Resolution aufstellen.

Fünfhundert Tintenfische wurden aufgetrieben,

und mit ihnen wurde folgendes geschrieben:

Wir Westküsten erklären hiermit einstimmig,

daß es uns nicht gibt, und zeichnen hochachtungsvoll:

Die vereinigten Westküsten der Erde. −

Und nun wollte man, daß dies verbreitet werde.

Sie riefen den Walfisch, doch er tat’s nicht achten;

sie riefen die Möwen, doch die Möwen lachten;

sie riefen die Wolke, doch die Wolke vernahm nicht;

sie riefen ich weiß nicht was, doch ich weiß nicht was kam nicht.

Ja, wieso denn, wieso? schrie die Küste von Ecuador:

Wärst du etwa kein Walfisch, du grober Tor?

Sehr richtig, sagte der Walfisch mit vollkommener Ruh:

Dein Denken, liebe Küste, dein Denken macht mich erst dazu.

Da war’s den Küsten, als säh’n sie sich im Spiegel;

ganz seltsam erschien ihnen plötzlich ihr Gewiegel.

Still schwammen sie heim, eine jede nach ihrem Land.

Und die Resolution, die blieb unversandt.

Das Gedicht, das 1908 in der dritten Auflage der Galgenlieder erschien, schrieb Morgenstern am 5. Februar 1906 im Sanatorium Birkenwerder. Aus der fünften Auflage von 1910 hätte er es am liebsten gestrichen und musste erst von seinem Verleger Bruno Cassirer umgestimmt werden.24 Beide Umstände sind für die Interpretation des Gedichts relevant. Das Entstehungsdatum schließt mit großer Wahrscheinlichkeit aus, dass die Sprachkritik Fritz Mauthners25 – den motivischen Ähnlichkeiten zum Trotz26 − die Abfassung der Westküsten beeinflusste. Begann Morgenstern doch erst Ende 1906 sich mit ihr auseinanderzusetzen. Es bestätigt damit die Aussage, die Leo Spitzer 1918 philologisch vorsichtig traf: Zwar ist die Empörung der Dinge gegen ihren Namen, die sich in den Galgenliedern ereignet, mit »dem Kampf Mauthners gegen die ›Wortfetische‹ verwandt«,27 eine direkte »Beeinflussung« aber kann aufgrund dieser Verwandtschaft nicht ohne Weiteres angenommen werden.28 Durch wen oder was sich Morgenstern bei der Abfassung der Westküsten anregen ließ, ist ungewiss. Eine Reminiszenz an Sternes Tristram Shandy anzunehmen, ist ebenso spekulativ wie eine Lesefrucht aus Stirners Der Einzige und sein Eigentum.29 Geht man davon aus, dass der »Malererbe« Morgenstern sich selbst als visuell veranlagten Menschen sah − »Mein Hauptorgan ist das Auge. Alles geht bei mir durch das Auge ein«30 −, ist auch nicht auszuschließen, dass Raffaels Fresko »Die Schule von Athen« das »Gewiegel« der Westküsten anregte. Stand doch im Winter 1906/07 ein Kunstdruck davon auf seinem Schreibtisch in Birkenwerder.31 Dann läge auch der Universalienstreit des Mittelalters nicht fern, in dem sich Realisten und Nominalisten gut drei Jahrhunderte lang erbittert über den Ursprung der Wörter bekriegten. Hatte Gott, der selbstverständlich mit der Welt auch die Westküsten geschaffen hatte, zugleich das dazugehörige Wörterbuch mitgeliefert, in dem sich neben allen anderen die Welt ordnenden Begriffen schon immer auch die »Westküste« befand? Oder war es doch der Mensch selbst, der sich die passenden Begriffe nach und nach schuf, um Gottes Welt zu ordnen? Als Vertreter der Neuzeit schlägt sich Morgenstern auf die Seite der Nominalisten: Natürlich war es die »Horde von Menschenbütteln«, die alle Begriffe und Wörter erfand. Dass er exemplarisch die »Westküste« wählt, hebt eindrücklich die ordnende Funktion der menschlichen Sprache hervor. Anders als »Walfisch«, »Möwe« oder »Wolke« ist die »Westküste« kein absoluter Begriff, der ein Objekt an sich bezeichnet, sondern ein relativer, der seine Existenz der Beziehung verdankt, die Objekte zu einander haben. Sie ist dies sogar in zweifacher Weise: Als »Küste« bezeichnet sie eine Relation von Land und Meer, als »westlich« eine Koordinate im System der Himmelsrichtungen. Die »Westküste« ist ein besonders treffendes Beispiel dafür, dass die Begriffe der Sprache das Ergebnis des menschlichen Bemühens sind, die Komplexität der Welt als System zu erfassen, in dem alle Komponenten durch ihre Beziehungen einander stimmig zugeordnet sind.

Der Versuch der »Westküsten«, in einem Akt der Befreiung das Joch ihres Namens abzuschütteln, stellt eine extreme Variante der »Umwortung der Worte« dar: Durch die Entfernung eines Wortes mit Stumpf und Stiel – Signifikant und Signifikat in einem – soll ein Konzept verschwinden. Der Versuch zielt auf die »Entwortung« eines Wortes, die in ihrer Radikalität sogar Fisches Nachtgesang übertrifft. Werden darin die lexikalischen Signifikanten immerhin noch durch grafische Zeichen ersetzt, fordern die »Westküsten« einstimmig, dass sie nichts mehr bezeichnen soll. Ihr schließliches Scheitern deckt zwei Probleme einer jedweden Umwortung auf. Diese werden in der siebten und der achten Strophe des Galgenlieds thematisiert:

Die Bewohner der Meere ignorieren den Wunsch der »Westküsten«, ihren Namen abzuschütteln. Die Wolke mag ihn tatsächlich nicht gehört haben, der Walfisch aber schenkt ihm ausdrücklich keine Beachtung, und die Möwen belachen ihn offen. Sie geben den »Westküsten« zu verstehen, dass Sprache ein Zeichensystem ist, das auf den Konventionen einer Sprachgemeinschaft beruht und niemals von Einzelnen, sondern nur dann verändert werden kann, wenn genügend andere Mitglieder der Gemeinschaft die Veränderung annehmen und weitertragen. Durch ihr Schweigen teilen sie ihnen eine Grundbedingung des Sprachwandels im Allgemeinen mit, die sie im Fall der Entfernung des Wortes »Westküste« nicht bereit sind einzulösen.

Der Walfisch weiht die Küste von Ecuador schließlich in den Zusammenhang von Denken und Sprechen ein, der in der deutschen Tradition vor allem von Wilhelm von Humboldt mehrfach behandelt wurde. Der Freund Goethes und Schillers stellte die »Identität des Denkens und Sprechens«32 fest und nannte die Sprache »das bildende Organ der Gedanken«.33 Folgt man Humboldt, Sapir und Whorf oder, in jüngerer Zeit, auch Guy Deutscher,34 kann man nur schließen, dass jede Veränderung der Sprache eine solche des Denkens und jede Veränderung des Denkens auch eine solche der Sprache bedingt. Das gilt darum auch für die »Umwortung der Worte«. Sie setzt sich nur dann durch, wenn ihr die Konzepte folgen. Der Versuch der »Westküsten«, sich von ihrem Namen zu befreien, scheitert auch darum, weil Walfisch, Möwen und Wolke auf das Konzept, das dem Namen zugrunde liegt, zur Ordnung ihres Lebensraumes existenziell angewiesen sind.

Warum Morgenstern Die Westküsten nicht in die fünfte Auflage der Galgenlieder übernehmen wollte,35 wissen wir nicht. Geht man davon aus, dass die »Umwortung der Worte« ein Grundzug der Sammlung ist, scheint indes die Annahme plausibel, dass er das Gedicht als Fremdkörper darin betrachtete. Obwohl das groteske, surreale Thema perfekt in den Rahmen passt, steht seine Ausführung im Widerspruch zur Poetik der Galgenlieder. Die »Umwortung der Worte«, die sich im Lärmschutz und Gingganz wie in zahlreichen anderen Gedichten ereignet, wird in den Westküsten für schlicht unmöglich erklärt. Während es der »Nähe« gelingt, als Näherin zu sich selbst zu kommen,36 und ein Architekt es schafft, aus den »Zwischenräumen« eines Lattenzauns ein Haus zu bauen,37 während sie beide also ohne Weiteres Konzepte aus ihren existenziellen Kontexten lösen, bleibt den »Westküsten« dieses versagt. Auch wenn aus den Quellen nicht belegt werden kann, dass Morgenstern Die Westküsten aus diesem Grund aus der Sammlung von 1910 zu streichen wünschte, lädt doch der poetologische Widerspruch des Gedichts zu den übrigen Galgenliedern dazu ein, über sein Verständnis der dichterischen Möglichkeiten der »Umwortung der Worte« nachzudenken.

4Die »Umwortung aller Worte« im Kontext ihrer Erfindung

[611] Für gewisse Worte andere komische Synonymen [sic!] eine Weile wenigstens einsetzen. Umwortung aller Worte.38

Die »Umwortung aller Worte« erscheint bei Morgenstern zum ersten und einzigen Mal in einem Fragment, das unter der Nummer 611 in die Aphorismen der Stuttgarter Ausgabe aufgenommen wurde. Im Rahmen der thematischen Gliederung des Bandes zählt es zur Abteilung »Sprache«. Zur Relevanz des Schlagworts für das Verständnis der Galgenlieder ergeben sich aus der Quelle zwei Feststellungen.

Das Fragment ist überaus ambigue. Dem Schlagwort geht ein infiniter Satz voraus, dessen appellative Mitteilung verschiedene modale Varianten zulässt − man könnte, sollte, müsste … − und somit als Erwägung, Vorsatz, Empfehlung, Regel … verstanden werden kann. Da Satz und Schlagwort ein expliziter Konnektor fehlt, der sie kohärent verbindet, lässt ihre einfache Aufeinanderfolge mehrere Lesarten zu. Als widersprüchlich auszuschließen ist sicherlich die Möglichkeit, dass Morgenstern hier die zeitweilige Einsetzung komischer Synonyme für gewisse Worte eine Umwortung aller Worte nennt. Eine gewisse Plausibilität besäße immerhin: Die Forderung oder der Vorsatz, für gewisse Worte zeitweilig komische Synonyme einzusetzen, kann oder soll das Ziel einer Umwortung aller Worte verfolgen oder kann oder soll als erster Schritt betrachtet werden, der dahin führen wird. Aber es ist augenfällig, dass diese Formulierungen interpretative Konstrukte sind. Man wird der Notiz wohl eher gerecht, indem man den assoziativen Charakter, den ihre rudimentäre Form suggeriert, als solchen einfach hinnimmt: Der Gedanke, für gewisse Worte komische Synonyme einzusetzen, führt die »Lerche Zarathustras« über die Reminiszenz an den Antichrist zum Begriff der »Umwortung« und legt ihm dabei die vollständige Anspielung »aller Worte« nahe. Denn nur über diese Vollständigkeit lässt sich das Vorbild der »Umwertung aller Werte« in ihr erkennen und erst damit der parodistische Effekt erzielen, den sie noch heute besitzt. Zugespitzt formuliert wäre die »Umwortung aller Worte« damit vor allem ein geistreicher Einfall des 24-jährigen Dichters, weit eher die witzige »Verwortung« eines Nietzsche-Zitats als ein programmatisches Postulat, das insgesamt die Galgenlieder und den Palmström erfassen könnten.

Die zweite Feststellung folgt aus dem weiteren Kontext des Taschenbuchs, in das Morgenstern 1895 das Fragment 611 notierte. Dort erscheint es auf Blatt 101 neben zwei anderen Einträgen:

Ad Menschen.39

Für gewisse Worte andere komische Synonymen eine Weile wenigstens einsetzen. Umwortung aller Worte.40

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Oberster Grundsatz für all m. Satiren:

Eiserne Gerechtigkeit.41

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M[enschen] Vorrede.

Allerdings heut nicht viel Humor verstanden, keine Zeit dafür. Dann muss ich mich halt auf die Zukunft vertrösten. Schullektüren in dem nächsten Kulturvolk, Bild davon.42

[Bl. 101]

Die Interpretation der Galgenlieder und des Palmström mit dem Schlüssel der »Umwortung aller Worte« besitzt ohne Zweifel Plausibilität, nicht zuletzt auch darum, weil die Zeitzeugen Hirschfeld und Bauer sie mit dem Schlagwort assoziieren und der Ausflug der Galgenbrüder nach Werder tatsächlich in den Zeitraum fällt, aus dem es stammt. Dennoch wird es hier eindeutig dem Vermerk »Ad Menschen« zugeordnet. Es ist demnach ein Thema oder Motiv, das Morgenstern in seinem ersten humoristischen Roman zu verwenden plant, der den Titel Menschen trägt.43 Das Projekt, mit dessen Ausführung er am 6. Mai 1895, seinem 24. Geburtstag, verheißungsvoll beginnt, um es am 18. August desselben Jahres abzubrechen,44 war durch die Lektüre von Laurence Sternes Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman angeregt und reflektiert neben dessen Humor im Allgemeinen vor allem das für die Lyrik eher ungeeignete Stilmittel der Divagation.45 Während die »Vorrede« mit der Klage über die Humorlosigkeit des Wilhelminismus dem Projekt eindeutig zugeordnet werden kann, bleibt unklar, ob sich auch der satirische Zuschnitt darauf bezieht, für den Morgenstern hier »eiserne Gerechtigkeit« zum obersten Prinzip erhebt. Vielleicht greift er abermals Sternes Tristram damit auf, vielleicht aber plante er auch, die Reihe seiner satirischen Aufsätze fortzusetzen, von denen Ende 1894 Schimpff und Schande46 und Epigo und Decadentia47 erschienen waren. Fest steht indes: Beruft man sich bei der Interpretation der Galgenlieder und des Palmström auf die »Umwortung aller Worte«, geht man von einem Schlagwort aus, das zwar »Morgensterns Parole« gewesen sein mag, aber von ihm selbst nicht ausdrücklich dafür erfunden wurde.

5Die »Umwortung aller Worte« im Kontext des Gesamtwerks

5.1Die Wahrsagung aus allen Worten

In der Stuttgarter Ausgabe folgt dem Fragment 611 ein weiteres, dessen Thema ebenfalls der dichterische Umgang mit den Worten ist:

[612] Immer alles nur beim rechten, innersten Namen nennen. (Die Worte aufschlitzen und aus ihren Eingeweiden wahrsagen.)48

Beide Fragmente ähneln sich in der Struktur, sowohl in der Zweiteilung als auch in der Verwendung des appellativen und abermals ambiguen Infinitivs. Auch die Nietzsche-Lektüre scheint im Hintergrund präsent. Klingen doch in der Metapher der »Eingeweide« der Worte dessen »Eingeweide des Unerforschlichen«49, der »Gegenwart«50 oder der »Seele«51 nach. Dennoch stehen beide Fragmente in einem offensichtlichen Widerspruch zueinander, der den Gegensatz zwischen dem Lärmschutz und dem Gingganz einerseits und den Westküsten andererseits zu reflektieren scheint: Der in 611 formulierte Vorschlag, Wörter durch Synonyme zu ersetzen, wird in 612 als Möglichkeit schlicht ausgeschlossen, und mit der »Umwortung der Worte« ist die Weissagung aus ihrem Innersten kaum vereinbar.

Der Widerspruch löst sich auf, wenn man abermals das Taschenbuch zur Hand nimmt. Das Fragment 612 befindet sich auf Blatt 103:

III Immer alles nur beim rechten, innersten Namen nennen (Die Worte aufschlitzen und aus ihren Eingeweiden wahrsagen.)52

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Zeit der Feiglinge. Vom Kaiser bis zum Hungerer.53

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II od. III Glockenspiel

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Ad »Menschen«

Eingeschoben: Liebes- (und sonstige) Geschichte in einer Art erzählt als ob es sich um Tiere (Affen) etwa handelte.

»Das Weibchen schlang seinen Arm um das Männchen« etc. Vielleicht vom Standpunkt eines höheren Wesens aus erzählt.54 [Bl. 103]

Die römische Ziffer III, die dem Fragment voransteht und vor dem »Glockenspiel« noch einmal aufgegriffen wird, bezieht sich auf die Satzfolge einer lyrischen Symphonie, die Morgenstern 1895 plante. Auch auf Blatt 102 notierte er sich Gedanken dazu. Wie der Roman Menschen zählt auch die Symphonie zu den unausgeführten Projekten. Schon im Folgejahr verschwinden ihre Spuren. Ihr Inhalt bleibt trotz zahlreicher anderer Notizen im Dunkeln. Nur dass er keinesfalls humoristisch war, ist zweifelsfrei klar: In vier Sätzen – »Illusion«, »Höchster Frieden«, »Venus Kobold« und »Große Leidenschaft«55 − sollte Morgensterns »Lebensbuch«56 entstehen, »in dem alles« − so blickt er gegen Ende des Lebens zurück − »was von Hölle, Welt und Himmel in mir beschlossen sein mochte, zum sieghaften Ausklang gebracht werden sollte«.57

Überblickt man die Blätter 101–103, wird deutlich, dass Morgenstern im Frühjahr/Sommer 1895 gleichzeitig an mindestens zwei literarischen Projekten arbeitete. Neben den drei gesicherten Notizen zum humoristischen Roman Menschen stehen mehrere andere zum lyrischen Zyklus der Symphonie. Bezieht sich die »eiserne Gerechtigkeit« auf den Plan einer weiteren satirischen Erzählung im Stil von Schimpff und Schande oder Epigo und Decadentia, käme noch ein drittes Projekt hinzu. Die Einsetzung komischer Synonyme für gewisse Worte steht mit der Nennung aller Dinge beim rechten Namen demnach so wenig im Widerspruch wie die Umwortung aller Worte mit der Wahrsagung aus ihren Eingeweiden. In den Infinitiven der Fragmente 611 und 612 drückt sich kein absoluter, sondern nur ein relativer Anspruch aus. Sie beziehen sich jeweils auf ein »humoristisches« und ein »seriöses« Projekt.