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Nr. 2982

 

Die Vernichtungsvariable

 

Alles in der Algorithmischen Republik ist berechenbar – wenn nicht, wird es zerstört

 

Kai Hirdt

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Fitzgerald Klem

2. Sunnrod, der Wohldefinierte

3. Fitzgerald Klem

4. Sunnrod, der Wohldefinierte

5. Fitzgerald Klem

6. Sunnrod, der Wohldefinierte

7. Fitzgerald Klem

8. Sunnrod, der Wohldefinierte

9. Fitzgerald Klem

10. Sunnrod, der Wohldefinierte

11. Fitzgerald Klem

12. Sunnrod, der Wohldefinierte

13. Fitzgerald Klem

14. Fitzgerald Klem

Stellaris 65

Vorwort

»Der Datent von Richese« von Ulf Fildebrandt

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Gut dreitausend Jahre in der Zukunft: Perry Rhodan hat nach wie vor die Vision, die Milchstraße in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln. Der Mann von der Erde, der einst die Menschen zu den Sternen führte, möchte endlich Frieden in der Galaxis haben.

Davon ist er in diesen Tagen des Jahres 1552 Neuer Galaktischer Zeitrechnung allerdings weit entfernt: In der von der Superintelligenz ES verlassenen Milchstraße machen sich Boten anderer Superintelligenzen breit, ebenso alte Feinde von ES und neue Machtgruppen.

Eine dieser Machtgruppen ist der sogenannte Techno-Mahdi, der das Solsystem unter seine Kontrolle gebracht hat. Sein wichtigster Repräsentant nennt sich Adam von Aures, und er scheint nach der völligen Unabhängigkeit von allen Hohen Mächten zu streben. Bei seinen Bemühungen hat er aber etwas ausgelöst, das den Untergang der Milchstraße nach sich ziehen kann: den Weltenbrand.

Atlan begibt sich indessen auf die Suche nach der geheimnisvollen Proto-Eiris, die einst von ES in der Kleingalaxis Cetus eingelagert wurde. Sie soll vielerlei Fähigkeiten aufweisen, die im Kampf gegen den Weltenbrand nützlich sein könnten. Drei Silos konnten bisher geleert werden, doch beim letzten Silo regieren die Gesetze der Mathematik und damit auch DIE VERNICHTUNGSVARIABLE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan – Der Arkonide will den Inhalt des vierten Eiris-Silos.

Florence Hornigold – Die Kapitänin begegnet einer alten Feindin.

Fitz Klem – Atlans Begleiter sucht nach dem letzten Eiris-Silo.

Sunnrod – Der Wohldefinierte muss Entscheidungen auf mathematisch-logischer Grundlage treffen.

1.

Fitzgerald Klem

 

Das durchdringende Piepsen, das Fitzgerald Klem zu hassen gelernt hatte, riss ihn aus dem Schlaf. Mit einem unwilligen Stöhnen drehte er sich auf die Seite. »Ruhe!«, forderte er.

Das Geräusch verstummte, begann aber kurz darauf von Neuem.

»Na gut«, sagte er grimmig zu sich selbst. »Licht!«

Eine sanfte Beleuchtung nahm die Arbeit auf und simulierte einen Sonnenaufgang ganz wie auf seiner Heimatwelt, dem fernen Cessair. Dem sehr weit entfernten Cessair.

Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und ließ sich mit der Zentrale der MOMMY BONNY verbinden, wie Florence Hornigold die Korvette nannte, mit der sie derzeit unterwegs waren. Ganz offensichtlich handelte es sich um eine Anspielung auf die Space-Jet ANNE BONNY, die derzeit im Bauch der MOMMY ruhte und von Hornigold mehr oder weniger offen als Lohn für ihre Hilfe betrachtet wurde.

Bei den womöglich zurückzulegenden Distanzen wäre die ANNE bis an ihre Leistungsgrenzen beansprucht worden, daher hatte Atlan sie kurzerhand in die größere MOMMY einschleusen lassen. Florence Hornigold teilte sich als Expeditionsleiterin das Kommando mit einem Veteranen der letzten Jahrzehnte, Barclay Vinmontay, der sich bedächtig im Hintergrund hielt und die jüngere Frau »einfach mal machen« ließ.

Auch die informelle Umbenennung machte der jahrelange Kommandant der Korvette klaglos mit wie jemand, der erkannt hat, dass jede Diskussion nur Kräfte verschleißen würde. Allerdings hatte Klem schon nach einer Stunde an Bord begriffen, das Vinmontay stets wachsam blieb und bereit war, jederzeit einzugreifen. Schließlich kannte er sein Schiff und seine Mannschaft am besten. »Die Mornigold-Show« nannten er und einige von der Stammbesatzung die aktuelle Situation an Bord, und nicht wenige schienen sich dadurch auch bestens unterhalten zu fühlen.

»Ernsthaft?«, fragte er. »Schon wieder? Ich habe mich doch gerade ...«

... erst hingelegt, hatte er den Satz fortsetzen wollen. Ein Blick auf sein Funktionsarmband verriet ihm die Wahrheit. Er hatte mehr als sechs Stunden geschlafen, fühlte sich aber immer noch völlig erschöpft.

Entsprechend wenig einfühlsam fiel Florence Hornigolds Antwort aus. »Doch, doch, schon wieder«, erklang die die ekelhaft fröhliche Stimme der Interims-Kommandantin. »Kannst dich ja gleich wieder hinlegen. Aber jetzt musst du uns erst mal sagen, ob warm oder kalt.«

Warm oder kalt? Klem schüttelte pikiert den Kopf. Die MOMMY BONNY suchte nach von der Superintelligenz ES hinterlegter Eiris – einer mirakelhaften Substanz, mit der die Milchstraße vor dem Weltenbrand gerettet werden sollte. Es kam Klem unstatthaft vor, ihr Vorgehen dabei mit der Terminologie eines Kinderspiels zu beschreiben.

Aber wenn man sich von solchen Stilfragen löste, hatte Hornigold im Grunde recht: Irgendwo in der Zwerggalaxis Cetus befand sich der letzte Silo voll Eiris. Die MOMMY BONNY kreuzte nun so lange, bis Klems Amulett bei der Annäherung an das Ziel reagierte und die nächsten systematischen Schritte der Suche ermöglichte.

Im Moment allerdings konnte davon keine Rede sein. Keine unverständliche, an Magie anmutende Hypertechnik ließ das eisgraue Dreieck auf Klems Brust vibrieren oder etwas Ähnliches.

»Kalt«, sagte er missmutig.

»In Ordnung«, erwiderte Hornigold. »Schlaf weiter!«

Das versuchte Klem zwar, aber nachdem er sich zehn Minuten ruhelos umhergewälzt hatte, stand er endgültig auf. Er ließ sich vom Kabinenservo einen Kaffee zubereiten, machte sich frisch und stiefelte verschlafen in die Zentrale der Korvette.

Nicht nur Hornigold war auf Posten, sondern auch Tamareil. Klem fragte sich, ob sie überhaupt jemals schlief. Der Roboterkörper war größtenteils einer humanoiden Frau nachempfunden, aber trotzdem eine Maschine und somit ermüdungsfrei. Er beherbergte das Bewusstsein einer Cappin, also der Vertreterin eines menschenähnlichen Volkes. Musste Tamareil manchmal Eindrücke im Schlaf verarbeiten oder sich einfach nur erholen? War das Ruhebedürfnis ein rein körperliches Phänomen, oder kam auch eine geistige Komponente hinzu?

Die Frage war ebenso interessant wie irrelevant. Tamareil würde sie sowieso nicht wahrheitsgemäß beantworten. Die Roboterfrau – ein Begriff, der an sich widersinnig war, aber in diesem speziellen Fall tatsächlich am besten beschrieb, worum es sich bei Tamareil handelte – betrieb Lügen als Hobby und hatte es darin zu großer Meisterschaft gebracht. Nur gelegentlich sagte sie die Wahrheit, sodass man sich ihrer nie sicher sein konnte.

»Wo sind wir?«, fragte Klem.

»Irgendwo.« Tamareil wies auf ein großes Holo. Es zeigte die im Moment von der MOMMY BONNY aus sichtbaren Sonnen – größtenteils Rote Riesen, der vorherrschende Sonnentyp in Cetus.

Klem versuchte gar nicht erst, irgendwelche Formationen zu erkennen. Von jedem ihrer Ortungspunkte aus bot sich der Blick in den Himmel völlig anders da. Er hatte seit dem Beginn der Eiris-Suche so viele Blickwinkel auf Sternenkonstellationen gehabt, dass sie sich in seinem Gedächtnis zu einer Art flatterndem Glittervorhang aus roten Pailletten vereinten.

»Und wo steht die RAS TSCHUBAI?«, fragte er.

Tamareil zuckte in einer sehr menschlich anmutenden Bewegung mit den Achseln. »Überall und nirgends. Sie müssten gerade mitten bei ihren Tests sein. Jedenfalls weit genug entfernt, dass sie uns nicht bei der Suche stört.«

Darauf wäre Klem gerade noch selbst gekommen. Die RAS TSCHUBAI hatte schon den Inhalt der Eiris-Silos von Splandheim und Shudragad geladen und wirkte auf sein Amulett daher wie ein Magnet auf eine Kompassnadel. Erst ab dreihundert Lichtjahren Distanz verlor sich die Missweisung. Er hätte also gespürt, wenn das Schiff sich in der Nähe befunden hätte.

»Lass mich das besser formulieren. Ich habe nicht gemeint, wo das Schiff sich befindet, sondern was sie herausgefunden haben. Haben wir irgendwas über die Testergebnisse gehört?«

Die TSCHUBAI plagte sich mit einem Luxusproblem herum: Die bislang geborgene Eiris gab Strahlung oder Ausdünstungen oder irgendetwas anderes ab, das den Schiffsrumpf veränderte. Das Material zeigte ein intensiveres Blau als zuvor. Das an sich stellte keine Schwierigkeit dar, aber es warf die Frage auf, ob es sich um die Haupt- oder eine Nebenwirkung eines Prozesses handelte, der sich mit handelsüblichen Mitteln nicht so einfach analysieren ließ.

Niemand wollte in einem Schiff die zweieinhalb Millionen Lichtjahre zur Milchstraße zurücklegen, bei dem man sich nicht sicher sein konnte, wie es jeweils reagierte. Wurde der Überlichtfaktor negativ beeinflusst, zeigte die Färbung eine strukturelle Schwächung der Außenhaut an oder war jede Veränderung rein kosmetisch? Nach den ersten Messungen stand nur wenig mehr als nichts fest, alles, was die Menschen an Bord hatten, waren Hochrechnungen der Wissenschaftler. Eine derzeit favorisierte These war, dass die Veränderungen mit dem Hypertrans-Antrieb verbunden waren und dies nicht zwangsläufig zu dessen Nachteil.

Die bisherigen Messergebnisse stützten diese Annahme, und nun testete man an Bord gerade die unterschiedlichsten Optionen.

Ob es dabei Erfolge gegeben hatte, würde Klem so schnell nicht erfahren. Jedenfalls nicht von Tamareil. Die klimperte mit den feinen Drähten, die ihre Wimpern simulierten. »Hätte ich dir das vorenthalten, wenn sie sich gemeldet hätten?«

Während Klem noch überlegte, was die ehrliche Antwort auf diese Frage sein mochte, schaltete Hornigold sich ein. »Haben sie tatsächlich nicht. Es besteht kein Grund, dass wir Funkkontakt halten – das macht höchstens die Gemeni auf uns aufmerksam. Erst wenn wir den Silo geortet haben, fliegen wir zum Treffpunkt, das dürfte mit der BONNY schnell gehen. Da lassen wir uns aufsammeln und holen uns die Eiris.«

Die Nachfahrin menschlicher Händler in Cetus besaß mit der WOODES ROGERS zwar das schnellste Schiff der Zwerggalaxis – aber die Beiboote der RAS TSCHUBAI hatten einige Jahrhunderte Technikvorsprung. Kein Wunder, dass die Händlerin das Schiff bis an seine Grenzen brachte, solange sie es in ihren Fingern hatte.

»Nächste Etappe«, sagte sie und beendete das Gespräch. Sie rieb sich die Hände und ließ die Finger dann in atemberaubender Geschwindigkeit über die Kontrollen gleiten. Sie wirkte ganz in ihrem Element.

Die BONNY tauchte in den Linearraum ein. In irrwitziger Geschwindigkeit entfernte sie sich weitere siebenhundert Lichtjahre vom Rendezvouspunkt mit ihrem Mutterschiff, bevor sie wieder in die normale, vierdimensionale Raumzeit zurückfielen.

Klem fühlte sich, als hätte jemand ihm einen Elektroschock in die Brust verabreicht.

»Warm.« Er verzog das Gesicht. »Nein. Heiß.«

 

*

 

Sie flogen einige Male hin und her. Das Eiris-Dreieck um Klems Hals war alles andere als ein präzises Messgerät. Aus dem Grad der Aktivität ließ sich nicht genau ablesen, ob sie an Distanz verloren oder zunahmen; lediglich ungefähre Angaben waren möglich. Sie mussten das gesuchte Raumareal mithilfe einer Dreieckspeilung beackern und hoffen, dass sich das Ergebnis als richtig herauskristallisierte. Das hielt sie einige Stunden beschäftigt.

Ihr letzter Linearflug führte sie aus Cetus heraus, sodass sie die linsenförmige Zwerggalaxis aus mehreren Hundert Lichtjahren Distanz von oben betrachteten.

»Ich spüre kaum etwas«, sagte Klem. »Wir sind gerade noch in Reichweite.«

Damit konnten sie die Sterne, die von ihrer Position aus die unteren zwei Drittel der Linse füllten, ausschließen. Übrig blieb ein kleiner Raumsektor von etwa fünfundzwanzig Lichtjahren Kantenlänge, in dem nur einige Dutzend Sonnen standen.

»Damit können wir arbeiten«, beschloss Hornigold. »Ich seh mir das mal an.«

Die Händlerin hatte in vielen Systemen Geschäfte gemacht. Ihre Sternkarten boten eine sehr viel höhere Genauigkeit als alles, was der RAS TSCHUBAI zur Verfügung stand. In wenigen Minuten würde sie mehr über die infrage kommenden Sternsystemen sagen können.

Missmutig versenkte sich Klem in die Holodarstellung der Galaxis: ein flacher Diskus aus roten leuchtenden Punkten, wie glosende Hochöfen in der Finsternis des Alls.

Eigentlich hätte er bei diesem Anblick vor Ehrfurcht erstarren müssen. Es war erst wenige Monate her, dass er zum ersten Mal seinen Heimatplaneten verlassen hatte: Cessairs Welt im System von Glasgows Stern, in der rund 165 Millionen Lichtjahre entfernten Galaxis Sashpanu. Sein Volk, die Menes, hatte gerade erst Raumschiffe entwickelt, die sage und schreibe vier Lichtjahre hatten überbrücken können, und das nur unter höchstem Risiko.

Vier.

Nicht vierzig, nicht vierhundert, nicht viertausend, und ganz bestimmt keine 165 Millionen. Was tat er an diesem Ort?

Er schrak zusammen, als Tamareil ihn an der Schulter berührte. »Was hast du?«, fragte sie leise und ungewohnt vertraulich.

»Nichts.« Er schüttelte unwillig den Kopf. »Ich bin einfach nur müde. Erschöpft von der Suche. Ist eine Weile her, dass ich wirklich habe durchschlafen können.«

Tamareil verschränkte ihre chromfarbenen Arme vor der engen roten Bluse und schürzte die metallenen Lippen. »Hör zu, Klem: Niemand hier weiß mehr über Lügen als ich. Ich erkenne sie, wenn ich sie höre, und das war gerade eine. Also noch einmal. Was hast du?«

Hilfe suchend sah er sich um. Doch es kam keine Kavallerie, um ihn aus der Notlage zu befreien, Hornigold war beschäftigt, die Zentralebesatzung sowieso. »Na gut.« Resigniert deutete er auf das Holo. »Je länger wir unterwegs sind, desto unsicherer bin ich mir bei dem, was wir hier tun.«

»Wir retten die Milchstraße«, erklärte Tamareil überflüssigerweise. »Die Heimatgalaxis deiner Vorfahren. Erscheint mir tendenziell sinnvoll.«

Klem musste kurz lächeln. »Natürlich«, gab er zu. »Es ist eher ... schwierig in Worte zu fassen.«

»Du erzählst, was dir durch den Kopf geht«, schlug Tamareil vor, »und ich verkünde danach, was stattdessen klug, sinnvoll und spannend gewesen wäre?«

Wieder zuckten Klems Mundwinkel hoch. »Na gut«, sagte er. »Ich war in den letzten Monaten in drei Galaxien und einer seltsamen Raumstation, die nicht einmal innerhalb unseres normalen Universums liegt.«

»Doch, das tut sie«, korrigierte Tamareil, »aber im Dakkarraum.«

Klem winkte ab. »Meine Heimat ist unendlich weit entfernt. Eine reine Irrsinnsdistanz. Soweit ich weiß, gibt es nur ein einziges Schiff, dass sie zu meiner Lebzeit erreichen könnte. Ich werde Cessairs Welt vermutlich niemals wiedersehen.«

»Hm.« Tamareil machte eine abwägende Geste. »Sag das nicht. Schließlich stammen die Gemeni wohl von dort. Falls sich unsere Lieblingspflanzenwesen als die Bösen in diesem seltsamen kosmischen Spiel entpuppen, fliegen wir mit der RAS TSCHUBAI dahin und versprühen ein bisschen Unkrautvernichter. Und wenn du es wirklich willst, setzen wir dich dann zu Hause ab.«

»Du sagst es«, klagte Klem.

»Was sage ich?«

»Wenn ich das wirklich will. Wie soll ich denn jemals nach Hause zurückkehren, nach allem, was ich seither gesehen habe? Mich in eine Welt einfügen, in der gerade mal der nächste Stern erreichbar ist? Mich Hierarchien unterordnen, in denen niemand an meinen Horizont heranreicht?« Er zog den Mund schief. »Um dessen Erweiterung in diesem Maßstab ich nie gebeten habe; damit das jetzt nicht allzu arrogant klingt. Ich bin hier zufällig reingeraten.«

Tamareil tippte auf seine Brust und das Amulett. »Bist du nicht. Dieses Ding muss genau jetzt genau hier sein, und es gehört nun einmal dir.«

Was zu Fragen bezüglich Schicksal und Vorherbestimmung führte, mit denen Klem sich überhaupt nicht auseinandersetzen wollte. »Wie ist das bei dir? Hast du nicht Angst, dass du dich fremd fühlst, wenn dir irgendwann die Rückkehr in deine Heimat gelingt?«

Tamareil grinste. »Ich bin bislang überall zurechtgekommen. Dass es ausgerechnet zu Hause anders sein soll, glaube ich nicht.«

»Punkt für dich«, gab Klem zu. »Ich ...«

»Ich hab's«, rief Hornigold. »Die Algorithmische Republik!«

Tamareil legte die Fingerspitzen aneinander und hob eine Augenbraue. »Klingt nach einer spannenden Geschichte. Gibst du uns mehr Details?«

»Ein abgelegenes System mit ziemlich seltsamen Bewohnern«, erklärte Hornigold. »Die Toshruden. Wissenschaftler, in erster Linie Mathematiker. Gelten als verschroben und haben so gut wie keinen Kontakt mit anderen Völkern. Da könnte durchaus der Silo sein!«

Klem nickte. Das gab Sinn: Die aussickernde Eiris aus dem dritten Silo, den sie besucht hatten, hatte die Bewohner seiner Umgebung ebenfalls zu intellektuellen Höhenflügen befähigt.

»Ich bringe uns zurück zur RAS TSCHUBAI«, verkündete Hornigold, und Klem sah eine Frau an den Sensoren erleichtert aufatmen.

»Warte!«, rief Klem aus einem Impuls heraus.

»Worauf?«, fragte die Händlerin befremdet.

»Nur einen Moment«, bat Klem. »Tamareil und ich sind noch nicht ganz fertig.«

Schulterzuckend setzte Hornigold sich wieder auf ihren Platz.

»Spuck's aus«, sagte Tamareil freundlich. »Die Sache mit Cessairs Welt war wenigstens keine Lüge. Aber wenn ich nicht ganz falsch liege, war es nicht das, was dir gerade so quer liegt.«

»Stimmt«, gestand Klem. Er atmete tief durch. »Ich weiß nicht mehr, wer ich eigentlich bin. Ich wusste es mal: Ich war ein Agent der Menes. Das war meine Lebensaufgabe. Mein Volk vor den feindlichen Gauchen zu schützen. Aber erstens werde ich nicht mehr zu den Menes zurückkehren, und zweitens sind die Gauchen überhaupt keine Feinde. Mein Lebenssinn hat sich in Rauch aufgelöst, und bislang habe ich keinen neuen gefunden.«

»Reicht die Rettung der Milchstraße nicht fürs Erste?«, schlug Tamareil vor.

»Fürs Erste«, gab Klem zu. »Aber was kommt danach? Früher wusste ich das. Heute nicht mehr. Ich verstehe die Welt nicht mehr.« Er gestikulierte in Richtung des Holos. »Ich sehe diese Galaxis und suche etwas, woran ich mich orientieren kann. Aber es ist alles fremd und völlig unklar. Ich kenne die Regeln nicht mehr.«

»Wenn du tatsächlich eine neue Aufgabe suchst«, schaltete sich Hornigold ein, »kannst du bei mir an Bord bleiben. Jemand mit deinen Kenntnissen wäre eine Bereicherung für die WOODES ROGERS.«

»Ich soll Pirat werden?«, fragte Klem konsterniert.

»Händler«, korrigierte Hornigold. »Aber zugegeben: Die Grenzen sind manchmal fließend.«

Klem schüttelte den Kopf. »Was immer ich tue: Das wird es mit Sicherheit nicht. Aber Tamareil hat recht. Zuerst retten wir die Milchstraße. Alles andere hat Zeit.«

2.

Sunnrod, der Wohldefinierte

 

Das Chronomaß weckte Sunnrod, den Wohldefinierten, wie jeden Tag um 6 Uhr 71. Er benötigte zwischen fünf und sieben Zeitteilen, um sich zu erheben. Die erste Variable des Tages; eine simple, die er jedoch trotz langjährigen Trainings nie in eine Konstante hatte überführen können. Allerdings hatte er gelernt, seine Schritte zum Nahrungsquell entsprechend zu beschleunigen oder zu verlangsamen, sodass er stets um 7 Uhr 3 mit der Nahrungsaufnahme begann. Diese kleine Verlässlichkeit bereitete ihm jeden Morgen Freude, wenn er die vorausberechnete Kalorienmenge zu sich nahm, die er bis zur Mittagsregeneration benötigen würde.

Gesättigt und gestärkt – wie immer um 7 Uhr 24 – erhob er sich, legte den Amtsmantel des Wohldefinierten an und verließ sein Gemach. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, den Rechnungspalast zu Fuß aufzusuchen.

In seinen ersten Amtsjahren hatte er die Schallbahn genommen. Doch die wenigen dabei gesparten Zeitteile hatten ihm nicht geholfen, für Ausgleich zu sorgen. Als viel besser hatte es sich erwiesen, später zu kommen, dafür jedoch den erhabenen Riesen Ponn am Himmel zu sehen. Es rückte die Belange der Algorithmischen Republik in Perspektive, wenn man den Gasriesen sah, um den die Republikmonde kreisten.

Er verharrte vor dem Rechnungspalast und ließ den Anblick der dreimal drei gewaltigen Pfeilertürme im Morgenlicht auf sich wirken: drei aus matt glänzendem Stahl, drei aus stumpfem grauem Stein, drei aus violett schimmerndem Glas, die ineinander und miteinander verdreht waren und auf deren Spitze jeweils ein sphäroider Abschlussbau thronte. Zusammen ergaben diese neun Gebäude einen Kreis, der von einem weiteren kuppelartigen Gebäude ausgefüllt wurde.

Das Palastgebäude war Ehrfurcht gebietend und älter als die Republik, wie ein Mahnmal der Dekadenz jener früheren toshrudischen Staatsgebilde, aus der es hervorgegangen war.

Um 7 Uhr 62 betrat er seinen Amtssaal – ein Zeitteil später als üblich. Die Ursache der Verzögerung konnte er sich nicht erklären. Die Priester von einst hätten es ein schlechtes Omen genannt. Die Toshruden dieser Tage glaubten nicht mehr an so etwas, sondern an die Wissenschaft. Berechenbarkeit war das Fundament von Wohlstand und Gesundheit.

Bis zu seinem ersten Gespräch blieben ihm zwanzig Zeitteile – an normalen Tagen ausreichend, um die Eingaben der vorangegangenen Nacht zu sichten. Das war eine weitere Unwägbarkeit, die sich bislang nicht hatte bereinigen lassen: wie viele Wünsche die Toshruden über Nacht an ihre Regierung richteten und wie viel Aufwand sie damit generierten. Sunnrod war jedoch sicher, dass sich früher oder später eine Lösung finden würde.

Die Anfragen waren anhand der Großen Gleichung vorbewertet. Der Algorithmus wurde von Jahr zu Jahr leistungsstärker. Früher sogar von Tag zu Tag. Derzeit verlief die Entwicklung erschreckend sprunghaft; an schlechten Tagen ließ die Prognosegenauigkeit sogar nach. Alles dank der unberechenbaren Stelle auf Crunnud, dreimal aus der Historie gelöscht mochte der Name des Mondes sein.

Seit sich die unberechenbare Stelle ausdehnte, war auch Sunnrods Arbeit als Wohldefinierter schwieriger geworden. Das Chaos sickerte ins System und in die Köpfe. Die Reaktionen der Toshruden waren weniger leicht vorauszusehen als noch vor wenigen Jahren. Absurde Ungleichbehandlungen galten plötzlich als gerecht, und umgekehrt wurden Maßnahmen zur Mehrung des allgemeinen Wohlstands infrage gestellt, wenn das betroffene Individuum sich nur geschickt genug als Opfer inszenierte.

So war es Sunnrods Aufgabe geworden, in den Grenzfällen zu entscheiden, in denen die Große Gleichung nicht oder nicht mehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit beantworten konnte, was das Beste für die Mehrheit der Toshruden war. Tag für Tag stieg er so aus der hohen Abstraktion in die Niederungen der Einzelfälle.

An diesem Tag musste er sich mit der Frage beschäftigen, ob hochproduktive Alleinstehende oder Familien von geringer wirtschaftlicher Relevanz Anspruch auf Wohnraum in stabilen Zonen hatten. Proteste würde es in jedem Fall geben, egal wie er entschied. Er musste vorausahnen, welche davon sich ausbreiten und bedeutsam werden konnten. An einer kleinen Fehlentscheidung konnte sich ein Flächenbrand entzünden, der die Große Gleichung insgesamt infrage stellen und das Ende der Algorithmischen Republik einläuten konnte.

Und all das wegen Crunnud.

Er schickte nach dem hohen Gleichrichter. Der uralte Toshrude betrat den Amtssaal nach acht Zeiteinheiten. Das war schon schneller gegangen, aber man musste das Alter dieses großen Geistes einberechnen.

»Mag dein Weg gerade und eben sein«, grüßte der Gleichrichter ihn mit krächzender Stimme. »Welches Problem verweigert sich der Einsicht?«

Sunnrod schilderte die Lage und seine Entscheidung: Die Familie mit dem kleinen Kind sollte den strittigen Platz in der erdbebensicheren Zone auf Honnrud erhalten.

»Das erscheint mir weise.« Der Gleichrichter wiegte den Kopf. Seine Wangen waren bereits so eingefallen, dass die Höhlung unter den vorstehenden Schläfenaugen schon nicht mehr dunkelgrün, sondern beinahe schwarz wirkte.

»Weisheit ist weniger relevant als Präzision«, erwiderte Sunnrod. »Siehst du die Möglichkeit, die Große Gleichung um ein Modul für diese Fragestellung zu erweitern? Nach dem Erdbeben in drei Tagen werden mit Sicherheit weitere Anliegen dieser Art eingehen. Wir sollten bis dahin eine verlässliche Bewertungsgrundlage schaffen.«

Wieder ließ der Gleichrichter den Kopf auf dem dürren Hals schwanken. »Ich werde die archivalen Datensammler beauftragen. Wir erheben, wie ähnliche Anfragen in den vergangenen zweihundert Jahren beschieden wurden, welche öffentlichen Reaktionen zum Zeitpunkt der Entscheidung und nach dem nächsten Erdbeben es gab und wie sich dies mittelfristig auf die gesellschaftliche Stabilität ausgewirkt hat. Das ist niedere Mathematik – mehr Fleiß- als Denkarbeit.«

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Illustration: Swen Papenbrock