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Simon Schuster

Demokratie des gehorchenden Regierens

Grundzüge einer »Verfassung der autonomen zapatistischen Territorien«

 

Dissertation zur Erlangung des Grades eines

 

Doktors des Rechts

 

des Fachbereichs

Rechts- und Wirtschaftswissenschaften

der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

vorgelegt von

 

Ass. Iur. Dr. Simon Schuster

 

in Mainz

2017

Simon Schuster

Demokratie des gehorchenden Regierens

 

ebook UNRAST Verlag, Juni 2018

ISBN 978-3-95405-025-3

 

© UNRAST-Verlag, Münster

Fuggerstraße 13a, 48165 Münster - Tel. 02501-9178790

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Erstberichterstatter: Prof. Dr. iur. Dieter Dörr

Zweitberichterstatter: Prof. Dr. iur. Matthias Cornils

 

Tag der mündlichen Prüfung:

19. September 2016

Inhalt

Kapitel 1 - Einleitung und Methode

A. Einleitung

B. Ein Verfassungsentwurf als Untersuchungsgrundlage

I. Herausforderungen für eine Verfassungskonstitution

II. Zapatismus als verfasste Gemeinschaft?

III. Das Konzept des Verfassungsstaates

1. Der Begriff „Staat“

2. Der Begriff der „Verfassung“ und der „Staatsgewalt“

a) Verfassungsfunktion in einer staatlichen Gemeinschaft

b) Verfassung als Ausdruck einer demokratischen Willensbildung

c) Zur Verteilung der Staatsgewalt

3. Schlussfolgerung

IV. Die fiktive Staatlichkeit der zapatistischen Autonomiegebiete

C. Verfassungsentwurf als Analysetool

D. Grundlegende Fragen an verfassungsrechtliche Strukturen

I. Legitimation der Hoheits- und Entscheidungsgewalt durch die base de apoyo

II. Kompetenzverteilung und Entscheidungsfindungsprozess

III. Gewaltenteilung und Machtkontrolle

IV. Staat-Bürger-Verhältnis – Beziehung der Bürgerinnen und Bürger zum Staat

Kapitel 2 - Entwurf einer „Verfassung der autonomen, zapatistischen Territorien“

A. Die Verfassung

B. Organigramm

Kapitel 3 - Der Zapatistische Aufstand und seine Hintergründe

A. Historische Hintergründe

I. (Spät-)Kolonialismus und Porfiriat (1840 – 1910)

1. Lebenssituation der Indígena im (Spät-)Kolonialismus

2. Macht- und Landkonzentration unter Porfirio Díaz

II. Die mexikanische Revolution und die neue Verfassung (1910 – 1920)

1. Der Revolutionsverlauf

2. Die mexikanische Verfassung von 1917

a) Die Gemeindereform von 1917

(1) Die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Gemeindefreiheit

(2) Die Gemeindefreiheit nach Emiliano Zapata

(3) Einfluss der Gemeindereform auf den Zapatismus

b) Die Landreform von 1917

(1) Die Entwicklung der Landfrage

(2) Rechtliche Neuordnung des Eigentums durch Art. 27 CF 1917 und das Ejido

(3) Die Bedeutung des Ejido bis zu seiner Reform 1992

(4) Bedeutung für die zapatistische Bewegung

3. Würdigung der mexikanischen Revolution

III. Mexiko bis zum Beginn der Rebellion (1920 – 1994)

1. Das neue politischen System Mexikos – Die Jahre 1920 – 1940

2. Hintergründe der Emanzipation der Gesellschaft – Die Jahre 1940 bis 1994

a) Soziale Unruhe und die Ursprünge der partizipatorischen Politik der Zapatista – Die Jahre 1940 bis 1983

b) Das Anfänge des Zapatismus – Die Jahre 1983 bis 1994

(1) Die Gründung der EZLN – Die ersten Jahre

(2) Die Anfänge der Transformation der EZLN

(3) Entwicklung der Organisationsstrukturen der EZLN im Untergrund

IV. Die Entwicklung des Zapatismus seit Beginn des Aufstandes (1994 – 2013)

1. Aufstand im Zeichen des Dialogs – Die Jahre 1994 bis 2003

a) Zwölf Tage Krieg und der Beginn des Dialogs

(1) Die Zweite Erklärung aus dem lakandonischen Urwald

(2) Die Gründung der autonomen Landkreise

b) Die Verhandlungen von San Andrés Sacamch´en

(1) Der Dialog der EZLN mit der Regierung

(2) Der Dialog mit der Zivilgesellschaft

c) Die zapatistische Bewegung im Lichte des gescheiterten Dialogs – Die Jahre 1997 – 2003

2. Zur Geburt der Caracoles im August 2003

3. Die Entwicklung unter den Vorzeichen der „Otra Campaña“

a) „La Sexta“ und die „Otra Campaña“

b) „Sie und Wir“ und die „Escuelita Zapatista“

V. Ergebnis: Zapatistische Selbstverwaltungsstrukturen als Lehre aus der Historie

B. Gesellschaftliche Hintergründe des Zapatismus

I. Einfluss der indigenen Traditionen im Zapatismus

1. Einfluss der Lebenswirklichkeit der Indigenen

2. Einfluss von Religion und Sprache der Indigenen

3. Ergebnis

II. Der Einfluss gesellschaftlicher Theorien im Zapatismus

1. Die Ansätze des Multikulturalismus im Zapatismus

2. Der Einfluss der zapatistischen Kapitalismuskritik auf Theorie und Praxis

a) Das politische Konstrukt des „Kapitalismus der neoliberalen Globalisation“

b) Die demokratische Alternative des Zapatismus

c) Ergebnis

Kapitel 4 - Die Forderung nach Autonomie im Zapatismus

A. Die Entwicklung der Autonomieforderung in der zapatistischen Bewegung

I. Der zapatistische Autonomiebegriff im Kontext ihrer Demokratievorstellungen

II. Zapatistische Autonomie als Rahmen für indigene Rechte

B. Die Übereinkommen von San Andres

I. Der Begriff der Autonomie und seine staatsrechtliche Bedeutung

1. Autonomie als Recht auf territoriale Selbstverwaltung

2. Autonomie und Staatlichkeit

a) Der Identitätskonflikt zwischen Autonomie und Staat

b) Die staatsorganisationsrechtlichen Auswirkungen von Autonomie

II. Die Ausgestaltung des Autonomierechts in den Übereinkommen von San Andrés

1. Inhalt der Übereinkommen von San Andrés

2. Der „Neue Föderalismus“ als zapatistisches Autonomierecht

III. Zusammenfassung: Das zapatistische Autonomieverständnis

C. Die staatsrechtliche Dimension des zapatistischen Autonomieverständnisses

Kapitel 5 - Würde und Demokratie im Zapatismus

A. „Würde“ und „Demokratie“ als Verfassungsprinzipien zapatistischer Autonomie

I. Bedeutung und Wirkung verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien am Beispiel des Grundgesetzes

II. Bedeutung und Wirkung von Würde und Demokratie als Strukturprinzipien im Zapatismus

B. „Würde“ – Zwischen grundgesetzlichem und zapatistischem Würdeverständnis

I. Die Menschenwürde im deutschen Verfassungsrecht

1. Evolution des Menschenwürdebegriffs

a) Würdebegriff in der christlichen Lehre

b) Würdebegriff in der Vernunftphilosophie

c) Einfluss des Würdeverständnisses auf das Staatsrecht

2. Die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes

a) Die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG

b) Die Menschenwürdegarantie als grundlegende Strukturnorm im Grundgesetz

c) Zusammenfassung

3. Alternativ: Würde als Relations- und Achtungsbegriff

II. „La Dignidad Indígena“ – Über das zapatistische Würdeverständnis

1. Die „Brücken-These“

2. Hintergründe des zapatistischen Würdeverständnisses

a) Die Cosmovisión Maya und die Linguistik der indigenen Sprache

(1) Lenkersdorfs linguistische Untersuchung indigener Sprachen

(2) Rückschlüsse auf das Würdeverständnis

b) Die „La Historias“ des Viejo Antonio

(1) „La Historias“ und Maya-Mythologie

(2) Das „Ich“ und „los otros“ – Gravitationszentrum einer zapatistischen Würdeauslegung

(3) Rückschlüsse auf das Würdeverständnis

3. Dignitas interna asociativa als zapatistisches Würdekonzept

a) „Eine Welt, in die viele Welten passen“ – Das zapatistische Würdekonzept

(1) Der Mensch als Träger von Würde

(2) Verfassungsrechtlicher Gehalt der zapatistischen Menschenwürde

b) Einfluss des Würdekonzepts auf die Verfassungsstruktur

C. „La Democracía Indígena“ – Über das zapatistische Demokratieverständnis

I. Zapatistische Gedanken zu einer demokratischen Ordnung

II. Demokratie des gehorchenden Regierens

1. Mandar Obedeciendo – Gehorchendes Regieren

2. Preguntando Caminamos – Fragendes Voranschreiten

Kapitel 6 - Die zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen

A. Evolution der Selbstverwaltungsstrukturen

I. Etablierung zapatistischer Selbstverwaltung

II. Abgrenzung der zivilen von den militärische Strukturen des zapatistischen Aufstandes

B. Der Autonomieprozess – Ein Beispiel

C. Ebenen zapatistischer Selbstverwaltung

I. Überblick über die Selbstverwaltungsstrukturen

II. Die Ebene der Zone – Das Caracol als Verwaltungszentrum

1. Die Asamblea de la Zona

2. Die Junta de Buen Gobierno

3. Weitere Gremien auf zonaler Ebene

III. Die regionale Ebene – MAREZ und die Gobierno Regional

1. Die Asamblea Municipal

2. Die Gobierno Regional – Consejo Autónomo Municipal und Comisiones

IV. Die kommunale Ebene – Die Gobierno Local und die Consulta

1. Gobierno Local

2. Die Consulta

V. Strukturelle Besonderheiten in den einzelnen Caracoles

1. Caracol I – La Realidad: Madre de los Caracoles, Mar de nuestros sueños

2. Caracol II – Oventic: Resistencia y rebeldía por la humanidad

3. Caracol III – La Garrucha: Resistencia hacia un nuevo amanecer

4. Caracol IV – Morelia: Torbellino de nuestras palabras

5. Caracol V – Roberto Barrios: Que habla para todos

VI. Fazit: Enge Verzahnung und Abhängigkeiten der Selbstverwaltungsstrukturen

D. Das organisationsrechtliche System der Selbstverwaltungsstrukturen

I. Demokratische Legitimation zapatistischer Selbstverwaltungsstrukturen

II. Kompetenzverteilung und Entscheidungsfindungsprozess

1. Grundlagen der Verteilung der Hoheits- und Entscheidungsgewalt

2. Die Kompetenzverteilung auf zapatistischem Territorium

a) Kompetenzen der Caracoles und der Junta de Buen Gobierno

b) Kompetenzen der Gobierno Regional und der Gobierno Local

c) Ergebnis

3. Rechte und Pflichten zapatistischer Repräsentanten

a) Das Sistema de Cargo

b) Pflichten der Cargo-Tragenden

c) Rechte der Cargo-Tragenden

d) Zusammenfassung

4. Der Entscheidungsfindungsprozess

a) Ablauf des Entscheidungsprozesses zwischen den Ebenen

b) Ablauf des Entscheidungsprozesses in den Asambleas

c) Ergebnis

III. Gewaltenteilung und Machtkontrolle

1. Die gewaltbegrenzenden Instrumente

2. Die gewaltkontrollierenden Instrumente

3. Ergebnis

IV. Zur Beziehung der Base de apoyo zur autonomen Selbstregierung

Kapitel 7 - Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Kurzlebenslauf

Anmerkungen

 

 

Tabellenverzeichnis:

Tabelle 1: Die fünf Verwaltungszentren mit Namen und Anzahl der assoziierten autonomen Landkreise (Stand 2015).

Tabelle 2: Vergleich deutscher Grammatik mit Grammatik im Tojolalbal.

 

Abbildungsverzeichnis:

Abbildung 1: "Hier befiehlt das Volk und die Regierung gehorcht" (Eigenes Foto).

Abbildung 2: Grundaufbau der zivilen zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen in einer der fünf Zonen (Schuster/Djemaoun).

Abbildung 3: Karte der territorialen Ausbreitung der fünf zapatistischen Zonen im Bundesstaat Chiapas, Mexiko, mit deren Caracoles als Hauptstädte (Quelle: Barmayer, Developing Zapatista Autonomy, Preface / XVII).

Abbildung 4: Grundaufbau der zivilen zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen in einer der fünf Zonen (Schuster/Djemaoun).

Abbildung 5: Screenshot der offiziellen Webpage www.enlacezapatista.ezln.org.mx. der Zapatisten. Links die Denuncias der JBG, rechts die Comunicados der EZLN (Stand: 7. 11. 2014).

Kapitel 1 – Einleitung und Methode

A. Einleitung

Seit nun mehr über 20 Jahren, genauer gesagt seit dem 1. Januar 1994, erprobt die zapatistische Bewegung in Chiapas, Mexiko, dem südlichsten Bundesstaat des Landes öffentlich ihre Formen der autonomen Entscheidungsfindung. Zusammen mit der zehnjährigen Konsolidierungsphase des Ejercito Zapatista de Libración Nacional (dt.: Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, kurz: EZLN) im Untergrund blicken sie insgesamt auf über 30 Jahre intensiver Selbstorganisation zurück. Begleitet wurde ihr Aufstand seid jeher von der Forderung nach einem menschenwürdigen Leben. Die Anhänger der zapatitsichen Bewegung, mehrheitlich indigene Bauern, traten nicht dafür ein, vom mexikanischen Staat und seinen Behörden alimentiert zu werden. Was sie seid Beginn des Aufstandes forderten, warum sie sich mit Waffen erhoben, war die Forderung nach Respekt und Anerkennung gegenüber ihrer indigenen Identität und ihrer Lebensweise. Den Weg, den die Bewegung beschreiten wollte, war keiner, mit dem sich sie über die Interessen und Bedürfnisse des übrigen mexikanischen Volkes erheben wollten. Schon mit der Ersten Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald vom 1. Januar 1994 forderten sie ihre Einbeziehung in die Nation und nicht Ausgrenzung und Segregation. Sie strebten für alle Bürgerinnen und Bürger des Staates Mexiko die Möglichkeit an, politischen und gesellschaftlich zu partizipieren. Ihr Vorstelleungen davon, wie ein solches demokratisches Projekt aussehen könnte, versuchen sie seit dem Beginn des Aufstandes auf den zapatistischen Territorien zu etablieren und weiterzuentwickeln.

 

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Abbildung 1: "Hier befiehlt das Volk und die Regierung gehorcht" (Eigenes Foto).

 

Zur Grundlage ihrer demokratischen Ordnung machten sie das Prinzip des mandar obedeciendo (dt.: gehorchendes Regieren). Ihr Selbstverständnis bringen sie auch auf Straßenschildern zum Ausdruck, die sich verteilt über ihr gesamtes Einflussgebiet verteilen. Darauf ist zu lesen: „Aqui manda el Pueblo y el Gobierno Obedece“. Hier befiehlt das Volk und die Regierung gehorcht. So kann man auch vor einem ihrer fünf Verwaltungszentren, den sogenannten Caracoles (dt.: Schneckenhäuser), davon Zeugnis nehmen. Begeht man einen solchen Verwaltungssitz, bekommt man schnell einen Eindruck davon, wie weit sich die zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen in den vergangenen Jahren entwickelt haben und welche „Früchte“ ihre Bestrebungen tragen. Ein solcher Verwaltungssitz ist Sitz der Junta de Buen Gobierno (dt.: Rat der Guten Regierung), dem, wie sich im Laufe der Abhandlung zeigen wird, höchstem Verwaltungsgremium der zapatistischen Autonomiestrukturen. Es finden sich aber noch weitere Zeugnisse zapatistischer Selbstverwaltung. So befinden sich auf dem Gebiet der Caracoles die „Botschaften“ der den Zonen zugeordneten Municipios Autonomos Rebeldes Zapatistas (dt.: Autonome Zapatistische Landkreise in Rebellion, kurz MAREZ), Grund- und weiterführende Schulen, eine große Klinik, eine Apotheke und ein großes Versammlungshaus für die in regelmäßigen Abständen stattfindende Asamblea (dt.: Vollversammlung) sowie Verkaufsstände und Läden zapatistischer Arbeitskollektive, in denen sie Kaffee, Handwerkskunst und andere regionale Erzeugnisse verkaufen.

Der Aufstand, desen Beginn auf das Datum des Inkratftretens des Freihandelsabkommens zwischen den USA, Canada und Mexiko fällt, das sogenannte North Atlantic Free Trade Agreement (dt.: Nordatlantische Freihandelsabkommen, kurz NAFTA), begann als bewaffneter Aufstand und mit heftigen Kämpfen zwischen der zapatistischen Armee und den Regierungstruppen. Nach bereits zwölf Tagen aber endeten die Kampfhandlungen seitens der Zapatisten. Die Bewegung entschied sich in einen Dialog mit der Zivilgesellschaft zu treten. Diese Entscheidung führen sie bis heute fort. Ihre Beweggründe kommunizieren sie über das Internet in Deklarationen und Comunicados. Sie forderten Autonomie ein und eine „andere Politik“[1]. Nachdem nach langen Verhandlungen die Acuerdos de San Andrés (dt.: Übereinkommen von San Andrés) zwischen den indigenen Völkern und der mexikanischen Regierung verabschiedet worden waren, aber deren Umsetzung in nationales Verfassungsrecht ausblieb, entschlossen sich die Zapatisten umfangreiche Selbstverwaltungsstrukturen zu etablieren. Sie wirkten bei La Sexta und der Otra Campaña mit. Schnell prägte sich bei nationalen und internationalen Unterstützerinnen und Unterstützern das Schlagwort vom „Aufstand der Würde“ ein. Bekannt als Überschrift aus einer deutschen Dokumentation[2] und wahrscheinlich erfunden vom mexikanischen Politikwissenschaftler John Holloway[3] schien der Begriff der „Würde“ ein Verbindungsglied zwischen all diesen Entwicklungen zu sein. Ob es sich um das Prinzip des „Eine Welt, in die viele Welten passen“ handelt, das „gehorchende Regieren“, das „fragende Voranschreiten“ oder ihre Forderung „Nuncá más un México sin nosotros“ (dt.: Nie mehr ein Mexiko ohne uns), überall schien bei diesem Aufstand Würde als Bindeglied und Grundsatz zu fungieren. Ebenso verhielt es sich mit ihrem Anspruch, eine neue Form der Demokratie, eine indigene Demokratie entwickeln zu wollen, eine Demokratie des gehorchenden Regierens.

Wie die verschiedenen Ansätze und Prinzipien zu einander stehen und wie sie sich in den gelebten Zapatismus einpflegen, konnte von außen jedoch nicht nachvollzogen werden. Die Zapatisten schienen zwar eine politische Ordnung zu haben, nach der sich ihre Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse richten. Da sie aber keine geschriebene Verfassung haben, war es bisher nicht möglich, diese Ordnung zu verstehen oder nachzuvollziehen. Zur Ergründung ihrer Ordnung und der Ursachen dafür, müsste sie erst verschriftlich, das heißt verfasst werden. Über eine Verfassung könnte sich nachvollziehen lassen, wie Geschichte, Gesellschaft, Würde, Autonomie, Demokratie und Selbstverwaltung im Zapatismus zusammenhängen. Meine Vorstellung von den Darstellungen der Zusammenhänge in der zapatistischen Gesellschaft orientierte sich dabei am Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. In ihr wird der Satz der unantastbaren Menschenwürde zum „Brennpunkt“[4] einer Ordnung, zum „obersten Konstitutionsprinzip“[5]. Die Menschenwürde im Grundgesetz errichtet über ihren Zusammenhang mit den Grundrechten eine Werteordnung der Gesellschaft und beantwortet die Fragen, warum die Menschen wie miteinander umgehen wollen. Diese Menschenwürde als Grundlage einer staatlichen Ordnung macht eine Demokratie zur verbindlichen Art der Regierungsform und entscheidet darüber weiter über das Staatsorganisationsrecht. Es dringt über das Recht in alle Bereiche menschlichen Zusammenlebens. Das Grundgesetz schafft mit seinen ihm zugrundeliegenden und die Strukturen prägenden Werten ein Abbild davon, was wir uns gegenseitig erlauben, wie wir miteinander umgehen wollen, uns fördern und fordern wollen. Wenn sich über die Analyse dieser Verfassung derart grundsätzlich Aussagen über das abstrakte Selbstverständnis einer Gesellschaft treffen lassen, was läge dann näher, die zapatistische Bewegung einer solchen Untersuchung zu unterziehen, wenn man ihr Selbstverständnis ergründen möchte. Der Gedanke lag schon deswegen nahe, weil die Zapatisten stets ähnliche verfassungsrechtliche Begriffe verwendeten, dies nur in einem anderen Umfeld taten. Mithilfe der Erarbeitung eines zapatistischen Verfassungsentwurfs sollen die Erkenntnisse, die es über den Zapatismus gibt und die Äußerungen der zapatistischen Bewegung für die interessierte Öffentlichkeit geordnet. Dabei muss man zu Beginn von einem „Chaos“ aller möglichen relevanten Ereignisses und Erkenntnisse ausgehen, die am Ende alle feste Bestandteile einer komplexen Gesamtordnung werden.

Die Ergebnisse dieser umfangreichen „Charakteranalyse“ eines kollektiven Subjekts mit Hilfe des allgemeinen Staats- und Verfassungsrechts können in einem Entwurf einer „Verfassung der autonomen zapatistischen Territorien“ (kurz: Zapatistische Verfassung oder ZV) zusammengeführt werden. Dieser Verfassungsentwurf kann natürlich nicht vollständig sein. Er ist letztendlich nicht mehr und nicht weniger als eine Annäherung an eine Ahnung, was das zapatistische Selbstverständnis ist und damit, bei allem was man von diesem lebenden Experiment lernen kann, eine demokratische Alternative.

B. Ein Verfassungsentwurf als Untersuchungsgrundlage

Der Ansatz, ein kollektives Subjekt, wie die zapatistische Bewegung, mittels eines Verfassungsentwurfs zu untersuchen und darzustellen, bedarf der Begründung. Entscheidend dafür sind die gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Eigenschaften einer Verfassung.

Eine Verfassung soll theoretisch den normativen Konsens einer Gemeinschaft über die gesellschaftlichen Grundlagen ihres Zusammenlebens darstellen.[7] Über das Mittel der Rechtsnormen artikuliert stellt sie die materiell-rechtliche Kodifizierung des politischen Profils einer Gemeinschaft oder einer sich festigenden sozialen Bewegung, wie zum Beispiel dem Zapatismus, dar.[8] Das von ihr vorgesehene Ordnungsprogramm bleibt jedoch im Gewohnheitsrecht verhaftet und damit dem äußeren Betrachter weitgehend verborgen. Ihre politisch-rechtlichen Aussagen lassen sich schwer überprüfen. Erst durch die Niederschrift gelangen diese zu der Bedeutung, die eine Verfassungsordnung für sie als Gemeinschaft haben kann. Sie verfestigt die Grundprinzipien der Autonomie durch ihre Kodifizierung,[9] verschafft der internen Ausgestaltung des politischen Systems nach innen und nach außen Legitimation und vermittelt den Willen der Gemeinschaft zur permanenten Ausübung ihres kollektiven Selbstbestimmungsrechts.[10]

Heute hat sich für die Verknüpfung einer verfassungsgebenden Gewalt mit einer souveränen Hoheitsgewalt auf einem umgrenzten Territorium der Begriff des „Staates“ durchgesetzt.[11] Die Grundthese über das Wesen einer organisierten Gemeinschaft und seiner Ordnung gilt weiterhin. Die Ordnungsstrukturen der künftig staatlich organisierten Gemeinschaft sind nicht vorgegeben. Sie müssen erst durch die sich zusammenfindende Menschengemeinschaft ergründet werden. Zur Quelle des gesellschaftlichen Abwägungsprozesses über die Art und Weise der Gliederung der Organisation wird dabei ihr grundlegender Wertekanon für das Zusammenleben, der sich aus den historisch-politischen und ethisch-politischen Hintergründen der Gemeinschaft entwickelt hat. Auf Grundlage dieser Wertebasis beginnt sie, ihr Verhalten zu koordinieren. Am Ende dieses Ordnungsprozesses entsteht ein stets einzigartiger Rahmen menschlichen Zusammenlebens. Geht man davon aus, dass dieser Rahmen der Gemeinschaft nicht aufoktroyiert wurde, manifestiert er deren grundlegende Werteordnung als Grundsätze des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Der Ordnungsrahmen wird zum Ausfluss des kollektiven Selbstbestimmungsrechts der Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinschaft.[12] Eine Verfassung erfüllt dabei keinen Selbstzweck. Sie kann ihre Entscheidungen nicht aus sich heraus Legitimität verleihen. Die staatliche Gemeinschaft muss sie vielmehr auch als für sich sinnstiftend anerkennen und vollziehen. Auf diese Weise verstande wirkt der Vollzug einer Verfassung durch die Gesellschaft identitätsstiftend. Über die rechtliche Analyse und Auslegung der verfassungsrechtlichen Struktur und ihrer grundlegenden Prinzipien lassen sich folglich auf die Grundwerte und die Identität dieser Gemeinschaft schließen.[13]

Diese Annahmen von der Deutungskraft der Verfassung als verrechtlichtem Ausdruck gesellschaftlicher Identität soll in der Folge für die Untersuchung der zapatistischen Bewegung fruchtbar gemacht werden. Spätestens seit der Geburt der Caracoles verfügen die zapatistischen Autonomiegebiete über aufeinander abgestimmte interne Organisationsstrukturen. Der Zapatismus wird auf dem von ihm kontrollierten Territorium als Entscheidungs- und Machteinheit konstruiert. Den Organisationsstrukturen wird mithin Verbindlichkeit und Dauer verliehen. Versucht man sich an einer Verfassung muss man sich zwingend mit wesentlichen Fragen des Staats- und Verfassungsrechts beschäftigen und Antworten auf Fragen erarbeiten, die auf den ersten Blick weit über das hinauszugehen scheinen, was an zumindest ansatzweise rechtlichen Erkenntnissen über die zapatistische Bewegung überhaupt besteht. Auch wenn man aus der zapatistischen Praxis einen Eindruck davon bekommt, wie sie sich regieren, nach welchen Maßgaben sie die Entscheidungskompetenzen verteilen, warum die base de apoyo zapatista (dt.: zapatistische Unterstützungsbasis; kurz: BAZ) eine derart zentrale Rolle in ihren Autonomiestrukturen spielt, bleibt die Frage offen, warum sie sich für diesen Weg entschieden haben. Warum wollten sie „eine Welt, in die viele Welten passen“? Auf welchem Menschenbild fußt diese Aussage? Was hat das mit ihren Regierungsgrundsätzen zu tun? Und, wie wirkt sich dies auf ihre organisationsrechtlichen Strukturen aus? Auf all jene und noch viele weitere grundsätzliche Fragen muss man eine Antwort finden, wenn man zumindest ansatzweise mit einem Verfassungsentwurf den Zapatismus entschlüsseln möchte. Gerade wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung verwende ich die Verfassung als Untersuchungsinstrument.

Für diese Untersuchung soll in diesem ersten Kapitel der Grundstein gelegt werden. Da im Zentrum der Arbeit ein Verfassungsentwurf steht, soll nachfolgend zunächst (I.) auf die (wissenschaftlichen) Herausforderungen bei der Bearbeitung der gewählten Fragestellung und des Mittels eingegangen werden. Danach kann geklärt werden, ob (II.) sich der Zapatismus überhaupt verfassen lässt. Dies führt uns (III.) zu der Frage, was die Verfassung als gewähltes Mittel für die Untersuchung der zapatistischen Bewegung zu leisten vermag. Daher wird das rechtliche Konstrukt überblicksartig dargestellt. Zum Abschluss wird (IV.) der Untersuchungsgegenstand festgelegt, um die Ergebnisse belastbar zu machen.

I. Herausforderungen für eine Verfassungskonstitution

Die rechtliche Analyse der zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen, an deren Ende der Entwurf einer „Verfassung der autonomen zapatistischen Territorien“ stehen soll, ist insbesondere aufgrund zweier Aspekte mit besonderen Herausforderungen verbunden. Da ist einerseits die unüberwindbare Distanz zwischen der Interpretation von geschichtlichen und gesellschaftlichen Begriffen und Ereignissen aus dem Erfahrungshorizont eines durch die deutsche Rechtsdogmatik geprägten Wissenschaftlers und andererseits die authentische Auslegung und praktische Umsetzung der Erfahrungen durch die zapatistische Bewegung als wissenschaftliches Forschungsobjekt.[14] Damit ist klar, dass es Objektivität in diesem Forschungsfeld nicht geben kann. Die Ergebnisse sind immer aus dem Blickwinkel des Forschers zu betrachten, das heißt mit der gebotenen Relativität bezüglich des Wahrheitsgehalts der Forschungsergebnisse und nicht zuletzt unter Beachtung des gebührenden Respekts vor der Interpretationshoheit der am Entwicklungsprozess teilnehmenden Menschen. Die Anerkennung einer solchen beinahe dialektischen Ausgangssituation wird nicht etwa obsolet, in dem man sich bei der Untersuchung auf sogenannte Primärquellen – also wortwörtliche Aussagen des Forschungssubjekts – stützt oder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler miteinbezieht, die ähnlich sozialisiert sind. Ihre Einbeziehung ermöglicht erst die ehrliche Auseinandersetzung mit den Selbstverwaltungsstrukturen und den Autonomieprinzipien der zapatistischen Bewegung. Die folgenden Interpretationen sind daher ein Versuch, der zur Diskussion und Auseinandersetzung mit der Bewegung anregen soll. Inwiefern die vorliegenden Interpretationsansätze zutreffen, hängt zudem von der weiteren Entwicklung der zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen ab. Über ihre zukünftige Entwicklung können weder genauere Aussagen getroffen noch Vorschläge gemacht werden. Schon aus Respekt und der Anerkennung vor dem aufstandsführendem Subjekt, der base de apoyo zapatista, muss ich mich bei meinen Untersuchungen auf die bestehenden Strukturen beschränken. Die Untersuchungsergebnisse könnten zwar wohl – bei in Zukunft weitgehend gleichbleibender Ausgangslage – eine Einschätzung über die zukünftige Entwicklung der Strukturen ermöglichen. Den Lesern und Leserinnen bleibt es indes überlassen, sich auf Grundlage der Ergebnisse dieser Arbeit über das gesellschaftliche und politische Potential des Zapatismus Gedanken zu machen.

Neben diesen (methodischen) „Hindernissen“ tritt eine für die Analyse des Untersuchungsgegenstandes schwierige Quellenlage bezüglich der praktischen Ausgestaltung der Regierungsstrukturen. Durch den Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen haben die Zapatisten nicht nur einen schon rein organisationsrechtlich vom mexikanischen Regierungssystem abgrenzbaren Ordnungskomplex geschaffen. Sie haben auch die Deutungshoheit über die internen Vorgänge und darüber, was nach „außen“ dringt, erlangt. Für die Untersuchung der Regierungsstrukturen als „Externer“ bringt dieser durchweg als positiv zu bewertende Umstand die Schwierigkeit mit sich, bei der Auswertung der Strukturen vornehmlich auf die Aussagen der Bewegung selber angewiesen zu sein.[15] In diesem Zusammenhang spielen vor allem die im Rahmen der neuen zapatistischen Kampagne „La Escuelita Zapatista“ im August 2013 entstandenen Schulbücher „La Libertad según l@s Zapatistas“ (dt.: Freiheit nach zapatistischem Verständnis) eine Rolle.[16] In vier umfangreichen Büchern[17] beschreiben Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichsten zapatistischen Verwaltungsebenen aus jeder der fünf Zonen die Erfolge und Rückschläge sowie besonderen Herausforderungen, die der Ausbau der Autonomie für sie mit sich bringt. Sie selbst beschreiben den Inhalt der Bücher, wie folgt:

„Die Urheber aller Texte sind die Männer und Frauen der zapatistischen Basisgruppen und beschreiben nicht nur einen Teil des Prozesses des Freiheitskampfes, sondern enthalten auch ihre kritischen Betrachtungen und ihre Selbstkritik über unsere Schritte. Das heißt, so sehen wir Zapatistinnen und Zapatisten die Freiheit und unseren Kampf, um diese Freiheit zu erreichen, zu praktizieren und sie zu verteidigen“.[18]

Den Wahrheitsgehalt der in diesen Büchern geteilten Erfahrungen schätze ich aufgrund der hohen Transparenz der zapatistischen Bewegung als hoch ein. Ähnliche, wenn auch weitaus weniger umfangreichen Darstellungen nationaler und internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und eigene Erfahrungen aus einem Forschungsaufenthalt lassen denselben Schluss zu. Trotz alledem sind die Darstellungen, da ihre Aussagen teilweise nicht überprüfbar sind, mit Vorsicht zu behandeln. Dennoch ermöglicht die Kampagne der „La Escuelita Zapatista“, einen bis dahin in dieser Ausführlichkeit nicht möglichen Einblick in den Aufbau und die Funktionsweise der zapatistischen Selbstverwaltungsstrukturen und deren Entscheidungsprozesse. Frühere Comunicados und Quellen erlaubten Einblicke überwiegend in bestimmte Bereiche und Prozesse der Selbstverwaltung. Aussagen über bewegungsinterne politische Abläufe der Entscheidungsfindung konnten dagegen nur vereinzelt oder oberflächlich getroffen werden. Mangels geschriebener Verfahrensnormen oder gar einer Verfassung ließen sich gesicherte Aussagen über die organisationsrechtlichen Strukturen und die Kompetenzverteilung kaum treffen. Bestehende Untersuchungen konzentrierten sich häufig auf nach außen hin sichtbare Entwicklungen zapatistischer „Vorzeigeprojekte“, wie der Ausbau der Bildungs- und Gesundheitsinfrastruktur.[19]

Mit den Inhalten aus den Schulbüchern scheint nun in Kombination mit den übrigen Quellen genau dieses Vorhaben umsetzbar. Die Zapatisten haben mit ihren Schulbüchern eine zur Ergründung der zapatistischen Autonomie als verfasster (staatsähnlicher) Organisationseinheit dritte Quellenbasis geschaffen. Neben den zwei Säulen „Geschichte und Gesellschaft“, sowie „Autonomieforderung“ erweitern sich mit dieser dritten Säule Möglichkeiten, die Struktur und den Bedeutungsinhalt der zentralen Autonomiestrukturprinzipien zu überprüfen. Der Prozess der Nachempfindung einer Verfassungsentwicklung kann entweder deduktiver oder induktiver Form sein. Er könnte sich also in diesem Fall von dem Nukleus derselben, das heißt von ihren prägenden Verfassungsstrukturprinzipien aus nachzeichnen lassen, oder aber man vollzieht die Verfassungsentwicklung von ihren geschichtlichen und gesellschaftlichen Determinanten über den engeren Kontext ihrer Entstehung – hier der Forderung nach Autonomie im Rahmen des Aufstandes – nach. Letzteres bietet sich an, wenn die inhaltliche Bedeutung der prägenden Strukturprinzipien nicht eindeutig ist. Eine ausführliche, im verfassungsrechtlichen Kontext belastbare Interpretation der auf einer zunächst ethisch-moralischen Ebene verhafteten Bedeutung der Verfassungsstrukturprinzipien, wird über den auf der Grundlage der breiten Quellenbasis entwickelten Interpretationskontext ermöglicht. Die dritte Säule, die praktische Umsetzung der politischen Ideale in Selbstverwaltungsstrukturen, lässt dabei einerseits konkrete Rückschlüsse auf die dahinterstehenden Wertevorstellungen zu.[20] Andererseits muss ein Zirkelschluss vermieden werden. Leiten sich die in der Praxis etablierten Selbstverwaltungsstrukturen von dem Gerüst der Autonomiestrukturprinzipien ab, kann sich nicht gleichzeitig der Inhalt derselben von der Selbstverwaltungspraxis ableiten. Die Rückschlüsse müssten sich bei angenommener Kenntnis beider Ebenen auf eine Kongruenzprüfung der Praxis mit den Grundsätzen beschränken. Eine Kongruenz zwischen Verfassungstext und praktischer Ausgestaltung kann aber vermutet werden.[21] Sonst wäre die Verfassung für die Ordnung der Entität obsolet. Nimmt man also eine derartige, durch Hindernisse in der Praxis bedingte Kongruenz an, kann man den entscheidenden Determinanten für eine konsistente zapatistische Verfassung näher kommen. Die Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs vollzieht sich also von „außen“ nach „innen“, d.h. aus ihren Erfahrungen entwickelten die Zapatisten alternative Ansichten, wie sich eine menschliche Gemeinschaft organisieren müsse. Die praktizierte Selbstverwaltung mit ihren differenzierten Autonomiestrukturen soll diese theoretischen Erkenntnisse umsetzen.

II. Zapatismus als verfasste Gemeinschaft?

In Anbetracht des skizzierten Bildes stellt sich die Frage, warum die zapatistische Bewegung sich keine schriftlich kodifizierte Ordnung gegeben hat. Denn obwohl grundsätzlich alle Voraussetzungen für einen Verfassungsentwurf vorlägen, haben sie diesen Schritt (noch) nicht vollzogen. Der Grund dafür könnte sich aus dem Selbstverständnis der zapatistischen Bewegung ergeben. Eine rechtliche Verbriefung in Form einer „Verfassung für die autonomen zapatistischen Territorien“ würde die Kodifizierung der Autonomiestrukturen erfordern. Darüber würden sich ihre ethisch-politischen und moralischen Werte manifestieren. Mit dieser Entscheidung ginge eine rechtliche Verbindlichkeit einher. Zwar würde dadurch für eine gewisse Wertestabilität gesorgt, der Zapatismus würde jedoch auf ein gewisses Maß an Dynamik verzichten müssen.[22] Er müsste sich an den getroffenen Werteentscheidungen festhalten und messen lassen.[23] Er würde Meinungstendenzen exkludieren und sich eine (rechtliche) Identität geben. Es stellt sich die Frage, ob der Zapatismus dann auch weiterhin als Projektionsfläche für die unterschiedlichste Couleur sozialer Bewegungen dienen könnte.[24] Diese Frage stellt sich verstärkt, weil Teile der Wissenschaft im Zapatismus einen Ansatz der Diffusion und Atomisierung der „staatlichen Herrschaftsmacht“ sehen und einen anarchistischen und antietatistischen Ansatz vermuten.[25] Die Strukturen der gemeinschaftlichen Organisation in einem Rechtsdokument zu verbriefen, das heißt seiner politischen Gemeinschaft eine Verfassung zu geben, könnte danach als originärer Ausdruck einer Verstaatlichung verstanden werden, was sich nach dem eben gesagt verbieten würde.

Dieser Ansicht widerspricht jedoch die Umsetzung der zapatistischen Autonomie in die Praxis. Spätestens seit der Geburt der Caracoles als zentrale Verwaltungsstruktur der Zone haben die autonomen Strukturen eine organisatorische Ausdifferenzierung der Aufgabenverteilung erreicht, die verfassten Ordnungskomplexen in nichts nachsteht. Dies führt dazu, dass von einer autonomieinternen, zapatistischen Verfasstheit gesprochen werden kann. Es besteht eine Ordnung, die das gegenseitige Verhalten der Menschen untereinander regelt, differenzierte Strukturbestimmungen enthält und die Werteordnung der Gemeinschaft in einem normativen Ordnungskomplex kodifiziert.[26] Das dies nicht ein „Versehen“, sondern explizit gewollt war, beweisen die wiederholten Forderungen nach dem Zugeständnis eines in der mexikanischen Verfassung festgeschriebenen Rechts auf Autonomie.[27] Dies kann nur so verstanden werden, dass man einen teilweisen Übergang staatlicher Souveränität und damit staatlicher Hoheitsgewalt fordert.[28] Darüber hinaus drückte ein Mitglied der Junta de Buen Gobierno auf einem Treffen im Caracol II, Oventic 2007, die Notwendigkeit nach der Verabschiedung von „Generalnormen“ aus, an denen sich die Rechtssysteme in den einzelnen Regionen orientieren sollen.[29] Auch die Forderung der Zapatisten im Rahmen der „Anderen Kampagne“ sich auf eine gemeinsame Vorgehensweise und einen Rahmen für die Bestimmung gemeinsamer Werte festzulegen,[30][31][32]