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Matthias P. Gibert

Schmuddelkinder

Lenz’ sechster Fall

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Doreen Fröhlich

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Fotos »Rosendornen« von © Francesco hab ich auch / aboutpixel.de

ISBN 978-3-8392-3530-0

Matthias P. Gibert

 

Lebenslauf

 

XXX XXXXXX                   XXXXXXXX X. XXXXXX

                                XXX. XX XX.XX.XXXX XX XXXXXX

                                XXXXXXXXXXXXXXXXXXX XXX-
                                   XXXXXXXX

                                XXXXXXXXXXX

                   

XXXXXXXXXX    

XXX           XXX      

XX.XXXX      XX.XXXX   XXXXXXXXX

                                • XXXXXXXXXXX - XXXXXXXXX

                                • XXXXXXX

                                • XXXXXXXXX

                   

 

XX.XXXX     XX.XXXX    XXXXX, XXXXX

                                XXXXXXXXX

                                • XXXXXX

                                • XXXXXXXXX

                   

XX.XXXX     XX.XXXX    XXXXXXXXXX

06.1975                   02.1977   Jugendheim Karlshof, Wabern

XX.XXXX     XX.XXXX    XXXXXXXXXXXX XX, XXXXXXX

XX.XXXX     XX.XXXX    XXXXXXXXX, XXXXXX-XXXXXXX

 

XXXXXXXXXX                

XX.XXXX     XX.XXXX    XXXXXXXXXXXXXXX, XXXXXXX-
                                   XXX

                                   XXXXXXXXXX XXXXXXXXXXXX

       

XXXXXXXXXX XXXXXXXXXXXXX

XXXXXXXX                       XXXXXXXXXXX XX XXXX, XXXXXX-
                                   XXXXX XX XXXX XXX XXXXXXX,

 

XXX                          XXXX XXX XXXXX XXXX XXXX XX-
                                   XXXXXXXX

                                   XXXX XXXXXX XXXX XXXXXX-
                                   XXXX

 

 

XXXXXX, XX.XX.XXXX

1

 

Dieter Bauer ging mit gesenktem Kopf und auf den ergonomisch geformten Griff seines Stockes in der linken Hand gestützt die letzten Meter bis zu seinem Haus, kramte das dicke Schlüsselbund aus der Hosentasche und steckte den kleinen Sicherheitsschlüssel ins Schloss. Mit einem kräftigen Ruck, den man dem alten, gebückt gehenden Mann nicht zugetraut hätte, zog er die Tür zu sich heran, drehte seine Hand nach links und schob das schwere Holzblatt nach vorne. Dann betrat er den Hausflur, zog sich umständlich den schwarzen Sommermantel von den Schultern und hängte ihn an die Garderobe.

 

Nun war es vorbei und seine Frau unter der Erde. Ihr Tod eine Woche zuvor war eine Erlösung gewesen für den 72-jährigen Mann aus Baunatal, der VW-Stadt vor den Toren Kassels. Seit mehr als neun Jahren hatte Lore Bauer dem Krebs in ihren Brüsten immer wieder Zeit und damit Leben abgetrotzt. Doch nach und nach hatten die Tumore ihren Körper zerfressen, besonders aggressiv in den letzten Monaten. Nach den Operationen vor neun und vor sechs Jahren hatten Chemotherapie und Bestrahlungen sich in unschöner Regelmäßigkeit abgewechselt. Dieter Bauer hatte seine Frau bis zum Schluss aufopfernd gepflegt und ihr quasi jeden Wunsch von den trüber und trüber werdenden Augen abgelesen. Die letzten Wochen waren die Hölle gewesen für den Mann, auch, weil sie ihn nicht mehr erkannt hatte. Jetzt stand er im Flur des viel zu großen Hauses im Stadtteil Kirchbauna und betrachtete sein zerfurchtes Gesicht im Spiegel. Wie lange, dachte er, werde ich mich plagen müssen mit der nun einsetzenden Einsamkeit und den zunehmend unangenehmer werdenden Zipperlein des Alters?

Bevor er über eine Antwort nachdenken konnte, zuckte er wegen der laut und grell lärmenden Klingel über seinem Kopf zusammen, drehte sich langsam um und ging zur Tür.

»Ja, bitte«, begrüßte er den Mann auf der Treppe nicht besonders höflich, nachdem er ihn von oben bis unten gemustert hatte.

»Hallo, Herr Bauer«, erwiderte der Besucher freundlich. »Ich wollte Ihnen persönlich mein Beileid aussprechen zum Tod Ihrer Frau.«

»Kennen wir uns?«, wollte Bauer irritiert wissen, nachdem er das teilweise vom Schild einer Baseballkappe verdeckte Gesicht des Mannes erneut betrachtet hatte. Ohne zu antworten, drängte der sich an ihm vorbei und stand ein paar Sekundenbruchteile später im Hausflur.

»Schön hier«, erklärte er selbstbewusst.

»Was fällt Ihnen ein?«, herrschte Bauer den Eindringling an, doch der nahm überhaupt keine Notiz vom Ärger des Witwers und ging langsam weiter ins Wohnzimmer. Der alte Mann folgte ihm, so schnell es seinen müden Beinen möglich war, und baute sich mit seinem drohend geschwungenen Stock in der Hand vor ihm auf.

»Verlassen Sie sofort mein Haus, sonst verständige ich die Polizei«, rief er.

»Spul dich nicht so auf, grauer Mann. Die Zeiten, in denen du nach Lust, Laune und Gutsherrenart schalten und walten konntest, sind lange vorüber.« Damit griff er nach der Gehhilfe, riss sie in seine Richtung und sah belustigt dabei zu, wie sein Gegenüber der Länge nach zu Boden stürzte.

»Was …?«, wollte Bauer fragen, doch der nun bedrohlich und gefährlich wirkende Gast schnitt ihm mit einer kurzen Bewegung seiner rechten Hand das Wort ab.

»Tut weh, wenn man seine Frau verliert, was?«

Bauer hob den Kopf und hatte dabei den Eindruck, dass er diesen groß gewachsenen, mit Jeans und Lederjacke bekleideten Mann irgendwo schon einmal gesehen hatte. »Wenn Sie Geld wollen, bitte …«

Wieder die Handbewegung des Mannes über ihm. »Es gab Zeiten, in denen sich viele Menschen gewünscht haben, dass du mit dem Geld, das nicht dir gehörte, sondern ihnen, großzügiger und fairer umgegangen wärst. Das war die Zeit, in der du Dreckschwein das Geld anderer Leute verwalten durftest und das scham- und gewissenlos für deine Zwecke ausgenutzt hast.«

Noch immer war sich Bauer nicht sicher, ob er den Mann tatsächlich kannte. Ja, vielleicht. Die Mundpartie kam ihm bekannt vor. Er hatte keinen Namen parat, noch nicht, aber das würde wiederkommen. Er konnte sich an alle erinnern, auch wenn es manchmal ein wenig dauerte. Er kannte ihn. Oder täuschte er sich diesmal? Mit geschickten Bewegungen, die erahnen ließen, dass dieser Körper einmal gut trainiert gewesen sein musste, drückte Bauer sich vom Boden ab und wollte aufstehen, doch sein Besucher sprang einen Schritt nach vorne und versetzte ihm einen Tritt in die Seite. Der alte Mann glaubte, das Bersten seiner Rippen hören zu können, bevor er es spürte, riss die Augen auf und sank stöhnend zusammen.

»Schöne Beerdigung war das heute«, hörte er über sich. »Du hast meine Frage übrigens noch nicht beantwortet, du Bastard. Tut es weh, wenn man die Frau verliert, die man liebt?«

Bauer machte keine Anstalten, zu antworten. Zusammengekrümmt lag er da und versuchte, mit kurzen, gepressten Atemzügen Luft in seine Lungen zu saugen.

»Hallo, jemand zu Hause?«, rief der Mann über ihm freundlich und trat ihm dabei mit voller Wucht ins Gesicht. Bauer sah Sterne. Sein Gebiss flog wie der Mundschutz eines angeknockten Boxers neben ihm über den Teppich. Ein paar Tritte später senkte sich eine wohltuende, schmerzfreie Dunkelheit auf ihn herab.

2

 

Hauptkommissar Paul Lenz betrat die einsam und verlassen wirkende psychiatrische Praxis seines Freundes Christian, brachte den mitgebrachten Sekt im Eisfach des Kühlschrankes unter, trat ans Fenster und sah hinab auf den Marktplatz von Fritzlar, der alten Fachwerkstadt südlich von Kassel, über der sich gerade die letzten Sonnenstrahlen verzogen hatten. Noch eine Viertelstunde, vielleicht etwas länger, denn Pünktlichkeit war nicht die Stärke seiner großen Liebe, dann würde er Maria in seine Arme schließen können. Maria Zeislinger, die Frau des Kasseler Oberbürgermeisters Erich Zeislinger.

Er sah aus dem Fenster und dachte über seinen letzten Besuch nach in dieser Praxis, die ihnen als diskretes Liebesnest für ihre amourösen Treffen diente. Auch an jenem Winterabend ein halbes Jahr zuvor hatte er aus dem Fenster gesehen und gewartet, doch sie war nicht gekommen. Und während er wartete, hatten die Ärzte um ihr Leben gekämpft und sie sogar reanimieren müssen.

Einem Kleintransporter war ein Reifen geplatzt, und Maria zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Zuerst dachte Lenz, sie sei bei dem Unfall getötet worden, was sich jedoch als Falschinformation herausgestellt hatte. Es folgten diskrete nächtliche Besuche auf der Intensivstation und im Anschluss eine endlos scheinende Rehabilitation, weil sie als Folge des Unfalls monatelang mit Doppelbildern, quälenden Kopfschmerzen und permanenter Müdigkeit zu kämpfen gehabt hatte. Doch das war nun Schnee von gestern. Seit ein paar Tagen durfte sie wieder Auto fahren und war damit in der glücklichen Lage, sich mit ihm zu treffen.

Ein leises, entferntes Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich um, ging mit schnellen Schritten zur Praxistür und öffnete sie vorsichtig. Zunächst konnte er im dunklen Hausflur nichts erkennen, dann jedoch drängte sich Maria an ihm vorbei, drückte mit dem Rücken die Tür zu, umarmte ihn und presste dabei ihre Lippen auf seinen Mund.

»Warte, warte«, protestierte er schwach, jedoch ohne irgendeine Aussicht auf Erfolg. Sie schlang die Arme fester um seinen Hals, umspielte mit ihrer Zunge seine Lippen, griff gleichzeitig nach seinem Kragen und nestelte am obersten Knopf seines Hemdes herum.

»Maria …«

»Psst, Paul. Auf das, was jetzt kommt, freue ich mich seit fast einem halben Jahr. Du kannst einer Verdurstenden nicht das lebensnotwendige Wasser vorenthalten. Bitte nicht.«

»Aber wollen wir nicht erstmal …?«, startete er einen letzten Versuch.

»Nein, wollen wir ganz bestimmt nicht«, erwiderte sie sehr bestimmt. »Aber alles, was du jetzt nicht kriegst, ist bloß aufgeschoben, nicht aufgehoben. Also bitte, rette mich vor dem Ertrinken. B I T T E!«

 

Eine knappe Stunde später lagen die beiden restlos erschöpft nebeneinander auf der Praxiscouch und hielten sich im Arm.

»Oh Gott, ist mir heiß«, erklärte sie, machte sich von ihm frei, holte eine Haarklammer aus ihrer Handtasche, drehte ihre Haare ein und fixierte sie. »So ist es besser«, ließ sie ihn wissen und schmiegte sich wieder an seinen Körper.

»Wow!«, erklärte er tonlos und streichelte dabei ihren Busen.

»Noch immer nicht genug?«, fragte sie scheinheilig.

»Oh doch, vielen Dank. Das war grandios.«

Sie stützte sich auf den rechten Ellenbogen, sah ihn im diffusen Licht der Reklamebeleuchtung von der gegenüberliegenden Straßenseite an und grinste.

»Find ich auch. Und ich hätte es wirklich keine Sekunde länger ohne Sex mit dir ausgehalten.«

»Quatsch.«

»Glaub es oder lass es, das ist mir egal. Ich kann dir nur sagen, dass ich seit drei Tagen, also seitdem ich wusste, dass wir uns heute Abend sehen würden, in einem Zustand freudiger Erregung war. Ich könnte auch sagen, in einem Zustand der Dauererregung.«

»Schön.«

»So, findest du? Ich weiß nicht, was schön daran sein sollte, viermal am Tag sein Höschen wechseln zu müssen.«

»So schlimm?«

»Schlimmer. Aber ich korrigiere meinen letzten Satz. Es ist natürlich schön. Sehr schön sogar. Es ist geil. Es ist die ultimative Geilheit, kombiniert mit dem Gefühl, verliebt zu sein.«

Lenz richtete sich auf und sah ihr in die Augen. »Du bist verliebt in mich?«

»Total. Und in den letzten Monaten ist mir klar geworden, was du mir wirklich bedeutest.«

»So?«

»Ja, verdammt!«

»Und?«

Sie machte eine längere Pause. »Ein bisschen bedeutest du mir schon. Vielleicht auch ein bisschen mehr.«

»Wie apart.«

Wieder eine längere Pause.

»Ich liebe dich, Paul. Und ich will mit dir leben. Wenn es eine Erkenntnis aus diesem verdammten Unfall geben kann, dann nur die.«

Der Kommissar schluckte. »Wie stellst du dir das vor? Und wann stellst du dir das vor?«

Maria drehte sich auf den Rücken und betrachtete die Decke. »Über das Wie habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, das wird sich ergeben. Immerhin sind wir zwei erwachsene Menschen. Das Wann ist die viel spannendere Frage.«

Lenz, der in dieser Hinsicht mit ihr so seine Erfahrungen gemacht hatte, folgte ihrem Blick zur Decke. »Die Hoffnung, dass du deinen Mann wirklich verlässt, habe ich längst aufgegeben. Also, was soll noch passieren?«

Sie drehte sich wieder um und küsste ihn auf die Brust. »Da hast du leider ein wenig früh die Nerven verloren, mein Geliebter. Ich lebe nämlich seit genau …«, sie versuchte, im Dämmerlicht ihre Armbanduhr zu entziffern, »… zwei Stunden und 40 Minuten in Scheidung.«

Der Kommissar hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. »Maria, mach keinen Scheiß. Ich will mir nicht wieder Hoffnungen machen, die unerfüllt bleiben.«

»Vielleicht werden deine Hoffnungen ja diesmal erfüllt?«

Lenz hasste dieses Spiel. Er sah ihr dabei zu, wie sie sich aufrichtete und mit dem Rücken an die Wand setzte. Dann zog sie seinen Kopf auf ihren Bauch.

»Gut«, begann sie. »Ich war vor ein paar Monaten tot. Nicht richtig, aber doch schon ganz schön tot. Ich habe mich fast ein halbes Jahr mit Ergotherapeuten, Krankengymnasten und Ärzten herumgeplagt, die dafür gesorgt haben, dass ich wieder so halbwegs auf die Beine komme. Das hat alles geklappt. Zurückgeblieben ist jedoch die Erkenntnis, dass ich nur ein Leben habe. Ein Leben, mit dem ich umgehen, das ich mir einteilen muss.«

Sie strich über seinen Kopf. »Ich bin mir darüber klar geworden, dass ich dieses Leben mit dir verbringen will, dem Bullen, der manchmal schlecht gelaunt nach Hause kommt und nicht mehr zu erzählen hat als eine ganz miserable, armselige Jerry-Cotton-Geschichte.«

Lenz bekam immer schlechter Luft.

»Aber ich bin halt ein Angsthase. Das war ich immer, und das werde ich immer sein, zumindest in manchen Dingen. Ich habe mich seit Jahren geweigert, Erich zu verlassen, aus welchen Gründen auch immer, aber das ist nun vorbei. Seit genau zwei Stunden und 43 Minuten.«

»Er weiß, dass du ihn verlassen willst?«

Er konnte ihr Nicken mehr ahnen als sehen.

»Richtig. Und ich wusste, dass ich es ihm heute, mit der Vorfreude auf dich im Herzen, sagen würde.«

»Du hast es ihm schon gesagt?«

»Ja. Zuerst hab ich für uns gekocht, dann hab ich mich mit ihm an den Tisch gesetzt und ihm eröffnet, dass er seine Zukunft ohne mich planen muss. Und warum.«

»Wie, warum?«

»Ich hab ihm erklärt, dass ich mich in einen anderen Mann verliebt hab. Nicht wann, aber dass.«

Lenz glaubte mehr und mehr, in einem Traum gelandet zu sein. Einem sehr intensiven Traum allerdings.

»Und was hat er dazu gesagt?«

»Zuerst war er ganz ruhig, was wiederum mich ein bisschen beunruhigt hat. Als ich ihm dann aber gesagt habe, um wen es sich bei dem Mann handelt, in den ich mich verliebt hab, ist er richtig, richtig und ganz böse ausgerastet.«

»Du hast ihm … ich meine … dass wir beide …?«

»Klar. Er würde es früher oder später ja doch erfahren.«

Lenz bemerkte, dass sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. »Wie ging es weiter?«

»Wie schon? Er hat mir erklärt, dass er mich fertigmachen würde, wenn ich das ernst meine. Dich übrigens auch. Ich hab es dann vorgezogen, die Biege zu machen, weil er sonst vielleicht ernsthaft handgreiflich geworden wäre. Ein klein wenig Schiss hatte ich nämlich schon.«

Lenz sah nach links und versuchte, im schwachen Reklamelicht eine Regung in Marias Gesicht zu entdecken. »Du verarschst mich doch?«, fragte er vorsichtig.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, glücklicherweise nicht. Kriegst du Muffensausen?«

»Nein.«

»Das ist gut so. Ich glaube nämlich, dass die nächsten Monate alles andere als ein Zuckerschlecken für uns werden.«

Der Polizist sah aus dem Fenster und gab sich dabei die größte Mühe, seine Gedanken zu ordnen. Was Maria ihm soeben eröffnet hatte, bedeutete nicht weniger als die komplette Revision seines bisherigen Lebens. Er fing laut an zu lachen.

»Was ist?«, fragte sie besorgt.

»Seit fast acht Jahren wünsche ich mir nichts sehnlicher als das, was du mir gerade mitgeteilt hast. Und jetzt ist es einfach soweit. Einfach so. Das ist unglaublich, Maria.«

»Ja, finde ich auch«, erwiderte sie und presste sich etwas enger an ihn. »Und ich hatte die ganze Fahrt über ein ziemlich mulmiges Gefühl, weil ich ja nicht hundertprozentig sicher sein konnte, dass sich bei dir nicht was verändert hätte.«

Er holte tief Luft und streichelte ihr Haar. »Nein, es hat sich nichts verändert. Wenn es wirklich so kommt, und davon gehe ich jetzt aus, macht mich das unheimlich glücklich. Aber das weißt du.«

»Schön so.«

»Hast du Angst vor Erich und dem, was er anzetteln könnte?«

Sie nickte. »Durchaus. Erich geht über Leichen, das ist dir klar, und er wird uns alle Steine in den Weg legen, die er finden kann. Darauf müssen wir vorbereitet sein. Er kennt Gott und die Welt und wird alles tun, um sich zu rächen. Das wird dir deinen Job in den nächsten Monaten nicht leichter machen, weil er auch gut mit dem Polizeipräsidenten befreundet ist.«

»Ich weiß, aber was sollte er da machen?«

»Unterschätze ihn bitte nicht. Er ist nicht wirklich klug, aber er ist ein Politiker, also verschlagen und um keine Finte verlegen.«

Lenz drückte sie etwas fester an sich. »Das kriegen wir hin. Viel wichtiger ist, dass wir beide uns davon nicht belasten lassen.«

»Da passen wir schon auf, Paul. Und alles andere wird sich entwickeln. Wie gesagt, wir sind ja erwachsene Menschen.«

Sie stand auf und sah hinunter auf den Marktplatz. »Das wird mir fehlen, hier. Diese konspirativen Treffen in Fritzlar.«

Er grinste sie an. »Wir können ja einmal im Monat hierher fahren und miteinander schlafen, einfach aus Gewohnheit. Was hältst du davon?«

»Wir werden sehen. Im Moment habe ich allerdings ein ganz anderes Problem.«

»Und zwar?«

»Ich kann nicht nach Hause. Und will es auch nicht. Ich will nur noch in dieses Haus, um meine Sachen zu packen und abzuholen.«

»Wo ist das Problem?«

»Ist das eine Einladung?«

Er kratzte sich am Kopf. »Nun ja, so einfach geht das…«

Weiter kam er nicht, weil sie auf ihn zustürmte und sich auf ihn warf.

»Ich ergebe mich«, keuchte er keine 20 Sekunden später, während sie auf ihm saß und mit den Knien seinen Bizeps ritt. »Natürlich fahren wir gemeinsam heim.«

Sie stieg ab und legte sich japsend neben ihn.

»Allerdings«, schränkte er ein, »ist meine Wohnung auf Dauer bestimmt zu klein. Da müssen wir uns nach was Größerem umsehen, befürchte ich.«

»Das macht nichts, ich hab vor ein paar Jahren was geerbt und muss dir nicht auf der Tasche liegen. Außerdem freue ich mich darauf, endlich wieder zu arbeiten und mein eigenes Geld zu verdienen.«

Er hob interessiert den Kopf. »Heißt das, du bist am Ende auch noch eine gute Partie?«

»Eine sehr gute, vermute ich. Sowohl finanziell als auch sexuell, nebenbei bemerkt.«

»Wobei mich das eine viel mehr reizt als das andere«, bemerkte er leise und ließ seinen Kopf auf ihrem Bauch abwärts gleiten. Sie stöhnte lustvoll auf.

»Ich bin eine verheiratete Frau, Herr Kommissar.«

»Nicht mehr allzu lange, hoffe ich«, erwiderte er und tastete nach ihren Brüsten.

3

 

»In Fachkreisen wird das bestimmt als Abschiedsnummer bezeichnet«, hauchte sie.

»Keine Ahnung. Aber …«

Weiter kam er nicht, weil er vom Klingeln seines Telefons unterbrochen wurde. Er griff in die Jackentasche, zog es heraus und sah auf das Display.

»Weißt du, wie spät es ist, Thilo?«, knurrte er, nachdem er den grünen Knopf gedrückt hatte.

»Auf die Sekunde genau«, erwiderte sein Kollege Thilo Hain. »Aber die Uhrzeit ist mir ziemlich schnuppe. Ich bin vor zwei Minuten genauso unsanft geweckt worden wie du jetzt. Wobei, wie aus dem Tiefschlaf gerissen klingst du nicht gerade.«

»Hör auf, bei deinem Boss zu ermitteln und erklär mir, weshalb du anrufst.«

»Wir müssen nach Baunatal. Dort gibt es eine Leiche. Vermutlich Tötungsdelikt.«

»Warum machen das nicht die Jungs vom Kriminaldauerdienst?«

»Weil die bis zu den Ohren in anderen Sachen stecken.« Hain fluchte leise. »Soll ich dich nun abholen oder soll ich allein rausfahren?«

Lenz überlegte einen Augenblick. »Weder noch. Wir treffen uns in einer halben Stunde vor Ort. Gib mir die Adresse.«

Aus dem kleinen Lautsprecher drang ein kurzer Laut der Erkenntnis. »Hab ich’s doch gewusst, du bist überhaupt nicht zu Hause.«

»Und wenn?«

»Na ja. Es …«

»Die Adresse, Thilo!«

Der junge Oberkommissar nannte seinem Vorgesetzten eine Adresse in Baunatal. »Es ist in Kirchbauna.«

»Mein Navi wird es schon finden. Bis gleich.« Damit legte Lenz auf.

»Was Schlimmes?«, wollte Maria besorgt wissen.

»Nein, nur das Übliche«, erwiderte er mit einem Kopfschütteln. »Eine Leiche in Baunatal. Ich fürchte, du musst den ersten Teil der weiteren Nacht ohne mich verbringen.«

»Kann ich mich schon mal daran gewöhnen, wie das Leben als Frau eines Kriminalbeamten so ist.«

»Sorry«, erwiderte er traurig, »dass das gerade heute Nacht passieren muss. Das ist wirklich nicht die Regel. Normalerweise übernimmt solche Sachen eine andere Abteilung.«

»Der Kriminaldauerdienst.«

»Ja, dafür gibt es den KDD. Aber die scheinen im Moment wirklich keine Zeit zu haben.«

Sie nahm ihn zärtlich in den Arm und streichelte seinen Nacken. »Mach deinen Job, Paul. Es wäre natürlich schön, wenn ich noch ein bisschen Zeit unserer quasi ersten Nacht als wirkliches Liebespaar mit dir genießen könnte, aber wenn es heute nicht klappt, machen wir es ab morgen. Einverstanden?«

»Natürlich bin ich einverstanden, aber es darf mir doch leidtun. Nach unserem Gespräch vorhin hatte ich mich natürlich auch darauf gefreut, mit dir einzuschlafen.«

»Und ich hatte mich darauf gefreut, hinter deinem Mietwagen nach Kassel zu zuckeln, weil ich nur ungefähr weiß, wo du wohnst.«

»Stimmt«, bestätigte er. »Du warst ja noch nie bei mir.«

Kurze Zeit später verabschiedeten sie sich an Marias Wagen. Er hatte ihr dabei zugesehen, wie sie die Adresse in das Navigationsgerät eingegeben hatte und ihr zweimal erklärt, wie sie im Haus die Wohnung finden würde.

»Nun halt mich nicht für völlig verblödet, Paul. Wenn es im Haus nur sechs Wohnungen gibt, werde ich mich bestimmt nicht zu einem deiner Nachbarn ins Bett kuscheln.«

»Ich meine ja nur«, gab er geknickt zurück.

»Hör auf zu meinen, ich komm schon zurecht. Wir sehen uns später, im vorgewärmten Bett. Und vergiss bitte nicht, dass ab morgen, spätestens übermorgen, die Welle der Entrüstung über dich und mich hereinbrechen wird, mein Liebster.«

»Wird schon klappen«, erwiderte er, küsste sie flüchtig auf den Mund und ging davon. Als er den Schlüssel ins Türschloss seines Wagens steckte, hielt sie noch einmal neben ihm an.

»Nobel, nobel. Gibt es neue Hardware bei deiner Car-Sharing-Agentur?«

»Nein, das ist mein Auto. Aber die näheren Umstände dazu erkläre ich dir später, wenn ich zu dir ins Bett krieche. Jetzt muss ich wirklich los. Bis dann.«

Damit stieg er ein, ließ den Motor an und rollte hinter ihr her von dem großen Parkplatz an der Fußgängerzone.

Ich werde das hier alles auch vermissen, dachte er dabei.

 

Thilo Hain stieg gerade aus seinem Wagen, als Lenz in die zu normalen Zeiten wohl ausnehmend ruhige Seitenstraße einbog. Der Hauptkommissar parkte hinter dem kleinen japanischen Cabriolet seines Kollegen, stieg aus und blickte in die zuckenden Blaulichter der kreuz und quer in der Straße abgestellten Streifenwagen. Die beiden Polizisten gaben sich kurz die Hand.

»Guten Morgen«, begann Lenz vorsichtig.

Hain sah auf seine Uhr. »Es ist Viertel nach zwei. Vor einer halben Stunde hab ich noch selig schlummernd im Bett gelegen und davon geträumt, morgen früh meine Vaterschaft einzutüten, was ich nun vermutlich vergessen kann. Außerdem ist mir schlecht und ich hab Magenschmerzen.« Er zog die Schultern hoch. »Was also sollte an diesem Morgen gut sein?«

Lenz kannte seinen Kollegen lange genug, um zu wissen, dass jetzt nicht der Moment für Scherze war. »Tut mir leid, Thilo. Warum hast du am Telefon nichts davon gesagt? Dann hätte ich das hier allein übernommen.«

Der Oberkommissar winkte ab. »Lass stecken. Jetzt bin ich hier.«

»Weißt du schon irgendwas über die Sache?«

»Nur, dass ein alter Mann ziemlich übel zugerichtet wurde. Die Kollegin, die mich angerufen hat, meinte, so was würde sie nur aus dem Fernsehen kennen.«

»Klingt apart. Dann lass uns reingehen. Ist die Spurensicherung schon da?«

»Nein. Ich habe gerade mit Heini telefoniert. Er sagt, dass er in einer halben Stunde hier sein wird.«

Trotz der nächtlichen Stunde hatten sich gegenüber dem Haus auf der anderen Straßenseite ein paar Gaffer eingefunden. Lenz bedachte sie mit einem Blick, der keiner Erklärung bedurfte. Zwei Uniformierte, die in der Eingangstür standen, winkten die Kripobeamten vorbei.

»Kollegen, könnt ihr dafür sorgen, dass die Leute da drüben verschwinden, nachdem sie befragt wurden, ob sie was gesehen haben?«, fragte der Hauptkommissar.

Die beiden nickten.

»Ich kümmere mich gleich drum«, erwiderte der Jüngere der zwei und machte sich auf den Weg. Lenz wandte sich dem anderen zu.

»Können Sie uns was zu der Geschichte hier sagen?«

»Nicht viel. Wir wurden von einer Nachbarin gerufen, die sich über das Licht im ganzen Haus gewundert hat. Sie war sich sicher, dass der Besitzer zu Hause ist, aber er hat auf ihr Klingeln nicht reagiert.«

»Woher wusste sie, dass er zu Hause ist?«, wollte Hain wissen. »Es hätte doch auch sein können, dass er einfach vergessen hatte, das Licht auszuschalten.«

»Das müssen Sie die Frau selber fragen. Sie sitzt in der Küche ihres Hauses, gleich schräg gegenüber.«

»Aber sie hat ihn gefunden?«

»Ja. Es gab einen Schlüssel, für Notfälle, der lag in einer Wandnische draußen im Hof. Nachdem sie öfter geklingelt hatte, bekam sie es mit der Angst zu tun, hat den Schlüssel geholt und ist ins Haus. Dann hat sie den Toten gefunden.«

»Gut, den Rest besprechen wir mit ihr selbst. Danke.«

»Gern«, erwiderte der uniformierte Polizist und deutete mit der rechten Hand einen Griff zu seiner Mütze an.

Die beiden Kripobeamten streiften Einweghandschuhe über, schlüpften in blaue, glänzende Füßlinge, schoben die Haustür nach innen auf und betraten das Haus.

»Ach du Scheiße«, murmelte Hain beim Blick in den Flur. Überall waren kleinere und größere Blutflecke. Auf dem Boden, an den Wänden, sogar an der Decke waren Spritzer zu sehen.

»Wenn Sie sich ganz links halten, verwischen Sie keine Spuren, meine Herren«, hörten die beiden eine vertraute Stimme aus einem Zimmer auf der rechten Seite. »Dort ist alles trocken.«

Lenz und Hain hielten sich an den Rat von Dr. Peter Franz, dem Rechtsmediziner, und traten ein paar Augenblicke später neben den Arzt, der über einem übel zugerichteten männlichen Leichnam kniete und gerade mit einer winzig kleinen Digitalkamera eine Aufnahme machte.

»Das bekommt man nicht jeden Tag zu sehen, deshalb will ich es für die Nachwelt erhalten«, erklärte der Mediziner.

»Stimmt, das sieht wirklich gruselig aus«, bestätigte Lenz mit einem Blick auf den Toten, dessen Körper übersät war von Hämatomen, Platzwunden und Einstichstellen. Der rechte Unterarm stand in merkwürdigem Winkel zum Rest des Armes, offenbar war er gebrochen. Auch die beiden nackten Füße wiesen deutliche Spuren von Deformation auf dem Spann auf.

»Wie lange liegt er denn schon hier?«

»Das kann ich Ihnen nicht mit Gewissheit sagen«, konterte Franz mit der ihm eigenen Spur Besserwisserattitüde in der Stimme, »tot allerdings ist er seit mindestens vier, höchstens fünf Stunden.«

»Todesursache?«, wollte Hain wissen.

Dr. Franz drehte sich kurz in seine Richtung und bedachte ihn mit einem ultrabösen Blick, schenkte sich jedoch eine konkrete Antwort auf die Frage.

»Guten Morgen übrigens, meine Herren. So viel Zeit sollte doch sein.«

»Morgen«, murmelten die beiden.

»Wenn Ihr junger Kollege einmal ein großer, anerkannter Kripomann werden will«, wandte der Arzt sich an Lenz, »sollte er versuchen, den Harn ein wenig länger zu halten, Herr Kommissar. Oder, vulgo, sich ein wenig in Demut gegenüber der ärztlichen Kunst zu üben.«

Lenz hatte nicht übel Lust, Franz die Meinung zu sagen, doch er wusste, dass er damit nichts erreichen würde. Dieser Mann war nicht mehr zu ändern. Deshalb hisste Lenz die weiße Flagge. »Sie wissen doch, wie der gemeine Kriminaler tickt, Doc. Wenn der Kollege Hain Sie nicht gefragt hätte, hätte ich es getan, also. Lassen wir doch diese nervigen Spielchen. Wenn Sie nichts zu der Frage sagen können, warten wir eben auf Ihren Bericht.«

»Ich habe es ja auch gar nicht böse gemeint«, lenkte der Rechtsmediziner zur Überraschung aller Beteiligten ein. »Wenn es Sie verletzt haben sollte, Herr Hain, bitte ich Sie hiermit um Entschuldigung.«

»Schon gut«, murmelte der Oberkommissar hörbar genervt.

»Vermutlich«, fuhr Franz fort, »ist der Alte an den vielen Schlägen gestorben, die der Täter ihm zugefügt hat. Es gibt zwar ein paar Einstiche am Bauch und im Rücken, vermutlich von einem Messer, aber die sind meiner Meinung nach nicht tief genug ausgeführt, um tödlich gewesen zu sein.«

Lenz sah ihn überrascht an. »Das würde bedeuten, dass der oder die Täter ihn gefoltert haben?«

»Den Eindruck könnte man bekommen, wenn man sich die Faktenlage anschaut. Angefangen haben dürfte das alles im Flur, danach ging es in die Küche und im Anschluss hierhin zum Finale.«

Hain deutete auf den Leichnam. »Ist er vor seinem Mörder geflüchtet oder hat er es wenigstens versucht?«

»Das kann ich Ihnen nicht mit Gewissheit sagen, Herr Hain. Aber ich würde es vermuten, ja.«

»Er ist schon ziemlich alt gewesen, nicht wahr?«

»Das wiederum kann ich Ihnen mit absoluter Gewissheit sagen. Er war 72 Jahre alt. Und ich würde bestätigen, dass das ein ziemlich fortgeschrittenes Alter ist. Nicht uralt, aber auch nicht mehr in den guten Fünfzigern. Sein Ausweis liegt übrigens drüben auf dem Küchentisch; nur für den Fall, dass Sie sich fragen, woher ich sein Alter weiß.«

Lenz und Hain drehten sich um und standen ein paar Sekunden später vor dem mit alten Zeitungen, Papieren und jeder Menge Krimskrams zugemüllten Tisch. Auf einem Stapel Zeitungen lag ein weißes, unbeschriftetes DIN-C4-Kuvert, darauf der Personalausweis.

»Sieht ein bisschen so aus, als sei der Haufen hier für uns drapiert worden«, meinte Hain.

»Hm«, machte Lenz, griff nach der Plastikkarte und begann, laut vorzulesen. »Dieter Bauer, geboren am 13. Januar 1938 in Felsberg. Der Mann ist wirklich 72 Jahre alt.«

Er legte den Ausweis zurück auf den Tisch, griff nach dem Kuvert und nahm es in die Hand. Mit vorsichtigen Bewegungen drehte er es und betrachtete die Rückseite. Auch hier gab es keine Beschriftung.

»Es ist zugeklebt.«

»Mach’s halt auf«, ermunterte Hain seinen Kollegen, doch der zögerte.

»Lass uns warten, bis Heini es sich angesehen hat. Ich will nicht, dass hier irgendwas schiefgeht.«

»Was soll denn schiefgehen, wenn wir das Ding vorsichtig aufmachen?«, wollte Hain wissen, griff in seine Jackentasche, zog ein Taschenmesser heraus, klappte es auf und hielt es Lenz hin.

»Stimmt auch wieder«, bestätigte der Hauptkommissar und reichte seinem Kollegen den Umschlag.

»Feigling«, murmelte Hain, setzte die Klinge an, ritzte das Papier auf und lugte ins Innere.

»Es steckt was drin«, ließ er wissen, und zog ein einzelnes DIN-A4-Blatt aus dem Kuvert. Als die beiden Beamten sahen, was darauf zu lesen war, lief ihnen ein Schauer über den Rücken.

›K E I N  R A U B M O R D‹, stand auf dem Blatt, nichts weiter. Hain hielt es gegen die Leuchte über dem Tisch.

»Laserdrucker. Normales, handelsübliches Papier, kein Wasserzeichen.«

»Und, wie es aussieht, für uns bestimmt.«

»Definitiv ja. Aber hat es der Täter geschrieben oder das Opfer?«

»Interessante Frage, wobei ich aber nicht glaube, dass der alte Mann da drüben es in weiser Voraussicht seines bevorstehenden Todes verfasst hat. Steck es zurück, damit Heini und seine Jungs uns nicht den Kopf abreißen, weil wir ihnen zuvorgekommen sind.«

Lenz griff nach einem Stapel Post auf dem Tisch, nahm ihn hoch und blätterte die einzelnen Briefe durch. »Anscheinend war das mehr sein Schreibtisch als sein Küchentisch. Das Zeug hier muss Blatt für Blatt durchgesehen werden, vielleicht liefert es uns einen Hinweis auf seinen Mörder.«

»Alles, was nicht Spurensicherung oder Mediziner ist, raus aus der Hütte«, hörten sie die polternde Stimme von Heini Kostkamp aus dem Flur.

»Jetzt wird’s Zeit«, zischte Hain und trat dem Leiter der Spurensicherung entgegen, der mit zwei Mitarbeitern im Schlepptau das Haus betreten hatte. Alle trugen weiße Tyvekanzüge, blaue Füßlinge und einen Haarschutz. Kostkamp zwängte seine Hände gerade in eng anliegende Einweghandschuhe.

»Moin, Heini.«

»Moin, Kleiner. Sag bloß, du bist allein?«

»Nein, obwohl er auch ohne mich klarkommen würde«, mischte Lenz sich ein, der auch auf den Flur getreten war.

»Hallo, Paul«, grinste Kostkamp seinen Kollegen an. »Das war auch nur eine Finte, weil ich doch deinen Elefantenrollschuh draußen stehen gesehen hab. Will der eigentlich noch wachsen oder bleibt er so?«

Seit Lenz sich vor etwa einem halben Jahr einen zweisitzigen Kleinwagen zugelegt hatte, nahmen die Frotzeleien darüber kein Ende. Mittlerweile konnte der Hauptkommissar die ewigen Zoten kaum noch hören.

»Lass uns nach drüben gehen und mit der Dame sprechen, die ihn gefunden hat, Thilo, damit wir den Kollegen von der Spurensicherung nicht im Weg stehen.«

 

Die Frau war weit über 70, hatte schlohweißes Haar und trug eine alte, verwaschene Kittelschürze. Ihre Augen waren rot gerändert und über ihre Wangen liefen dicke Tränen, die sie mit einem längst vollgesogenen Stück Küchenkrepp abwischte. Ihr gegenüber saß eine junge Polizistin, der man ihr Mitleid und ihr Unbehagen ansah. Die beiden Kripobeamten standen vor der offenen Küchentür und wollten gerade eintreten, als Lenz’ Mobiltelefon klingelte. Er trat zur Seite und nahm den Anruf an.

»Ich bin’s, Maria.«

Er gab Hain mit der Hand ein Zeichen, dass es einen Moment dauern würde, und ging in den Hausflur.

»Ja, Maria, was gibt’s denn?«

»Erich hat gerade angerufen und mich zur Minna gemacht.«

Lenz schluckte. »Das tut mir leid. Was hat er denn gesagt?«

»Dass er mich so fertig machen will, dass am Ende kein Hund mehr ein Stück Brot von mir nehmen wird.«

»Aber das ist doch Quatsch, Maria. Du wirst dich doch davon nicht beeindrucken lassen.«

»Eigentlich nicht, das weißt du auch, aber er klang wirklich böse.«

»Dass er böse und verletzt ist, kann ihm niemand verdenken. Aber alles andere ist bloßes Getrommel, damit du es dir anders überlegst, glaub mir.«

Sie antwortete nicht, sondern zog nur die Nase hoch.

»Weinst du?«

»Hab ich eben, ja. Am liebsten würde ich ihn anrufen und ihm sagen, was für ein kleiner, dummer Kerl er ist.«

»Aber weil du ein kluges Mädchen bist, lässt du es sein, ja?«

»Natürlich.«

»Warum bist du denn überhaupt drangegangen, als er angerufen hat?«

»Ich dachte doch, dass du es wärst. Kann ich denn ahnen, dass mein holder Herr Nochgemahl um diese Zeit mit mir sprechen will? Ich lag schon im Bett.«

»Und, gefällt’s dir?«

Sie überlegte. »Das Bett ist in Ordnung, aber über deine Einrichtung müssen wir dringend sprechen. Da geht ja das eine oder andere gar nicht.«

»Sehr gern. Jetzt leg dich wieder hin und versuch zu schlafen.«

»Wann kommst du nach Hause?«

»Sobald ich hier etwas klarer sehe. Vielleicht bin ich in einer Stunde zu Hause, vielleicht komme ich aber auch nur, um kurz zu duschen.«

»Wie du es machst, ist es richtig. Ich freue mich auf dich.«

»Ich mich auch auf dich. Bis dann.«

»Bis dann.«

 

»Das ist Frau Allmeroth, Paul«, wurde er von Hain begrüßt, als er die Küche betrat, in der noch immer die alte Frau und die Polizistin am Tisch saßen. »Alles klar?«

»Ja, alles klar«, antwortete der Hauptkommissar und gab der Frau die Hand.

«Guten Abend, Frau Allmeroth. Ich bin Hauptkommissar Lenz von der Kasseler Polizei.«

Sie erwiderte seinen Händedruck fest. »Guten Abend, Herr Kommissar.«

»Es tut mir leid, dass wir Sie jetzt noch belästigen müssen, aber es gibt ein paar Fragen, die dringend sind.«

»Das macht nichts«, erwiderte sie und fing wieder an zu weinen. »Er hat doch nie jemandem was getan. Warum macht man so was mit einem alten Mann wie ihm? Noch dazu an so einem Tag?«

Lenz und Hain sahen sich kurz an.

»Was ist denn für ein Tag, Frau Allmeroth?«

»Seine Frau ist heute Nachmittag beerdigt worden.«

Lenz hatte keine Ahnung, was er dazu sagen sollte, also hielt er den Mund.

»Frau Allmeroth hat mir erzählt«, begann die junge Polizistin, »dass Frau Bauer letzte Woche gestorben ist, nachdem sie viele Jahre gegen den Krebs gekämpft hat. In den letzten Monaten muss es wohl sehr schlimm gewesen sein, und Herr Bauer ist keine Sekunde von ihrer Seite gewichen. Er hat sie gepflegt bis zum Ende.«

Die alte Frau am anderen Ende des Tisches nickte traurig. »Das hat er. Und dann das. Wer macht denn so was?«

»Um das so schnell wie möglich herauszufinden, müssen wir Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen, Frau Allmeroth.«

Sie nickte wieder.

»Zunächst ist es wichtig, ob Ihnen im Lauf des Abends irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Ich meine, bevor Sie Herrn Bauer gefunden haben.«

Sie dachte einen Augenblick nach. »Nein, etwas Ungewöhnliches ist mir nicht aufgefallen. Wir waren auf der Beerdigungsfeier im Café Baumbach, etwa bis halb sieben. Dieter ist schon eine halbe Stunde früher nach Hause gegangen, weil er sich nicht wohlgefühlt hat. Als ich hier ankam, war da drüben aber nichts Ungewöhnliches zu sehen. Ich dachte, er hätte sich schlafen gelegt, das hat er in der letzten Woche immer ganz früh gemacht, weil ihm einfach die Kraft ausgegangen ist. Er war müde und erschöpft, weil er seine Frau so aufopfernd gepflegt hat.«

»Sie sind dann hier ins Haus gegangen?«, wollte Hain wissen, der sich Notizen machte.

»Ja. Ich hab mir noch eine Kleinigkeit zu essen gemacht und dann die Nachrichten geschaut. Ich glaube, so gegen Viertel vor neun bin ich vor dem Fernseher eingeschlafen. Es war halt ein langer und bedrückender Tag.«

»Das macht doch nichts«, beruhigte Lenz die Frau, »das passiert mir auch ab und zu. Wie ging es danach weiter?«

»Um Viertel nach eins wollte ich ins Bett, und dabei habe ich das Licht drüben gesehen. Das ganze Haus war hell erleuchtet.«

»Was ungewöhnlich gewesen ist?«

»Natürlich war das ungewöhnlich. Dieter ist immer ein sehr sparsamer Mensch gewesen, dem wäre es nie in den Sinn gekommen, im ganzen Haus das Licht anzuschalten.«

»Dann sind Sie rübergegangen?«, fragte der junge Oberkommissar weiter.

»Nein. Erstmal habe ich versucht, ihn anzurufen, aber er ist nicht drangegangen. Dreimal habe ich es durchklingeln lassen, dann wusste ich, dass etwas nicht stimmt. Also bin ich rüber und hab geklingelt, zuerst kurz, dann Sturm.«

»Und als er sich nicht gerührt hat, haben Sie sich den Notfallschlüssel geholt?«

»Was hätte ich denn machen sollen«, gab sie ängstlich zurück. »Ich war mir ganz sicher, dass da was passiert ist.«

»Aber Sie haben doch«, mischte Lenz sich wieder ein, »alles richtig gemacht, ganz besonders richtig sogar. Niemand macht Ihnen irgendeinen Vorwurf. Ohne Ihr mutiges Handeln hätten wir viel Zeit verloren, die uns bei der raschen Aufklärung unter Umständen fehlen würde, Frau Allmeroth.«

Sie atmete erleichtert durch. »Das ist schön, dass Sie das sagen, Herr Kommissar. Ich hatte mir nämlich schon große Sorgen gemacht, etwas Falsches getan zu haben.«

»Aber auf gar keinen Fall. Ganz bestimmt nicht. Nachdem Sie sich den Schlüssel geholt hatten, sind Sie ins Haus gegangen?«

»Ja, aber zuerst nur bis in den Flur. Da habe ich das viele Blut gesehen und es mit der Angst zu tun bekommen. Ich bin hierher zurückgelaufen und habe die Polizei informiert.«

»Dann sind Sie nicht noch einmal ins Nachbarhaus gegangen?«, wollte Hain wissen.

»Doch. Während ich auf die Polizei gewartet habe, dachte ich, dass er vielleicht Hilfe brauchen würde, bin ins Haus zurück und habe ihn dort liegen gesehen.« Wieder liefen Tränen über ihre faltigen Wangen. »Er hat so furchtbar ausgesehen, Herr Kommissar. So furchtbar. Und überall das viele Blut. Ich hätte nie gedacht, dass ein Mensch so viel Blut in sich hat.«

»Und dann kamen die Kollegen?«

Sie wischte sich mit dem Küchenkrepp über die Augen. »Ja. Es hat gar nicht lange gedauert, bis sie hier waren.«

»Waren Sie dabei«, wandte Lenz sich der jungen Uniformierten zu und las dabei ihren Namen von dem kleinen Schild auf der Brust, »Frau Bethmann?«

Diese nickte. »Ich war zusammen mit meinem Kollegen Linge als Erste am Tatort. Zunächst haben wir Frau Allmeroth aus dem Haus geführt, dann alle Räume gesichert. Inzwischen waren allerdings schon vier Streifenwagen vor Ort.«

»Irgendwas Auffälliges?«

Nun schüttelte sie den Kopf. »Nein. Es war rasch klar, dass der Todeszeitpunkt schon ein paar Stunden zurückliegt, deshalb haben wir sofort den KDD verständigt. Natürlich haben wir die nähere Umgebung abgesucht, leider ohne Erfolg.«

»Gut …«

Weiter kam der Hauptkommissar nicht, weil er vom Klingeln an der Haustür unterbrochen wurde. Er gab Hain ein Zeichen, der sich auf den Weg machte. Keine 20 Sekunden später stand er wieder in der Tür zur Küche.

»Das müssen wir uns ansehen, Paul«, erklärte er vielsagend und legte dabei die Stirn in Falten. Lenz verstand, dass er das Gespräch mit Frau Allmeroth beenden sollte.

»Ja, Frau Allmeroth, dann bedanken wir uns für Ihre Hilfe. Wenn wir noch etwas für Sie tun können, ist Frau Bethmann hier sicher die richtige Ansprechpartnerin.« Er stand auf, reichte der Frau die Hand und verließ die Küche.

»Die Kollegen haben jemanden geschnappt, der als Verdächtiger infrage kommt«, flüsterte Hain ihm auf dem Weg nach draußen zu.

Der Hauptkommissar sah seinen Kollegen irritiert an. »Wo denn das?«

»Keine Ahnung, aber wir werden es garantiert gleich erfahren.«

 

»Er war im Feld zwischen hier und Hertingshausen unterwegs«, klärte ein Uniformierter die Kommissare auf. »Mit dem Fahrrad«, fügte er hinzu.

Lenz warf einen Blick auf den Mann, der in Handschellen auf dem Rücksitz eines Streifenwagens etwa 15 Meter entfernt saß, konnte jedoch außer einem schemenhaften Gesicht nichts erkennen.

»Wir sind langsam auf den Feldweg eingebogen und haben ihn zuerst gar nicht gesehen. Offenbar ist er in den Graben gesprungen, hat aber sein Fahrrad dabei nicht ganz von der Straße räumen können. Das haben wir gesehen und angehalten. Als wir etwa zwei Meter neben ihm waren, wollte er abhauen, aber mein Kollege hat ihn nach etwa 30 Metern eingeholt und ist dann mit ihm zusammen aufs Feld gestürzt. Der Mann hat sich gewehrt wie ein Berserker, bis wir ihm die Handschellen anlegen konnten, aber von da an war er ganz ruhig.«

»Hat er schon was gesagt?«

»Nein, keinen Ton.«

»Hat er Papiere bei sich?«

»Nein.«

»Sie haben ihn durchsucht?«

»Natürlich.«

»Und? Irgendwas gefunden, das auf eine Tatbeteiligung hindeutet?«