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Dietrich Schulze-Marmeling

DER FALL ÖZIL

Über ein Foto, Rassismus
und das deutsche WM-Aus

Mit Beiträgen von Diethelm Blecking,
Robert Claus, Ilker Gündogan

VERLAG DIE WERKSTATT

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Coverabbildung: imago sportfoto
Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH

ISBN 978-3-7307-0433-2

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Vorwort

KAPITEL 1
Deutsche, Einwanderer und der Fußball

KAPITEL 2
Özil, Gündogan und die deutsche Nationalelf

KAPITEL 3
Ein Foto und seine Folgen

KAPITEL 4
Doppelpass: Türkischer Nationalismus und deutscher Rassismus

KAPITEL 5
Ex-Fußballer als Stammtischproleten

KAPITEL 6
In Russland

KAPITEL 7
Woran lag es? Ja, woran lag es?

KAPITEL 8
Kein Neuanfang

ANHANG
Botschafter wider Willen? Fußballer im Kontakt mit Politikern (Ilker Gündogan)

Deutsch dank Özil (Robert Claus)

Fußball und Migration in Deutschland (Diethelm Blecking)

Migrantische Ehrenliste der deutschen Fußballnationalmannschaft

Erklärungen von Mesut Özil und des DFB im Wortlaut

Autoren

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Fotos mit Folgen: Oben Ilkay Gündogan und Mesut Özil mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan im Mai 2018, unten Mesut Özil mit Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Länderspiel gegen die Türkei in Berlin, Oktober 2010. Fotos: Getty images (o), picture alliance (u)

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Prolog

„Wenn es gut läuft, sind wir Deutsche. Wenn es schlecht läuft, sind wir Ausländer.“

Jérôme Boateng

„Kennen Sie die Lebensgeschichte von Fibs??? Fibs ist eine Ratte, die im Pferdestall geboren wurde. Fibs ist aber kein Pferd. Ich werde es nie begreifen, warum Türken überhaupt in der Nationalmannschaft spielen dürfen.“

AfD-Sympathisant in einem Blog

„Die Pegida-Atmosphäre im Land hat nun auch Löws Truppe erreicht, die sich offensiv als Symbol für das moderne, multikulturelle Deutschland inszenierte, als kickende Willkommenskultur.“

Markus Feldenkirchen im „Spiegel“

„Was soll daran Rassismus sein, wenn man Fußballer für Fotos mit einem Despoten kritisiert? Nein, das ist sicher kein Rassismus. Aber viele Kommentare sind rassistisch. Diesen Teil der Debatte lassen sie beim DFB fast völlig an sich vorbeirauschen.“

Claudio Catuogno in der „Süddeutschen Zeitung“

„Viele junge Menschen mit Migrationsgeschichte werden jetzt das Gefühl haben, du bist nur so lange akzeptiert, solange du Leistung bringst. Dieses Gefühl wurde in den letzten Jahren immer wieder bestärkt, beispielsweise durch Debatten, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht. Viele Migrantinnen und Migranten sagen jetzt: Mesut spricht uns aus der Seele, denn wir machen diese Erfahrungen tagtäglich – und jetzt hat es sogar einen Nationalspieler erwischt.“

Serap Güler (CDU), Staatsekretärin im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen, zum Rücktritt von Mesut Özil

„Es sind vor allem die Interpretationen, die das Thema so emotional werden lassen – und diese Interpretationen deuten vielleicht wirklich auf ein verändertes Klima in der Gesellschaft hin. Was Mesut und Ilkay gemacht haben, ist das eine. Das andere ist, wie die Symbolik aufgegriffen wird – auch von Parteien und in Teilen der Medien, die sich mit den Themen beschäftigen, die in der Gesellschaft brodeln.“

Oliver Bierhoff

„Ich habe dem Bundespräsidenten gesagt, dass ich mich zu Deutschland und der deutschen Nationalmannschaft bekenne, aber durch meine Familie auch eine türkische Seite in mir habe. Ganz ehrlich, ich respektiere die Liebe meiner Eltern zu ihrer Heimat und zu ihrem Dorf, in dem auch meine Großeltern noch leben und das für meine Familie ein zweites Zuhause nach Gelsenkirchen ist. Ich verstehe die Kritik an meinem Handeln. Aber es hat mich persönlich sehr getroffen, mir vorwerfen zu lassen, dass ich unsere Werte nicht respektiere. Ich bin deutscher Staatsbürger, der die Nationalhymne singt. Aber was für mich viel wichtiger ist: Meine Kinder werden in diesem Land leben, das meiner Familie faire Chancen gegeben hat.“

Ilkay Gündogan

„Bei der Frage, ob ich für Deutschland oder die Türkei spielen wollte, musste ich mich festlegen. Da war diese Ausschließlichkeit logischerweise unumgänglich. Aber sonst gefällt mir dieses Drängen nicht. Man kann durchaus Teil zweier Kulturen sein. Man kann durchaus auf zwei Kulturen stolz sein. Ein Herz kann sowohl türkisch als auch deutsch schlagen. Man kann deutsch denken und zugleich türkisch fühlen. So funktioniert Integration. Mit gegenseitigem Respekt, wie bei einer starken Fußballmannschaft.“

Mesut Özil

„Heimat gibt es auch im Plural.“

Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident

Vorwort

Am Sonntag, 22. Juli 2018, eine Woche nach dem Finale der WM in Russland, trat Mesut Özil aus der deutschen Nationalmannschaft zurück. Özil war eine wichtige Säule des Teams gewesen, das den Fußball der Nationalelf auf ein neues Niveau gehoben hatte. Mit dem Ergebnis, dass Deutschland bei der WM 2010 Dritter und 2014 Weltmeister geworden war. In der Rangliste der deutschen Nationalspieler belegte Özil mit 92 Einsätzen Rang 21 – von den Spielern mit Migrationshintergrund liefen nur Lukas Podolski und Miroslav Klose noch häufiger für die DFB-Elf auf.

Für seinen Rücktritt machte Özil die rassistische Kampagne gegen seine Person verantwortlich: „Mit schwerem Herzen und nach langer Überlegung werde ich wegen der jüngsten Ereignisse nicht mehr für Deutschland auf internationaler Ebene spielen, solange ich das Gefühl von Rassismus und Respektlosigkeit verspüre.“ Özil kritisierte scharf den DFB-Präsidenten Reinhard Grindel, der keinerlei Anstalten unternommen hatte, den Spieler gegen rassistische Attacken öffentlich zu schützen, sondern die Stimmung gegen ihn eher noch geschürt hatte.

Ausgangspunkt war ein Fotoshooting von Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Erdogan gewesen. Einige Wochen vor dem Anpfiff der WM 2018 hatte diese Aktion für Aufregung gesorgt und die Turniervorbereitung überschattet. Die demokratische Öffentlichkeit war empört, dass sich die beiden Fuß-baller in den Dienst von Erdogans Wahlkampf gestellt hatten. Zumal bei einem Wahlsieg des Autokraten das endgültige Ende des Rechtsstaats in der Türkei drohte. Zudem hatte einer der Spieler Erdogan auch noch „mein Präsident“ genannt, was vor allem den nationalistischen Teil der Öffentlichkeit auf die Barrikaden trieb – und somit ausgerechnet jenen Teil, der mit Demokratie wenig am Hut hat.

DFB-Präsident Reinhard Grindel gab nach dem Treffen der beiden Nationalspieler mit Erdogan zu bedenken: „Der Fußball und der DFB stehen für Werte, die von Herrn Erdogan nicht hinreichend beachtet werden.“ Was diese Werte waren, blieb unklar. Sofern es sich dabei um Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sowie Anti-Diskriminierung handelte, hatten auch andere Akteure des nationalen Fußballs diese „Werte“ nicht hinreichend beachtet. So beispielsweise „Ehrenspielführer“ Lothar Matthäus, der keine Probleme mit Fotoshootings mit Wladimir Putin, Viktor Orban und dem tschetschenischen Tyrannen Ramsan Achmatowitsch Kadyrow hatte. Aber während ernsthaft diskutiert wurde, Özil und Gündogan aus dem WM-Kader zu streichen, kam niemand auf die Idee, Lothar Matthäus den Titel „Ehrenspielführer“ zu entziehen.

Natürlich durfte man darüber diskutieren, ob es nicht richtig wäre, Özil und Gündogan daheim zu lassen, nachdem sie einem Autokraten die Ehre erwiesen hatten. Was eine Premiere gewesen wäre, denn bis dahin war die politische Gesinnung eines Nationalspielers Privatsache. Man hätte dann aber konsequenterweise alle Nationalspieler einer Gesinnungsprüfung unterziehen müssen. Einschließlich der Frage, wie sie zu den Regimen in Russland, Saudi-Arabien, Katar, der Türkei etc. stehen. Und Özil und Gündogan hätte man fragen müssen, was sie vom bundesdeutschen Rechtsstaat halten. So aber hatte die Debatte von vornherein etwas durch und durch Bigottes.

Nach dem Foto mit Erdogan kam es in Berlin zu einem Treffen der beiden Nationalspieler mit Bundestrainer Jogi Löw, DFB-Manager Oliver Bierhoff und DFB-Boss Grindel. Anschließend schien es so, als sei die Sache für die DFB-Führung und die Spieler ausgestanden. Aber der Konflikt hatte längst eine nicht mehr zu stoppende Dynamik entwickelt. Denn die Frage: „Wie halte ich es mit dem Autokraten Erdogan?“, wurde im Netz und mit Einschränkungen auch im Stadion von einer rassistischen Stimmung überlagert. Die in Deutschland lebenden Bürger türkischer Herkunft waren bereits in den 1970ern und 1980ern die Zielscheibe rassistischer Attacken gewesen. „Türke“ wurde zum Synonym für Ausländer. Ich habe in den 1970ern und 1980ern viele Samstage in den Kurven von Bundesligastadien verbracht – Hass auf „die Türken“ war hier allgegenwärtig, auch wenn weit und breit kein Türke zu sehen war. Nicht auf den Rängen und kaum auf dem Spielfeld (die Ausnahme war damals Erdal Keser, der für Borussia Dortmund spielte). Der gegen Özil gerichtete Rassismus war nicht neu und der DFB-Führung bestens bekannt. Schon vor der WM hatte kein anderer Spieler von deutschen Fans so viel Rassismus zu spüren bekommen wie Mesut Özil. Erstmals öffentlich wurde dies bei der EM 2012.

Nun kam noch ein sportlicher Misserfolg hinzu. Bei der WM in Russland schied die deutsche Nationalelf als Titelverteidiger bereits in der Vorrunde aus. Die Medien sprachen nach gut 270 Minuten Turnierfußball von einem „historischen Debakel“, der „größten Pleite in der WM-Geschichte“, einem „Albtraum“, ja sogar von einem „Untergang“. Das „Fußball-Volksgericht“ forderte die Köpfe von Bundestrainer Jogi Löw und DFB-Manager Oliver Bierhoff. Die beiden „deutsch-türkischen“ Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan sollten gefälligst auch gehen, denn mit ihnen habe der ganze Mist angefangen.

Dass Deutschland 2014 mit einer „multi-ethnischen“ Mannschaft Weltmeister wurde, dass die Rückkehr der DFB-Elf in die Weltspitze und die Verbesserung ihrer Spielkultur viel mit der Öffnung des Teams gegenüber Einwandererkindern zu tun hatte, war nicht nach dem Geschmack aller Fußballfans gewesen. Hier verhielt es sich ähnlich wie im Falle der „Flüchtlingskrise“, wo zunächst nur die „Willkommenskultur“ hör- und sichtbar war und ein breiter Konsens bezüglich der Aufnahme von Flüchtlingen zu existieren schien. Bevor sich Rechtspopulisten und Rechtsextremisten immer lautstärker und massiver in den öffentlichen Diskurs einmischten – so lange, bis sie dessen Richtung bestimmten.

2014, auf dem Höhepunkt des „deutschen Fußballwunders“, schien nicht nur die Spielweise der Löw-Elf, sondern auch das Mitwirken von Einwandererkindern auf einen breiten Konsens zu stoßen. 2018 war dies nicht mehr der Fall. Die rechtspopulistische Welle, die über Europa schwappte, machte auch vor der deutschen Nationalmannschaft nicht halt. Aber Deutschland stand damit nicht allein. Auch in der Schweiz und Dänemark wurde über das Mitwirken von Einwandererkindern diskutiert, obwohl die Nationalmannschaften beider Länder davon profitierten. In Frankreich sowieso, aber dort war der Gewinn der WM zunächst einmal „ein Schlag in die Fressen von rechten Identitären, von Rassist/innen und populistischen Giftmischern wider die republikanische Moderne in Frankreich selbst“, wie Jan Feddersen in der „taz“ schrieb. Kylian Mbappé oder Samuel Umtiti seien „Repräsentanten jenes modernen Landes, das nicht mehr allein hellhäutig und privilegiert ist. Aber sie haben den Aufstieg zu Ruhm und Glorie selbst gewollt, sie haben sich nicht einschüchtern lassen, sie haben sich selbst ermächtigt, ihr Land zu repräsentieren – weltmeisterlich.“

Anstatt seine Spieler gegen die rassistischen Angriffe offensiv in Schutz zu nehmen, forderte DFB-Präsident Reinhard Grindel, Özil müsse sich zu Erdogan äußern. So hielt Grindel das Thema auch noch zwei Monate nach dem fatalen Fotoshooting am Kochen – mit einem Verweis auf einen veränderten „Resonanzboden für das Thema Integration“, sprich: den Vormarsch von Rechtspopulismus und Rechtsex -tremismus. War Grindel von allen guten Geistern verlassen, ein Opportunist ohne große Skrupel, oder verfolgte er ein politisches Kalkül, wie manche mit Verweis auf seine politische Karriere mutmaßten? Im deutschen Bundestag hatte der CDU-Abgeordnete Grindel den Ruf eines „Rechtsaußen“ genossen. Anlässlich seines Vorgehens im Fall Özil erinnerte sich der Grünen-Politiker Özcan Mutlu, ebenfalls Bundestagsmitglied, an eine Rede, die Grindel 2013 zum Thema „Doppelte Staatsbürgerschaft“ gehalten hatte. „Was Grindel da von sich gab, war nicht nur tendenziös. Es war reinster AfD-Sprech, bevor es diese Partei überhaupt gab.“

Es war das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Nationalspieler öffentlich von der Führung seines Verbands zu einem politischen Statement aufgefordert wurde. Zu einem Statement gegen ein Staatsoberhaupt, dessen Herrschaft die Bundesregierung mit Geld und Waffen stabilisierte. (Im Schatten der Özil-Debatte ließ die Bundesregierung ihre Türkei-Sanktionen auslaufen…) Grindels Message war verheerend. Ein Rücktritt Özils war nun unausweichlich. Und fortan musste sich ein türkischstämmiger Spieler noch genauer überlegen, ob er für die Auswahlteams des DFB auflaufen will. Warum soll man ein Publikum bespaßen, das einen nicht mag? Und warum soll man für einen Verband spielen, der bei rassistischen Angriffen kein Rückgrat zeigt, populistischen Stimmungen Rechnung trägt und einen bei Misserfolg zum Sündenbock abstempelt?

In einem Interview mit dem „Kölner Stadtanzeiger“ ließ Baha Güngor, ein in Köln lebender türkisch-deutscher Journalist, seinem Frust freien Lauf: „Mesut Özil hat einen riesengroßen Fehler gemacht, sich von einem Despoten missbrauchen zu lassen vor den Wahlen in der Türkei. Aber was daraus gemacht wurde, ist ein gesellschaft-liches Armutszeugnis.“ Özil erleide nun das Schicksal von hunderttausenden türkischstämmigen jungen Menschen in Deutschland, die sich total integriert hätten, die aber, „weil sie sich eben auch zu ihren türkischen Wurzeln bekennen, immer wieder zwischen die Fronten geraten. Das ist etwas, das jeder normale Türkischstämmige erlebt, dass er immer wieder aufgefordert wird, sich zu einer Seite zu bekennen.“ Die Gesellschaft in Deutschland gestehe ihnen nicht zu, „beides zu sein: deutsch und türkisch und sich zu beiden Wurzeln zu bekennen“. Die DFB-Oberen hätten der Integration in Deutschland einen Bärendienst erwiesen. „Ich glaube, dass Mesut Özil eine vorbildhafte Figur für junge Deutschtürken war. Aber damit ist es jetzt vorbei.“

Der Rassismus, mit dem Özil seinen Rücktritt begründete, war von der allgemeinen politischen Entwicklung in Deutschland nicht zu lösen. Weshalb Christian Spiller auf Zeit.online schrieb: „Im Jahr 2018 tritt ein deutscher Nationalspieler wegen Rassismus zurück. Was ist nur los mit diesem Land? Mesut Özils Rückzug ist ein fatales Signal in einer besorgniserregenden Zeit.“ In der „taz“ betrachtete Jan Feddersen den Rücktritt als Indiz für einen größeren Kulturkampf: „Özils wütender Hilferuf ist auch ein Symbol für die Wünsche im DFB (und Deutschland), aus der Fußballmannschaft wieder eine kernige Truppe früherer Tage zu gestalten – ohne ‚Multikulti-Kuddelmudel‘.“ Auch die Politik meldete sich zu Wort. Bundesjustizministerin Katarina Barley: „Es ist ein Alarmzeichen, wenn sich ein großer deutscher Fußballer wie Mesut Özil in seinem Land wegen Rassismus nicht mehr gewollt und vom DFB nicht repräsentiert fühlt.“

Einen Tag nach Özils Rücktritt veröffentlichte das DFB-Präsidium eine Erklärung und wies darin den Rassismus-Vorwurf „in aller Deutlichkeit“ zurück – „mit Blick auf seine Repräsentanten, Mitarbeiter, die Vereine, die Leistungen der Millionen Ehrenamtlichen.“ Des Weiteren wurde die Verleihung des Integrationspreises und die Kampagne „1:0 für ein Willkommen“ erwähnt, mit deren Hilfe Zehntausende Flüchtlinge in die Fußballfamilie integriert worden seien. Der DFB habe in den vergangenen 15 Jahren „eine vielschichtige Integrationsarbeit etabliert, die bis in die Amateurvereine wirkt“. Diese Dinge hatten aber weder Özil noch sonst jemand angegriffen. Es ging um das konkrete Verhalten von Reinhard Grindel, der sich nun, mittels dieser Erklärung, hinter der Arbeit der Basis versteckte.

Ansonsten wurde lediglich bedauert, „dass Mesut Özil das Gefühl hatte, als Ziel rassistischer Parolen gegen seine Person nicht ausreichend geschützt worden zu sein, wie es bei Jérôme Boateng der Fall war.“ Soll heißen: Wenn Mesut dieses Gefühl hat, ist das sein Problem, hat aber nichts mit uns zu tun. Keine Spur von Schuldbewusstsein, das der DFB seinerseits vom Spieler in der Foto-Frage permanent gefordert hatte. Für das Präsidium war nicht Özil das Opfer, sondern der Verband, der durch den Rassismus-Vorwurf diskreditiert werde.

Der Rassismus gegen Özil blieb für den DFB weiterhin nicht wirklich ein Thema. Dem Spieler wurde nach seinem Statement ein Mangel an Selbstkritik vorgeworfen. Für den DFB galt dies zumindest im gleichen Maße. An keiner Stelle ging die Erklärung konkret auf Özils Vorwürfe ein. Stattdessen erzählte das Präsidium, was für ein toller Verband der DFB sei. Und machte klar, „dass die Beachtung der im Grundgesetz verankerten Menschenrechte, das Eintreten für Meinungs- und Pressefreiheit sowie Respekt, Toleranz und Fair Play, ein Bekenntnis zu diesen Grundwerten (…) für jede Spielerin und für jeden Spieler erforderlich (sei), die für Deutschland Fußball spielen“.

Hehre Worte. Wenn das von den aktiven Spielern erwartet wird, so muss man es von Funktionären und Altgedienten erst recht verlangen. Im Vorfeld der WM 2022 in Katar darf man also auf den großen Auftritt des Menschenrechtlers Grindel hoffen. Auch dürfte es nur noch eine Frage von Wochen sein, bis Lothar Matthäus wegen seiner Zusammenkünfte mit diversen Despoten die Binde des Ehrenspielführers der Nationalmannschaft abgeben muss.

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Der „Fall Özil“ war für mich auch eine Reise in meine Vergangenheit, die Anlass gab, die eigene Ignoranz zu begutachten. Ich bin in einer kleinen Industriestadt aufgewachsen, in der während meiner Jugendjahre ein Schwung türkischer Gastarbeiter eintraf, die nun im lokalen Bergbau arbeiteten. Die Neuankömmlinge wurden in Häuser eingepfercht, die dem berüchtigten Immobilienhai Günter Kaußen gehörten. Wir demonstrierten gegen Kaußen und für bessere Lebensbedingungen der türkischen Gastarbeiter, kannten aber die Menschen nicht, für die wir uns engagierten.

Später lasen wir Günter Wallraffs aufrüttelnden Bestseller „Ganz unten“, in dem er die Situation türkischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik schilderte, die von Ausbeutung, Ausgrenzung, Missachtung und Hass geprägt war. Wallraff schrieb in seinem Vorwort: „Ich weiß immer noch nicht, wie ein Ausländer die täglichen Demütigungen, die Feindseligkeiten und den Hass verarbeitet. Aber ich weiß jetzt, was er zu ertragen hat und wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann. Ein Stück Apartheid findet mitten unter uns statt – in unserer ‚Demokratie‘.“ Wallraff hatte sich für seine Recherchen als Türke Levent (Ali) Sigirlioglu verkleidet. Als er sich gemeinsam mit seinen deutschen Arbeitskollegen ein Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen die Türkei anschaute, feuerte er nur die DFB-Elf an. Trotzdem konfrontierten ihn die Kollegen mit Rufen wie „Sieg Heil“, „Deutschland den Deutschen“ und „Türken raus“. Wallraff alias Sigirlioglu wurden Zigaretten ins Haar geworfen und Biere über den Kopf gegossen.

Wenn wir ehrlich sind: Mindestens 90 Prozent von uns und auch den deutschen Staat hat es nie wirklich interessiert, wie die drei Millionen türkischstämmigen Mitbürger denken und leben, welche Alltagserfahrungen sie machen. Wie die Diskussion um einen EU-Beitritt der Türkei bei den „Deutschtürken“ ankam, was die Brandstiftungen von Mölln und Solingen sowie die NSU-Morde in der türkischstämmigen Community auslösten, hat auch kaum jemanden interessiert. Was türkische Nationalisten und Islamisten treiben, war ebenfalls lange Zeit nicht wirklich ein Thema – schließlich gehörten diese ja nicht zu uns.

Wir kritisieren die Existenz von Parallelgesellschaften, leben aber selber in solchen. Ansonsten wüssten wir mehr über andere soziale und kulturelle Milieus und über unsere türkischstämmigen Mitbürger. Es sagt schon so einiges über die eigene Person aus, wenn es erst eines Erdogan und der Fehltritte von Nationalspielern türkischer Herkunft bedarf, damit man sich etwas ernsthafter mit der Situation von drei Millionen Mitbürgern befasst.

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Ich hatte im Manuskript dieses Buches Özil, Gündogan und andere pauschal als „Deutschtürken“ bezeichnet – unabhängig von der Frage, ob die angesprochene Person deutscher oder türkischer Staatsbürger ist. Um auf den Migrationshintergrund (ein weiterer schrecklicher Begriff) der Familie hinzuweisen, der Einfachheit halber, vor allem aber: weil mir nichts Besseres einfiel.

Dann belehrte mich Lektor Bernd Beyer (und ich zitiere ungeglättet aus seiner Mail): „Der Begriff ist insofern unpräzise, als normalerweise (und entsprechend den ‚Wortbildungsregeln‘) die zweite Hälfte des Doppelbegriffs die wesentliche Charakterisierung beinhaltet, also in diesem Fall auf die tatsächliche Nationalität/ Staatsbürgerschaft verweisen soll, während die erste Hälfte hier die Region benennt, zu der dieser Personenkreis eine besondere Beziehung hat, also z.B. Afroamerikaner oder Deutschamerikaner. Deshalb wurde der Begriff ‚Deutschrussen‘ auch abgelehnt, weil er eigentlich beinhaltete, dass die Genannten Russen seien. Man nennt sie also ‚Russlanddeutsche’, was auch nicht super klingt, aber präziser und weniger diskriminierend ist. In diesem Sinn stimmt ‚Deutschtürken‘ eigentlich nur für Türken, die in Deutschland leben, aber keine deutschen Staatsbürger sind. Solche mit deutscher Staatsbürgerschaft sind eigentlich ‚Türkendeutsche‘. Der Begriff ‚Deutschtürken‘ betont demgegenüber eine dominierende Identität als ‚Türken‘. Du verwendest ‚Deutschtürken‘ als Oberbegriff für beide Gruppen, die in Deutschland lebenden Türken und die Deutschen mit türkischen Wurzeln. Dies folgt sicherlich dem normalen Sprachgebrauch, zu dem Wikipedia allerdings Folgendes anmerkt (und dabei ausgerechnet Mesut Özil zitiert ...): ‚Abweichend bezeichnet der Begriff ‚Deutschtürke‘ Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die in Deutschland leben. Der Begriff wird von Sozialwissenschaftlern als zum Teil desintegrativ bewertet, da mit diesem Begriff bezeichnete Menschen selbst nach Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin in erster Linie als Türken wahrgenommen würden. Dagegen verwahrt sich z. B. der für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft spielende Mesut Özil: Nur er werde in der Öffentlichkeit nicht als ‚Deutscher‘ bezeichnet; niemand komme hingegen auf die Idee, z.B. Sami Khedira als ‚Deutsch-Tunesier‘ oder Lukas Podolski als ‚Deutsch-Polen‘ zu bezeichnen.’ Da hat er eigentlich recht, der Mesut.“

Stimmt. Das Problem, bei dem mir auch Lektor Bernd Beyer nicht so recht helfen konnte: Es gibt keinen passenden Kurzbegriff für „Deutsche mit türkischen Wurzeln“. Weshalb wir in diesem Buch etwas herumlavieren. Bei Menschen mit türkischer Staatszugehörigkeit, die in Deutschland leben, blieb es bei „Deutschtürken“, in Zitaten natürlich auch. Bei deutschen Staatsangehörigen mit türkischen Wurzeln suchten wir jeweils nach halbwegs passenden Umschreibungen. Ebenso, wenn beide Gruppen gleichzeitig gemeint waren. Eine wirklich gute Lösung scheint es nicht zu geben. Vielleicht wäre es eine sinnvolle Aufgabe für die Gesellschaft für deutsche Sprache e.V.

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Dieses Buch widmet sich nicht nur der Diskussion um die Erdogan-Affäre und den Hintergründen des Özil-Rücktritts, sondern versucht auch, die sportlichen Gründe für das Scheitern der deutschen Elf bei der WM 2018 zu analysieren. Das rasche Aus kam für mich überraschend nur in der Form, in der es geschah. Und ich empfand es als weitaus weniger dramatisch als den „Fall Özil“ und dessen mögliche gesellschaftspolitische Folgen.

Zum Schluss möchte ich mich noch bei einigen Menschen bedanken, die in unterschiedlicher Weise zu diesem Buch beigetragen haben. Dazu zählt vor allem Kaya Gercek, der wie ich aus Kamen kommt und hier zehn Jahre im Stadtrat und Integrationsrat saß. Ehemals Anwalt, arbeitet Kaya heute als Projektmanager im Kulturbereich und engagiert sich im KulturForum TürkeiDeutschland. Kaya hat mir sehr geholfen, die türkischstämmige Community besser zu verstehen. Auch die Essays des Politikwissenschaftlers Mahir Tokatli waren für mich sehr hilfreich, wie auch die Beiträge vieler Journalistenkollegen und Diskussionen mit Facebook-Kontakten. Mein Lektor Bernd Beyer hat nicht nur lektoriert, sondern auch mitdiskutiert. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihm einen Änderungs- oder Ergänzungswunsch abgeschlagen hätte. Das sagt eigentlich schon alles.

23. Juli 2018 Dietrich Schulze-Marmeling

KAPITEL 1          

Deutsche, Einwanderer und der Fußball

Nicht nur die Politik, auch der DFB tat sich mit der Tatsache, dass Deutschland zum Einwanderungsland wurde, lange Zeit schwer. Noch 1989 sprach der Verband die Empfehlung aus, in den Jugendauswahlmannschaften der Landesverbände von 1990 an nur noch Fußballer spielen zu lassen, die deutscher Abstammung waren. Die Handhabe dafür bot ihm das damalige Staatsbürgerrecht, das noch allein auf dem Abstammungsprinzip („Blutrecht“ / „Jus sanguinis“) aufbaute. Dies bedeutete, dass ein Kind bei der Geburt nur dann die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt, wenn es einen deutschen Vater oder eine deutsche Mutter hatte.

Ohne Not schränkte der DFB damit die geltende Praxis ein. Bis dahin galt unter den Regionalverbänden die unverbindliche Abmachung, dass zwei „ausländische“ Jugendliche pro Auswahl mitspielen durften. Mit seiner Empfehlung – die keineswegs nur aus dem Ausland transferierte Spieler, sondern auch und gerade die in der Bundesrepublik aufgewachsenen Einwandererkinder betraf und ausgrenzte – erntete der DFB heftigen Protest. Weniger weil der Verband den Integrationscharakter des Sports infrage stellte, sondern vor allem weil diese Ausgrenzung der Situation in vielen Vereinen und Landesverbänden nicht gerecht wurde, wo bereits zahlreiche Einwandererkinder kickten.

Die DFB-Spitze sah sich daher genötigt, ihre Empfehlung zu relativieren. Präsident Hermann Neuberger: „Schon jetzt gibt es Landesverbände, bei denen 30 bis 40 Prozent aller Jugendlichen Ausländer sind. Durch die zukünftige freie Arbeitsplatzwahl in der EG wird sich diese Zahl eher verstärken als abschwächen. Noch mehr als bisher müssen sich unsere Vereine den ausländischen Mitbürgern öffnen.“

Die deutsche Elf den Deutschen

Die Nationalmannschaft allerdings wollte Neuberger, der aus seinen national-konservativen Ansichten keinen Hehl machte, von dieser Öffnung ausnehmen. „Es ist eine Identitätsfrage des Fußballsports, dass er überwiegend von Angehörigen der eigenen Nation ausgeübt wird. Dies gilt mit Selbstverständnis für die Nationalmannschaft. Er erhält seine Eigenart und damit seine Akzeptanz gerade durch das ausschließlich oder stark überwiegende nationale Element.“ Formal war es natürlich immer so, dass nur Spieler mit deutschem Pass für die Nationalelf auflaufen konnten. Neubergers Formulierungen zeigten allerdings, dass er das staatsbürgerliche „Blutrecht“ auch für die Nationalelf gewahrt wissen wollte.

1988 war die DFB-Elf bei der EM im eigenen Land im Halbfinale an den Niederlanden gescheitert. Mit Ruud Gullit, Frank Rijkaard und Gerald Vanenburg standen beim späteren Europameister drei Spieler mit surinamischem Hintergrund auf dem Feld. Der Nachbar des Autors, geboren in den 1930ern, war der Auffassung, die Niederländer hätten „Foul Play“ gespielt: „Die haben einfach Neger mitspielen lassen.“

Bei der WM 1998 scheiterte die DFB-Auswahl im Viertelfinale an Kroatien. Weltmeister wurde Frankreich, auch dank eines multikulturellen Teams. Während der EM 1996 hatte der französische Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen die „rassische Zusammensetzung“ des französischen Nationalteams kritisiert. Das Team trage „künstlichen Charakter“. Spieler wie Lamouchi, Zidane, Djorkaeff, Lizarazu, Pedros, Angloma, Karembeu und Lama bezeichnete Le Pen als „Ausländer“. Sie hätten die französische Nationalität nur gewählt, um international Fußball zu spielen. Einige von ihnen würden nicht die Marseillaise singen oder deren Text sichtlich nicht kennen.

Bei der WM 1998 war Frankreichs WM-Kader der bis dahin wohl ethnisch differenzierteste und multikulturellste der WM-Geschichte. Lama wurde in Guyana geboren, Angloma in Guadeloupe, Karembeu in Neu-Kaledonien, Desailly in Ghana und Vieira im Senegal. Thuram kam zwar in Frankreich zur Welt, seine Mutter stammte aber aus Guadeloupe. Zidanes Eltern waren Berber aus Marokko, Djorkaeffs Mutter kam aus Armenien, sein Vater gehörte der Kalmouk-Minderheit in der ehemaligen UdSSR an. Barthez hatte eine spanische Großmutter, Lizarazu drei spanisch-baskische Großeltern. Die Eltern von Henry und Diomède kamen aus Guadeloupe. Boghossian war armenischer Herkunft, Trezeguet hatte einen argentinischen Vater.

In Frankreich war der Triumph des Multikulti-Teams ein Schlag ins Gesicht von Le Pen und seinen Rechtsradikalen. Aus den Nationalfarben „bleu-blanc-rouge“ (Blau-Weiß-Rot) wurde über Nacht „black-blanc-beur“ – Schwarz, Weiß und die dunkle Tönung der maghrebinischen Einwanderer, der „beurs“. Zidane erklärte den Titel zur „schönsten Botschaft, die wir schicken konnten“, wobei er als Adressaten Le Pen meinte. Für das Magazin „Spiegel“ hatte das französische Team der ganzen Welt demonstriert, „dass Rassenvielfalt ein nationales Guthaben sein kann, wenn alle gemeinsam ein Ziel verfolgen“, und dass der Fußball unverändert eine wichtige Funktion als Immigrantensport erfülle. Die siegreiche „Équipe Tricolore“ wurde zum Symbol eines neuen Republikanismus und der Überlegenheit republikanischer Werte. Für Staatspräsident Chirac hatte „Frankreich seine Seele wiedergefunden“. Der Philosoph Pascal Bruckner sah ein Land aus einer „Depression“ heraustreten, die Frankreich zehn Jahre lang niedergedrückt habe. „Der Sieg wird wahrgenommen wie eine Wiedergeburt unserer selbst nach einer Periode der Finsternis.“ Der Schriftsteller Jean d’Ormesson von der Académie Française kam zu der Erkenntnis, der Fußball sei das „konstitutive Element – vielleicht das einzige – eines neuen Gesellschaftsvertrags“.

Der DFB bewegt sich

Vieles von dem, was nach dem Triumph von „black-blanc-beur“ geäußert wurde, war mehr Wunsch als realistische Einschätzung. Allerdings forcierte die WM 1998 die Diskussion um die Integration von Einwandererkindern in die Teams des DFB. Der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit forderte, von Frankreich zu lernen: „In den Fuß-ballklubs sind drei Viertel aller Mitglieder Migrantenkinder. Diesen wurde aber lange Zeit verweigert, deutsche Staatsbürger zu werden. Deswegen haben wir keinen Zinédine Zidane in der Nationalmannschaft. Wir brauchen aber viele tausend talentierte Jungs, die träumen, für Deutschland zu spielen, um einen Zidane zu haben.“

Auch Ottmar Hitzfeld, damals Trainer des FC Bayern, forderte eine stärkere Berücksichtigung von in Deutschland lebenden Ausländerkindern beim Neuaufbau der Nationalmannschaft: „Holländer und Franzosen haben die Kinder von Einwanderern in ihrer Mannschaft. In Deutschland leben Türken, Afrikaner und Osteuropäer. Gucken Sie sich unsere Jugendmannschaften an: Die bestehen zu 50 Prozent aus Ausländerkindern. Wir verzichten also auf die Hälfte unseres Potenzials, wenn es von vornherein ausgeschlossen ist, die für Deutschland spielen zu lassen.“

In erster Linie war dies eine politische Herausforderung, denn die DFB-Elf repräsentierte exakt das bis dahin gültige, indes von der Realität hoffnungslos überholte Staatsbürgerrecht. Für die Nationalmannschaft durfte weiterhin nur spielen, wer eine „Blutsverbindung“ nach Deutschland nachweisen konnte. In diesem Sinne war die Komposition der Nationalelf auch eine verheerende Message an rechtsradikale Hooligans. Während ihre Klubteams bereits von „Ausländern aller Art durchsetzt“ waren, glänzte das Antlitz des DFB-Teams noch „weiß und deutsch“ – die Nationalmannschaft war für die Rechten die letzte Bastion „echten Deutschtums“ in einer sich internationalisierenden Umwelt. Beim WM-Turnier 1998 hatte die DFB-Elf im Vergleich zu einigen anderen Nationalteams wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten gewirkt.

Was beim DFB zu dieser Problematik geäußert wurde, war teilweise an Peinlichkeit nicht zu überbieten. So bejammerte DFB-Vizepräsident Mayer-Vorfelder mit Blick auf die Teams der Niederlande, Englands und Frankreichs den Verlust der deutschen Kolonien. Ansonsten würden „Südwestafrikaner“ im deutschen Team spielen.

Italiener, Jugoslawen, Polen – und der erste Türke

Nach der WM 1998 begann sich der DFB vorsichtig zu öffnen. Wobei die ersten Aktionen aufgesetzt und dilettantisch wirkten. Der in den Bundesligaspielzeiten 1995/96 und 1996/97 zu den Toptorjägern zählende (weiße) Südafrikaner Sean Dundee (Karlsruher SC) war 1997 im Eilverfahren eingebürgert worden. Im DFB-Team kam er allerdings über einen Platz auf der Ersatzbank nicht hinaus. Auch Paulo Rink (Bayer Leverkusen), in Brasilien geboren, wo er auch bis zu seinem 24. Lebensjahr lebte und kickte, erhielt den deutschen Pass. Rink konnte einen deutschen Großvater vorweisen, und für Brasiliens Seleção reichten seine Fußballkünste nicht. Für die deutsche Nationalelf ebenfalls nicht, wenngleich er auf 13 Länderspiele kam, das erste davon im September 1998. In zehn dieser Spiele wurde Rink lediglich eingewechselt. Beim Confederations Cup 1999 in Mexiko feierte mit Mustafa Dogan (Fenerbahce Istanbul) dann erstmals ein Spieler türkischer Herkunft seinen Einstand im DFB-Team. Das war 38 Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei (1961), das die Fortsetzung des deutschen Wirtschaftswunders ermöglicht hatte.

Der 21-malige U21-Nationalspieler Dogan, der als Zweijähriger nach Deutschland gekommen war, hatte seine Nominierung der großen Personalnot zu verdanken. Viele Spieler hatten wenig Lust auf die Reise. Und die Bundesligisten sahen ihre Saisonvorbereitung torpediert und drängten Bundestrainer Ribbeck zum Verzicht auf mehrere seiner Stammspieler. So durfte Dogan am 30. Juli 1999 bei der 0:2-Niederlage gegen die USA als Einwechselspieler mitwirken. Es folgte nur noch eine einzige Länderspielminute – ausgerechnet gegen die Türkei in der Qualifikation zur EM 2000, als Dogan in der 89. Minute für Bernd Schneider ins Spiel kam. Im Februar 2000 feierte der junge Zoltan Sebescen (VfL Wolfsburg) sein Debüt im Nationaltrikot, bei dem es allerdings auch bleiben sollte. Die Eltern des im Schwabenland geborenen Sebescen waren ungarischer Herkunft.

Parallel zu dieser Entwicklung wurde 1999 ein Staatsangehörigkeitsgesetz verabschiedet, das am 1. Januar 2000 in Kraft und an die Stelle des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 trat. Erstmalig in der deutschen Rechtsgeschichte wurde im Staatsbürgerschaftsrecht das Abstammungsprinzip („Jus sanguinis“) durch Elemente des Geburtsortsprinzips („Jus soli“) ergänzt. Dies bedeutete: Ein Kind ausländischer Eltern, das in Deutschland geboren wird, erhielt neben der Staatsangehörigkeit seiner Eltern automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft – sofern zumindest ein Elternteil zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes seit acht Jahren rechtmäßig in Deutschland gelebt hatte und über eine Aufenthaltsberechtigung oder seit drei Jahren über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügte.