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Das Buch

Helena Brandes, beruflich erfolgreich und als Person beliebt, verschwindet eines Tages spurlos. Weder die Suche ihres Mannes Jonathan noch die Ermittlungen der Polizei ergeben irgendeinen brauchbaren Hinweis, Helena bleibt verschwunden.

Durch einen merkwürdigen Zufall erfährt Jonathan, dass seine Frau unheilbar krank ist, was sie ihm verschwiegen hatte. Dann wird er von einer Hackergruppe kontaktiert, die ihm erklärt, dass Helena sich heimlich der obskuren Organisation des öffentlichkeitsscheuen US-amerikanischen Milliardärs Norman Muller angeschlossen hat. Dort wird vordergründig Sterbehilfe angeboten, aber der Milliardär verfolgt in Wirklichkeit ganz andere Absichten. Seine private Forschungseinrichtung befasst sich mit mysteriösen Experimenten, um den Mitgliedern eines elitären Geheimbundes von Superreichen mittels Computertechnik und Robotik einen „Personality-Download“ und damit ein Weiterleben nach dem Tod zu ermöglichen.

Hätte das Forschungsprojekt Erfolg, würde es die gesamte Industrie um das Thema „Künstliche Intelligenz“ revolutionieren. Doch auch andere Akteure interessieren sich für die monströsen Experimente, um die Ergebnisse an die Rüstungsindustrie zu verkaufen. Währenddessen versucht die Hackergruppe, die dubiosen Aktivitäten des Milliardärs ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren.

Als Jonathan und seine Tochter Claire trotz eindeutiger Drohungen seitens Mullers „Organisation“ ein riskantes Rettungsmanöver für Helena unternehmen, entdecken sie Stück für Stück das wahre Ausmaß der weitreichenden Verschwörung.

Der Autor

Alberto Cuboni, Jahrgang 1958, begann seine berufliche Laufbahn als Musiker und Komponist. Außerdem veranstaltete er Seminare und veröffentlichte Bücher in den Bereichen Marketing, Werbung und Vertrieb. Cuboni ist Inhaber einer PR-Agentur für Themengebiete rund um Industrie und Technik. Sein Thriller Helena beleuchtet auf ebenso spannende wie ungewöhliche Weise die Perspektiven des menschlichen Lebens in unserer weltweit immer größer werdenden Abhängigkeit von Maschinen.

Alberto Cuboni

HELENA

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© 2018 Alberto Cuboni

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
Umschlagmotiv: Sabine Dunst unter Verwendung von
Motiven von © mtoome / thinkstock, © Nongkran_ch /
thinkstock und © Wavebreakmedia Ltd / thinkstock

Lektorat, Korrektorat: Sibylle Wegmann

Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback978-3-7469-5525-4

Hardcover978-3-7469-5526-1

e-Book978-3-7469-5527-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Erster Teil

“Sucht nicht nach mir, stellt keine Fragen, folgt mir nicht. Seid zufrieden mit der Erinnerung.“

Helenas Tagebuch, letzter Eintrag

1. München, Deutschland

Der Tag, an dem Helena Brandes verschwand, war der vierzehnte August zweitausendsiebzehn. Ein Montag.

Ein wunderbarer Sommertag, warm und schön wie die Tage zuvor. Doch dieser Montag würde Jonathan auf immer im Gedächtnis bleiben, denn es war der letzte Tag, an dem er seine Frau, mit der er seit mehr als dreißig Jahren glücklich verheiratet war, lebend gesehen hatte.

Die großbürgerliche Stadtvilla in München, die Helena und Jonathan allein bewohnten, nachdem ihre beiden Kinder erwachsen und ausgezogen waren, hatte sie am späten Morgen nach dem gemeinsamen Frühstück verlassen, um, wie sie sagte, „ein paar Besorgungen in der Stadt zu machen“. Sie war in ihr weißes Cabrio gestiegen, hatte das Dach aufgemacht und war mit wehender Frisur davongebraust. Jonathan hatte sich nichts dabei gedacht, denn seine Frau liebte es, ihre Besorgungen gelegentlich mit einem längeren Spaziergang zu kombinieren, von dem sie jedes Mal entspannt und in fröhlicher Stimmung zurückgekehrt war. Allerdings nicht am 14. August 2017.

Der Tag war still, viele waren im Urlaub. Jonathan, als Schriftsteller historischer Romane recht erfolgreich, schrieb an seinem neuen Buch, erledigte Korrespondenz und bereitete anschließend alles vor für ein leichtes Abendessen zu zweit.

Doch Helena kam nicht nach Hause. Zum Abendessen nicht und auch danach nicht. Als sie beim späten Einbruch der Dunkelheit immer noch nicht zurück war, wurde Jonathan unruhig und machte Anrufe. Ihr Handy: Mailbox. Freunde, Nachbarn, Restaurants und Cafés, in denen die beiden als Stammgäste bekannt waren – nirgends war sie aufgetaucht. Schließlich rief Jonathan in allen Krankenhäusern der Stadt an, doch in keinem war Helena oder eine Frau mit ihrer Personenbeschreibung eingeliefert worden.

Jonathan wählte die Telefonnummer seiner Tochter. Claire Brandes arbeitete als Journalistin und lebte mit ihrem Freund fünfzig Kilometer westlich. Doch hätte Helena sich für einen Spontanbesuch entschlossen, sie hätte Jonathan ganz sicher Bescheid gegeben. Elf Uhr abends war es inzwischen, von Helena noch immer keine Spur. Claire war zu Hause. Sie reagierte überrascht, konnte jedoch für den Augenblick nicht weiterhelfen. Mit ihrer Mutter habe sie seit einer Woche nicht mehr telefoniert oder getextet, sagte sie.

„Mach‘ dir keine Sorgen, Papa“, meinte sie dann, ganz die Frohnatur, als der Jonathan sie kannte. „Du kennst doch Mama. Manchmal hat sie einfach ihre eigenen Ideen.“

Jonathan stimmte ihr halbherzig zu, verabschiedete sich fürs Erste und legte auf.

Helenas „eigene Ideen“ waren ihm wohlvertraut und von ihm in den allermeisten Fällen ohne emotionale Diskussionen respektiert worden. Als aktiver Schriftsteller, der planvoll und regelmäßig an seinem jeweiligen Buch arbeitete, hatte er niemals Einwände dagegen erhoben, für eine Weile allein zu sein. Helena hatte gelegentlich Phasen, da sprudelte sie geradezu vor Aktivität. Aber einfach so abhauen? Ohne irgendeine Nachricht? Einfach weg, ohne ein Wort?

Jonathans Sohn Thomas, der gerade sein Jurastudium beendet hatte, lebte in Berlin und hatte in einer Rechtsanwaltskanzlei einen ebenso arbeitsintensiven wie vielversprechenden Einstiegsjob gefunden. Auch der Anruf bei ihm brachte, wie erwartet, nichts. Wohl teilte er Jonathans Besorgnis, hatte aber keine Informationen, mit denen er hätte weiterhelfen können. Und Berlin war weit weg.

Jonathan ließ sich auf die ausladende Couch im Wohnzimmer fallen und versuchte, nachzudenken. Von Helena immer noch kein Lebenszeichen. Kein Anruf, keine Nachricht, nichts. Das passte nicht zu ihr. Was Jonathan bislang als eine mehr oder weniger unerklärliche Irritation empfunden hatte, verwandelte sich langsam in ein unangenehm nagendes Gefühl. Die panische Verzweiflung, von der er ahnte, dass sie hinter dem Horizont auf ihn lauerte und jeden Moment hervorbrechen konnte, hielt er noch auf Distanz.

Helena Brandes war immer schon eine sehr selbstbewusste und eigenständige Frau gewesen, ein wesentlicher Grund, warum Jonathan sie liebte und geheiratet hatte. Sie war groß und drahtig, mit schulterlangen brünetten Locken, deren ergrauten Strähnen sie regelmäßig mit Tönung zu Leibe rückte. Ja, sie hatte ihre eigenen Ideen zu vielen Aspekten des Lebens, war jedoch kein Mädchen sprunghaften Charakters, das aus einer Laune heraus irgendwelche Spontanaktionen unternahm, ohne sich mit ihren Leuten abzusprechen. Die Ehe mit Jonathan war geprägt von Harmonie, gegenseitigem Verstehen und Respekt. Eine Affäre mit jemand anderem wäre weder für Helena noch für Jonathan jemals in Frage gekommen.

Helena hatte Informatik studiert, eine glänzende Karriere hingelegt und arbeitete nun seit einigen Jahren als leitende IT-Koordinatorin im Vorstand eines aufstrebenden Biotech-Unternehmens mit internationalem Ruf. Sie war außerdem eine geborene Dahrendorff, einzige Tochter des Physikers Rudolph Dahrendorff, ehemals Professor am MIT, dem Massachusetts Institute of Technology in den Vereinigten Staaten, der für seine richtungsweisenden und vielfach preisgekrönten Forschungsarbeiten im Bereich künstlicher Intelligenz internationale Berühmtheit erlangt hatte. Seit ein paar Jahren war er emeritiert und lebte auf einem weitläufigen Landgut an der US-Ostküste. Gleichwohl war er stets in enger Verbindung geblieben mit seiner Tochter, und so war ihm auch sein Schwiegersohn ans Herz gewachsen. Der alte Herr hatte, auch wenn seine eigenen Neigungen ganz woanders lagen, Jonathans schriftstellerisches Schaffen stets mit aufrichtiger Anerkennung gelobt. Natürlich hatte er ebenso reges Interesse an Helenas Karriere aufrecht erhalten. Er ließ keine Gelegenheit aus, mit ihr zu fachsimpeln und sich die jeweiligen Neuigkeiten aus der einschlägigen Forschung in allen Details berichten zu lassen. Helena hatte entgegen des väterlichen Wunsches nicht promoviert, jedoch ihre berufliche Laufbahn in praktischer Hinsicht und unabhängig von der Prominenz ihres Vaters weit gebracht. Sie war, das wussten alle Familienmitglieder, eine ziemlich bemerkenswerte, auch im Freundeskreis der Familie äußerst beliebte Person.

Zwölf Uhr Mitternacht. Jonathan hielt es jetzt nicht länger aus. Er wählte den Notruf der Polizei.

2. USA, Ostküste

Norman C. Muller trat, gekleidet ganz in schwarz wie immer, vor die exklusive Versammlung. Schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarzer Rollkragenpullover, schwarzes Sakko mit Stehkragen – japanische Anmutung. Mullers Garderobe hatte stets klare Schnittformen, ohne Schnörkel, getreu dem Bauhaus-Motto streng reduzierten Designs: „Form follows Function“. Das C. in seinem Namen stand für Caesar.

„Meine Herren, ich kann Ihnen heute eine außerordentlich erfreuliche Mitteilung machen“, sagte Muller. „Wir stehen kurz vor einem ganz entscheidenden Durchbruch.“

Er setzte sich mit wohlkoordinierten Körperbewegungen in den stylischen, ebenfalls schwarzen Ledersessel am Kopfende eines großzügigen und mit allen technischen Schikanen eingerichteten Konferenzraums. Zwölf weitere Personen, sechs zu jeder langen Seite des Tisches, saßen auf eben solchen Konferenzstühlen und lauschten gespannt. Der Raum war Teil einer weitläufigen Anlage, gepanzert und vollkommen abhörsicher.

Muller war ein hochgewachsener, sehniger Mann mit kantigen, doch auf gewisse Weise aristokratisch eleganten Gesichtszügen. Die Sechzig hatte er bereits überschritten, doch was seine körperliche Konstitution anging, konnte er es ohne besondere Vorbereitung mit einem Marathonläufer aufnehmen. Sein dichtes graues Haar bedeckte nach wie vor das gesamte Haupt, den Bart trug er kurz und geometrisch akkurat geschnitten.

Muller sah mit seinen hellwachen Augen geradeaus in die Runde und strich sich bedachtsam mit Daumen und Zeigefinger über die Wangen, bevor er fortfuhr.

„Durch unsere umfangreichen Programme zu Selektion geeigneter Kandidaten und den Anbahnungsprozess von der Kontaktaufnahme über die sukzessive Infiltrierung bis zur vollständigen Indoktrination der in Frage kommenden Personen konnten jetzt erstmals zwei Individuen identifiziert werden, die per dem jetzigen Erkenntnisstand für die Zielsetzung unseres Projekts als zu einhundert Prozent geeignet erscheinen.“

Einer der Konferenzteilnehmer beugte den Oberkörper leicht nach vorne und ergriff das Wort.

„Nur zwei? Waren nicht ursprünglich mehr als zwanzigtausend Personen als grundsätzlich geeignete Zielgruppe definiert worden“, fragte er leicht verwundert und fügte hinzu: „Davon sind also nur ganze zwei übrig geblieben?“

Mit wohlwollendem Lächeln wandte sich Muller dem Herrn mittleren Alters auf der rechten Seite des Tisches zu. Farhad Ghanzali war persischer Abstammung, deutlich erkennbar an seiner Hautfarbe und seinen Gesichtszügen, leicht übergewichtig, was jedoch durch seinen perfekt sitzenden Maßanzug mit geschmackvoller Krawatte und dazu harmonisierendem, aber nicht gleichfarbigen Einstecktuch praktisch vollständig kaschiert wurde. Er hatte in Indien Computerfirmen hochgezogen und war mit achtunddreißig Jahren als Milliardär in den Ruhestand gegangen. Gleichwohl hatte er nie aufgehört, sich eigenhändig mit der Entwicklung von Computerprogrammen zu beschäftigen. Während er den Umgang mit Anlagen der künstlichen Intelligenz mit geradezu künstlerischer Virtuosität beherrschte, waren ihm die meisten typisch humanoiden Eigenheiten eher zuwider. Menschliche Charakterzüge in ihren vielfältigen Schattierungen fand er gewöhnungsbedürftig, falls er deren Existenz überhaupt bemerkte. Er war kein extravaganter Bonvivant, doch dank seines Vermögens, dessen Zinsen er schon nicht mehr auszugeben vermochte, konnte er es sich leisten, zahlreiche dienstbare Geister zu beschäftigen, damit sie ihn mit jeglichem Komfort versorgten und seine Angelegenheiten mit der „Außenwelt“ für ihn verhandelten, ohne dass er selbst zu viel Kontakt mit den in seinen Augen sprunghaften und unberechenbaren Homo Sapiens pflegen musste.

Muller nickte ihm freundlich zu und wandte sich dann wortlos an eine weitere Person. Mit einer fließenden Handbewegung erteilte er ihr das Wort.

„Es gab zahlreiche Vorgaben und extrem strikte Auswahlkriterien für einen mehrstufigen Selektionsprozess“, sagte Liviana von Heistkamp, um Ghanzalis Einwand zu beantworten. Sie hatte an der linken Seite des Tisches direkt neben Muller Platz genommen. „Bedenken Sie bitte, was für uns alle auf dem Spiel steht. Ist Phase eins der Operation erst einmal eingeleitet, sind die entscheidenden Schritte irreversibel. Wir können nur in sehr begrenztem Ausmaß Prognosen erstellen, wie sich die Dinge im direkten Anschluss an Phase eins entwickeln. Daher sind wir auf absolute Loyalität und Zuverlässigkeit eines Beta-Testers angewiesen. Außerdem, und das ist mit Sicherheit das Allerwichtigste: Wir mussten ganz sicher gehen, dass eine Person auf hundert Prozent freiwilliger Basis in das Programm und sämtliche möglichen Konsequenzen eintritt. Allein bei diesem Schritt mussten wir rund fünfundachtzig Prozent der nach der Vorauswahl verbliebenen Kandidaten aussortieren.“

Prof. Dr. Liviana von Heistkamp war eine akademisch hochdekorierte Psychologin von internationalem Ruf und die einzige weibliche Teilnehmerin der Konferenz. Es schien ihr nichts auszumachen, dass Muller auch ihre Person in der Anrede „Meine Herren“ eingeschlossen hatte, und dementsprechend wirkte auch ihr gesamtes Äußeres. Ihre Fünfzig sah man ihr nicht unbedingt an, aber sie strahlte eine unnahbare, fast stählerne Strenge und Diszipliniertheit aus. Unter dem etwas albernen Pseudonym Dr. Hannelore Holler hatte sie einige populärwissenschaftliche Bücher über die Möglichkeiten der Manipulation von Menschen verfasst, die es allesamt auf Bestsellerlisten in mehreren Ländern geschafft hatten. Das hatte ihr nicht nur ein gewisses Vermögen eingebracht, sondern die laufenden Einnahmen aus den verschiedenen internationalen Lizenzverträgen inklusive einer populärwissenschaftlichen TV-Sendereihe zum Thema hatten ihr zu einem fürstlichen Einkommen und finanzieller Unabhängigkeit verholfen.

Muller fuhr fort, die Konferenzteilnehmer mit gemessenen, nur sparsam mit Enthusiasmus gewürzten Worten über den Fortschritt des Projektes zu unterrichten, nicht ohne darauf zu achten, dass entscheidende Details zwar auf geschraubte Weise vorgetragen, doch inhaltlich hinter etwas vagen Schilderungen verborgen blieben. Muller tat dies vor allem angesichts derjenigen unter den Teilnehmern, die nicht direkt in der Arbeit an seinem Projekt involviert, sondern ausschließlich Geldgeber waren.

Alle Konferenzteilnehmer waren außerordentlich vermögende Personen, Multimillionäre oder Milliardäre, die sich unter Mullers Leitung zu einem geheimen Finanzierungskonsortium zusammengeschlossen hatten, dessen Schlagkraft durchaus den Militäretat einer kleinen Industrienation in den Schatten stellte. Einige von ihnen waren über ihren finanziellen Beitrag hinaus „vom Fach“, hatten also wissenschaftlichen oder technischen Wissens- und Erfahrungshintergrund, den sie in das Projekt einbrachten, andere waren reine Geldgeber. Sämtliche Investoren versprachen sich von ihrem Engagement jedoch weniger eine finanzielle Rendite, sondern viel mehr bestimmte persönliche Vorteile, die ihnen zu gegebener Zeit aus dem Vorhaben erwachsen sollten.

Sowohl die Zielsetzung des Projekts wie auch dessen Geheimhaltungsstufe übertrafen alles, was jemals auf der Welt in Gang gesetzt worden war. Niemand außerhalb dieses sehr kleinen Zirkels von Eingeweihten hatte auch nur die geringste Ahnung, was sich in dem unterirdisch gelegenen Konferenzraum auf der kleinen, aber sehr exklusiven Privatinsel vor der Ostküste der USA abspielte.

Das Ganze war von langer Hand vorbereitet worden. Schon vor mehreren Jahren hatte Norman Muller das überwiegend bewaldete Eiland zu einem Schnäppchenpreis der heillos zerstrittenen Erbengemeinschaft eines verstorbenen Junkfood-Königs abgeluchst. Mit leichten Bauchschmerzen erinnerte er sich an die geradezu skurril verlaufenen Verhandlungen mit den gierigen, auf alle mögliche Arten verpeilten Erben. Einer davon war bis zuletzt als notorischer Korinthenkacker aufgetreten, der so lange um jeden Fliegenschiss in dem mit juristischen Kinkerlitzchen vollgestopften Verkaufsvertrag feilschen wollte, bis er schließlich von der Mehrheit der Anderen, die einfach bloß auf den warmen Regen des Geldes scharf waren, niedergeschrien worden war. Muller hatte das Objekt erworben, weil es ihm geradezu ideal zu erschien für sein umfangreiches Vorhaben: Abgelegen, verschwiegen, touristisch uninteressant, zu teuer, gleichzeitig zu langweilig für Selbstdarsteller-Promis, Möchtegerns und Emporkömmlinge aus der Welt der Reichen und Schönen.

Das hotelartige Anwesen auf der Insel war in verschwenderischer Weise großzügig ausgelegt. Es gab mehrere Pools, Sportanlagen, erhöhte Aussichtsterrassen, separate Wohnanlagen für das Hauspersonal, eine Lande- und Startbahn sowie einen Hangar für Hubschrauber und Privatflugzeuge. Der verzweigte Gebäudekomplex wirkte grandios, war jedoch zum Zeitpunkt des Verkaufs an vielen Stellen verfallen und reparaturbedürftig gewesen.

Ohne irgendein Aufsehen in der Presse zu erregen, hatte der neue Eigentümer die sich über mehrere Jahre hinziehende Renovierungsphase genutzt, um eine komplette zweite Anlage, die noch einmal der Größe des bereits existierenden Anwesens entsprach, in Form von vier Kellergeschossen unterhalb der sichtbaren Bauten zu errichten. Monatelang hatten sich die Baumaschinen ins Erdreich gewühlt, Betondämme gegen das Grundwasser gegossen und Sicherungsanlagen aller Art installiert.

Für die Luftbildfotografen der sensationslüsternen Presse machte die Insel nach wie vor den Eindruck eines verschlafenen, eher wenig genutzten Luxusrefugiums eines spleenigen Milliardärs, auf dem nur selten, wenn überhaupt etwas geschah. Gelegentlich landete und startete ein Privatjet, das Hauspersonal schien mit den Routinen des Facility Managements beschäftigt zu sein, die wenigen Gäste sahen so aus, als würden sie einfach nur ihren Urlaub in Abgeschiedenheit und entspanntem Luxus verbringen. Ein Jahr nach dem Ende der oberflächlich sichtbaren Renovierungsarbeiten interessierte sich kein Schwein mehr dafür.

Völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit jedoch war ein unterirdischer Gebäudekomplex entstanden, perfekt arrangiert, ausgerüstet mit State-of-the-Art High-Tech für alle Funktionen und wohl versorgt mit allem erdenklichen Komfort durch den oberirdischen, vorgeblich harmlos vor sich hin plätschernden Hotelbetrieb. Neben exklusiven Wohnunterkünften und Speiseräumen gab es Konferenzräume, ausgestattet mit opulenter Präsentationstechnik, komfortable Arbeitszimmer, großzügige Laborräume mit allen nötigen Einrichtungen und schließlich im untersten Tiefgeschoß, von meterdicken Stahlbetonwänden geschützt, eine Serverarchitektur von gigantischen Ausmaßen. Auf mehreren hundert Quadratmetern standen leistungsstarke Rechner- und Datenspeichereinheiten in Reih und Glied wie eine stumme Armee bewegungsloser, jedoch keineswegs inaktiver Rechnersoldaten, während die überdimensionierte Klimaanlage eine stets gleichbleibende Temperatur sicherstellte und die Abwärme aus der Aktivität von Myriaden elektronischer Schaltkreise zur Beheizung der Hotelpools und der Warmwasserversorgung an die Erdoberfläche pumpte.

Zusätzlich zur Anbindung der Hotelanlage an das öffentliche Stromnetz auf dem Festland über ein Unterseekabel und zur hoteleigenen Windkraftanlage gab es vier unabhängig voneinander arbeitende Notstromaggregate, die eigentlich komplette Kraftwerke waren und für die Energieversorgung eines Großklinikums ausgereicht hätten. Zwei davon arbeiteten mit Brennstoffzellen, dazu gab es mehrere, ebenfalls unterirdisch gelagerte Wasserstoffbehälter, die beiden anderen mit konventionellen Dieselmotoren. Der in zahlreichen weiteren unterirdischen Tanks gelagerte Dieselkraftstoff allein reichte aus, um den gesamten Komplex ein Jahr lang unabhängig von anderen Energiequellen mit Strom zu versorgen.

All diesen unvorstellbaren Aufwand hatte Norman Muller unternommen, um eine Basis zu schaffen, auf der er seine streng vertraulichen Tagungen mit besagtem elitären Kreis von Eingeweihten abhalten konnte, während er das von ihm selbst und weiteren Investoren mit großzügigen Geldern ausgestattete, geheime Forschungsprojekt vollkommen unbehelligt von Regierungsbehörden und abseits jeder Öffentlichkeit vorantrieb.

Obwohl Muller den exklusiven Kreis seiner wissenschaftlichen Spitzenkräfte sowie seine finanzkräftigen Geldgeber in den Kern der Sache eingeweiht hatte, bezweifelte er, dass irgendjemand außer ihm selbst auch nur annähernd die wahre Tragweite dessen verstand, was er im Begriff war, zu unternehmen.

Wenn sein Experiment gelang – und davon ging er selbstverständlich aus – die Welt würde nie wieder die selbe sein.

3. München, Deutschland

In Deutschland werden täglich jeweils etwa 250 bis 300 Fahndungen nach vermissten Personen neu erfasst und auch gelöscht. Etwa die Hälfte aller Vermissten sind Kinder und Jugendliche. Knapp zwei Drittel aller Vermissten sind männlich.

Die Daten von Vermissten werden (zusammen mit nicht identifi-zierten hilflosen Personen und unbekannten Leichen) in einer zentra-len Datei des Bundeskriminalamts mit der Bezeichnung "Vermi/Utot" eingetragen. 2017 waren dort insgesamt rund 16.300 aktuelle Vermisstenfälle gespeichert. Darunter waren ca. 14.000 in Deutschland als vermisst gemeldete Personen.

Erfahrungsgemäß erledigen sich etwa 50% der Vermissten-Fälle innerhalb der ersten Woche. Binnen Monatsfrist liegt die "Erledi-gungs-Quote" bereits bei über 80%. Der Anteil der Personen, die län-ger als ein Jahr vermisst werden, bewegt sich bei nur etwa 3%. Falls eine Vermisstensache nicht aufgeklärt wird, bleibt die Personenfahn-dung bis zu 30 Jahre lang bestehen.

(zitiert aus dem Bürgerinformationsportal www.polizei.de)

Hauptkommissar Hermann Bullinger hatte schon viele Jahre Diensterfahrung in der Fahndung nach vermissten Personen auf dem Buckel, demnach verfügte er auch über entsprechende Routine darin, aufgewühlte Angehörige zu beruhigen.

„Wir können sofort tätig werden“, sagte er in unaufgeregtem Dienstleitertonfall zu Jonathan. „Rein statistisch, das heißt, aus der Sicht der praktischen Erfahrung, ist es sehr wahrscheinlich, dass Ihre Frau schon bald wieder auftaucht. Fünfzig Prozent aller Vermisstenfälle klären sich innerhalb einer Woche, achtzig Prozent im ersten Monat.“

Trotz seiner untersetzten Statur strahlte er mit seinem dichten schwarzen Haar, dem ordentlich gestutzten Vollbart und seinem festen Blick eine natürliche Autorität und Selbstsicherheit aus. Seine Arbeit pflegte er grundsätzlich auf unprätentiöse Weise zu erledigen, beinahe kumpelhaft, ohne gespreizten „Behördensprech“ und ohne jeden Anflug von Obrigkeitsdünkel.

Er und sein Begleiter, Kommissar Konrad Hauser, saßen auf dem Sofa der modernen Sitzgruppe im Wohnzimmer der Brandes-Villa Jonathan gegenüber. Anders als Bullinger war Hauser schlank, fast schon dürr. Mit den schütteren blonden Strähnen und seiner bleichen Haut, einer etwas zu spitzen Nase und einem leicht fliehenden Kinn war er rein äußerlich eine Art Gegenentwurf zu seinem Chef. Gleichwohl machten die beiden auf Jonathan den Eindruck, dass sie als eingespieltes Team gut harmonierten.

„Haben Sie ein einigermaßen aktuelles Foto Ihrer Frau, das Sie uns überlassen können?“, fragte Bullinger. Jonathan nickte.

„Selbstverständlich“, sagte er, stand auf und ging ins Nebenzimmer. Als er zurückkam, hielt er sein Lieblingsfoto von Helena in der Hand. Es war das Bild, das bis jetzt einen festen Platz auf seinem Schreibtisch gehabt hatte. Es zeigte Helena Brandes im Ganzkörperportrait, eine fröhlich in die Kamera lächelnde, fast mädchenhafte Frau, die man ohne weiteres für zehn Jahre jünger halten konnte.

„Die Haare trägt sie jetzt etwas kürzer“, murmelte Jonathan, während er das Bild den Kommissaren übergab. Bullinger bedankte sich und steckte das Foto in seine lederne Schreibmappe.

„Ich weiß, das kommt jetzt vielleicht etwas unpassend daher, aber wir hätten noch ein paar Fragen an Sie… reine Routine“, sagte er, um den Hausherren auf die möglicherweise unangenehmen Themen vorzubereiten.

Jonathan war aufgewühlt, bemühte sich jedoch, gefasst zu wirken. „Bitte sehr, fragen Sie“, sagte er.

Während Bullinger fragte, machte Hauser sich Notizen und sah sich immer wieder mit unverhohlener Neugier im großzügigen Wohnbereich der Villa um.

„Haben Sie in letzter Zeit irgendwelche Veränderungen im Verhalten oder in den Angewohnheiten Ihrer Frau bemerkt?“

Jonathan dachte nach und schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht“, sagte er, noch während er die vergangenen Wochen in seiner Erinnerung Revue passieren ließ.

„War Ihre Frau in letzter Zeit in ärztlicher, psychologischer oder psychiatrischer Behandlung?“

„Äh, nein, das müsste ich eigentlich wissen“, sagte Jonathan leicht überrascht, „aber ich kontrolliere sie natürlich auch nicht auf Schritt und Tritt. Sie unternimmt gelegentlich ihre eigenen… Exkursionen“.

„Was meinen Sie damit?“

„Nun, sie ist dann und wann mal ein paar Stunden weg, macht Besorgungen, Einkäufe oder irgendetwas in der Stadt. Ich frage sie nicht so genau aus.“

„Herr Brandes, könnte es sein, dass Ihre Frau eine Affäre hat?“

„Eine Affäre? Ein anderer Mann?“

„Oder eine andere Frau…“

„Ausgeschlossen!“ sagte Jonathan mit etwas mehr Schärfe in der Stimme als notwendig, wie er selbst verblüfft feststellte.

„Wie würden Sie die… Qualität Ihrer Ehe beschreiben?“

„Oh! Sie meinen… Nein, das ist…, das wäre ja… Sie meinen, dass meine Frau einfach… davongelaufen ist? Vielleicht ins Frauenhaus! Das ist ja absurd…“ Jonathan suchte nach Worten und konnte sich nicht zurückhalten, eine indignierte Grimasse zu ziehen.

„Nehmen Sie es mir nicht übel“, sagte Bullinger, „aber wir haben, mit Verlaub, schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen.“

„Hinter jeder Fassade lauert der Abgrund“, warf Hauser ein, wofür er einen vielsagenden Seitenblick von Bullinger kassierte. Sofort hielt er wieder die Klappe und steckte seine Nase, fast erschrocken über den Patzer, noch tiefer in seine Notizen.

„Unsere Ehe ist… wie soll ich sagen… eigentlich harmonisch“, sagte Jonathan. „Wir sind seit über dreißig Jahren verheiratet, beide berufstätig, allerdings in völlig verschiedenen Gebieten. Unsere beiden Kinder sind aus dem Haus. Wir verbringen sehr gerne unsere freie Zeit miteinander, haben aber auch keine Einwände, wenn der Eine oder der Andere mal was alleine unternehmen will.“

„Hm“, machte Bullinger. „Sagen Sie, ist Ihre Frau schon einmal in ähnlicher Weise weggeblieben, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen?“

„Nein“, sagte Jonathan. „Das ist bei ihr noch nie vorgekommen.“

„Aber beruflich ist sie doch, wie sie schon gesagt hatten, sehr engagiert. Bleibt sie da nicht manchmal auch abends im Büro oder am Wochenende?“

„Das schon. Aber sie gibt mir immer Bescheid. Und ihre Verabredungen hält sie ein.“

„In Ordnung. Anderes Thema…“, Bullinger schaute kurz auf seine eigenen Notizen. „Hat Ihre Frau irgendwelche Feinde?“

Jonathan war versucht, reflexartig zu verneinen, hielt jedoch einen Augenblick inne. Was, wenn Helena auf irgendeine Weise nicht ganz diejenige war, die sie vorgab zu sein? Sie hatten sich zwar schon oft über ihre Arbeit in der Biotechfirma unterhalten, aber erstens verstand Jonathan nur wenig vom Gebiet der fortgeschrittenen Entwicklungsarbeit dieses Unternehmens, und zweitens war vieles davon ohnehin vertraulich. Helena hatte ihrem Arbeitgeber gegenüber eine Verschwiegenheitserklärung abgeben müssen, konnte demnach nicht wirklich viele Details darüber erzählen. Auch über ihre Arbeits- und Vorstandskollegen hatte sie nicht sehr ausführlich gesprochen. Ihre gelegentlichen „Alleingänge“, die sie immer als „Stadtbummel“ deklariert hatte, waren von Jonathan ohne große Hintergedanken akzeptiert und niemals als Indikator für ein „heimliches Doppelleben“ angesehen worden.

„Feinde… Ich könnte keine benennen“, sagte er schließlich etwas unsicher. „Aber vielleicht hat es etwas mit ihrer Arbeit zu tun. Sie ist, wie schon gesagt, IT-Koordinatorin und auch Vorstandsmitglied in einem Biotech-Unternehmen. Ich kann Ihnen selbstverständlich gerne die Kontaktdaten geben.“

„Das wäre hilfreich, danke“, sagte Bullinger mit einem Seitenblick auf seinen Kollegen.

Jonathan diktierte, Hauser schrieb auf.

„Und dann brauchen wir noch ihre Handynummer, Kreditkarten-Nummern und das KFZ-Kennzeichen des Wagens Ihrer Frau“, fügte Bullinger hinzu.

Jonathan kramte in den Unterlagen, diktierte, Hauser schrieb auf.

„Hat Ihre Frau hier einen Computer?“

Jonathan nickte.

„Können wir den haben? Kriegen Sie selbstverständlich wieder.“

Jonathan führte die beiden Herren in ein angrenzendes Zimmer, das Helena als Lese- und Arbeitsraum nutzte. Ein leerer Schreibtisch, die akkurate Anordnung der Gegenstände und die strenge Designmöblierung wiesen auf eine sehr ordnungsliebende Person hin. Jonathan steckte den Laptop ab und übergab ihn den beiden Kommissaren. Hauser stellte eine Quittung aus.

„Falls die Dateien Passwort-geschützt sind, das Passwort kenne ich nicht“, sagte Jonathan. „Ich habe mich nie dafür interessiert, in den Sachen meiner Frau zu schnüffeln…“

Nachdem sich die beiden Kommissare verabschiedet und Jonathan in sehr nachdenklichem Zustand zurückgelassen hatten, fuhren Bullinger und Hauser ins Präsidium zurück.

Bullinger brummte vor sich hin. „Is‘ ja fast wie immer. Was wir haben, ist: kein Motiv, keinen Familienstreit, keinen Anhaltspunkt, also: nichts.“

„Ich wiederspreche dir nur ungern, aber wir haben die Handynummer, den Laptop und den Arbeitgeber“, bemerkte Hauser.

„Ja, stimmt. Schauen wir uns die drei Sachen mal an, dann wissen wir vielleicht mehr. Dieser Brandes ist entweder aalglatt oder er hat wirklich überhaupt keine Ahnung, was da läuft.“

4. Los Angeles, Kalifornien

Leslie Davis und ihr Begleiter Brian Manning sahen ganz genauso aus wie zwei Vertreter einer lokalen Wohltätigkeitsinitiative, als sie ihren Van in der Nähe eines typischerweise von Obdachlosen frequentierten Rastplatzes in einem kleinen, ziemlich verwahrlosten öffentlichen Park abstellten, zwei klobige Behälter heraushoben, sich über die Schulter hängten und dann über die größtenteils verdorrte und somit braun gewordene „Grünfläche“ in Richtung eines inoffiziellen „Stammtisches“ in der Mitte der tristen Anlage stapften.

„Hi, Bill… Hi, Rob…!“ Fröhlich winkte Leslie den beiden Typen mit fettigen Haaren und verfilzten Bärten zu, die dort vor ihren Bierdosen hockten. Mit ausladenden Gesten und souveränen Ausdrucksweisen diskutierten sie allwissend über Politik, Gott und die Welt sowie diverse Verschwörungstheorien.

„Hi Ma‘m“, sagte Bill, der jüngere von beiden mit rauer Stimme, während Rob zum Gruß wortlos seine Dose in Richtung der beiden hob und sich einen ordentlichen Schluck genehmigte. Leslie und Brian erreichten die aus groben Holzbalken zusammengezimmerte Sitzgruppe, öffneten die mitgebrachten Behälter und brachten mehrere Sandwiches und Wasserflaschen zum Vorschein. „Hier, Leute, esst erstmal was Vernünftiges.“

„God bless you, Ma’m“, murmelte Rob mit seiner etwas gurgelnden Bassstimme, während er bereits ohne zu zögern nach einem Putensandwich griff und hineinbiss. Bill schnappte sich ein Schinkensandwich. Schweigend mampften sie vor sich hin. Der Austausch weitverzweigter Erkenntnisse aus den Bereichen höherer Philosophie zwischen den beiden war vorübergehend durch einen konkreten Akt zielgerichteter Nahrungsaufnahme unterbrochen worden.

Aktuellen Schätzungen zufolge leben in Los Angeles mehr als vierzigtausend Personen ohne festen Wohnsitz. Einen besorgniserregenden Anstieg daran bildet der Prozentsatz derjenigen, die nicht schon als Jugendliche von drogensüchtigen Eltern auf die Straße gesetzt worden oder aus Heimen abgehauen waren, sondern der Anteil vormals Berufstätiger, die aus ihrem bürgerlichen Leben durch eigenes Verschulden oder Schicksalsschläge in Armut und Obdachlosig-keit katapultiert wurden, von wo aus sie die Rückkehr in die Mittel-standsgesellschaft nicht mehr schaffen.

Rob und Bill langten kräftig zu.

„Nicht vergessen: Viel Wasser trinken. Nicht nur Alkohol“, versuchte Brian seine beiden Schützlinge zu ermuntern, während er die vier mitgebrachten Wasserflaschen auf den Tisch stellte. „Ihr wisst ja, zu viel Alkohol ist ungesund. Verkürzt das Leben.“

„Du nennst das hier also Leben?“ fuhr Bill, der jüngere, halb scherzhaft, halb vorwurfsvoll auf, zeigte auf seine schäbigen Klamotten und die Plastiktüten mit ihren Habseligkeiten, die sie neben sich auf der Bank abgestellt hatten, und schniefte theatralisch. „Irre witzig.“ Dann rülpste er geräuschvoll. „Wer früher stirbt, ist eher tot, Mann. Angewandte Mathematik, nichwah‘. Bildung!“ schnauzte er und wandte sich augenblicklich dem nächsten Nahrungspartikel, einem Käsesandwich zu, das er mit einer einzigen Bewegung aus der Tüte holte und zur Hälfte in seinen Mund steckte.

Leslie und Brian kannten die beiden. Bill, der blondere und jüngere, ließ keine Gelegenheit aus, um auf seine frühere Existenz als studierter Versicherungsmathematiker mit ehemals ausgezeichneten Karriereaussichten hinzuweisen.

Vor nicht allzu langer Zeit war er zum jüngsten Gruppenleiter befördert worden. In seinem jugendlichen Leichtsinn hatte er seine Gehaltserhöhung sofort in die Raten für einen schnittigen Sportwagen investiert. Gleichzeitig hatte er jedoch seine Finger nicht von den frisch angeheuerten weiblichen Angestellten und Praktikantinnen lassen können. Für ihn waren es harmlose Flirts, allerdings nicht ohne den Versuch, seine gerade erworbene gehobenere Stellung als überzeugendes Argument einzusetzen, um an sein Ziel zu gelangen. Eine hatte ihn schließlich vor das betriebsinterne Schiedsgericht gezerrt, der Ausschuss hatte ihr geglaubt, und das war’s gewesen. Bill wurde gefeuert. Eine Weile hatte er versucht, irgendwie die Raten für seine Angeberkarre aufzutreiben, aber ohne Job war er schon bald nicht mehr in der Lage, auch nur die Miete für sein kleines Appartement zu bezahlen. Die sozialen Hängematten sind in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu Europa sehr, sehr durchlässig (um es mal vornehm auszudrücken), wenn überhaupt vorhanden. Ehe sich Bill der Ernsthaftigkeit seiner Situation bewusst wurde, hatte er die Räumungsklage an der Backe. Als nächstes war er obdachlos und damit praktisch ohne Chance für einen auch nur annähernd gleichwertigen Wiedereinstieg in ein geregeltes Berufsleben.

Rob, der Ältere, mit schwarzer Hautfarbe, lebte schon wesentlich länger ohne festen Wohnsitz. Den jüngeren Bill hatte er ein bisschen unter seine Fittiche genommen. Rob war Polizist gewesen, als die schwere Krankheit seiner damaligen Frau ihn zwang, den Dienst zu quittieren. Eine Pflegekraft konnte er sich nicht leisten. Auch an Robs Schicksal zeigte sich einmal mehr die mangelhafte Funktionsfähigkeit des USamerikanischen Sozialsystems. Und so hatte er nach drei Jahren, als seine Frau schließlich verstarb, seine gesamten Ersparnisse nahezu aufgebraucht. Sein bescheidenes Haus war bis unters Dach verschuldet. Doch statt sich nach dem Tod seiner Frau einen neuen Job zu suchen, war er emotional in ein tiefes Loch gestürzt und hatte mit dem Trinken angefangen. Schließlich ließ die Bank sein Haus zwangsversteigern, und Rob war endgültig raus aus seinem früheren Leben, alkoholkrank und obdachlos.

Schon oft hatten Leslie und Brian hier angehalten, um Rob und Bill, die üblicherweise in der Gegend umherirrten wie Don Quijote und Sancho Pansa, Essen und Wasserflaschen vorbei zu bringen, manchmal auch ein paar Kleidungsstücke. Die beiden hatten die Spenden immer mit vielen artigen „Thank you Ma’m“-s and „God bless you“-s entgegengenommen.

Das Ganze wäre eigentlich keiner weiteren Erwähnung wert gewesen – schließlich gibt es in Los Angeles wie auch in vielen anderen Gegenden der Vereinigten Staaten eine große Zahl Freiwilliger und organisierte Gruppen, die ehrenamtliche Streetworker- und Sozialarbeit für die Obdachlosen der Stadt leisten. Viele Mitglieder der wohlhabenden Mittelschicht und auch etliche Millionäre oder Multimillionäre sind sich wohl bewusst, dass sie sich in einer privilegierten Position befinden, die das Leben oder Gott ihnen jedoch nicht automatisch garantiert, selbst wenn sie sich diese durch eigene Arbeit und Initiative erworben hatten. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der in den Vereinigten Staaten weit verbreiteten protestantischen Sozialethik fühlen diese Menschen eine gewisse Verpflichtung, denjenigen Mitbürgern, die gerade nicht auf der Sonnenseite des Lebens gelandet sind, durch Spenden oder ehrenamtliche Arbeit in irgendeiner Weise zu helfen. Für US-Amerikaner gilt nach wie vor das uneingeschränkte Recht auf individuelles Streben nach Glück als höchstes Gut überhaupt. Dagegen haben Bevormundung durch die Regierung, staatlich organisierte Wohlfahrt und dementsprechend höhere Besteuerung für Geldverdiener den Beigeschmack kommunistischer Kontamination der Gesellschaft und sind damit das reinste Teufelszeug. Ganz anders als in Europa verschwendet demnach in den Vereinigten Staaten kaum jemand einen Gedanken auf die Idee, der Staat wäre für die Versorgung von Obdachlosen zuständig, noch nicht einmal die Obdachlosen selbst.

Während Leslie und Brian also mit ihren Wohltätigkeitsaktionen ein für Los Angeles recht vertrautes Bild abgaben, wenn sie ihre insgesamt etwa fünfzig obdachlosen Schützlinge an verschiedenen Standorten mit gespendeten Gaben und gut gemeinten Ratschlägen versorgten, so war, wie auch Rob und Bill gewisse Zeit später feststellen sollten, der wahre Hintergrund ihrer Aktivitäten zumindest zu einem gewissen Teil ein völlig anderer.

5. München, Deutschland

Die Befragung von Helenas Vorstandskollegen in der Biotech-Firma am Rande der Stadt durch Bullinger und Hauser brachte nichts. Die Befragten ergingen sich in einhelliger Lobhudelei, gaben sich bestürzt, ansonsten eher zugeknöpft. Helena sei brillant in ihrer Arbeit, aber auch immer kollegial. Keine Feinde, außer ein paar läppischen internen Animositäten nichts, was auf irgendeinen weitreichenderen Konflikt hingedeutet hätte. Mit den internationalen Kunden der Firma habe sie nur gelegentlich als Fachbeirätin zu tun, nicht als kaufmännischer Verhandlungspartner. Sie gelte als absolut integer und zuverlässig, man sei sehr beunruhigt über ihre unerklärliche Abwesenheit, etwas in der Art war bei ihr bislang noch nie vorgekommen. Ihre Arbeit und ihre Kompetenz als IT-Koordinatorin sei zu jeder Zeit hochgeschätzt, als Kollegin sei sie außerordentlich beliebt.

Hauser ordnete seine Notizen, Bullinger brummte. „Und wir haben mal wieder: nichts“, sagte er. Diesmal konnte Hauser kein Argument für einen Widerspruch finden.

Am zweiten Tag nach ihrem Verschwinden wurde die Fahndung nach Helena Brandes in ganz Deutschland herausgegeben. Abfragen bei Passkontrollstationen, Fluggesellschaften und Kreditkartengesellschaften blieben ohne Ergebnis. So wie es aussah, hatte Helena ab dem vierzehnten August weder ein Flugzeug bestiegen, noch eine ihrer Kreditkarten eingesetzt, noch eine EU-Außengrenze überschritten.

Helenas weißes Cabrio blieb verschwunden und ihr Laptop wartete in der kriminaltechnischen Abteilung darauf, dass einer der dort beschäftigten Nerds das Passwort knackte.

Das Handy. Als nach einigem Hin und Her mit dem Datenschutzbeauftragten des Providers die Liste mit den Verbindungsdaten eintraf, machten sich Bullinger und Hauser daran, Helenas Bewegungsprofil am Tag ihres Verschwindens auf einer Karte auszudrucken.

Während dessen saß Jonathan zu Hause. Er hatte versucht, sich mit der Arbeit an seinem neuen Roman abzulenken, aber verständlicherweise nichts zustande gebracht. Lustlos recherchierte er ein paar geplante Themenbereiche im Internet. Jedes Mal, wenn eine E-Mail einging oder das Telefon klingelte, sprang er auf wie von der Tarantel gestochen.

Aber es war nicht Helena. Noch nicht einmal die Polizei mit irgendwelchen Neuigkeiten. Freunde meldeten sich, seine Lektorin beim Verlag, seine Tochter Claire („nichts Neues, Liebes, leider…“), sein Sohn Thomas. Von Helena: kein Bild, kein Ton. Nichts.

Weitere Tage waren vergangen. Noch immer gab es keine einzige Spur, was mit Helena geschehen sein könnte. Helena selbst war und blieb verschwunden.

Eine ganze Woche später, am Montagnachmittag, den einundzwanzigsten August, kam Dr. Angelika Bergmann aus dem Sprechzimmer ihrer vornehm eingerichteten Praxisgemeinschaft und ging zu ihrer Sprechstundenhilfe, die an der Rezeption saß und die Termine koordinierte.

„Ist Frau Brandes noch gar nicht gekommen?“ fragte sie. „Sie hatte ihren Termin doch heute…“

Julia Hochstätter, die Sprechstundenhilfe, sah in dem vor ihr liegenden, aufgeschlagenen Kalender nach. „Das stimmt“, sagte sie. „Sie hätte vor einer halben Stunde da sein müssen. Soll ich bei ihr anrufen?“

„Tun Sie das, es wäre ziemlich wichtig“, murmelte Dr. Bergmann in Gedanken, während sie, leicht beunruhigt, wieder in ihr Sprechzimmer zurückging. Schusseligkeit von Patienten, die ihre Termine im letzten Augenblick absagten oder schlicht vergaßen, war sie durchaus gewöhnt. Allerdings nicht von Helena Brandes. Seit sie vor einem Jahr zum ersten Mal in ihre Praxis gekommen war, hatte sie stets den Eindruck vermittelt, dass sie zu jeder Zeit ganz genau wusste, was sie tat und ihr Leben im Griff hatte.

Die Sprechstundenhilfe machte sich sofort daran, den ihr gegebenen Auftrag zu erledigen. Ein Anruf an Helena Brandes Handy erbrachte jedoch nur die automatische Ansage der Telefongesellschaft: „Der gewünschte Teilnehmer ist im Augenblick nicht zu erreichen. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.“

Die Helferin rief in ihren Computer Helena Brandes Kontaktdaten auf, kramte dann in einem Zettelkasten unter der erhöhten Rezeptionsablage. Doch die Patientin hatte außer ihrer Handynummer anscheinend keine weitere Telefonverbindung hinterlegt.

Julia Hochstätter nahm ihren Job als Arzthelferin sehr ernst. Sie war erst neunzehn, hatte einen Realschulabschluss mit sehr guten Noten und den festen Vorsatz, ihr Abitur auf der Abendschule nachzumachen, Medizin zu studieren, um später selbst Ärztin zu werden. Dementsprechend pflichtbewusst erledigte sie die ihr übertragenen Aufgaben in ihrer gegenwärtigen Stellung. Dr. Bergmann hatte gesagt, es sei wichtig. Auf keinen Fall würde sie ihrer Chefin mit einer Demonstration von Inkompetenz in Form einer Rückmeldung wie „Ging keiner dran, hab‘ ihr auf die Mailbox gesprochen, wusste nicht, was ich noch machen sollte…“ gegenüber treten.

Helena Brandes, dachte sie, das ist doch die Frau von Jonathan Brandes, dem Schriftsteller. Sie hatte das mal in einer Unterhaltung der Ärztin mit Helena „zwischen Tür und Angel“ überhört. Und sie hatte alle von Jonathan Brandes erschienenen Romane gelesen. Eine Recherche im Telefonbuch der Stadt ergab siebzehn Einträge für „Brandes“. Fünfzehn Teilnehmer hatten Vornamen, die weder Jonathan noch Helena lauteten, zwei waren Einträge ohne Vornamen. Einer davon hatte eine Adresse in einer Gegend, in der man weder eine teuer gekleidete Privatpatientin noch einen leidlich bekannten Schriftsteller vermuten würde. Also der andere. Julia wählte die Nummer.

Jonathan hörte das Telefon klingeln, sprang auf und meldete sich.

„Guten Tag, hier ist die Praxis Dr. Bergmann. Spreche ich mit Herrn Jonathan Brandes?“ Julias Aussprache war klar und verbindlich, jedoch ohne künstlichen übertriebenen „Businesssprech“. Liebend gerne hätte sie Jonathan auf seine Bücher und ihre Begeisterung darüber angesprochen, doch das verbat ihre Position als Sprechstundenhilfe einer Arztpraxis und ihre aktuelle Aufgabe.

Jonathan reagierte leicht zerstreut. „Äh, ja, das ist richtig“, sagte er nur.

„Wäre es möglich, mit Frau Helena Brandes zu sprechen?“

„Oh, ich fürchte, das… das ist jetzt gerade… ähm… etwas ungünstig“, stammelte Jonathan. „Kann ich ihr vielleicht etwas ausrichten?“

„Selbstverständlich, wenn Sie bitte so freundlich wären. Frau Brandes war heute vor etwa einer Stunde für einen weiteren Termin eingetragen, und es wäre sehr wichtig, meinte die Frau Doktor. Könnten Sie ihr bitte ausrichten, dass sie uns bitte sofort anrufen möchte, sobald es ihr möglich ist? Praxis Dr. Bergmann.“

Jonathan stutzte. Er kannte keine Praxis Dr. Bergmann. Helena hatte nie etwas in der Richtung erwähnt. Sie hatte auch keine Beschwerden geäußert oder irgend einen Grund, eine andere Praxis als die ihres Gynäkologen aufzusuchen.

Es dauerte eine Sekunde, dann schaltete Jonathan. „Selbstverständlich gerne“, sagte er verbindlich. „Praxis Dr. Bergman, habe ich richtig verstanden? In München…“

„Ganz genau.“

„Könnten Sie mir freundlicherweise nochmal ihre Telefonnummer geben, ich möchte nur sichergehen, dass wir sie gleich parat haben…“ Jonathan schrieb die Nummer auf einen Zettel, dann legte er auf. Er war wie in Trance, als er im Internet recherchierte.

Dr. Angela Bergmann, Praxisgemeinschaft Onkologie und Hämatologie, Nymphenburger Straße…

Gott steh‘ mir bei! Helena hatte also einen „weiteren Termin“, der „sehr wichtig“ war, in einer Praxis für Krebsheilkunde?! Jonathan hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt. Er fühlte sich, als hätte jemand in seinen Blutkreislauf einen Zapfhahn eingeschlagen, aufgedreht, und das Blut würde nun einfach nur rasch seinen Körper verlassen. Er musste sich setzen.

6. Nevada, USA, irgendwo im Nirgendwo nördlich von Las Vegas