Franz Ruppert

Wer bin Ich
in einer
traumatisierten
Gesellschaft?

Wie Täter-Opfer-Dynamiken
unser Leben bestimmen und wie
wir uns daraus befreien

Impressum

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-96270-3

E-Book: ISBN 978-3-608-11105-7

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20398-1

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Vorwort

Warum schreibe ich dieses kleine Buch? Angefangen hatte es für mich Anfang 2017 mit der sich weiter zuspitzenden Weltlage. Mit den Kriegen im Irak, in Syrien und in Libyen. Den sich daraus ergebenden und immer mehr anschwellenden Flüchtlingsströmen aus Afghanistan, dem Irak, Syrien und Afrika, die auch nach Deutschland kamen. Mit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA. Mit dem Aufbau einer Diktatur in der Türkei. Mit den rechtsnationalen Bewegungen in Frankreich, den Niederlanden und in Deutschland. Mit der Atomkriegsandrohung zwischen Nordkorea und den Vereinigten Staaten. Um nur das Offensichtliche und für mich besonders Bedrohliche zu erwähnen. Es ist atemberaubend mitzubekommen, wie unverfroren und kaltlächelnd ein Dritter Weltkrieg seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unablässig als Friedenssicherung besprochen und verkauft wird. Wie unerschütterlich am Aufbau von Feindbildern gearbeitet und daran festgehalten wird. Wie jede weitere Eskalation für die Entscheidungsschlacht zwischen den USA und ihren NATO-Verbündeten und der ehemaligen UDSSR, jetzt Russland, als reine Verteidigungsmaßnahme angekündigt wird.

Ich konnte nicht mehr ruhig schlafen. Ich merkte, wie meine Gedanken immer stärker um diese gesellschaftlichen und globalen Realitäten kreisten. Der Stresspegel in mir stieg stetig weiter an. Ich fragte mich, was kann ich dagegen tun? Und dachte, ich müsste nun meine Erkenntnisse, die ich aus meiner jahrelangen therapeutischen Arbeit gewonnen habe, noch schnell unter die Menschheit bringen. Bevor es zu spät ist. Damit die Menschen endlich aufwachen und aufhören, sich weiter gegenseitig sinnlos zu traumatisieren. Damit sie sich nicht weiter mittels Krieg und Terror in diese wahnsinnigen Täter-Opfer-Dynamiken hineinsteigern. Damit sie sich nicht gegenseitig in den Abgrund einer atomaren Katastrophe hineinstoßen.

Ich bin 1957 in einem kleinen Bauerndorf in Bayern zur Welt gekommen. Ein zerbrochenes Hitlerporträt in einer Dachkammer im Haus meiner Großmutter mütterlicherseits, eine ominöse Pistole im Nachtkästchen des ältesten Bruders meiner Mutter, Angst machende Schwarz-Weiß-Kriegsfilme im neu erworbenen Fernseher – recht viel mehr hatte ich vom letzten großen Krieg auf Deutschlands Boden in meiner Kindheit nicht mitbekommen. Wie traumatisiert meine Eltern durch ihre Herkunftsfamilie, die Nazi-Diktatur und unmittelbare Kriegserlebnisse waren, wurde mir erst viel später klar. Wie sehr ich selbst von meinen traumatisierten Eltern traumatisiert wurde, kann ich erst seit wenigen Jahren annähernd begreifen und fühlen.

Glücklicherweise kann ich mittlerweile kontinuierlich an meinen eigenen Psychotraumata arbeiten. An der Tatsache, dass ich nicht gewollt, nicht geliebt und als Kind nicht vor Gewalt geschützt worden bin, zweifle ich nicht mehr. In einer unruhigen Nacht im Sommer 2017, in der sich mein Körper immer mehr verspannte und ich keinen Schlaf fand, hatte ich plötzlich eine Stimme in meinem Ohr: Du darfst weinen! Dann flossen Tränen aus meinen Augen, und ich war von einem Moment auf den anderen ganz entspannt. Offenbar hatte dieser Satz das kleine Kind in mir beruhigt, dem vor 60 Jahren mit Ablehnung und Zurückweisung begegnet wurde, wenn es geweint und seine Gefühle zum Ausdruck gebracht hatte. Schon als Säugling hatte ich gelernt, meine Angst vor Einsamkeit und Gewalt, meinen Ärger, meine Wut und meinen Schmerz zu unterdrücken. Nicht mehr zu schreien und zu weinen und mich stattdessen zu schämen, wenn ich in den Augen meiner Eltern und Lehrer nicht brav genug war. Ich erschien nach außen hin ruhig, mein innerer Stress jedoch wurde immer höher.

»Unsicher-vermeidend« nennen Bindungsforscher dieses Verhalten: Das Kind wirkt äußerlich still, um im Kontakt mit abweisenden und strafenden Eltern bleiben zu können. Innerlich steht es unter Hochspannung. Es muss seine Bedürfnisse nach Kontakt und Liebe unterdrücken und seine Gefühle unter Kontrolle halten. Dieses Muster bei mir selbst nicht nur zu wissen – schon seit Jahren halte ich Vorlesungen zu diesem Thema –, sondern intensiv zu fühlen, hat mich wieder ruhiger gemacht. Trotz einer sich weiter in den Irrsinn hineinsteigernden Weltlage kann ich viel besser schlafen als je zuvor.

Ich kann Ähnliches bei anderen Menschen beobachten. Ihre eigenen (Kindheits-)Traumata werden durch aktuelle gesellschaftliche Vorkommnisse (z. B. Terroranschläge oder diktatorische Politiker) getriggert. Sie geraten in Panik, Unruhe und Stress. Wenn sie dann Gelegenheit haben, sich mit ihren eigenen Traumata auseinanderzusetzen, können sie sich wieder beruhigen und ihre Emotionen besser regulieren. Zwar wird die äußere Welt dadurch keinen Deut anders. Aber sie kommen so wieder mehr zu sich und können ihre aktuellen Handlungsmöglichkeiten realistischer wahrnehmen.

Niemand von uns kann »die Welt« retten. Vor denen, die das versuchen, sollte man sich womöglich besonders in Acht nehmen. Jeder von uns ist nur eine kurze Momentaufnahme des Lebens innerhalb unvorstellbarer Zeit- und Raumdimensionen. Wir dürfen daher dieses eigene kostbare Leben vor Unheil bewahren – und es genießen, soweit es die jeweilige Weltlage und unsere eigenen Lebensressourcen im aktuellen Moment zulassen. Wir dürfen uns vor dem offensichtlichen Wahnsinn anderer Menschen in dieser Welt retten, wo immer uns das möglich ist. Um das zu können, müssen wir durch die Arbeit an unserer eigenen, traumatisierten Psyche etwas Wichtiges lernen: dass wir uns nicht in den Strudel der zahllosen Täter-Opfer-Dynamiken hineinreißen lassen, die sich in uns aufbauen können und uns von anderen Menschen fortlaufend angeboten werden.

Die Grundsatzfrage »Wer bin Ich und was will Ich?« schließt die Überlegung mit ein: »In welcher Gemeinschaft von Menschen möchte Ich leben?« Was verbindet mich mit meinen Mitmenschen? Was trennt mich von ihnen? Gibt es tatsächlich ein »Wir«, für das es sich lohnt, meine Lebensenergien einzusetzen? Oder ist dieses »Wir« nur die Illusion einer scheinbar harmonisch geordneten Zwangsgemeinschaft, die im Unfrieden mit anderen Zwangsgemeinschaften um sie herum existiert?

Ich persönlich gehe, so gut es mir möglich ist, privat wie beruflich weiter meinen eigenen Weg. Ich mache die therapeutische und publizistische Arbeit, die ich für richtig und sinnvoll halte und die mir Freude macht. Wenn ich erlebe, dass anderen Menschen dadurch in ihrem Alltag geholfen wird, freue ich mich darüber. Ich fühle mich dadurch bestätigt, dass dies wohl ein guter Ansatz ist. Ich genieße die Begegnungen und den Austausch mit solchen Menschen. Auf die Gesellschaft anderer, die in Täter-Opfer-Dynamiken feststecken, kann ich mittlerweile ohne Angst vor Vereinsamung gut verzichten. Ich mag mich mit ihren aus ihren Traumata heraus selbstgeschaffenen Problemen auch nicht mehr intensiver auseinandersetzen.

Letztlich habe ich dieses kleine Buch für mich selbst geschrieben, um meine eigenen Gefühle, Gedanken und Erfahrungen weiter zu sortieren. Um klarer zu werden, was für mich wichtig ist, über diesen Erdball und die auf ihm versammelten Menschen zu wissen. Um zu klären, was gesellschaftlich machbar ist und was nicht, um den zahllosen Täter-Opfer-Dynamiken in den traumatisierten und traumatisierenden Gesellschaften um mich herum, so gut es geht, aus dem Weg zu gehen und selbst keine neuen Täter-Opfer-Dynamiken zu inszenieren.

Daher möchte ich durch dieses Buch niemandem Anlass bieten, in einen Täter-Opfer-Dialog mit mir einzutreten. Es geht mir nicht darum, andere Menschen abzuwerten und Schuldzuweisungen zu machen. Sondern Ursachen zu benennen, so wie ich sie im Augenblick verstehe. Ich gehe gerne mit Lesern in den Austausch, die mir zu dem hier Geschriebenen ihre persönlichen Lebenserfahrungen mitteilen wollen. Ich freue mich, wenn meine Einsichten an der einen oder anderen Stelle bei der Mitgestaltung von möglichst traumafreien und konstruktiv orientierten Gemeinschaften dienlich sind. Zum Guten verändern kann jeder nur sich selbst. Wenn das viele machen, ändern sich auch Gesellschaften.

München, im März 2018

1

Die Menschheit und Ich

Das Paradies auf Erden wäre greifbar nahe

Als Gattung (»homo sapiens«) hat es die Menschheit weit gebracht. Es leben im Jahr 2018 bereits 7,5 Milliarden Menschen auf dieser Erde, Tendenz steigend.1 Sie haben phantastische kulturelle und technologische Errungenschaften hervorgebracht, die ihnen Nahrung, Kleidung, Wohnungen, Produkte jeglicher Art, Mobilität und Information in Hülle und Fülle zur Verfügung stellen können. Mensch zu sein und als Mensch zu leben, kann lustvoll und wunderschön sein. Es steht unendlich viel Wissen zur Verfügung. Es gibt hervorragende Lehrer, Bildungseinrichtungen und Lernmethoden. Es gibt viele Menschen, die einander hingebungsvoll unterstützen. Die sich liebend gerne gegenseitig weiterhelfen. Das sehen wir immer dann, wenn z. B. durch Naturkatastrophen große Not entsteht und sofort viele Menschen mit großem Einsatz als Helfer vor Ort sind.

Ich sehe uns Menschen als einen Teil der Evolution. Da evolutionäre Prozesse stets mehr oder minder gelungene Kompromisslösungen für Probleme und Konflikte finden, sind auch wir als Homo sapiens in vielerlei Hinsicht eine Kompromissformel. Wir sind mittelgroß und mittelkräftig, wir sind mittelschnell und mittelintelligent. Auch für uns Menschen ist die Natur um uns herum kein Paradies. Hitze und Kälte ertragen wir nur in Maßen. Selbst als Allesesser ist das natürlich vorhandene Nahrungsangebot für uns begrenzt. Für die Vorteile der sexuellen Vermehrung bezahlen wir den Preis der Einseitigkeit. Die Frauen müssen die Last der Schwangerschaft und der Ernährung der Babys tragen. Männer sind hormonell bedingt dem Zwang zur Konkurrenz mit anderen Männern unbewusst ausgeliefert. Es fehlt ihnen auch die tiefe Emotionalität einer Verbindung zum eigenen Kind, welche Schwangerschaft und Geburt den Frauen von Natur aus ermöglichen. Die sexuelle Fortpflanzung bedingt zahlreiche Interessensgegensätze zwischen Männern und Frauen, zwischen Eltern und Kindern und Männern und Frauen untereinander.

Wegen solcher Herausforderungen für den Selbst- und Arterhalt hat es im Grunde kein Mensch immer leicht in seinem Leben. Selbst zu leben und neues menschliches Leben zu schaffen und zu erhalten, verlangt jedem Einzelnen viel ab. Es kann ihn an die Grenzen seiner Möglichkeiten bringen. Das wäre dann eigentlich schon genug Lebenssinn und Lebensaufgabe. Beim näheren Hinsehen kann man allerdings feststellen, dass sich die Menschen das Leben gegenseitig noch viel schwerer machen, als es für den reinen Art- und Selbsterhalt notwendig wäre. Menschen setzen sich selbst unter enormen Druck. Sie stressen andere zuweilen über alle Maßen. Dabei ist überhaupt nicht ersichtlich, was sie davon mehr an Lebensglück und Daseinsfreude haben.

Ich kann in einer technologisch immer mehr vernetzten Welt mittels Handy und Internet in Sekundenschnelle mit Freunden, Kollegen und Geschäftspartnern in Singapur, Brasilien, Los Angeles oder Moskau in Kontakt treten. Wenn ich etwas wissen will, braucht es nur ein paar Klicks auf meinem Computer, und schon habe ich Fakten und Meinungen dazu. In meinem Wohnort München habe ich ein großes Netzwerk persönlicher Beziehungen, ein enormes Angebot an Bildungseinrichtungen, gute Arbeitsmöglichkeiten, schöne kulturelle Veranstaltungen und kulinarische Köstlichkeiten in Hülle und Fülle.

Dennoch fällt es mir nicht leicht, das alles vorbehaltlos zu genießen. Z. B. Fleisch zu essen, fällt mir schwer, wenn ich an die Bedingungen bei der Hühner-, Schweine- oder Kälberzucht denke (Safran Foer 2010). Es macht mir auch kein gutes Gefühl zu wissen, wie reich ich im Vergleich zu den vielen Millionen bin, die kein Dach über dem Kopf haben, von der Hand in den Mund leben müssen oder im Kriegselend und in Flüchtlingscamps nur dahinvegetieren.2 Wenn ich die Medien nutze, wenn ich wahrnehme, was tagtäglich an Wahnsinn in dieser Welt geschieht, für welche destruktiven Ziele Menschen ihre Lebenszeit, ihre Lebensenergie, ihre Intelligenz, all das viele Geld und die Schätze der Natur verwenden, wird mir übel, und ich werde zuweilen auch ärgerlich. Ich bekomme Angst vor so viel menschlicher Dummheit, Sturheit, Verlogenheit und Gewaltgeilheit, die leider nicht nur einige wenige Menschen zeigen.

Würde auch nur ein Bruchteil der derzeitigen Aufwendungen für diktatorische Herrscher, Militärs, Geheimdienste, Waffen und sinnlose Wirtschaftskriege für Bildung, Gesundheit und regenerative Energieerzeugung ausgegeben, könnte der ganze Erdball bald eine Zone des Friedens und des Wohlstands für die meisten Menschen sein.

Materieller Wohlstand kann uns Menschen aber auch gut darüber hinwegsehen lassen, wie elend es sich in unserem Inneren anfühlen kann. Beruflicher Erfolg, eine eigene Wohnung, eine eigene Familie täuschen oft darüber hinweg, dass ein Mensch zutiefst unglücklich ist und sich einsam und verlassen auf dieser Welt fühlt. Die Bilder von den Armen und Geknechteten dieser Welt, denen es materiell wesentlich schlechter geht als einem selbst, kann vermeintlichen Wohlstandsbürgern zusätzlich den Blick auf ihre innere Not verstellen. Eigener materieller Reichtum verursacht dann Schuldgefühle und provoziert den Antrieb, helfen zu müssen. Die einen greifen ins Portemonnaie, während andere das Helfen zu ihrem Beruf erheben. Meist werden dadurch jedoch weder die Ursachen der äußeren Not armer Menschen behoben, noch wird damit das eigene innere Leid ernst genommen.

Umgekehrt erzeugen die Bilder von äußerem Wohlstand bei den Armen der Welt die Illusion, in den reichen Ländern wäre das Paradies auf Erden zu finden. Die Bilder von materiellem Überfluss ziehen sie magisch an. Unter anderem deshalb machen sie sich sogar unter Todesgefahren auf den Weg zu diesen Sehnsuchtsorten. Hier angekommen, müssen sie dann feststellen, wie viel Misstrauen, Feindseligkeit und menschliche Kälte ihnen oft entgegenschlägt. Dass sie nur willkommen sind, wenn sie sich irgendwie, z. B. als billige Arbeitskräfte, nützlich machen.

Auch ich wollte meine inneren, psychischen Probleme 50 Jahre lang überhaupt nicht wahrnehmen. Ich hatte stattdessen lieber den Blick auf andere Menschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet. Sich mit sich selbst zu beschäftigen, galt in den linken Kreisen, in denen ich mich in meiner Studentenzeit bewegte, als selbstverliebte »Nabelschau«, für die keine Zeit war im Kampf für eine gerechtere Welt gegen Kapitalismus, Imperialismus und falsches Bewusstsein – der anderen. Wie traumatisiert und beziehungsunfähig wir Aufklärer selbst waren, durfte nicht thematisiert werden.

Menschheit am Abgrund

Auf zahlreichen Schlachtfeldern herrschen derzeit brutale Kriege. In der Ökonomie tobt ein gnadenloser Wettbewerb. In vielen Ehen und Familien leben Menschen wie in einem Kriegszustand. Selbst im Internet und in den sozialen Medien, wo wir eigentlich schnell und viel voneinander lernen könnten, wütet an vielen Stellen eine Schlacht der Worte. Er werden Hass-Botschaften am laufenden Band versendet.3 Es werden die brutalsten Gewaltvideos verbreitet. Es findet ein verdeckter Kampf mit Viren und Spähsoftware statt, um in die Privatsphäre anderer Menschen einzudringen, ihre Computer zu hacken oder zu zerstören. Auch auf diesem Weg werden Existenzen vernichtet. Zahllose Menschen werden so psychisch terrorisiert.

Wer denkt, Hass, Neid und Unterdrückung seien unabänderliches menschliches Schicksal, naturgesetzlich festgelegt oder gar gottgewollt, für den gibt es keine Hoffnung auf Besserung. Er/sie kann nur darauf warten, bis sich diese Gattung Mensch eines Tages selbst auslöscht oder von den Naturgewalten, die sie in ihrer Suche nach militärischen Erfolgen und kurzfristigem Profit provoziert, wieder von diesem Globus weggefegt wird. Die Klimakatastrophe ist im vollen Gange und die Mittel für die Selbstausrottung sind längst vorhanden. Ca. 16 300 Atomsprengköpfe sind in der Lage, die gesamte Erde binnen Minuten in eine unbelebte Wüste zu verwandeln und schlagartig den Tod allen komplexeren Lebens zu bewirken. Statt diese Wahnsinnswaffen zu entschärfen und zu verschrotten, werden sie von den Nationen, die Atommächte sind, derzeit sogar noch weiter »modernisiert« – was für ein zynischer Begriff!

Warum also knechten sich Menschen gegenseitig, wenn auch gute Kooperationen möglich wären? Warum tun sie sich gegenseitig all diese Gewalt an, wenn friedliche Lösungen doch ganz offensichtlich für alle viel besser wären? Warum treiben sie sich untereinander bis in den Wahnsinn, wenn rationale Vorgehensweisen viel zeit- und energieeffizienter wären? Warum hören sie nicht eher auf, bis sie nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst körperlich und psychisch ruiniert haben?

Mehrfach schon stand die Menschheit in jüngster Vergangenheit an diesem Abgrund der globalen Selbstvernichtung. 1960 z. B. in der sog. Kuba-Krise und auch heute wieder, wenn in Syrien die USA und Russland auf einem heiß umkämpften Kriegsschauplatz mit ihren Weltmachtambitionen aufeinanderprallen. Und jetzt beteiligt sich sogar noch ein kleines Land wie Nordkorea an diesem Wahnsinn, dem »Feind« mit der atomaren Vernichtung zu drohen. Am Samstag, dem 13. Januar 2018, hätte folgende, über sämtliche Mobiltelefone verbreitete Alarmmeldung in Hawaii angesichts der massiven Spannungen zwischen Nordkorea und den USA leicht die nukleare Katastrophe auslösen können: »EMERGENCY ALERTS – BALLISTIC MISSILE THREAT INBOUND TO HAWAII. SEEK IMMEDIATE SHELTER. THIS IS NOT A DRILL4

Auch in früheren Jahrhunderten waren die Menschen sicher nicht weniger brutal zu sich selbst und zu anderen. In den letzten hundert Jahren aber haben sie mit ihrem blinden Forschergeist ein technologisches Potential entwickelt, das die Totalvernichtung ermöglicht. Paradies oder Hölle – darüber entscheidet am Ende vielleicht sogar ein nicht mehr zu stoppender technologischer Algorithmus, der von irgendeinem Menschen zuvor in guter Absicht programmiert wurde (Harari 2017).

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Die menschliche Psyche – wie innen so außen

Wie der Blick auf die Menschheitsgeschichte belegt, ist die Ursache dafür, ob wir als Menschen gut leben oder uns das Leben gegenseitig zu einer Plage machen, nicht so sehr in unserer natürlichen Umwelt als letztlich in uns Menschen selbst gegründet. Kriege werden z. B. nicht wegen Hunger und Nahrungsmangel geführt, sondern wegen religiöser, wirtschaftlicher oder ganz persönlicher Ideologien der Unruhestifter und Kriegstreiber (Harari 2015). Auch materieller Wohlstand und die Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Essen, Trinken, Kleidung und Wohnung führen nicht automatisch dazu, dass die Menschen zufriedener mit ihrem Dasein sind und damit friedlicher zusammenleben.

Ob wir Menschen kooperativ oder aggressiv sind, liegt in erster Linie an der Verfassung unserer Psyche. So wie es in unserer Psyche aussieht, so gestalten wir auch unsere Umwelt, die soziale wie die natürliche. Herrscht in unserer Psyche Chaos, so veranstalten wir auch im Außen Chaos. Sind wir mit unserer Psyche im Reinen, können wir auch in unserer Umwelt für klare und geordnete Verhältnisse sorgen. Wie im Innen, so im Außen.

Wenn das so ist, dann besteht zumindest ein Funke Hoffnung für unsere sozialen Gemeinschaften. Denn so wissen wir zumindest, woran wir gemeinsam arbeiten könn(t)en. Wir müss(t)en

um sie für möglichst lebensfreundliche statt für lebensvernichtende Vorhaben zum eigenen Wohl und zum Vorteil aller zu nutzen.

Unsere menschliche Psyche ist im Grunde genommen ein phantastisches Werkzeug. Eine Toolbox mit enormen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Solange wir sie als etwas Kostbares, Sensibles und Wertvolles hegen und pflegen und vor Beschädigungen bewahren, kann sie uns die allerbesten Dienste erweisen. Sie ist nicht von Geburt an durch »Gene« festgelegt, sondern sie wird durch unsere Beziehungen und Lebensstile geprägt (Bauer 2002). Sie kann und muss daher immer wieder neu justiert werden, wenn sie von negativen Lebenserfahrungen oder gewaltvollen Beziehungen geprägt ist, von unerträglichen Gefühlen vergiftet oder von Missverständnissen fehlgeleitet wird.

Wenn wir ein besseres Leben führen wollen und uns nicht länger gegenseitig bekämpfen möchten, müssen wir also im Endeffekt besser verstehen, warum sich eine menschliche Psyche in zwischenmenschlichen Beziehungen so leicht in aggressive Auseinandersetzungen mit anderen Menschen verwickeln lässt – warum diese Psyche, statt nach konstruktiven Lösungen zu suchen, sich in eskalierenden Täter-Opfer-Dynamiken verfangen kann. Wir müssen lernen, wie wir uns aus solchen destruktiven Endlosschleifen so schnell wie möglich wieder befreien können. Wir dürfen es nicht zulassen und akzeptieren, zum Sklaven unserer eigenen, beschädigten Psyche zu werden!

Aus vielen Arbeiten mit Menschen in meiner psychotherapeutischen Praxis und aus der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Psyche habe ich mittlerweile die Gewissheit: Die ausschlaggebende Ursache für die Destruktivität von uns Menschen ist die Traumatisierung unserer Psyche. Sie führt in nicht endende Täter-Opfer-Beziehungsdynamiken hinein. Wird diese Tatsache erkannt und von den betroffenen Menschen auch anerkannt, dann ist der Ausstieg aus dieser Destruktivität wieder möglich, selbst wenn wir uns schon lange darin aufgehalten und bereits daran gewöhnt haben. Wir können lernen, wieder bei uns selbst zu sein und anderen Menschen mit Wohlwollen und Sympathie zu begegnen. Auch wenn wir selbst schon viel Leid erlitten und anderen große Schmerzen zugefügt haben.

Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, sich mit der eigenen Psyche und der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen. Notwendig dafür sind gleichgesinnte Menschen, die diesen nicht einfachen Weg zusammen gehen. Wesentlich sind dafür auch Methoden, die uns helfen, unsere Psyche zu durchschauen, sie von ihren Verletzungen zu heilen und sie gesund zu erhalten. Solche Verfahren gibt es mittlerweile. Ich selbst habe mit der Anliegenmethode ein sehr brauchbares Werkzeug entwickelt, der eigenen Psyche auf die Spur zu kommen und den in ihr enthaltenen Traumata direkt zu begegnen. Das generelle Ziel dabei ist es, den Weg zurück in die Konstruktivität zu finden, wenn wir uns in destruktiven Beziehungen verrannt haben.

Für die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der eigenen Psyche ist jeder Einzelne von uns selbst verantwortlich. Niemand kann mit Gewalt dazu genötigt werden. Wenn wir diese Grundsatzentscheidung einmal getroffen haben, dann begegnen wir mit Sicherheit solchen Menschen, die uns auf diesem Weg unterstützen; denen wir wiederum auch unsere Hilfe zukommen lassen können.

Bedürfnislosigkeit, Lustprinzip oder Lernen durch Belohnung?

Schon seit Längerem versuchen Religionsstifter, Philosophen und Psychologen die Frage zu beantworten, was uns Menschen veranlasst, das zu tun, was wir machen? Was lässt uns glücklich sein und was lässt uns leiden? Siddhartha Gautama, der Begründer des Buddhismus, sah in unseren Denk- und Verhaltensmustern das Haupthindernis für ein glückliches Leben. Deswegen empfahl er, sich von dem frei zu machen, was Leiden schafft: das emotionale Anhaften an unseren Bedürfnissen und Vorstellungen, die uns nie zufrieden sein lassen und nach immer mehr rufen. Statt Gefühle, die auftauchen und wieder verschwinden, verändern zu wollen, empfahl er, sie einfach da sein zu lassen, sie nicht weiter wichtig zu nehmen und weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft zu denken. Dafür entwickelte er zahlreiche Meditationstechniken wie z. B. das bewusste Atmen.

In der westlichen Welt meinte Sigmund Freud (1856–1939), es wäre das »Lustprinzip«, dem wir alle gehorchten. Wir würden stets danach streben, Lust zu erleben und Unlust zu vermeiden. Mittels dieses Prinzips müsste zumindest jeder einzelne Mensch gut für sich selbst sorgen können. Unter dem Eindruck des Ersten und sich anbahnenden Zweiten Weltkrieges wurde Freud jedoch zunehmend pessimistischer. Er glaubte am Ende seines Lebens, in uns Menschen seien nicht nur die »Libido« und der »Eros« am Werk, also das Begehren zu leben und zu lieben, sondern auch der »Thanatos«, ein unbewusster Trieb, der uns als Einzelne und im Kollektiv in die Erstarrung, den Tod und ins Verderben dränge. »Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.« (Freud 1979, S. 128) Für Freud war für den Einzelnen das tiefenpsychologische Durcharbeiten der eigenen Erfahrungen, vor allem denen aus frustrierenden Kinderzeiten, der geeignete Weg, sich von »Neurosen« frei zu machen und ein besseres Dasein zu führen. Was in Bezug auf die gesamte Gesellschaft zu tun sei, davon hatte er keine Vorstellung, »da niemand die Autorität besitzt, der Masse die Therapie aufzudrängen« (a. a. O., S. 128).

Die Antwort der Verhaltenspsychologen auf die Frage, warum wir machen, was wir tun, fiel etwas anders aus. Sie meinten, wir würden nach Belohnung streben und Bestrafung vermeiden. Aus diesem Grund würden wir all das schnell lernen, was uns belohnt (»positiv verstärkt«), und all das unterlassen, wofür wir bestraft werden (»negativ verstärkt«). Dieses Prinzip könne, nach Ansicht von Frederik B. Skinner (1904–1990), einem der Begründer dieser Lehre, bestens dafür genutzt werden, um jeden Menschen zu dem zu bringen, was als »erwünschtes Verhalten« definiert wird. Seine politische Vision einer gesamtgesellschaftlichen Anwendung der Lerntheorie brachte Skinner in seinem Roman »Walden Two« literarisch zum Ausdruck (Skinner 1972).

Ohne Zweifel kann man Menschen durch Belohnung und Bestrafung dazu veranlassen, zumindest ihr geäußertes Verhalten zu ändern. Der Manipulation von uns Menschen ist damit aber auch Tür und Tor geöffnet. Denn nur wer die Autorität, die Macht und das Geld besitzt, kann »erwünschtes« und »unerwünschtes Verhalten« nach seinen Interessen definieren und andere Menschen in seinem Sinne so »konditionieren«, dass sie sich schließlich daran gewöhnen und glauben, dazu gar keine Alternative zu haben.5

Gäbe es keine innere Instanz, die sich dafür entscheidet, z. B. trotz Bestrafung ein bestimmtes Verhalten aufrechtzuerhalten, das sie für sinnvoll erachtet, könnte in der Tat jeder Mensch durch äußere Einflüsse ganz und gar gesteuert werden. Offenbar gibt es diese innere Instanz aber in jedem Menschen, und sie kann sogar ziemlich resistent gegen äußere Belohnung und Bestrafung sein, wie etwa die Beispiele von jugendlichen Intensivtätern oder Drogenabhängigen belegen oder jenen jungen Mädchen, die sich freiwillig zum sogenannten Islamischen Staat nach Syrien oder in den Irak aufmachen und damit in ihr eigenes Unglück rennen. Manche Menschen lassen sich weder durch Bestrafungen noch durch Belohnungen vor weiteren Straftaten, ihrem Drogenkonsum oder dem Erschießen von völlig unschuldigen Menschen abschrecken. Zum Glück können aber auch Menschen mit klaren Gefühlen und Gedanken und einem gesunden Selbstbewusstsein von Belohnungen und Bestrafungen nicht so leicht beeindruckt und manipuliert werden. Sie wissen selbst, was sie wollen und was nicht, und verhalten sich aus eigenem Antrieb heraus entsprechend.

Das pharmakologische Heilsversprechen

Spirituelle Praktiken und Psychotherapie, in welcher Form auch immer, verlangen die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit den eigenen Gefühlen, Gedanken, Einstellungen oder Verhaltensweisen. Wäre es da nicht einfacher, zeitsparender und müheloser, die gewünschten Veränderungen durch psychoaktive Substanzen zu erreichen? In der Tat ist das der Traum von Menschen seit Jahrtausenden. Sie schlucken, trinken, inhalieren oder spritzen sich mächtige Wirksubstanzen, und schon scheint die Welt, zumindest vorübergehend, für sie wieder in Ordnung zu sein. Alkohol, Ayahuasca, »Badesalz«, Cannabis, Fliegenpilze, Heroin, Kokain, LSD, Nikotin, Peyote Kakteen . . . die Liste der psychoaktiven Drogen ist lang. Sie wird ergänzt durch das, was in den Unternehmen der Pharmabranche tagtäglich an Substanzen zusammengebraut wird. Die dann als Psychopharmaka auf den Markt kommen und mit viel Gewinn verkauft werden als Benzodiazepin, Ritalin, Seroquel etc.

Wie die Erfahrung aber zeigt, sind die Effekte solcher Substanzen nur kurzfristig. Auf längere Sicht bewirken sie das Gegenteil von dem, was mit ihnen beabsichtigt wird, weil das menschliche Gehirn gegensteuert. So entsteht das Bedürfnis nach Dosissteigerung und Drogen- und Arzneimittelabhängigkeiten. Aus ursprünglichen »psychischen Störungen« werden »psychische Krankheiten«. »Neurosen« und »Psychosen« werden chronisch. Die Psyche dieser Menschen entwickelt sich nicht weiter (Ruppert 2002).

Bewusste und unbewusste Psyche