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ADAM CHRISTOPHER wurde in Neuseeland geboren und lebt als Schriftsteller in Großbritannien. Sein Debütroman ­Empire State erhielt u. a. von der Financial Times die Auszeichnung als Buch des Jahres 2012. Ein Jahr später wurde Adam Christopher für den Sir-Julius-Vogel-Award als Bester neuer Künstler nominiert. Als großer Fan der Erfolgsserie STRANGER THINGS erarbeitete er gemeinsam mit Netflix die Geschichte um Jim Hopper.

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Adam Christopher

FINSTERNIS

Die Wahrheit über Jim Hopper –
die Vorgeschichte zur Erfolgsserie

Aus dem Englischen
von Melike Karamustafa

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Suspicious Minds bei Del Rey, einem Imprint von Random House, New York.

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This translation published by arrangement with Del Rey, an imprint

of Random House, a division of Penguin Random House LLC

Copyright © der deutschsprachigen Erstausgabe 2019 by Penguin Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: www.bürosüd.de nach einer Vorlage von Scott Briel

Umschlagmotiv: Rick Davies

Übersetzung: Melike Karamustafa

Redaktion: Susann Harring

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24252-7
V001

www.penguin-verlag.de

Für Sandra, immer.
Und für Aubrey, weil.



Prolog

26. DEZEMBER 1984

Hoppers Hütte

Hawkins, Indiana

Jim Hopper stand vor dem Spülbecken, die Arme tief im heißen Seifenwasser versenkt, und versuchte, gegen das Lächeln anzukämpfen, das beim Anblick der dicken weißen Flocken vor seinem Küchenfenster an seinen Mundwinkeln zerrte.

Weihnachten war keine gute Zeit. Nicht für ihn. Nicht mehr seit … Nun ja, schon seit langer Zeit nicht mehr. Seit Sara. Er akzeptierte es. In den vergangenen sechs, bald sieben Jahren, die er wieder in Hawkins war, hatte er sich mit den in jeder Adventszeit neu aufkeimenden Gefühlen von Trauer und Verlust abgefunden.

Wobei abgefunden nicht das richtige Wort war. Er hieß die Gefühle willkommen, erlaubte sich, von ihnen überwältigt zu werden. Weil es so leichter war. Angenehmer. Und, merkwürdigerweise, auch sicherer.

Dabei hasste er sich selbst dafür, den Gefühlen nachzugeben und zuzulassen, dass sich der Samen der Verzweiflung jedes Jahr aufs Neue in ihm einnistete, um in den folgenden Wochen zu voller Pracht zu erblühen. Der Hass ließ ihn noch tiefer in der Dunkelheit versinken, und so drehte sich die ­Spirale immer weiter und weiter, zog ihn tiefer und tiefer.

Doch jetzt nicht mehr.

Nicht in diesem Jahr.

Dieses war das erste Jahr, in dem alles anders war. Sein Leben hatte sich verändert, und erst die Veränderung hatte ihm klargemacht, wie tief er bereits gefallen war. Was aus ihm geworden war.

Und das alles wegen ihr: Jane, seiner Adoptivtochter. ­Legal und offiziell seine Familie.

Jane Hopper.

Elf.

Elfi.

Hopper spürte, wie sich das Lächeln abermals auf sein Gesicht stahl, und dieses Mal wehrte er sich nicht dagegen.

Natürlich bedeutete Elfis Anwesenheit nicht, dass er die Vergangenheit vergessen würde. Ganz im Gegenteil. Doch er trug jetzt eine neue Verantwortung. Er hatte wieder eine Tochter, die er großziehen würde, und das hieß, dass er weitermachen musste. Das machte seine Vergangenheit nicht ungeschehen, doch er konnte sie endlich in einem sicheren Winkel seines Kopfes ruhen lassen.

Noch immer fielen dicke Schneeflocken vom Himmel. Die Stämme der Bäume, die seine Hütte umstanden, steckten bereits in einer gut einen halben Meter hohen, weichen Schneedecke. In den Radionachrichten am Nachmittag war weder ein heraufziehender Sturm angekündigt worden, noch hatte es anderweitige Wetterwarnungen gegeben. Ein Fehler offenbar. Der Moderator hatte zwar von Schneefall im ganzen Bundesstaat gesprochen. Allerdings fragte Hopper sich inzwischen, ob die weißen Massen stattdessen allein auf den wenigen Morgen Land um die alte Hütte seines Großvaters niedergingen.

Wenn Sie reisen müssen, hatte der Radiomoderator gesagt, dann lassen Sie es ganz einfach. Bleiben Sie im Warmen und trinken Sie Ihren Eierpunsch.

Hopper hatte nichts dagegen. Elfi dagegen …

»Das Wasser ist kalt.«

Aus seinen Gedanken gerissen, blickte Hopper blinzelnd auf. Elfi stand plötzlich neben ihm an der Spüle. Er sah auf sie hinab. Ihre Miene war undurchdringlich. Offensichtlich hatte er das Wasser so lange laufen lassen, dass nun der ­Boiler leer war. Er zog die Hände aus dem Schaum und blickte auf seine Finger. Sie waren schrumpelig geworden, und der Stapel Geschirr vom Abendessen, zu dem es Reste vom Weihnachtstag gegeben hatte, war nur unmerklich kleiner geworden.

»Alles in Ordnung?«

Hopper richtete den Blick wieder auf Elfi. Mit großen Augen sah sie ihn erwartungsvoll an. Sein Lächeln wurde breiter. Verdammt, er konnte einfach nichts dagegen tun.

»Ja, alles bestens«, sagte er und streckte die Hand aus, um ihr durch die dunklen Locken zu wuscheln, doch beim Anblick seiner seifigen Hand verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse und duckte sich weg. Lachend schnappte sich Hopper das Küchenhandtuch, das auf der Anrichte neben dem Spülbecken lag. Während er sich die Hände abtrocknete, deutete er mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer. »Hast du es geschafft, Mike zu erreichen?«

Elfi seufzte.

Vielleicht ein wenig zu theatralisch, dachte Hopper. Andererseits war das alles für sie noch immer neu und, so schien es, häufig eine Herausforderung. Hopper beobachtete, wie sie zur Couch zurückging, um das riesige neue Walkie-­Talkie zu holen und ihm das Gerät anschließend so auffordernd entgegenzustrecken, als könnte er ihre Freunde aus dem Äther hervorzaubern.

Ein paar Sekunden lang starrten sie sich an, bevor Elfi ungeduldig mit dem Walkie-Talkie vor seiner Nase herumwedelte.

Hopper warf sich das Küchenhandtuch über die Schulter. »Was soll ich machen? Funktioniert es nicht?« Er nahm das Gerät in die Hand und drehte es um. »Brauchst du schon wieder eine neue Batterie?«

»Niemand da.« Elfi seufzte noch einmal und ließ die Schultern hängen.

»Ach ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte Hopper, dem in diesem Moment einfiel, dass Mike, Dustin, Lucas und Will an diesem Tag alle unterwegs waren, um Verwandte zu besuchen; über das Walkie-Talkie würde Elfi heute keinen aus der Gang erreichen.

Elfi nahm ihm das Gerät wieder ab, schaltete es mehrmals ein und aus und fummelte an den Knöpfen für die Frequenzeinstellung herum. Mit jeder Drehung erklang ein abgehacktes Knacken, gefolgt von statischem Rauschen.

»Vorsicht, das war ein sehr großzügiges Geschenk von den Jungs«, ermahnte Hopper sie und wand sich innerlich, als er an das Geschenk dachte, das er Elfi zu Weihnachten gemacht hatte: Hungry Hungry Hippos. Ein Spiel, für das sie viel zu alt war – eine Erkenntnis, die ihn wie ein Vorschlaghammer getroffen hatte, aber leider erst, als sie gestern das Geschenkpapier heruntergerissen hatte – und das es nicht einmal ansatzweise mit dem Walkie-Talkie aufnehmen konnte, für das ihre Freunde zusammengelegt hatten. Anscheinend war er in Sachen Vaterschaft etwas aus der Übung. Er hatte das Spiel ohne nachzudenken gekauft, einfach nur, weil Sara es geliebt hatte … doch Elfi war nicht Sara.

Glücklicherweise war Elfi viel zu sehr auf das Gerät in ihren Händen konzentriert, um seine Verlegenheit zu bemerken.

Hopper wandte sich wieder der Spüle zu, drehte den Warmwasserhahn auf und vermischte das neue heiße Wasser mit dem erkalteten im Becken. »Du hattest doch gestern einen schönen Tag, oder?« Er warf einen Blick über die Schulter. »Oder?«

Elfi nickte und ging zurück ins Wohnzimmer.

»Eben«, sagte Hopper. »Und morgen sind sie alle wieder zu Hause.« Er drehte den Hahn zu. »Vielleicht erreichst du sie heute Abend schon mit dem Ding.«

Hopper widmete sich wieder dem Abwasch, bis er hörte, wie Elfi zurück in die Küche kam. Als sie neben ihm stehen blieb, warf er ihr einen fragenden Blick zu.

»Hey.« Er nahm einen Teller vom Stapel und versenkte ihn in dem warmen Wasser. »Mir ist klar, dass dir langweilig ist, aber Langeweile ist gut, glaub mir.«

Elfi runzelte die Stirn. »Langeweile ist gut?«

Hopper zögerte einen Moment. Er hoffte, dass er mit seiner improvisierten Elternweisheit nicht völlig danebenlag. »Natürlich. Solange du dich langweilst, bist du nicht in Gefahr. Und außerdem kommen einem bei Langeweile die besten Ideen. Und Ideen sind gut. Man kann nie genug Ideen haben.«

»Ideen sind gut«, wiederholte Elfi. Hopper glaubte beinahe sehen zu können, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf drehten.

»Genau. Und Ideen führen zu Fragen. Fragen sind auch gut.« Rasch wandte Hopper sich ab, um sein selbstkritisches Stirnrunzeln zu verbergen. Fragen sind auch gut? Was zur Hölle redete er da? Langsam fragte er sich, ob er zu viel oder zu wenig von dem Eierpunsch getrunken hatte.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlich sich Elfi aus der Küche, und einen Moment später hörte Hopper, dass der Fernseher eingeschaltet wurde.

Als er einen Blick über die Schulter warf, sah er sie regungslos auf dem Sofa sitzen, den Blick auf den Bildschirm geheftet, auf dem die Kanäle in schneller Folge wechselten, obwohl nicht viel mehr zu sehen war als abwechselnd farbenfrohes Flackern und Schneegestöber.

»Das liegt am Wetter. Ich fürchte, der Fernseher wird noch eine ganze Weile nicht funktionieren. Hey, wie wäre es mit einer Partie Hungry Hungry Hippos

Als Hopper keine Antwort bekam, warf er erneut einen Blick über die Schulter. Elfi hatte sich halb zu ihm herumgedreht und bedachte ihn mit einem Blick, der alles andere als amüsiert wirkte.

Hopper lachte. »Nur ein Vorschlag. Dann lies doch ein bisschen.«

Nachdem Hopper das restliche Geschirr gespült hatte, zog er den Stöpsel und trocknete sich die Hände ab. Als er zum Küchenfenster sah, spiegelten sich darin das Sofa und der immer noch eingeschaltete Fernseher, doch Elfi war verschwunden.

Gut, dachte er. Gegen das Wetter konnte er nichts ausrichten, aber vielleicht war es gar nicht so übel, in der Hütte festzusitzen. In den letzten Tagen waren sie beide viel unterwegs gewesen. Elfi hatte Zeit mit ihren Freunden verbracht, und er selbst hatte die Gelegenheit genutzt, Joyce zu sehen. Sie schien sich gut zu halten und hatte seine Gegenwart offenbar genossen. Genau wie Jonathan.

Hopper wandte sich vom Fenster ab und ging zu dem Tisch auf der gegenüberliegenden Seite des Küchentresens, auf dem der geöffnete Karton von Hungry Hungry Hippos lag. Während er einen Stuhl unter dem Tisch hervorzog und sich wenig enthusiastisch fragte, ob man das Spiel even­tuell auch gegen sich selbst spielen konnte, kam Elfi aus ihrem Zimmer.

Ihr Gesichtsausdruck war so ernst, dass Hopper, eine Hand an der Rückenlehne des Stuhls, mitten in der Bewegung erstarrte.

»Alles okay?«

Ohne den Blick von ihm abzuwenden, legte Elfi den Kopf schräg wie ein Hund, der einem Geräusch lauschte, das zu weit entfernt für das menschliche Gehör war.

»Was ist los?«, fragte Hopper.

»Warum bist du Polizist geworden?«

Hopper blinzelte irritiert, bevor er tief Luft holte. Die Frage traf ihn völlig unvorbereitet.

Worauf will sie hinaus?

»Na ja«, begann er und fuhr sich mit der Hand durch das Haar, »das ist eine interessante Frage …«

»Du hast gesagt, dass Fragen gut sind.«

»Stimmt, das habe ich gesagt … Und sie sind tatsächlich gut.«

»Beantwortest du sie mir dann auch?«

Mit einem leisen Lachen stützte Hopper die Ellbogen auf die Rückenlehne des Stuhls. »Klar. Ich meine, es ist eine gute Frage … Ich bin mir nur nicht sicher, ob es eine einfache Antwort darauf gibt.«

»Ich weiß nicht viel über dich«, sagte Elfi. »Du weißt aber alles über mich.«

Hopper nickte. »Das ist … Ja, du hast recht.« Er drehte den Stuhl herum und setzte sich.

Elfi ließ sich auf dem gegenüberliegenden Platz am Tisch nieder, stützte die Ellbogen auf und beugte sich neugierig vor.

Hopper dachte einen Augenblick über die Frage nach. »Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich wirklich Polizist werden wollte«, antwortete er schließlich. »Es schien mir damals einfach eine gute Idee zu sein.«

»Warum?«

»Na ja …« Hopper richtete sich ein wenig auf und strich sich über das unrasierte Kinn, während er überlegte. »Ich wusste nicht so recht, was ich mit mir anfangen sollte. Ich war gerade zurückgekommen. Aus …« Er hielt erneut inne.

Nein, nicht jetzt. Das ist ein anderes Thema für einen anderen Zeitpunkt.

Hastig wedelte er mit der Hand in der Luft, als wolle er die letzten Worte ungesagt machen. »Ich wollte etwas Sinnvolles machen. Etwas verändern. Leuten helfen, denke ich. Und ich habe über Fähigkeiten und Erfahrungen verfügt, die mir nützlich erschienen. Also bin ich Polizist geworden.«

»Und?«

Hopper runzelte die Stirn. »Und was?«

»Hast du etwas geändert?«

»Na ja …«

»Hast du den Leuten geholfen?«

»Hey, immerhin habe ich dir geholfen, oder etwa nicht?«

Elfi lächelte. »Wo bist du gewesen?«

»Was?«

»Du hast gesagt, dass du zurückgekommen bist. Wo bist du gewesen?«

Hopper schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher, ob du für diese Geschichte schon bereit bist.« Er hatte auf einmal das Gefühl, schlechter Luft zu bekommen. Sein Adrenalinpegel stieg sprunghaft an und verursachte ihm in Kombination mit dem Restalkohol des Eierpunsches in seinem Blut einen leichten Schwindel.

Nun war es an Elfi, den Kopf zu schütteln. »Fragen sind etwas Gutes«, wiederholte sie.

Natürlich hatte sie recht. Er hatte sie bei sich aufgenommen, ihr geholfen und sie beschützt. Zusammen hatten sie Dinge durchgestanden, die sich andere Menschen nicht mal in ihren wildesten Fantasien hätten ausmalen können, und nun waren sie auch ganz offiziell eine Familie. Und jetzt musste er auf einmal feststellen, dass er für sie genauso ein Mysterium darstellte wie sie für ihn, damals in Joyce’ Haus, nachdem er sie und die Jungs auf dem Schrottplatz gefunden hatte.

Elfi neigte leicht den Kopf und reckte auffordernd das Kinn. Sie erwartete eindeutig eine Antwort.

»Hör zu, Kleine, es gibt Dinge, die du noch nicht bereit bist zu hören, und Dinge, die ich noch nicht bereit bin zu erzählen.«

Elfi zog konzentriert die Augenbrauen zusammen. Gespannt beobachtete Hopper sie, während er sich fragte, wo ihre Gedanken sie hinführen würden.

»Dieser Ort«, fragte sie, »ist das Vietnam?« Sie betonte das letzte Wort so deutlich, als wäre es das erste Mal, dass sie es aussprach.

Hopper hob eine Augenbraue. »Vietnam? Wo hast du das denn her?«

Elfi schüttelte den Kopf. »Hab ich gelesen.«

»Du hast es gelesen

»Auf einem der Kartons, die du unter den Holzdielen aufbewahrst.«

»Unter den …« Hopper musste wieder lachen. »Hast du dich auf Erkundungstour begeben?«

Elfi nickte.

»Okay. Na gut, du hast recht. Ich kam aus Vietnam zurück. Das ist ein Land, sehr weit von hier entfernt.«

Gebannt rückte Elfi noch näher an den Tisch heran und beugte sich vor.

Hopper öffnete den Mund, schloss ihn jedoch sofort wieder. »Nein.« Er hielt erneut inne. »Das ist keine gute Idee.«

»Was ist keine gute Idee?«

»Dir von Vietnam zu erzählen.«

»Warum nicht?«

Hopper seufzte. Das war eine gute Frage. Nur fiel ihm keine gute Antwort ein.

Die Wahrheit war – und das überraschte Hopper –, dass er nicht über Vietnam reden wollte, nicht, weil es ein Trauma oder sein persönlicher Dämon war, sondern weil es so weit zurücklag, fast so, als wäre es die Geschichte einer anderen Person. Obwohl er seine Erlebnisse dort nie vergessen würde, war ihm doch bewusst, dass er seine Vergangenheit in einen Teil seines Bewusstseins verdrängt hatte, an den er nur sehr selten rührte. Daher: Ja, Vietnam war ein schwerer Teil seines Lebens, und er war verändert zurückgekehrt – wie die meisten Soldaten –, aber das spielte keine Rolle, jetzt nicht mehr. Dieser Mensch, der damals zurückkam, hatte nicht mehr viel mit ihm zu tun.

Denn er hatte etwas viel Schlimmeres akzeptieren müssen: dass sich sein Leben in zwei Hälften teilte. Vor Sara. Nach Sara.

Nichts anderes zählte. Nicht einmal Vietnam.

Aber wie sollte er Elfi das erklären?

»Weil«, sagte Hopper schließlich mit einem sanften Lächeln, »Vietnam ist lange her. Ich meine, wirklich lange. Und ich bin nicht mehr derselbe wie früher.« Er legte seine Unterarme auf den Tisch und beugte sich vor

»Hör zu, es tut mir leid. Wirklich. Ich verstehe, dass du neugierig bist und mehr über mich wissen möchtest. Schließlich bin ich dein …« Er hielt inne.

Elfi hob fragend die Augenbrauen und reckte das Kinn, während sie darauf wartete, dass er den Satz beendete.

Das Lächeln, das Hopper ihr dieses Mal schenkte, war wieder überzeugender. »Ich bin jetzt dein Dad. Und ja, es gibt viele Dinge, die du nicht über mich weißt. Vietnam eingeschlossen. Aber irgendwann werde ich dir davon erzählen. Wenn du ein wenig älter bist.« Als Elfi die Stirn runzelte, hob Hopper schnell eine Hand, um ihre Erwiderung im Keim zu ersticken. »Du musst mir ganz einfach vertrauen. Eines Tages wirst du bereit dazu sein, genau wie ich. Aber im Moment lassen wir das Thema aus. Okay, Kleine?«

Elfi wirkte enttäuscht, nickte jedoch.

»Gut«, sagte Hopper. »Hör zu, ich weiß, dass du dich langweilst und Fragen hast. Das ist gut. Vielleicht finden wir ein anderes Thema, über das wir uns unterhalten können. Lass mich nur zuerst Kaffee machen.«

Hopper stand auf und ging in die Küche. Die Kaffeemaschine war ein Relikt aus vergangenen Zeiten, das er in einem der Küchenschränke gefunden hatte und das in Anbetracht seines Alters erstaunlich gut in Schuss war.

Während er Wasser in die Maschine füllte, hörte er hinter sich einen dumpfen Schlag.

Elfi stand neben dem roten Tisch und klopfte sich die Hände an der Jeans ab. Vor ihr stand ein großer Pappkarton, der an der Seite mit zwei Wörtern in Großbuchstaben beschriftet war.

NEW YORK

Es war Jahre her, dass Hopper die Kiste gesehen hatte, aber er wusste genau, was sich darin befand. Er trat an den Tisch und zog sie zu sich heran. Dann sah er Elfi an.

»Ich bin mir nicht sicher, ob …«

»Du hast gesagt, dass wir etwas anderes finden müssen«, unterbrach sie ihn und deutete auf den Karton. »Und ich habe etwas gefunden.«

Hopper kannte Elfi gut genug, um ihren Gesichtsausdruck und ihren Tonfall richtig zu deuten. Sie würde nicht nachgeben. Dieses Mal nicht.

Okay. New York. New York. Hopper setzte sich und starrte den Karton an. Immerhin lag New York nicht ganz so weit zurück wie Vietnam. Aber war sie hierfür bereit? War er es?

Als Elfi sich wieder auf dem Stuhl ihm gegenüber niederließ, hob Hopper den Deckel der Kiste an. Darin lagen eine ganze Reihe Hefter und lose Dokumente und ganz oben eine dicke Aktenmappe aus Packpapier, die von zwei roten Gummibändern zusammengehalten wurde.

Oh.

Hopper griff in die Kiste, löste, ohne die Akte herauszunehmen, die Gummibänder und schlug sie auf.

Zuoberst lag eine Schwarz-Weiß-Fotografie. Das Bild einer Leiche auf einem Bett. Das weiße T-Shirt war so voller Blut, dass es beinahe schwarz aussah.

Abrupt schlug Hopper die Akte zu, bevor er den Deckel zurück auf die Kiste stülpte und sich zurücklehnte. Er sah zu Elfi hinüber.

»Das ist keine gute Idee.«

»New York.«

»Elfi, hör zu …«

In diesem Moment sprang der Deckel von der Kiste, ohne dass jemand von ihnen sie berührt hätte.

Hopper blinzelte überrascht, bevor er wieder seine Tochter ansah. Sie wirkte vollkommen ungerührt, ernst, entschlossen.

Hopper legte für eine Sekunde den Kopf in den Nacken, bevor er sich geschlagen gab. »In Ordnung. Du willst etwas über New York erfahren? Sollst du.« Er zog die Kiste zu sich heran, entnahm ihr dieses Mal jedoch etwas, was unter der Akte lag. Es handelte sich um eine große weiße Karte in einer durchsichtigen Plastiktüte. An die Tüte war ein Zettel angeheftet worden, auf dem Erläuterungen zum Inhalt des Beweismaterials festgehalten waren.

Hopper starrte auf die Karte, die vollkommen nichts­sagend wirkte, und drehte sie schließlich herum. Auf der Rückseite befand sich ein einzelnes Symbol, das offensichtlich handschriftlich und mit schwarzer Tinte daraufgezeichnet worden war: ein fünfzackiger Stern.

»Was ist das?«

Elfi war aufgestanden und beugte sich über die Kiste, um hineinsehen zu können. Doch Hopper schob den Karton beiseite und hielt die Karte hoch.

»Nur eine Karte aus einem dummen Spiel«, sagte er schnell und lachte, doch sein Lachen erstarb in der nächsten Sekunde. Er musterte erneut die Karte. »Ein Spiel, in dem du ziemlich gut wärst, denke ich.«

Elfi setzte sich wieder. Als er ihr in die Augen sah, erkannte Hopper ein Funkeln darin. »Ein Spiel?«

»Dazu kommen wir noch.« Hopper legte die Karte vor sich auf den Tisch und stellte anschließend den Karton neben seinem Stuhl auf den Boden. Dann zog er einen Stapel Dokumente daraus hervor. Bei der obersten Seite handelte es sich um ein Empfehlungsschreiben, ausgestellt vom Kriminalhauptkommissar der New Yorker Polizei. Hopper las das Datum am oberen Rand: Mittwoch, 20. Juli 1977. Dann holte er einmal tief Luft und sah Elfi an.

»Bevor ich Chief in Hawkins geworden bin, habe ich für die Polizei in New York gearbeitet. Als Detective für Tötungsdelikte.«

Elfi bewegte die Lippen, um stumm das unbekannte Wort nachzusprechen.

»Tötungsdelikt bedeutet Mord.«

Elfi riss die Augen auf.

Mit einem tiefen Seufzen fragte sich Hopper, ob er soeben die Büchse der Pandora geöffnet hatte.

»Wie dem auch sei, im Sommer siebenundsiebzig ist etwas sehr Merkwürdiges passiert …«