JOAN D. VINGE

 

 

LADYHAWKE -

DER TAG DES FALKEN

 

 

 

 

Roman

 

Apex Fantasy-Klassiker, Band 10

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

LADYHAWKE – DER TAG DES FALKEN 

Kapitel 1 

Kapitel 2 

Kapitel 3 

Kapitel 4 

Kapitel 5 

Kapitel 6 

Kapitel 7 

Kapitel 8 

Kapitel 9 

Kapitel 10 

Kapitel 11 

Kapitel 12 

Kapitel 13 

Kapitel 14 

Kapitel 15 

Kapitel 16 

Kapitel 17 

Kapitel 18 

Kapitel 19 

Kapitel 20 

Kapitel 21 

Epilog 

 

Das Buch

 

 

Die Lady - Isabeau von Anjou  - ist ein Falke, frei zu fliegen am Tag, und eine Frau nur bei Nacht. Ihr Geliebter - der Ritter Etienne von Navarre - durchstreift die Nacht als Wolf und ist bei Tag ein Mann. Sie sind dazu verflucht, einander nur für einen flüchtigen Augenblick in der Dämmerung zu begegnen... 

 

Die preisgekrönte Science-Fiction- und Fantasy-Autorin Joan D. Vinge (Die Schneekönigin, 1983) schrieb den ebenso zauberhaften wie düsteren Roman zu Ladyhawke – Der Tag des Falken (Regie: Richard Donner, 1985), einem der spektakulärsten Fantasy-Filme der (19)80er Jahre – mir Rutger Hauer als Etienne von Navarre, Michelle Pfeiffer als Lady Isabeau, Matthew Broderick als Philippe Gaston und John Wood als Bischof von Aquila.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Romans in der Reihe APEX FANTASY-KLASSIKER.

LADYHAWKE – DER TAG DES FALKEN

 

 

 

 

 

  Kapitel 1

 

 

 

Bei Sonnenaufgang wartete der Reiter in Schwarz auf den Hügeln fern über der Stadt, wie er am letzten Morgen gewartet hatte und am Morgen davor. Müde und durchfroren reckte er sich im Sattel, während über ihm der Himmel heller wurde und sich drunten im Tal der graue Morgennebel aus den Niederungen hob.

Als der Nebel sich teilte, traten in goldener Pracht die zinnenbewehrten Türme von Burg Aquila hervor, wie eine Vision der Himmelsfeste. Für einen kurzen Moment erfüllte ihn der Anblick mit einem schmerzlichen Sehnen. Doch nur für einen Moment. Er lächelte freudlos über seine eigene Unfähigkeit, den Glauben abzulegen, dass diese Morgenwache einmal ein Ende haben oder ihm eine Antwort zeigen würde.

Unter ihm schälte sich nun der Rest der alten Stadt aus dem Nebel. Aquila war schon seit römischen Zeiten ein blühender Ort gewesen - es trug immer noch den alten römischen Namen, der Adler bedeutete. Aber das Mittelalter hatte seine zusammengepferchten Häuser und seine gewundenen, engen Straßen in Mauern aus grauem Stein eingeschlossen und mit einem Graben umgeben, dessen schwarzes, träges Wasser von einem unterirdischen Fluss gespeist wurde.

Die Felder außerhalb der Stadttore waren beinahe ebenso trist. Der Herbst war dieses Jahr früh gekommen, nach einem heißen Sommer fast ohne Regen. Das Jahr davor war nicht besser gewesen. Mittlerweile war auch der letzte Halm von den halbverdorrten Feldern abgeerntet worden. Die Ernte dieses Jahres hätte das bereits hungrige Volk von Aquila selbst dann kaum durch den Winter bringen können, wenn der Bischof nicht erneut die Steuern erhöht hätte, um seine eigenen Speicher und Truhen voll zu halten. In den düsteren Gassen der Stadt ging das Gespenst der Hungersnot um. Doch wo die Kirche herrschte, da zahlte das Volk und litt Not.

Nur die Kathedrale im Herzen der Stadt bewahrte sich ihre ätherische Schönheit im vollen Licht des Tages. Hohe Fenster aus farbigem Glas und zahllose seidene Banner verwandelten ihre von Heiligen gesäumten Wände und Deckengewölbe in eine Vision des Paradieses - das Höchstmaß an himmlischen Freuden, das den meisten der Gläubigen, die sich hier zur Messe versammelten, auf Erden je zuteilwerden würde. Der Bischof versprach ihnen ihren Lohn in der nächsten Welt, während er den seinen jetzt genoss.

Die ausgezehrten Gesichter der Bürger von Aquila blickten ausdruckslos im Kerzenschein auf den Altar, während sie ihre Gebete murmelten. Orgelmusik erfüllte den gewaltigen Raum und drang hinaus auf die Straßen und noch bis zu dem Wächter auf dem fernen Hügel.

Der Bischof von Aquila stand vor dem geschmückten Altar, eine Gestalt von Strenge und Pracht in seinen weißen, golddurchwirkten Gewändern. Er intonierte das Credo der Messe in einem hohen, tonlosen Singsang, der mehr eine Warnung als eine Verheißung war. Die Gläubigen gaben die obligatorischen lateinischen Antworten, bedeutungslose Worte, die sie auswendig hersagen konnten. Wenn einer von ihnen gewagt hätte, seinen Oberhirten direkt anzublicken, wäre ihm vielleicht der Gegensatz zwischen der reichen Kleidung und der ungesunden Blässe seines kantigen Gesichts bewusst geworden. Er war ein hochgewachsener Mann, schon in fortgeschrittenem Alter, mit Zügen, in denen sich die Spuren eines ausschweifenden Lebens zeigten, und mit Augen so kalt und erbarmungslos wie Eis.

Er wandte sich den beiden Chorknaben zu, die an der Seite des Altares standen. Sie hielten ihm einen juwelenbesetzten, goldenen Kelch zum Segen entgegen. Er hatte seiner Gemeinde erzählt, dass dies der Heilige Gral sei, und für ihn selbst war er schön genug, dass er es hätte sein können. Er hatte genug dafür bezahlt, dass er es hätte sein sollen. Er war ein Mann mit einem ausgeprägten Sinn für Schönheit.

Er hielt seine ringgeschmückte Hand den beiden Knaben entgegen; dabei traf sein Blick den Ring, den er trug. Er war aus massivem Gold und so groß und schwer, dass er nur auf seinen Daumen passte. Seine schlichte, massive Fassung hielt einen vollkommenen Smaragd von der Größe einer Olive. Der Ring allein hatte ihn ein kleines Vermögen aus dem Reichtum gekostet, den er den Gläubigen im Namen Gottes abgepresst hatte. Doch Gottes Bedürfnisse waren weder so weltlich noch so teuer wie seine eigenen.

Als die Knaben den Ring küssten und zurücktraten, hallte ein dumpfes Krachen wie das Echo eines Peitschenknalls durch die Kathedrale. Der Bischof blickte zu einem unverschlossenen Fenster. Draußen auf dem offenen Platz vor den Mauern von Schloss Aquila zuckten noch die Beine dreier Opfer am Galgen. Die Orgelmusik schwoll zu einem erneuten Crescendo, und der Bischof wandte sich unbeteiligt wieder der Messe zu.

 

Inzwischen hatte sich draußen auf dem Richtplatz eine kleine Menge der weniger frommen Bürger von Aquila versammelt. Mit großen Augen starrten sie zu den schlaffen, baumelnden Leichen der drei Diebe empor, die jetzt ihren eigenen Frieden mit Gott gemacht hatten. Die vier Stadtwachen, die noch mehr Gefangene zur Hinrichtung zu führen hatten, starrten misstrauisch zurück und warteten auf weitere Befehle ihres Hauptmanns. Ihre schwarzroten Uniformen hoben sich in einem blutigen Kontrast von den bräunlichen, geflickten Kleidern der Menge ab.

Marquet, der Hauptmann der Wache, war ein brutaler Mann mit einem dunklen Bart und Augen so hart wie sein Gemüt. Sein grober, muskelbepackter Körper sah, aus, als sei er dazu geboren worden, Gewalt und Totschlag zu begehen. Marquet war seit zwei Jahren Hauptmann, seit ihr früherer Anführer vom Bischof des Verrats bezichtigt und für vogelfrei erklärt worden war, aus Gründen, die keiner von ihnen genau verstanden hatte. Ihr alter Hauptmann war ein Mann gewesen, den sie geachtet und bewundert hatten, und sie hatten ihm gern gedient. Marquet wurde keines von beidem - aber er wurde gefürchtet, und so dienten sie ihm ebenso gut. Aber wie ihr Leben und das Leben von jedermann in Aquila unter Marquets Kommando von Tag zu Tag schlimmer wurde, murrten die Wachen hinter vorgehaltener Hand, dass irgendwann ihr früherer Hauptmann wiederkehren und seine Rache fordern würde. Marquet hörte, was sie sagten, und da er dasselbe fürchtete, verschlimmerte sich sein Gemütszustand nur noch.

Jetzt blickte Marquet zu den baumelnden Leibern empor, und sein Gesicht verzog sich zu einem zufriedenen Grinsen. Die drei würden kein Korn mehr aus des Bischofs Speichern stehlen. Die goldenen Adlerflügel auf seinem Helm, das Zeichen seines Ranges, blitzten in der Sonne, als er nickte. »Das wird ihnen eine Lehre sein«, knurrte er. Der Bischof hatte ihn zum Hauptmann ernannt, weil er Gewähr dafür bot, dass er die Befehle des Bischofs ohne mit der Wimper zu zucken ausführen und seine Arbeit auch noch genießen würde. Er wandte sich zu seinem Leutnant. »Jehan! Die nächsten drei.«

Jehan salutierte knapp und schritt mit seinen Männern über den gepflasterten Hof zum Verlies von Burg Aquila. Sie betraten einen unterirdischen Gang, der sich mit schlüpfrigen Stufen, die aus dem massiven Fels gehauen waren, in einer engen Spirale abwärts wand - der einzige, schwer bewachte Eingang zu einem Gefängnis, das sie in den letzten Monaten nur zu gut kennengelernt hatten. Die Luft wurde feuchter und stickiger, als sie hinabstiegen, und sie hörten das Stöhnen der Gefangenen aus der Tiefe.

Das Verlies lag in einer gewaltigen Höhle, die in den Felsen eingehauen war, auf dem Burg Aquila stand, eine Höhle, so tief und unentrinnbar wie der Abgrund der Hölle. Ein Gitterwerk aus Holz und Eisen unterteilte die Kammer in eine Wabe von zahllosen Zellen und Käfigen, aus denen man einen unmittelbaren Blick auf das Foltergerät des Kerkers hatte. Jehan rief nach dem Aufseher, als die Wachen den Grund der Höhle erreicht hatten. Eine verwachsene Gestalt kam auf sie zu gehumpelt mit einer Fackel in der Hand; ein Ring mit eisernen Schlüsseln klirrte an seinem Gürtel. »Warum baut ihr keinen größeren Galgen?«, grollte er. »Das würde mir viel Ärger ersparen.«

»Sei froh, dass du hier nur auf Besuch bist«, sagte einer der Wachen. Er hielt sich die Nase zu. Jehan schnaubte. Der Aufseher führte sie über hölzerne Stege an einer Zelle nach der anderen vorbei. Das Stöhnen und die Schreie verebbten, als sie vorübergingen; gespenstische Gesichter wichen von den schimmelfeuchten Gitterstäben zurück. Die Gefangenen versteckten sich in den dunklen Winkeln ihrer Käfige, als gäbe es für sie immer noch etwas Schlimmeres als den lebenden Tod, in dem sie jetzt dahinvegetierten.

Vor einer der letzten Zellen in den tiefsten Gründen der Höhle hielt Jehan. Er blickte durch das Gitter und suchte mit einer plötzlichen Ungeduld nach dem nächsten Opfer. Er erinnerte sich an diesen speziellen Gefangenen; er hatte ihn eigenhändig in die Zelle gesteckt. Der junge Dieb, auf den jetzt der Galgen wartete, hatte die Wache monatelang zum Narren gehalten und war ihnen ein ums andere Mal entwischt, bevor sie ihn schließlich gefangen hatten. Jehan freute sich darauf, die schlüpfrige kleine Ratte baumeln zu sehen.

Jehan blickte durch das Gitterwerk. Seine Augen brauchten eine Weile, um sich auf das Dunkel auf der anderen Seite einzustellen. Er hielt den Atem an; der Gestank nach Eiter und menschlichen Ausscheidungen war überwältigend. Endlich konnte er zwei zerlumpte Gestalten ausmachen, die sich an der Rückwand zusammengekauert hatten. Einer von ihnen blickte starr vor sich hin, als ob sein Geist diesem Höllenloch entflohen sei und nur seinen Körper zurückgelassen habe. Der andere Gefangene summte ein monotones Liedchen, dessen Worte unverständlich blieben. Selbst in der Dunkelheit wusste der Wachmann, dass keines von den hageren, schmutzigen Gesichtern das war, was er suchte. Es war niemand sonst darin. »Phillipe Gaston...?«, sagte er. Er wandte sich zu dem Aufseher um. »Falsche Zelle. Ich suche Phillipe Gaston, der, den sie die Maus nennen.«

Der brabbelnde Gefangene begann deutlich hörbar zu singen: »Die Maus, die Maus... ist nicht zu Haus...«

Der Aufseher hielt seine Fackel hoch und spähte auf die beinahe unlesbaren Kratzer auf der Zellentür. »Einszwounddreißig, Herr. Das ist die richtige.«

»Oh, Graus und Schreck«, sang der Gefangene, »die Maus ist weg...« Er kicherte und deutete mit einer knochigen Hand auf den Boden der Zelle.

Jehan presste sich erneut gegen die Gitterstäbe und blickte schärfer in die dunklen Winkel der Zelle. Diesmal sah er das offene Abflussgitter. Jehans Augen weiteten sich vor Unglauben. Das Loch war nicht mehr als zwei Fuß im Durchmesser. Sicherlich konnte sich kein erwachsener Mensch, nicht einmal jener magere, halbwüchsige Wicht Gaston, dort hindurchgequetscht haben. Wie er darauf starrte, kam eine kleine Ratte aus dem Loch und über den schmierigen Boden gehuscht.

»...ist frisch und munter den Abfluss runter...«

»Halt's Maul, du Idiot!« fauchte Jehan. Er sah den Aufseher an. »Mach die Tür auf!«

Der Aufseher klirrte mit seinen Schlüsseln und schloss die Tür in wilder Hast auf. Jehan und die Wachen drängten in die Zelle. »Was ist mit ihm geschehen?«, fragte Jehan grob.

Der Sänger sah mit unbekümmerter Ruhe zu ihm auf. »Ich habe es Euch eben gesagt, edler Herr.« Er wies auf das Abflussloch. »Ich habe es selbst versucht, aber ich passte nicht durch.« Er lächelte und hielt seine Hände hoch. »Da er nun noch lebt, könnt Ihr mich ja zweimal umbringen.«

Jehan wandte sich ab. Vor seinen Augen war nur das Gesicht von Phillipe Gaston, der nicht da war. Wütend packte er seine Leute und stieß sie zur Tür. »Durchsucht jede Kloake! Jeden Abflusskanal! Findet ihn, oder Hauptmann Marquet wird euch an seiner Stelle hängen!« Und mich vielleicht auch, das verdammte Aas. Er hörte ihre Schritte aufgeschreckt die Halle hinabpoltern. Er blickte ein letztes Mal auf das Abflussrohr. »Unglaublich...«, murmelte er. Mit einem Fluch der Enttäuschung verließ er die Zelle.

 

 

 

 

 

 

  Kapitel 2

 

 

 

Tief unter Burg Aquila öffnete sich das Abflussrohr in eine andere Welt - eine Welt, die noch abschreckender war als selbst das Burgverlies. Die Kloaken von Aquila gingen ebenso wie die Stadt auf römische Baumeister zurück, die seinerzeit ein natürliches Höhlensystem, das unter der früheren Siedlung lag, für die Abwässer-Beseitigung ausgenutzt hatten. Einst waren die Kloaken, wie die Stadt selbst, Teil einer geordneten, planmäßigen Anlage gewesen. Doch in den Jahrhunderten seit dem Fall des römischen Reiches waren auch sie zerfallen und verkommen, wie die Stadt über ihnen sich in einer willkürlichen und unkontrollierten Art ausgebreitet hatte. Jetzt waren sie ein unerforschtes Labyrinth von Tunneln und Gängen, die sich unter jedem Gebäude und jeder Straße von Aquila hindurchfraßen - eine Welt für sich, aber eine Welt, die zu betreten kein vernünftiger Bürger von Aquila das Verlangen hatte.

Jene geheime, unterirdische Welt lag wartend in ewigem Schweigen, das nur durch das gelegentliche Quietschen von Ratten, das Tröpfeln von Abflüssen und das ferne Rauschen von Wasser unterbrochen wurde. Aber nun wurde ihr dunkler Friede von neuen, unerwarteten Lauten gestört. Die keuchenden und kratzenden Geräusche waren zunächst nur schwach, aber sie wurden lauter, bis sie aus dem Abflussrohr in den leeren Tunnel wider hall ten. Plötzlich stieß ein Arm aus dem Rohr in den freien Raum. Er fuhr wild auf und nieder, in Überraschung und Triumph. Nach dem Arm kam ein Teil einer Schulter. Dann schob sich Stück für Stück der Rest von Phillipe Gastons schmächtigem, gelenkigem Körper wie ein neugeborenes Kind durch die Öffnung. Sich windend und drehend wie ein Akrobat kam der junge Dieb schließlich aus dem Rohr frei und ließ sich auf den Boden fallen.

Er schnappte keuchend nach Luft und bemerkte kaum den Gestank, als sich zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit seine Lungen vollständig füllten. Er blickte beinahe ungläubig auf das Loch zurück, aus dem er gekrochen war, und ein kleines, verquältes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Fast wie bei der Geburt«, murmelte er. »Gott, was für eine Erinnerung...« Schaudernd wandte er sich wieder ab. Seine Haut war am ganzen Leib zerschunden, seine Kleidung war zerfetzt und schmierig. Seine Fingernägel waren eingerissen und blutig, da er sich mit ihnen das Abflussrohr entlanggezogen hatte. Es hatte ihn Stunden gekostet, seinen Körper hindurchzuzwängen, Stunden, die ihm wie Jahre erschienen. Das Abflussrohr hatte nicht geradewegs in den Kanal geführt, sondern hatte sich gewunden wie eine Schlange. Manches Mal hatte er schon geglaubt, hoffnungslos in einer Windung oder Biegung seiner Schlingen gefangen zu sein. Aber er hatte keine andere Wahl gehabt, als sich weiterzukämpfen, und am Ende hatte er es doch geschafft. Er war aus dem Verlies entkommen, und die guten Bürger von Aquila würden ihn nie mehr Wiedersehen - wenn er nur den Weg aus ihrer Kanalisation herausfand.

Er setzte sich auf, wo er war, und sah sich langsam um. Das Ausmaß dieser unterirdischen Welt war beeindruckend. Er war oft in Städten von der Größe von Aquila gewesen, aber nie hatte er sich in das Abwassersystem einer Stadt verirrt. In den meisten Städten, die er gesehen hatte, liefen die Abwasserkanäle einfach in der Mitte der Straße entlang. Wenigstens war die Dunkelheit nicht vollkommen - ein leichter Schimmer drang durch zahllose Abflussöffnungen aus der Oberwelt hinab. Seine Augen, die an die Düsternis des Kerkers gewöhnt waren, hatten keine Schwierigkeiten, etwas zu sehen.

Das erste, was er sah, war ein menschliches Skelett, das etwa eine Armeslänge entfernt aus dem schwarzen Schlick ragte. Mit einem Schrei fuhr er auf. Der vergilbte Schädel grinste humorlos zurück. Er bedachte ihn mit einem eigenen bedauernden Lächeln und nahm das Skelett näher in Augenschein. »Einssechsundachtzig, hm?« Seine Stimme hallte schwach im Tunnel wider. Er erhob sich und richtete seine eigene kleine Gestalt zu ihrer vollen Höhe auf. »Eine ideale Größe, um durch das Himmelstor einzugehen, mein Freund. Aber du siehst, wohin der Herr uns in seiner unendlichen Weisheit hat kommen lassen.« Er deutete mit einer Handbewegung ringsum und blickte dann plötzlich zu der tropfenden Decke auf. »Ich beschwere mich ja gar nicht, hörst du?«, meinte er zum Himmel gewandt. »Ich wollte... es nur mal gesagt haben.« Er zuckte die Achseln. Er hatte so etwas wie eine persönliche Beziehung zu Gott oder stellte es sich zumindest so vor; es war ein Trost zu wissen, dass der ihm immer zuhörte, auch wenn es sonst keiner tat. Er wollte nicht undankbar erscheinen, wo sein Gebet erhört worden war, und sei es auch nur durch einen gemischten Segen. Er seufzte und stapfte los. Seine Füße quatschten im Morast.

 

Weit über ihm, doch nicht so weit wie der Himmel, füllten die Wachen des Bischofs die Straßen von Aquila auf der Suche nach ihrem entflohenen Gefangenen. Ein Trupp Gardisten betrat auf Marquets Geheiß den Turm der Kathedrale und zog die schweren Glockenseile. Zum ersten Mal seit Jahren läuteten die gewaltigen Glocken der Kathedrale den Alarm durch die Stadt.

In der Kathedrale war die Messe noch im Gang. Aber als die Glocken ertönten und das hohe Gewölbe mit ihrem Hall erfüllten, sahen die Gläubigen einander in Erstaunen und Furcht an. Der Bischof wandte sich vom Altar ab; sein ausdrucksloses Gesicht wirkte plötzlich gespannt. Er blickte über die Köpfe der Stehenden und sah Marquet. Der Hauptmann der Wache stand im hinteren Teil der Kathedrale im Eingang zu einer privaten Kapelle. Die goldenen Flügel auf seinem Helm blitzten im Licht, als er nachdrücklich mit dem Kopf nickte.

Der Bischof fuhr mit der Messe fort; der Klang in seiner Stimme war drohender als je zuvor.

 

Drunten kroch Phillipe die Maus wie sein Namensvetter durch die Abwasserkanäle. Geduckt, bis ihm der Rücken schmerzte, quetschte er sich durch einen engen Stollen in eine weitere gewaltige unterirdische Kammer. Endlich konnte er sich aufrichten und Atem holen, während seine Rückenmuskeln ein krampfhaftes Stechen durchzuckte. Er verzog das Gesicht, als er den Weg zurückblickte, den er gekommen war, und wieder nach vorn; doch er sah nichts außer demselben undurchschaubaren Gewirr von trügerischen Tunneln und Höhlen, von schwarzen, stinkenden Pfühlen und Pilzgewächsen, das sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Einen Augenblick lang überkam ihn der Gedanke, dass er vielleicht wirklich gestorben und in der Hölle gelandet war.

Er schüttelte den Kopf, dass Tropfen von Wasser und Schlick aus seinem durchweichten Haar spritzten. Nein... er fühlte sich zu elend, um tot zu sein. Er war noch am Leben - aber er fragte sich plötzlich, wie lange er wohl noch so weiter gehen konnte. Panik legte sich um seine Brust, als es ihm aufging, dass er vielleicht nie seinen Weg aus dieser unterirdischen Gruft nach draußen finden würde; dass er hier endlos allein und verloren umherwandern mochte, bis er starb.

Er wischte sein verschmiertes Gesicht an seinem schmierigen Ärmel ab und setzte sich im Schlamm nieder, als ihn ein plötzlicher Schüttelfrost packte. »Immer mit der Ruhe, Maus...«, murmelte er leise und ballte die Fäuste. Er zwang sich, einen tiefen Atemzug zu tun, und noch einen. »Langsam weiter... ein friedlicher Sonntagsspaziergang durch den Park...« Er zwang sich dazu, in die verborgene Welt seiner Tagträume einzutreten und das endlose Höhlenlabyrinth, die Angst des Alleinseins in dessen Dunkelheit zu verdrängen. Er war immer zu klein, zu schwach oder zu arm gewesen; seine Phantasie war für ihn das einzige Mittel zum Überleben, auf das er bauen konnte, und seine einzige Zuflucht vor der harten Wirklichkeit. Seine Träume waren das einzige, an das er immer glauben konnte... Als er sich schließlich wieder beruhigt hatte, raffte er sich wieder auf und watete weiter durch das ölige, knietiefe Wasser, während er in Gedanken immer noch auf seinem Sonntagsspaziergang war.

Stunden vergingen, und Phillipe wanderte immer noch durch die Unterwelt. Seine Angst war allmählich einer dumpfen Resignation gewichen. Er tastete sich auf einem Gesims hoch an einer Höhlenwand entlang und um einen vorspringenden Felsen herum - und fand sich plötzlich Auge in Auge mit einem kreischenden Dämon. Er schrie auf und sprang zurück; zu spät erst erkannte er es als das Gesicht einer jaulenden Katze. Die Katze zischte und verschwand mit einem Satz in der Dunkelheit. Seine eigenen Füße ließen ihn in die andere Richtung taumeln. Als er im Laufen zurückblickte, fühlte er, wie der Sims unter ihm wankte. Der schlammverkrustete Rand hatte unter seinen Füßen nachgegeben.

Er packte mit den Händen in das glitschige Erdreich der Wand, als er fiel, und grub sich verzweifelt mit den Fingern ein. Nach einem Augenblick kopfloser Panik begannen seine Augen sich wieder zu normalisieren, als er merkte, dass er nicht länger fiel. Zum ersten Mal wurde er sich des fernen Rauschens bewusst, das den unterirdischen Tunnel erfüllte, des Geräuschs eines großen Flusses, der irgendwo durch die Dunkelheit strömte. Er wagte kaum zu atmen, als er an seinen baumelnden Füßen vorbei nach unten blickte. Und weiter nach unten, und noch weiter.

In der Tiefe sah er die schwarzen Fluten des unterirdischen Flusses vorüberdonnern. Das matte Licht, das von irgendwo über ihm hinabdrang, zeigte ihm den riesigen bleichen Schädel einer Kuh, der sich im Uferschlamm verfangen hatte. Lange, glitschige Aale glitten in den leeren Augenhöhlen des Schädels ein und aus.

Phillipe schloss seine eigenen Augen mit einem leisen Stöhnen. »Herr«, flüsterte er, »ich werde nie mehr eine Tasche plündern, solange ich lebe, das schwöre ich.« Seine Stimme zitterte ein wenig. »Aber... da liegt das Problem: Wenn du mich nicht am Leben lässt, wie kann ich dir da meinen guten Willen beweisen?« Es kam keine Antwort. Phillipe blickte auf; Wasser tropfte ihm in die Augen. »Ich werde mich jetzt hochziehen, Herr«, sagte er, etwas fester jetzt. Seine Finger begannen sich zu verkrampfen. Immer noch keine Antwort. »Wenn du mich angehört hast, dann wird dieses Gesims so fest bleiben wie ein Fels. Wenn nicht, dann ist es natürlich auch gut. Aber ich wäre sehr enttäuscht.«

Mit zusammengebissenen Zähnen trat er mit dem Fuß gegen die Wand, bis er sich zunächst einen Halt, dann einen zweiten geschaffen hatte. Er zog eine Hand aus dem Schlick frei und grub sie ein Stück weiter auf den abgebrochenen Sims zu wieder ein. Der Boden hielt. Eine Handbreit über der anderen zog er sich auf das Gesims zu, bis er sich schließlich mühsam mit dem Oberkörper darauf schieben konnte. Er rollte sich auf das Felsband, wo es sicher war, und schüttelte seine Arme und Beine aus, als sei er erstaunt, seinen Körper noch an einem Stück vorzufinden. »Ich glaube es nicht...« Er schüttelte den Kopf und blickte nach unten.

Plötzlich war die Luft um ihn her von Orgelmusik erfüllt. Phillipe sah auf, von Ehrfurcht ergriffen. Über ihm öffnete sich ein langer Schacht, dessen gewundener Weg in ein fernes, strahlendes Licht mündete. Phillipe sank überwältigt in die Knie, als die Musik und das Licht ihn umhüllten. »Ich glaube...«, flüsterte er mit rauer Stimme. Da er den Herrn nicht warten lassen wollte, raffte er sich noch einmal auf und kroch hinauf in den Schacht.

Der Weg zum Himmel war nicht einfach. Er war krumm und steil und schlüpfrig. Aus Spalten im Fels tropfte ihm schmutziges Wasser in die Augen. Die verrosteten Eisenstäbe in der Wand, die seinen Händen und Füßen Halt gaben, schienen ebenso alt zu sein wie der Stein selbst. Auf der Hälfte des Weges nach oben gab einer plötzlich unter seinem Gewicht nach, so dass Phillipe wieder hinab in die Dunkelheit rutschte. Er rammte seinen Fuß gegen eine andere Sprosse. Sie ächzte protestierend, aber sie hielt.

Schwer atmend sah Phillipe erneut hoch. Das Licht über ihm war jetzt stärker, und die Orgelmusik war betäubend. Ein Chor begann zu singen. Er kletterte weiter, von neuer Kraft erfüllt. Endlich hatte er das obere Ende des Schachtes erreicht und hob erwartungsvoll den Kopf. Seine Augen weiteten sich.

Über ihm versperrte ein schweres Eisengitter den Eingang des Schachtes. Und durch das Gitter sah er in der Ferne eine leuchtende Vision von nachtdunkler

Schwärze und blendender Helligkeit. Er schloss die Augen, öffnete sie erneut. Die Vision von Nacht und Tag löste sich in die leuchtenden Farben und filigranen Muster eines kreisförmigen, buntverglasten Fensters auf... es war die Fensterrosette über dem Eingang der Kathedrale von Aquila. Das Fenster war alles, was er sehen konnte, aber jetzt wusste er, dass es die Sonntagsmesse gewesen war, die er gehört hatte... und die Messe würde eine perfekte Deckung für seine Flucht abgeben. Der Herr hatte ihn doch erhört. Er klemmte sich zwischen die Schachtwände und begann, das Gitter nach oben zu drücken.

Zwei Schritte vor ihm, verborgen vor seinem Blick durch den Winkel des Schachtes, standen die schweren Stiefel und der breite uniformierte Rücken des Hauptmanns der Wache. Mit gerunzelter Stirn wartete Marquet ungeduldig darauf, dass die Messe zu Ende ging.

Eine ärmlich gekleidete Familie stand in seiner Nähe, sang mit dem Chor mit und warf gelegentlich unbehagliche Blicke in seine Richtung. Ihr kleines Mädchen, das das lange Stehen am Rande der Menge leid war und unruhig wurde, starrte ihn offen an. Ihr umherschweifender Blick fand als nächstes das Gitter im Fußboden hinter ihm; sie sah fasziniert zu, wie Finger aus seinen Löchern kamen und in der Luft tanzten. Das Gitter begann sich zu heben. Das kleine Mädchen kicherte. Ihr Vater versuchte, sie zum Schweigen zu bringen. »Papa!« Sie zeigte mit dem Finger, zog ihn bei der Hand.

Marquet sah ihrem Treiben müßig zu, dann blickte er über die Schulter zurück. Ihr Vater zog sie mit einem Ruck herum, dass sie wieder mit dem Gesicht zum Altar stand. Marquet wandte sich um und lugte mit einer Mischung von Neugier und Argwohn in die Kapelle. Er trat einen Schritt in den Raum, dann einen zweiten.

Der Chor brach in ekstatischen Jubel aus, als sein

schwerer Militärstiefel auf das Gitter niederkam und Phillipes freiliegende Finger zerquetschte. Phillipes Schmerzensschrei wurde von der Musik übertönt, während er den Schacht hinunterpolterte.

Er rutschte und fiel in einem Wirbel nach unten; seine Arme suchten wild nach jedem nur möglichen Halt. Plötzlich schlossen sich seine Finger um andere Finger - eine andere menschliche Hand. Er klammerte sich daran, zog hart. Sie löste sich mit einem Knacken von dem vermoderten Arm einer Leiche, die man dort begraben hatte, und mit einem zweiten, noch entsetzlicheren Schrei stürzte er weiter den Schacht hinab.

Er prallte auf das glitschige, schlammbedeckte Gesims der Kloake. Bevor er sich fangen konnte, hatte ihn sein Schwung über die Kante getragen. Einen endlosen Augenblick lang flog er durch die Luft, und dann schlugen die schäumenden schwarzen Wasser des Flusses über ihm zusammen.

Er kämpfte sich spuckend und hustend an die Oberfläche der schlammigen Brühe. Die Strömung trieb ihn mit sich; hilflos trieb er in einem See von Unrat. Eine tote Ratte wickelte sich um seinen Hals, und ein Pferdekopf stieß gegen den seinen, während ein Dutzend nicht näher bestimmbarer Schrecken an ihm vorübertrieb. Betäubt und zerschunden, halb ertrunken, kämpfte er doch, um oben zu bleiben.

Abrupt krachte sein Körper gegen etwas Hartes und Unnachgiebiges, das seine Bewegung mit dem Strom stoppte. Als er sich das Wasser aus den Augen wischte, fand er sich gegen ein eisernes Gitter getrieben, das mit den durchweichten Abfällen von Jahrhunderten überzogen war. Er klammerte sich keuchend und schnaufend an die Gitterstäbe, als ihn wie ein Blitz eine plötzliche Erkenntnis durchzuckte. Es konnte nur einen Grund geben, weshalb ein Gitter seinen Weg versperrte: Er hatte die Stadtmauer erreicht. Als er hochblickte, sah er blasse Strahlen von Tageslicht durch das von Abfällen verstopfte Eisengitter dringen, welches das letzte Hindernis war, welches ihn noch von der Freiheit trennte. Hoch über ihm waren die Stäbe fest im Fels verankert. Der einzige Weg hindurch lag unten - wenn es einen solchen Weg gab.

Er hielt sich noch einen Moment an den Gitterstäben fest und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Dann holte er so tief Atem, wie seine vollgesogenen Lungen halten konnten, und tauchte unter die Oberfläche. Die Strömung packte ihn mit wildem Griff und schwemmte ihn hinab unter einen Damm von unter Wasser angehäuftem Unrat. Das tosende Wasser presste ihn gegen den Grund des Gitters und hielt ihn trotz seiner panikerfüllten Gegenwehr dort fest. Er tastete verzweifelt in der Dunkelheit nach den Spitzen am unteren Ende der Gitterstäbe. Seine Lungen schmerzten, sein Geist begann sich zu umnachten. Plötzlich spürte er einen leeren Raum - eine Öffnung, nicht weit genug für einen normalen Mann, aber mehr als groß genug für Phillipe die Maus. Er zog sich unter dem Gitter hindurch und schoss hinauf durch das hell werdende Wasser.

Sein Kopf stieß durch die Wasseroberfläche in das Licht des Tages. Mit einem tiefen, zitternden Atemzug sog er die frische Luft ein, und wieder und wieder, während er über sich die mächtigen Mauern von Aquila aufragen sah. Er war im Mauergraben vor der Stadt. Er war frei.

Er hörte immer noch das Läuten der Alarmglocken aus dem Stadtinneren, den Lärm von schreienden Wachen und von Pferden, die durch das Stadttor galoppierten. Er war frei... aber in Sicherheit war er noch nicht. Er blinzelte in das Licht der späten Nachmittagssonne und spähte über den Graben und das offene Feld, das dahinter lag, hinüber zur Zuflucht der fernen Hügel. Er seufzte schicksalsergeben und ließ sich von der schwachen Strömung in den Graben hinaustreiben.

Fern auf den Hügeln, zu weit entfernt, um irgendwelche Details der Stadt deutlich auszumachen, lauschte der Reiter in Schwarz dem unerwarteten Klang der Alarmglocken. Lange blickte er stumm auf die Stadt hinab; und dann, als sei er zu irgendeiner Entscheidung gekommen, zügelte er seinen schwarzen Hengst und ritt den Hügel hinab auf Aquila zu. Einen Augenblick später war er in dem rotgoldenen Blattwerk des herbstlichen Waldes verschwunden.

 

 

 

 

 

 

  Kapitel 3

 

 

 

Der Bischof schritt würdevoll und gelassen durch den Atriumhof von Burg Aquila, seinem erlesenen und schwerbewachten persönlichen Domizil. Rosen und Astern blühten noch in den geschützten grünen Gärten des Hofes und gaben den Eindruck, wie er selbst, dass das Leben vollkommen geordnet und unter Kontrolle war. Seine persönliche Leibwache und sein Sekretär folgten ihm, wie immer, in angemessenem Abstand. Außerhalb seiner Privatgemächer stand er fortwährend unter dem Blick der Öffentlichkeit, und lange Erfahrung hatte ihn gelehrt, sich gegenüber niemandem irgendetwas anmerken zu lassen.

Er blickte hoch, als der Hall von Stiefeltritten in seine nicht-so-friedliche Betrachtung eindrang. Hauptmann Marquet kam durch den Garten auf ihn zugeeilt. Die Lippen des Bischofs wurden schmal. Nicht einen Augenblick lang hatte er den Klang der Alarmglocken während der Messe vergessen. Aber er würde nicht einmal Marquet seine Unruhe spüren lassen. Die Ausübung vollkommener Macht verlangte zumindest den äußeren Eindruck vollkommenen Selbstvertrauens.

»Schlechte Neuigkeiten, Euer Gnaden...«, brach es aus Marquet hervor, als er atemlos vor ihm anhielt.

Der Bischof runzelte die Stirn. »Ihr vergesst Euch, Marquet.«

Marquets Gesicht gefror. Reflexartig fiel er auf die Knie und küsste den Smaragdring, den der Bischof ihm entgegenhielt. Doch bevor er noch auf den Beinen war, hatte er die fatalen Worte schon ausgesprochen. »Einer der Gefangenen ist entflohen.«

Der Bischof zog ruckartig seine Hand zurück; seine eisigen Augen glitzerten. »Niemand entkommt aus dem Verlies von Aquila«, sagte er sanft. »Die Menschen dieser Stadt erkennen dies als eine historische Tatsache an.«

Marquet schluckte. »Ich trage die volle Verantwortung dafür«, murmelte er. Schweiß stand auf seiner Stirn.

»Ja.«

Marquet wagte wieder aufzublicken. »Es wäre ein Wunder, wenn er es durch das Abwassersystem nach draußen schaffen sollte...«

»Ich glaube an Wunder, Marquet«, wies ihn der Bischof zurecht. »Sie sind ein unerschütterlicher Bestandteil meines Glaubens.«

Marquet blickte nervös zur Seite. »Jedenfalls...«, er suchte nach Worten, die das Schwert des bischöflichen Missfallens von seinem Nacken heben könnten, »...ist es nur ein unbedeutender kleiner Dieb... ein namenloses Stück menschlichen Abschaums...«

Der Bischof sah ihn kalt an. »Große Stürme kündigen sich mit einem kleinen Lüftchen an, Hauptmann. Und das Feuer des Aufruhrs kann von einem einzigen zufälligen Funken entfacht werden.« Er blickte fort; seine Augen schauten in die Ferne, als ob er ein übernatürliches Wissen besäße, das ihm in einer Weise zuteilwurde, die kein gewöhnlicher Sterblicher erfassen konnte.

Marquet stand auf. Sein Gesicht war hart. »Wenn er irgendwo da draußen ist, werde ich ihn finden, Euer Gnaden!«

Der Bischof wandte den Blick zu seinem Hauptmann zurück, und seine Augen verengten sich. »Da Ihr meinen Segen habt - kann ich Euch nur um Euren unvermeidlichen Erfolg in dieser Sache beneiden.«

Marquet nickt eifrig mit dem Kopf wie ein zurechtgewiesener Schuljunge. Er war nicht einmal mehr in der Lage, auch nur dem Blick dieser blendenden Gestalt in Weiß zu begegnen, die vor ihm stand. Er wusste besser als die meisten, dass der Bischof seine Machtstellung nicht durch die simple Gnade Gottes aufrechterhielt. Er wandte sich auf den Hacken um und marschierte ab, so schnell er es wagte.

Der Bischof sah ihm nach. Erst als Marquet schon fast außer Sicht war, zuckten des Bischofs Augenlider plötzlich aus einer unlesbaren Gemütsbewegung heraus. Er befingerte seinen Smaragdring und drehte ihn auf den Daumen.

Marquet bestieg sein Pferd und ritt fort von der Stätte seiner Audienz mit dem Bischof, als wäre der Teufel hinter ihm her. Seine Männer hatten die Stadt und die Kanäle durchsucht und nichts gefunden. Bestimmt war jener dreckige kleine Wurm Phillipe Gaston längst tot. Er musste tot sein. Doch nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass er noch am Leben war, rief Marquet seine Leute zusammen, um die Umgebung gleichfalls nach ihm abzusuchen.