Dr. med. Heike Melzer

Scharfstellung

Die neue sexuelle Revolution

Tropen Sachbuch

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: büro uebele, Stuttgart

ISBN 978-3-608-50356-2

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50356-2

E-Book: ISBN 978-3-608-11061-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für dieses Buch und E-Book haben wir eine weiterführende Literaturliste für Sie zum Download auf www.klett-cotta.de bereitgestellt. Geben Sie im Suchfeld auf unserer Homepage den folgenden Such-Code ein: OM50356.

Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit trägt wirklich
ein Forellenkleid und dreht sich stumm, und
dreht sich stumm nach anderen Wirklichkeiten um.

André Heller, Die wahren Abenteuer sind im Kopf

1 ZOOM-IN: Sehhilfe in turbulenten Zeiten

In meiner Praxis für Paar- und Sexualtherapie bekam ich vor ein paar Monaten einen Anruf mit unterdrückter Rufnummer. Am anderen Ende der Leitung meldete sich ein Mann, der mich fragte, ob ich auf Outdoor-Sex spezialisiert sei. Nun habe ich mich über die Jahre hinweg schon an die ungewöhnlichsten Anfragen gewöhnt und fragte höflich nach, wo denn das Problem dabei sei. Er meinte, es würde ihn tierisch nerven, dass seine Partnerin ausschließlich auf Outdoor-Sex stünde und dabei nur eine Sexstellung bevorzuge, was ihm bei der derzeitigen Witterung zu kalt und auch zu einseitig sei. Es kommt ja durchaus vor, dass Paare unterschiedliche sexuelle Vorlieben haben, aus denen sich dann partnerschaftliche Spannungen aufbauen, nur irritierte mich die Art und Weise, wie er sein Problem vortrug. Besonders erfreut reagierte er auf meine Frage, ob er zu dem Termin seine Partnerin mitbringen wolle. Dabei ließ er dann ganz beiläufig die Bemerkung fallen, dass seine Partnerin ein Schaf sei! Ich traute meinen Ohren nicht und überlegte kurz, ob er vielleicht gemeint haben könnte, dass seine Frau »scharf« sei, verwarf den Gedanken aber kurzerhand, als er fortfuhr und sich bei mir für die Bereitschaft bedankte, auch Tiere mit in die Therapie einbeziehen zu dürfen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war mir klar, dass dies keine ernsthafte Therapieanfrage war, sondern mein Gesprächspartner vermutlich mit heruntergelassener Hose am anderen Ende der Leitung gespannt auf meine Schreckreaktion wartete. Die vom Anrufer vorgegebene Zoophilie, im konkreten Fall die sexuelle Hingezogenheit zu einem Schaf, kaschierte dabei seine eigentlich dahinterliegende exhibitionistische Neigung, die er gerade im Schutz der Anonymität des Anrufes auslebte.

Nun leitet die »Schaf-Stellung« des Anrufers metaphorisch, neben einer gewissen orthografischen Ähnlichkeit zum Titel, nur mittelbar in das Thema des Buches ein, in dem es weniger um Sex mit Tieren als vielmehr um unsere tierisch triebhafte Seite der Sexualität gehen wird. Sollten Sie also assoziativ bei »Scharfstellung« an »spitz«, »pikant«, »hot« oder Liebespraktiken des Kamasutras denken, so geht das durchaus in die richtige Richtung.

Seit Jahren beobachte ich eine Verschiebung sexueller Normen: Voyeurismus, Exhibitionismus, Fetischismus und BDSM, denen früher ein Krankheitswert zugeordnet wurde, sind heute in weiten Teilen der Bevölkerung fest verankert. Für jede denkbare Vorliebe gibt es Portale und Apps, über die sich unverbindlich sexuelle Kontakte knüpfen lassen. Selbst für die ausgefallensten Spielarten finden sich über das World Wide Web im Handumdrehen Gleichgesinnte, mit denen man sich verbal und bei Gefallen auch nonverbal austauschen kann. Der Blick des Voyeurs durch das Schlüsselloch virtueller Möglichkeiten weckt ungeahnte sexuelle Fantasien, die nach Verwirklichung streben. Neueste technische Trends zielen dabei diametral auf unsere Triebe, die im Deckmantel der Anonymität des Internets eine unendlich große Spielwiese für Lust ohne Limit und frei von Last finden.

Auslöser der »alten« sexuellen Revolution in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren war die Einführung der Antibabypille und die gesetzliche Grundlage zur straffreien Abtreibung, welche Sexualität und Fortpflanzung voneinander abkoppelten. Ohne drohendes Damoklesschwert einer unfreiwilligen Elternschaft im Nacken war es nun erstmals möglich, Sexualität angstfrei zu genießen. Mit Slogans wie »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!« und »Mein Bauch gehört mir!« verschaffte sich die Bewegung damals lautstark Gehör.

Die »neue« sexuelle Revolution geht mit einer Autonomisierung unserer Triebe einher. Sie kommt leiser, verborgener und subtiler daher, dafür aber mit einer nie dagewesenen Effektstärke und Wirkung. Drehscheibe der Veränderung ist diesmal weniger die Fortpflanzung als vielmehr die Befreiung unserer Triebe durch die Möglichkeit, Lust völlig autonom in einer Welt sexueller Superstimuli zu erleben. Unsere Triebe verabschieden sich dabei immer mehr aus verbindlichen Partnerschaften und führen ein illustres Eigenleben, das Gefahren und Inkompatibilitäten mit dem realen Leben weitestgehend ausblendet. Beziehungsgrenzen weichen zunehmend auf und der Begriff der Treue ist unklarer als je zuvor. Heute kann ich meinen Partner online betrügen, während er mit mir im Bett liegt. Das Smartphone als mittlerweile wichtigster Alltagsgegenstand nimmt hier eine Schlüsselfunktion ein. Es ist die Eintrittskarte in ein magisches Theater der Begierde. Im Verborgenen entstehen dabei Doppelleben, die über viele Jahre vom öffentlichen Leben unsichtbar und abgespalten sind. Einigen kosten die ständig verfügbaren verführerischen Reize nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihre Beziehung, ihren Job, ihr Vermögen, ihren Ruf und ihre Gesundheit. Pornografie, Online-Dating und käuflicher Sex im Übermaß genossen hat ähnlich starke Wirkung wie Kokain. Porno- und Sexsucht entwickeln sich über Jahre hinweg im Verborgenen und haben gravierende Folgen für Betroffene und deren Umfeld. Allein in Deutschland leben konservativ geschätzt eine halbe Million Sexsüchtige, Tendenz steigend.

Anders als früher findet Aufklärungsunterricht heute nicht mehr primär in der Schule oder zu Hause bei den Eltern statt, sondern über das Smartphone. Pornos laufen weit vor dem ersten Kuss in Kinderzimmern und auf dem Pausenhof. Sie wirken nachhaltig auf unsere sexuellen Fantasien und beeinflussen unser Wollen und Können. Besonders unter jungen Männern breiten sich sexuelle Funktionsstörungen wie Potenzstörungen, partnerbezogene Lustlosigkeit und Orgasmusverzögerung mittlerweile pandemisch aus.

All diese Entwicklungen passieren in unserem direkten Umfeld im Nahbereich. Sie verändern nicht nur unser aller Leben, sondern auch das unserer Partner, Kinder, Eltern, Freunde und Bekannten. Dabei spüren wir diese Veränderungen schon weit bevor wir sie sehen und verstehen können. Eine Ursache dafür ist, dass das Trio Liebe, Sex und Sucht mit einer Unschärfe der Wahrnehmung einhergeht, denn es fehlt ihnen der zum Fokussieren erforderliche Mindestabstand, um ein scharfes Bild auf der Netzhaut zu erzeugen. Zum anderen agieren unsere Triebe am liebsten ungehemmt im Schutz der Anonymität und im Verborgenen abseits ausgetretener Pfade. Wenn wir dann unfreiwillig und ungeplant einen Blick erhaschen, trauen wir unseren Augen kaum und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. So erging es der Ehefrau eines meiner Klienten, die es durch Zufall schaffte, sich in den geheimen Account ihres Mannes einzuloggen. Hier fand sie über hundert Bewertungen von Prostituierten, die sich zu den sexuellen Qualitäten ihres mittlerweile auf Gold-Freier-Niveau hochgearbeiteten Gatten äußerten. So einzigartig und tragisch die Einzelschicksale auch anmuten, sie sind Teil eines Massenphänomens, das sich tagtäglich in Varianz hinter zigtausend verschlossenen Türen der Republik immer und immer wieder abspielt.

Das Buch ist das Ergebnis aus unzähligen Gesprächen mit Klienten und Paaren, die sich mir in meiner Arztpraxis in den letzten fünfzehn Jahren anvertraut haben. Dadurch, dass ich tagtäglich hinter die Alltagskulissen meiner Klienten schaue und mich hier meist in Tabubereichen bewege, war es mir möglich, die sich verändernden Einzel- und Paarthemen mosaikartig zu Skizzen neuer Beziehungslandschaften zusammenzusetzen. Mir ist dabei wichtig, nicht zu werten. Vielmehr möchte ich neue Phänomene beschreiben und strukturieren.

Sexualität, Intimität, Leidenschaft und Erotik haben die verschiedensten Gesichter und zeigen sich auf vielfältige Art und Weise. Ich sehe in meiner täglichen Arbeit die unterschiedlichsten, teilweise auch nicht traditionellen sexuellen Lebensformen, denen ich offen, respektvoll und wertschätzend gegenüberstehe. Das Bewerten, was ethisch, moralisch und politisch korrekt, richtig oder falsch, gut oder böse ist, halte ich für überflüssig, solange in gegenseitigem Respekt gehandelt wird und Gesetze eingehalten werden. Jeder Mensch kann autonom und eigenverantwortlich entscheiden, was für ihn ein erfülltes und befriedigendes Sexualleben ausmacht. Wie im sonstigen Leben gehört es auch zur Sexualität dazu, mutig voranzuschreiten und zu experimentieren, um herauszufinden, was zu einem passt und, noch wichtiger, was eben nicht passt und wo die eigenen Grenzen liegen. Je nach Lebensabschnitt rücken dabei die drei sexuellen Komponenten Lustbefriedigung, Bindung und Fortpflanzung mal mehr oder weniger in den Vordergrund.

Das Buch versteht sich als eine Art Sehschule. Es möchte den Blick des Betrachters schärfen, um dadurch bisher unbekannte oder nur unscharf wahrgenommene Dinge sicht- und begreifbar zu machen, ähnlich einem Prisma, das unsichtbares weißes Licht in seine bunten Spektralfarben zerlegt. Der Begriff »Scharfstellung« kommt aus der Optik und beschreibt den Vorgang der Fokussierung von Auge, Kamera oder Zielfernrohr, damit ein scharfes Bild entsteht. Dabei interessiert mich das Bild auf der Netzhaut des Voyeurs ebenso wie die Pornosequenzen in der Kamera und das zum Abschuss freigegebene Objekt der Begierde im Fadenkreuz des Jägers. Alle in das Buch aufgenommenen Fallbeispiele von Klienten und Paaren habe ich dermaßen anonymisiert und miteinander verflochten, dass keinerlei Rückschlüsse auf einzelne Personen mehr möglich sind.

»Scharfstellung« ist auch ein gesellschaftliches Phänomen und Lebensgefühl, das mit einem unwiderstehlichen Prickeln im Unterbauch einhergeht. Es entlässt uns in eine neue Freiheit nie zuvor dagewesener Autonomie, die zugleich ein enormes Maß an Selbststeuerung erfordert. Die Gewinner dieser Entwicklung entdecken ihre Sexualität neu und schaffen eine Integration in ihr Liebesleben. Die Verlierer leben in Isolation oder bleiben in süchtig selbstzerstörerischen Prozessen und zwanghaften Verhaltensweisen stecken.

Ich möchte Sie gerne auf eine Reise zwischen Lust und Frust in dem heute sexuell aufgeheizten Zeitalter der Selbstliebe mitnehmen. In ersten Zwischenetappen werde ich die Themen Masturbation, Pornografie, Sex-Toys, Prostitution und Casual Dating näher unter die Lupe nehmen. Ein großer Anteil des Buches wird den Veränderungen von Sexualität und Partnerschaft gewidmet sein, wie ich sie in meinem Praxisalltag tagtäglich erlebe. Um mich nicht völlig hinter der anonymen und allwissenden Expertenrolle zu verstecken, habe ich mich dazu entschlossen, auch sehr persönliche Erfahrungen aus meinem Leben zu teilen. Bei all der Ernsthaftigkeit, welche die Thematik auch mit sich bringen kann, ist es mir wichtig, auch immer eine Prise Leichtigkeit und Humor mitschwingen zu lassen. Ich möchte mit diesem Buch unterhalten und fundiert über den digital beschleunigten Sex des 21. Jahrhunderts informieren.

Sollten Sie dabei an der einen oder anderen Stelle nachdenklich über sich selbst oder die Menschen Ihres direkten Umfeldes werden, so ist dies durchaus beabsichtigt und erwünscht.

In diesem Sinne wünsche ich viel Freude beim Lesen – mit oder ohne Brille!

2 Masturbation & Sextroversion

Aufgewachsen bin ich im ländlichen Norddeutschland mit Eltern, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder überlebten und sich ab den 1960er Jahren im Schatten des Wirtschaftsaufschwungs der Aufzucht ihrer zwei Babyboomer-Kinder widmeten. Von dem Befreiungsschlag der wilden 68er war bei uns im Dorf so überhaupt gar nichts zu spüren und über Sexualität sprach man selten – wenn, dann eher halb im Scherz und mit einem Augenzwinkern dabei. Hätte man in meiner Kindheit Wetten auf meine berufliche Laufbahn abgegeben, wäre die Wettquote, dass ich einmal als Paar- und Sexualtherapeutin in München arbeiten würde, exorbitant höher ausgefallen, als für eine Karriere als Bankkauffrau in einer der heimischen Sparkassen im Nachbarort.

Meine Nachmittage verbrachte ich in der Regel in der freien Natur mit jeder Menge Tiere um mich herum. So kam ich an langweiligen Sommernachmittagen eher indirekt im Rahmen von Tierbeobachtungen mit dem Thema Sexualität in Kontakt. Während mich die Begattungsversuche unseres Zwerghahns mit seinen großen Hühnerdamen eher belustigten, flößten mir die langen Penisse der Hengste auf der Pferdekoppel schon eher Respekt ein.

In der Grundschulzeit zog dann unser junger grüner Wellensittich Hansi bei uns ein, mit dem mich eine langjährige und innige Beziehung verband. Er war im wahrsten Sinne des Wortes »handzahm«, denn er verwechselte meine Hand mit einem begattungsfähigen Weibchen. So rieb er mehrmals am Tag auf meinem Handrücken seinen Unterleib lustvoll hin und her. Dieses Ritual nannten wir in der Familie »Wuschiwuschi«. Erst später wurde mir klar, dass »vögeln« vermutlich der bessere Begriff gewesen wäre. Während zur gleichen Zeit in den USA der Gynäkologe Masters mit seiner Ehefrau und Wissenschaftlerin Johnson die vier Phasen des sexuellen Reaktionszyklus (Erregung, Plateau, Orgasmus, Rückbildung) erforschte, beobachtete ich völlig unvoreingenommen und ohne praktische oder theoretische Vorkenntnisse ähnliche Phänomene: Hansis Balzverhalten und Vorspiel leitete ich durch eine Fingerbewegung ein und konnte es durch das Klopfen auf den Schnabel vertiefen. In der Plateauphase verengten sich nicht nur Hansis Pupillen, sondern auch seine Aufmerksamkeit so sehr, dass er zielstrebig auf den Orgasmus hinzusteuerte und dann durch fast nichts mehr von seinem Ziel abzuhalten war. Er hinterließ einen kleinen weißen Samenfleck auf meinem Handrücken und erbrach im Nachspiel seine vorverdauten Körner auf meine Finger, die er dann meistens etwas später selber wieder auffraß. In seinen jungen Jahren schaffte er mehrere Durchgänge hintereinander und dies bis zu dreimal am Tag. Im Alter mussten die Reize stärker werden und das Interesse an Sex nahm sukzessive ab, hörte aber nie ganz auf. Dafür entwickelte er eine eher genussvolle Komponente, denn er ließ sich gerne ausgiebig von mir kraulen. Einmal auf meine Hand konditioniert, war er später, als wir ihm ein Weibchen dazu kauften, von seinem etablierten Reizmuster nicht mehr abzubringen. Hansi starb nach einem sexuell erfüllten Leben im biblischen Alter von zwölf Jahren. Vermutlich gilt die Erkenntnis der modernen Wissenschaft, dass regelmäßiger Sex das Immunsystem stärkt, Stress abbaut und zu einer verlängerten Lebenszeit führt, auch für Wellensittiche.

An pornografisches Bildmaterial kam ich als junges Mädchen nur in kurzen, unbeobachteten Momenten im Wartebereich des Frisörs, der das bilderreiche Sex- und Erotik-Boulevardblatt Praline mit retuschierten Nacktaufnahmen und angedeuteten Sexstellungen abonniert hatte. Etwas später fand ich dann schon wesentlich expliziteres Material, als ich bei meinen Eltern ein verstecktes Heftchen mit der Aufschrift »Die Brücke zur Erotik« entdeckte. Dies war das einzige Bildmaterial meiner ganzen Jugend mit Nahaufnahmen von Penis und Vagina beim Geschlechtsakt. Die Bilder wirkten durchaus nachhaltig, sodass ich sie noch heute abrufen kann. Mehr über Petting, Küssen, Verlieben und Sex erfuhr ich später in den Teenager-Pflichtlektüren Bravo und Mädchen, die ich mir wöchentlich von meinem Taschengeld kaufte. Zwischen theoretischen und praktischen Erfahrungen trennten mich zu diesem Zeitpunkt noch Jahre, und ich erhoffte mir Woche für Woche neue Erkenntnisse, die mir helfen sollten, das große Kapitel der Sexualität auch in Realität aufzuschlagen. Meine amourösen Gedanken und Gefühle gingen zumeist in geheimer Mission zu Musik von Bryan Ferry und Phil Collins auf Reisen, immer darauf bedacht, von den damaligen Objekten meiner Begierde nicht entdeckt zu werden. Mit dieser vermeidenden Strategie verlor ich dann auch zu Recht den Einsatz von fünf DM an eine Freundin, mit der ich wettete, wer von uns beiden wohl zuerst Sex mit einem Jungen haben wird.

Der Aufklärungsunterricht in der Schule fand bei uns in der unteren Sekundarstufe statt, gerade noch rechtzeitig vor Einsetzen der Pubertät. Thematisch wurde er an das Fach Biologie gehängt und entsprechend lag der inhaltliche Schwerpunkt auf der Entwicklung primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale, biologischer Vorgänge der Fortpflanzung und der Verhütung. Zum Schluss bekamen wir als Anschauungs- und Übungsmaterial eine Probepackung Tampons und Kondome in die Hand gedrückt. Themen wie sexuelle Orientierung und sexueller Missbrauch wurden genauso wenig besprochen wie sexuell übertragbare Erkrankungen oder gar Medienkompetenz zu dem Thema.

Nacktheit, Penisse und Brüste in jeglicher erdenklichen Güte sah ich in Realität nur während unseres jährlichen Sommerurlaubes an der Ostsee, wo ich häufiger zum Zeitvertreib mit einer die Augen kaschierenden Sonnenbrille am FKK-Strand vorbei flanierte und die unverhüllten Sonnenanbeter betrachtete. Als Kind waren es auch eher Zufälle, die mich mit dem Thema Sexualität in der eigenen Familie konfrontierten: abgeschlossene Zimmertüren, Kondome in Nachttischschubladen, versteckte Sexblättchen, indirekte sexuelle Anspielungen untereinander oder Bewertungen des Verhaltens anderer, aus denen ich mir meine eigene Logik zusammenbastelte. Meine Mutter versuchte sich an einem Aufklärungsgespräch mit mir und mein Bruder bekam von meinem Vater in der Pubertät eine größere Packung Kondome in die Hand gedrückt. Das war es dann auch schon. Vielleicht waren meine Eltern etwas verklemmt oder auch nur respektvoll uns gegenüber, wenn sie die Themen Sexualität, Erotik und Liebe bei uns aussparten. Wer will schon gerne intensiv den eigenen Zeugungsakt oder die Vorlieben, Probleme und Einstellungen mit Mutter und Vater zu den Themen diskutieren? Kinder bekommen auf Grund der familiären Nähe oftmals unfreiwillig genug schwer verdauliche Kost ab, die je nach Alter prägende Spuren für ihr ganzes Leben hinterlassen kann. Der Grat zwischen aufklärender Offenheit und subjektiver Übergriffigkeit zwischen Eltern und Kindern ist schmal. Im Nachhinein war ich meinen Eltern dankbar, dass sie mir als Kind allzu intensive Details über ihr Liebesleben erspart haben.

Denkt man an Affären, so traten diese in unserem Dorf bevorzugt nach feuchtfröhlichen Schützenfesten oder dem Tanz in den Mai auf. Sie entwickelten sich noch von Angesicht zu Angesicht. Der Klassiker, mit denen Affären aufflogen, waren Lippenstift auf dem Hemdkragen, ein andersfarbiges Haar auf dem Autositz, ein Knutschfleck am Hals, ein fremder Parfümgeruch oder der Tratsch im Dorf, wenn man einmal doch gesehen wurde. Keine fehlgeleiteten WhatsApp-Nachrichten, kein geheimer E-Mail-Account, keine Dating-Apps auf dem Smartphone, die Misstrauen schürten und Anlass zu Eifersucht boten. Die Scheidungsrate lag damals noch bei 18 Prozent, und so waren die überwiegenden Elternhäuser in meiner Klasse noch in Vollbesetzung am Start und Patchwork-Familien galten als Ausnahme.

Mein Schülerpraktikum absolvierte ich in der neunten Klasse in einer der heimischen Sparkassen. Ich wurde damals ins muffige und dunkle Archiv gesteckt, der Traum eines jeden Schülers! Nachdem ich die Kontostände mir bekannter Personen durchforstet hatte, war mir schnell langweilig und so kam ich auf die Idee, eine mir damals vorliegende Karikatur Napoleons, einmal angezogen und einmal nackt mit erigiertem Penis in der Hand, wahllos in die Ordner des Archivs zu verteilen. Ich hoffe noch heute, dass meine kleine Jugendsünde wenigstens dem einen oder anderen Kollegen, der das berufliche Schicksal des Bankkaufmanns nicht abwenden konnte, bei der Durchsicht der trockenen Akten ein breites Grinsen auf das Gesicht gezaubert hat. Mit der kleinen Jugendsünde war mein beruflicher Weg geebnet, weg von der Ausbildung zur Bankkauffrau, hin zu den spannenden Welten der Medizin und Psychologie.

Wenn Intimes öffentlich wird: Selbstbefriedigung in Gesellschaft und Partnerschaft

Auf Partys der Medizinstudenten machte in den 1980er Jahren die Doktorarbeit »Penisverletzungen bei Masturbation mit Staubsaugern« auf Partys die Runde und sorgte hier für allerlei Erheiterung bei den Erklärungsversuchen der Betroffenen, wie genau der Penis in die Ansaugdüse des Staubsaugers gelangte. Die Entwickler der Firma Vorwerk hatten damals weder an eine perfide Marketingstrategie noch an eine autoerotische Zweckentfremdung gedacht, als sie den Ansatzstutzen des Handstaubsaugers der Marke »Kobold« mit nur elf Zentimetern Länge konstruierten. Dieser war leider zu kurz für die bundesdurchschnittliche erigierte Penislänge von 14,4 Zentimetern, die beim autoerotischen Experimentieren mit dem rotierenden Ventilator des Gerätes schmerzhafte Bekanntschaft machte und den Betroffenen neben einer fragwürdigen Bekanntheit durch die Dissertation auch zu folgeschweren Riss-Quetschverletzungen des Penis verhalf.

Masturbation war damals noch kein so emotionales Thema wie heute, denn jeder tat es, aber die Hilfsmittel, die man dazu benutzte, sahen noch ein wenig retro aus. Von Sexunfällen bei autoerotischer Betätigung hörte ich dann in den Vorlesungen. Proktologen berichteten immer verschwitzt von ihrer Schatzsuche der besonderen Art. So holten sie aus den Tiefen des Darms neben Vibratoren so allerlei Gegenstände wie Dildos, Haarspraydosen, Schrauben und Glasflaschen vom Flachmann bis zur Bierflasche. Auch Urologen berichteten über die skurrilsten Fundstücke in Harnröhre und -blase wie Gabeln, Wunderkerzen, Fieberthermometer, Metalldrähte und Kugelschreiber, welche Betroffenen bei der Anamneseerhebung regelmäßig den Schweiß auf die Stirn treiben. Zu ebenfalls unschönen Erfahrungen kann es bei zu groben Masturbationstechniken kommen, die mit einem Penisbruch enden. In dem Moment, in dem der Schwellkörper bricht, soll es einen lauten Knall geben, gefolgt von starken Schmerzen und einer auberginefarbenen Anschwellung des Penis in typischer »Blutwurst-Saxophon-Form«, wie uns Studenten ein Urologe mit leicht süffisantem Unterton während einer Vorlesung anhand von eindrucksvollem Bildmaterial unvergesslich erläuterte. Interessanterweise ist diese Verletzungsart in Nahostländern viel häufiger, da dort eine Anti-Masturbationstechnik kursiert, die das Ende einer lästigen Erektion durch Penisbiegung verspricht.

Bei der Masturbation sind dem Einfallsreichtum seit jeher kaum Grenzen gesetzt und so finden auch heute noch zahlreiche Alltagsgegenstände, für technisch Versierte aus der Warenabteilung des Baumarktes, über elektrische Zahnbürsten bis hin zu Bananen, Gurken und Melonen für die vegane Fraktion, ihren Einsatz in spezieller autoerotischer Mission. Masturbation, Selbstbefriedigung oder Onanie, egal was auch immer man dazu sagt, wird von Menschen schon immer mehr oder weniger regelmäßig in allen Altersklassen von frühester Jugend bis ins hohe Alter praktiziert. Selbst in der Tierwelt ist Masturbation weiter verbreitet als gedacht. Hunde rubbeln ihre Geschlechtsorgane an Hosenbeinen, Elefanten nuckeln an ihren mit dem Rüssel. Bären, Steinböcke und Hyänenweibchen können sich sogar selber mit dem Mund befriedigen. Wenn es Sie interessiert, schauen Sie doch einfach mal auf YouTube beim Solo-Sex von domestizierten, freilebenden, männlichen und weiblichen Tieren wie Affen, Hunden, Katzen, Bären, Nashörnern, Schildkröten, Bullen, Hengsten, Ziegen, Schafen oder Walen zu.

Generell ist Masturbation völlig normal und wertfrei zu betrachten, obwohl Religion, Psychologie, Medizin, Pädagogik und Gesellschaft hier ein Mitspracherecht mit teilweise sehr rigorosen und angstauslösenden Ansichten beanspruchen. Die Bekämpfung der Selbstbefriedigung fand noch bis Ende des 19. Jahrhunderts durch vielfältige Methoden wie Aufsicht, Bandagen, Handschuhe mit Dornen oder Erektionsmelder in Form von Glöckchen statt. Die Klitoridektomie, eine grausame Prozedur der weiblichen Genitalverstümmelung, hat erschreckenderweise bis heute vor allem in afrikanischen Ländern überlebt. Durch die Migration aus betroffenen Ländern wird laut des sich für die Rechte der Frau einsetzenden Vereins »Terre des Femmes« auch heute noch von einer hohen Anzahl an Frauen ausgegangen, die selbst in Europa von einer Genitalverstümmelung betroffen und bedroht sind.

Gängige Bezeichnungen wie »Selbstbefleckung«, »Jugendsünde« oder »Unzucht« wecken negative Assoziationen. Treten dann im Rahmen einer selbsterfüllenden Prophezeiung Schuldgefühle auf, so werden sie aus religiösen Kreisen als ein Indiz für ein sittliches Vergehen gedeutet. Autosexuelle Handlungen seien pervers und wider die Natur. Mit Ausnahme des unwillkürlichen nächtlichen Samenergusses werden sie als Sünde verurteilt, der mit Reue und Beichte zu begegnen sei. Immer wieder kursierten Gerüchte und parawissenschaftliche Schauermärchen über diverse Erkrankungen von Rückenmarksschwund bis Blindheit und absurdeste Ideen, wie die, dass z. B. der liebe Gott einem dabei zuschauen könne. Für uns aufgeklärte Erwachsene sind das alles fixe Ideen, die jeglicher medizinischen Grundlage entbehren, aber heranwachsende Kinder können diese fragwürdigen und manipulativen Statements in ihrer sexuellen Entwicklung deutlich verunsichern.

Durch die Einflüsse der Psychoanalyse um Sigmund Freud fand Anfang des 20. Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel statt. Hier wurde der Selbstbefriedigung zum sexuellen Spannungsabbau in der Pubertät erstmalig Normalität attestiert. Der Theorie zufolge befinden sich Jugendliche noch in dem Stadium der unreifen Ich-Liebe, einer Art Durchgangssyndrom, welches im Idealfall in eine gereifte Form der Du-Liebe münden solle. Ein Fortbestehen der Selbstbefriedigung in der Paarbeziehung oder gar eine süchtige Fixierung auf Selbstbefriedigung stelle demzufolge eine Reifungsstörung dar, die dem Narzissmus zuzuordnen sei.

In der Mitte des letzten Jahrhunderts verlor die Selbstbefriedigung dann dank des amerikanischen Sexualforschers Alfred Kinsey weiter an Stigmatisierung. Mit seinen Kinsey-Reports wurde das Tabu gelüftet, dass Masturbation von frühester Jugend bis ins hohe Alter weiter verbreitet ist als angenommen und dass Frauen, die sich vor der Ehe sexuell stimulieren, statistisch betrachtet sogar eine höhere sexuelle Zufriedenheit aufweisen. Aktuellen Schätzungen nach tun es ca. 94 Prozent aller Männer und 80 Prozent aller Frauen regelmäßig. Willkommen im Club!

Selbst in sexuell befriedigenden Partnerschaften läuft die Masturbation nicht selten parallel, um einmal schnell, ohne langatmiges Werbungsverhalten, ohne Leistungsdruck und ohne Versagensangst zum Ziel zu kommen. Sie dient auch dem Ausgleich eines unterschiedlichen Lustniveaus und zur Überbrückung von Zeiten, in denen der Partner abwesend oder krank ist. Die perfekte Rezeptur für einen ungetrübten Solo-Sex beinhalteten dabei in der Vergangenheit vor allem drei Zutaten: 1.) Ein ruhiges Plätzchen, um sich ungestört der eigenen Lust hinzugeben. 2.) Eine geschickte Hand, um die erogenen Zonen ausreichend in Schwingung zu versetzen. 3.) Last but not least ein paar heiße Gedanken und Fantasien für ein stimulierendes Kopfkino. Die Zutatenliste hat sich in den letzten Jahrzehnten dank Pornografie, Sex-Toys und virtuellem Sex deutlich verlängert.

Zu Beginn einer verbindlichen Partnerschaft trauen sich Paare noch rege über diese Themen zu sprechen. Sexuelle Vorlieben und Praktiken, Erfahrungen, Träume und Wünsche inklusive der Selbstbefriedigung werden ausgiebig diskutiert und teilweise sogar in die partnerschaftliche Sexualität integriert. In meiner Praxis stelle ich allerdings in Paartherapien seit Jahren zunehmend fest, dass bei der Nachfrage über die Gewohnheiten zur Selbstbefriedigung in Anwesenheit des Partners regelmäßig ein schambesetztes unsicheres Schweigen einzieht. Heutzutage sind die Möglichkeiten sich alternativ zu vergnügen ungleich höher als noch in der nahen Vergangenheit. Monotonie in Beziehungen und attraktive Alternativangebote für Selbstbefriedigung, Affären und Sexarbeit gab es seit jeher. Durch die technischen Fortschritte haben sich jedoch viele Bereiche vor allem in der Sexualität enorm beschleunigt. Die Reizintensität und die Vielzahl an möglichen sexuellen Verlockungen sind in den letzten Jahrzehnten explodiert. Unsere Lust und unsere Triebe sind mittlerweile Zielscheiben einer milliardenschweren Sexindustrie geworden, die mit einer gewaltigen medialen Omnipräsenz aufwartet. Wir leben in einer sexualisierten Konsumgesellschaft nach dem Motto: »Schneller, höher, weiter«. Sexuelle Reize und Pornografie durchdringen unser Leben in alle Bereiche hinein, durch und durch. Sie zielen dabei diametral auf das Belohnungszentrum unseres Gehirnes.

Bleiben wir beim Beispiel der Masturbation, die nur noch selten allein über Fantasie und manueller Stimulation stattfindet. Mittlerweile stehen hierfür zahlreiche Hilfsmittel zur Verfügung, die vielversprechende Unterstützung garantieren. Erwähnenswert ist hier das Online-Portal Omgyes.com, auf dem Frauen offen darüber berichten, wie sie masturbieren. Die gewonnenen Erkenntnisse lassen sich direkt auf dem Touchpad über eine digitale Vulva üben, um den perfekten Stimulationstechniken auf die Spur zu kommen. In den folgenden zwei Kapiteln werde ich auf die Themen Sex-Toys und Pornografie gesondert eingehen, da sie einen maßgeblichen Einfluss auf die Selbstliebe, wie sie heute praktiziert wird, nehmen.

Die sexualisierte Gesellschaft