cover.jpg

img1.jpg

 

Nr. 2606

 

Unter dem Stahlschirm

 

Konfrontation mit der Allgegenwärtigen Nachhut – Terraner betreten das Grab zwischen den Planeten

 

Hubert Haensel

 

img2.jpg

 

In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Der furchtbare, aber kurze Krieg gegen die Frequenz-Monarchie liegt inzwischen sechs Jahre zurück. Die Bewohner der Erde erholen sich langsam von den traumatischen Ereignissen.

Nun hoffen die Menschen sowie die Angehörigen anderer Völker auf eine lange Zeit des Friedens. Perry Rhodan und seine unsterblichen Gefährten wollen die Einigung der Galaxis weiter voranbringen; die uralten Konflikte zwischen den Zivilisationen sollen der Vergangenheit angehören.

Dabei soll die phänomenale Transport-Technologie des Polyport-Netzes behilflich sein. Mithilfe dieser Technologie bestehen Kontakte zu weit entfernten Sterneninseln, allen voran der Galaxis Anthuresta, wo sich die Stardust-Menschheit weiterentwickelt.

Doch längst lauert eine ganz andere Gefahr, von der die Bewohner der Milchstraße bislang nichts ahnen können. Perry Rhodan verschlägt es mitsamt der BASIS in die unbekannte Doppelgalaxis Chanda, während auch das gesamte Solsystem an einen fremden Ort entführt wird. Reginald Bull schickt eine Expedition in dessen nähere Umgebung aus. Die Terraner finden zwei Planeten, die durch eine Brücke miteinander verbunden sind, und als sie diese betreten, befinden sie sich alsbald UNTER DEM STAHLSCHIRM ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Jenke Schousboe – Die Stellvertretende Kommandantin der BOMBAY leitet die Expedition auf die Planetenbrücke.

Shimco Patoshin – Ein Favadarei betritt nicht als Erster die Brücke zwischen zwei Welten.

Kulslin Finukuls – Der Shathologe der Favadarei kann sein theoretisches Wissen leibhaftig erleben.

Mareetu – Ein Grabwächter geht gegen Attentäter vor.

1.

 

Etwas erwachte unter dem Eis.

Es bewegte sich, wühlte sich frei und spürte dabei die eigene Kraft wachsen. Über ihm tobte der Sturm mit tosender Wildheit.

Aber da war mehr als nur Schnee und Eis ...

Es ahnte nicht, dass es lange Zeit erstarrt im ewigen Frost ausgeharrt hatte, hätte mit einem solchen Begriff auch nichts anzufangen gewusst. Es folgte einer einzigen bedeutenden Regung, die es antrieb: Hunger.

 

*

 

»Starker Leistungsabfall!«, meldete der Pilot. »Immer mehr Energie verschwindet ... Das Prallfeld verliert an Dichte, Flughöhe sinkt.«

Ein schrilles Heulen durchbrach die Schallisolierungen des SKARABÄUS. Die Expeditions-Kommandantin versteifte sich in ihrem Sessel, hob beide Hände zu den Ohren und drückte mit den Zeigefingern auf die Knorpel vor ihren Gehörgängen. Das Geräusch schien langsam in den Ultraschallbereich abzugleiten. Allerdings vermochte sie nicht zu sagen, ob dieses Heulen tatsächlich von außen kam oder in ihr selbst aufstieg.

Sie hielt abrupt inne, als sie Apatou Boussets forschenden Blick bemerkte. »Ernsthafte Probleme, Jenke?«, fragte der Xeno-Biologe.

»Dieses Geräusch geht mir durch und durch ...« Jenke Schousboe ließ ihren Blick durch die Zentrale huschen. Für acht Besatzungsmitglieder war der »Käfer« ausgelegt, derzeit waren sie zwölf, und die Enge ließ sich keinesfalls leugnen. So spindeldürr die drei Favadarei auch waren und sosehr sie sich Mühe gaben, nirgendwo im Weg zu stehen, ihre Größe allein hatte schon etwas Erdrückendes.

Das schrille Heulen verstummte bereits wieder. Nur wenige Sekunden lang hatte es angehalten.

»Akustische Außenerfassung?«

»Was willst du hören? Das Toben des Eissturms?«

»Da ist mehr!«, sagte Jenke heftig. »Wir haben es schmerzlich genug erlebt. Also ...?«

»Der Sturm und die Eiskristalle schleifen den Boden ...«

»Ein Schrei! Hast du den Schrei nicht gehört? Nur für Sekunden, dabei immer schriller und ...«

Und was? Der Schrei einer hungrigen Kreatur? Jenke sah dem Mann im Pilotensessel an, dass er nicht wusste, was sie meinte. Die anderen ebenso wenig. Also doch Einbildung? Weil Zacharys Tod sie weit mehr belastete, als sie sich jemals eingestehen würde?

Ein Leichentuch lag rund um den SKARABÄUS ausgebreitet – eine leblose und scheinbar unberührte Wildnis. In Agonie erstarrt; zeitlos. Die Sicht reichte höchstens einige Dutzend Meter weit.

Flughöhe?

Die Anzeige vor ihr schwankte zwischen zehn und zwanzig Metern. Es gab kaum Messreflexe, und wenn, hatten sie lediglich etwas schemenhaft Unwirkliches.

Geschwindigkeit?

Fast schon Stillstand über Grund. Der »Käfer« war flügellahm geworden; mit wenigen Metern in der Sekunde kroch er dahin.

Wieder hörte Jenke den Schrei, eisig kalt und durchdringend. Sie presste sich die Hände auf die Ohren: Dieser Schrei war voll ungezähmter Wildheit und hungriger Gier ...

 

*

 

»Weg von hier, egal wie!«, wollte Jenke Schousboe rufen. Falls die Technik vollends versagte, musste eben ein Spinnakersegel gesetzt werden – auf Kufen würde der SKARABÄUS übers Eis gleiten, der Planetenbrücke entgegen.

Sie brachte keinen Ton hervor. Die Worte gefroren auf ihren Lippen.

Das war auch nicht mehr wichtig, genauso wenig wie alles andere um sie herum. Der flüchtige Eindruck, dass Abraham Pettazzoni aufsprang und auf sie zustürmte, verwischte zur Bedeutungslosigkeit. Ebenso, dass Marica Widengren nach einer Favadarei-Harpune griff ... Konturlose Kälte zerfetzte Jenkes letzten Gedanken an die Gefährten und die wohlige Wärme im Schutz des SKARABÄUS' ...

Einzig quälender Hunger bestimmte ihre Welt. Bebend beobachtete sie den länglichen Schemen, der schräg über ihr schwebte, gerade so hoch, dass sie ihn mit einiger Anstrengung packen konnte. Dieses Ding roch fremd. Es stank geradezu nach Ungenießbarkeit. Dennoch verhieß die pulsierende Wärme in seinem Inneren wohlige Sattheit.

Alle Sehfäden auf die schützende, stinkende Hülle zu fixieren kostete extreme Anstrengung. Sie bebte vor Erregung, etliche ihrer Arme durchbrachen die dicke Eiskruste, krümmten sich in die Höhe und packten zu.

Weitere Arme wirbelten hoch, griffen von allen Seiten nach dem Ding. Es neigte sich zur Seite, kam tiefer, krachte in das aufgewühlte Eis – und zerfetzte einige ihrer Arme.

Greller Schmerz explodierte in ihren Wahrnehmungen.

 

*

 

Ein heftiger Schlag traf ihr Gesicht. Trotz ihrer weit aufgerissenen Augen verstand Jenke Schousboe nicht, was sie sah und wer die Gestalten waren, die sich über sie beugten. Abwehrend hob sie die Arme.

Nur zwei Arme? Was ist mit den vielen anderen?

Etwas umklammerte ihr die Handgelenke. Sie bäumte sich auf und wollte sich losreißen, da spürte sie im Nacken eine Berührung. Das kurze Zischen, das sich bösartig in ihr Ohr schlich, quittierte sie mit einem wilden Kopfschütteln.

»Das Schlimmste wird gleich überstanden sein, danach geht es dir wieder besser!«

Widerwillig lauschte sie der Stimme, in der etwas Vertrautes mitschwang. So vertraut wie das Toben des Schneesturms auf den Bildflächen. Eine der Projektionen zeigte ein graues Etwas, das aus dem Eis hervorbrach wie eine sich entfaltende Blüte ...

»Ich habe dir ein Beruhigungsmittel injiziert. Nur ein paar Sekunden bevor dieses ... dieses Biest den SKARABÄUS packte, hast du wie ein Tier losgebrüllt.«

Stumm schaute sie den Sprecher an. Er war nicht groß und zudem keineswegs schlank. Das Haar hing ihm wirr in die Stirn, und als er sich anscheinend unschlüssig mit der flachen Hand übers Gesicht fuhr, protestierte sein Dreitagebart mit einem kratzenden Schaben.

»... losgebrüllt?« Jenke hatte Mühe, ihre Erinnerungen zurückzuholen. »Für einen Moment glaubte ich, da draußen zu sein ...« Sie redete stockend, zog die Arme an ihren Oberkörper und krallte die Finger in die Schultern. »Ich habe Hunger gespürt ... die Beute gewittert.«

Cyrus Smith, der Logistiker der Expedition, schürzte die Lippen. Es wirkte unschlüssig, wie er die Injektionskanüle zwischen den Fingern drehte.

In der gleichen Sekunde wurde der SKARABÄUS hochgeworfen und schwer erschüttert. Ein unheilvolles Knirschen begleitete den Aufschlag, als würde die Außenhülle eingedrückt. Bevor das Schiff mit leichter Schräglage zur Ruhe kommen konnte, wurde es erneut angestoßen. Ein Meer von Warnanzeigen leuchtete, aber es gab keine bemerkenswerten Schäden. Der SKARABÄUS war und blieb eines der robustesten Arbeitstiere der Flotte, auch und vor allem in diesen Tagen, da sich hochgezüchtete Technologie einmal mehr als höchst anfällig erwiesen hatte.

Ein schweres Dröhnen hallte durch das Schiff.

Jenke wandte sich zu den Favadarei um. Die drei dürren, hochgewachsenen Gestalten klebten geradezu auf ihren Sesseln. Sie hatten Angst, natürlich. Wahrscheinlich fürchteten sie weniger, ihr Leben zu verlieren, als ihr Ziel nicht zu erreichen.

Das Dröhnen wurde zum wütenden Hämmern.

Auf einem der Schirme sah Jenke Schousboe etwas wie einen bleichen Schädel und inmitten zuckender Körpermasse den Ansatz eines mannsgroßen kantigen Schnabels. Die Bewegung verwischte hinter aufgewirbeltem Schnee und Eis, gleich darauf ließ ein neuer wuchtiger Schlag das Schiff beben.

Die Bildschirme der normaloptischen Außenbeobachtung verdunkelten sich. Gewaltige Hautlappen klatschten heran und saugten sich offenbar am Rumpf fest. Der SKARABÄUS wurde erneut angehoben und wieder losgelassen. Nur ein paar Meter Fallhöhe diesmal, kaum mehr, dennoch bestand kein Zweifel, dass der Angreifer versuchte, das Schiff aufzubrechen.

Wie ein Vogel, der immer wieder und wieder nach einem großen Käfer hackt. In Jenkes Vorstellung setzte sich genau dieses Bild fest. Vergeblich versuchte der Käfer zu fliehen. Die Schnabelhiebe wurden härter, bis es dem Vogel endlich gelang, seine Beute auf den Rücken zu werfen.

Jenkes Hauptsorge galt dem FATROCHUN-Netz aus verschiedenen Metalldrähten, das die gesamte VAHANA überzog, an allen Kreuzungspunkten und teilweise auch dazwischen durchsetzt mit den seltsamen blauen Kristallen der Favadarei. Unter dem Strich entsprach es einem hyperphysikalischen Faraday'schen Käfig für die Entladungen aus dem Potenzialfeld, das für die technischen Ausfälle zuständig war. Ohne dieses Netz ...

»Was ist mit dem Schutzschirm?«

Jonas machte eine fahrige Handbewegung. »Kein Schutzschirm, kein Desintegrator, einfach nichts.«

Die Expeditions-Kommandantin fuhr mitsamt ihrem Sessel herum. Sie fixierte die Favadarei. »Shimco, Kulslin, Blaspa: Was ist das da draußen? Wie werden wir damit fertig?«

Unaufhörlich dieses Dröhnen. Der Angreifer hackte auf die Verbindung zwischen Kernzelle und Kommandokugel ein. Das war ungefähr so, als packte Jenkes imaginärer Vogel den Käfer unmittelbar am Kopfansatz.

»Was ist, hat es euch die Sprache verschlagen? Bis zum Sonnenuntergang sind es noch eine oder zwei Stunden, also kein Grund, jetzt schon zu schweigen.«

Ein unheilvolles Knirschen setzte ein. Der SKARABÄUS wurde nicht mehr angehoben, sondern über den Boden gezerrt. Vor Jenkes geistigem Auge hatte der Vogel seinen Beutekäfer endgültig zwischen Kopf und Thorax gepackt und schleuderte ihn hin und her. Abermals dachte sie an das Netz – hoffentlich hielt es.

Es war Kulslin Finukuls, der größte der drei Favadarei, der seinen dürren Oberkörper sogar im Sitzen weit nach vorne neigte. Der Shathologe maß immerhin gut dreieinhalb Meter. Sein Sprechsegel blähte sich und produzierte knatternde Töne.

»Wir glauben, dass wir einem Eisrochen begegnet sind«, übersetzte der Translator. »Es gibt angeblich nur wenige von ihnen.«

»Und?«, fragte Jenke heftig, als der Favadarei wieder schwieg. »Wenn wir das hier überleben wollen, müssen wir wissen, wie dem Biest beizukommen ist.«

 

*

 

Kulslin drehte nicht seinen winzig kleinen Kopf, sondern den gesamten Oberkörper – ganz so, als habe er die Geste der Verneinung den Fremden abgeschaut und setze sie nun auf seine Weise um.

»Du willst hoffentlich nicht andeuten, dass es keine Verteidigung gegen dieses Biest gibt«, sagte Jenke. »Irgendeinen Schwachpunkt ...«

»Die Bewohner von Faland haben es versucht«, wandte Shimco Patoshin ein, der Maschinenbauer. »Es heißt sogar, dass die schweren Repetierarmbrüste entwickelt wurden, um einen Eisrochen zu jagen. Nie kam eines der Jagd-Fahrzeuge zurück. Suchtrupps fanden nur schrecklich deformierte Wrackteile.«

»Und Tote oder Verwundete?« Die Expeditions-Kommandantin wusste selbst nicht, weshalb sie danach fragte. Wahrscheinlich, um die Favadarei aus der Reserve zu locken. Aber mehr als eine Verfärbung ihrer Sinneskronen erreichte sie damit nicht. Die Zacken schimmerten plötzlich in einem eigenartigen Rotton. Trauer, Betroffenheit, vielleicht auch nur Verlegenheit?

Das Gefühl, heftiger herumgezerrt zu werden, wuchs.

»Bei allen Jupitergeistern!«, stöhnte Apatou. »Dieses Monstrum scheint so groß zu sein wie zwei Landefelder.«

Die Optikschirme zeigten in wellenförmige Bewegung geratene Fleischmassen. Sie erinnerten tatsächlich an die Schwingen eines Rochens.

»Wir verlieren weiterhin Energie«, meldete der Pilot. »Was ist, wenn dieses Vieh damit zu tun hat?«

Jenke machte dafür eher die Einflüsse verantwortlich, die schon den Anflug der BOMBAY auf die beiden Planeten und die Brücke zwischen ihnen unterbunden hatten. Nur mit dem technisch merklich abgespeckten SKARABÄUS war die Landung auf Faland überhaupt möglich gewesen. Mit der Umrüstung zum FATROCHUN der Favadarei war das Niveau weiter zurückgenommen worden – andererseits war das Netz die einzige Chance, überhaupt höherwertige Technik einzusetzen.

Ob das letztlich genügte, damit die Expedition den Übergang zur Brücke überhaupt erreichte, würden die kommenden Stunden erweisen. Im schlimmsten Fall würde der »Käfer« zurückbleiben müssen, dann ging es auf irgendeine andere Art und Weise weiter.

»Abschalten!«, befahl Jenke. »Alles, was elektrische Energie verbraucht, von der Versorgung trennen.«

»Dann sehen wir nicht einmal mehr ansatzweise, was draußen vorgeht«, wandte Brutus Lanczkowski ein.

»Wir spüren und hören genug.«

»Trotzdem sollten wir nach draußen gehen! – Ja, ich weiß ...« Der Feuerleitoffizier hob beschwichtigend beide Hände. »Mir ist klar, dass wir mit Armbrüsten und Harpunen das Biest bestenfalls kitzeln können. Aber wenn wir einige Chemikalien zu Brandsätzen mischen ...«

»Nein!«, sagte Jenke schneidend scharf. »Wer durch die Schleuse geht, riskiert sein Leben. Ich fürchte, dass derjenige nicht einmal Zeit hätte, einen Brandsatz zu zünden. Ich will kein Selbstmordunternehmen!«

»Was ist mit der Notbeleuchtung?«, fragte der Pilot in dem Moment.

»Sämtliche Energieverbraucher abschalten. Wir stellen uns tot!«

Die letzte Lichtquelle erlosch, in der Zentrale herrschte nun völlige Finsternis. Die Erschütterungen, der Lärm und die Gedanken wurden umso heftiger.

2.

 

Die Finsternis in der Zentrale machte alles schlimmer. Jeder heftige Stoß konnte bedeuten, dass der »Käfer« auf den Rücken geworfen wurde. So ein Kopfstand ohne den gewohnten Luxus künstlicher Schwerkraft würde die ohnehin nur vage Möglichkeit der Verteidigung vollends als Lüge entlarven. Von Beschädigungen des FATROCHUN-Netzes ganz zu schweigen.

Jedes neue Schleifen des Rumpfes über dickes Eis konnte dem Absturz in eine Gletscherspalte vorangehen. Ein Fall in große Tiefe und der Aufprall auf scharfkantigen Felsen würden es dem Angreifer zumindest erleichtern, an die Beute heranzukommen.

Jenke fragte sich, ob genau das bevorstand. Das Dröhnen hatte vor etlichen Minuten aufgehört; nur noch sporadisch hackte der mächtige Schnabel gegen den Rumpf. Andererseits glaubte die Expeditions-Kommandantin, die ruckartigen Rutschbewegungen des »Käfers« immer deutlicher wahrzunehmen. Offenbar hatte der Rochen das Schiff nahezu vollständig umschlungen und zerrte es weiter.

Ein kurzer, dumpfer Schlag erklang. Die Kommandokugel schien gegen einen größeren Felsblock gestoßen zu sein.

Tatsächlich setzte Augenblicke später eine Seitwärtsbewegung ein. Abermals war ein unangenehm hartes Knirschen zu vernehmen. Eisschollen brachen unter dem Rumpf und barsten entlang der Zugrichtung.

Erst nach einer Weile trat wieder Ruhe ein.

Wie lange inzwischen? Wirklich erst sechzig Minuten, seit der letzte Schimmer der Notbeleuchtung erloschen war?

Der SKARABÄUS wurde jedenfalls nicht mehr bewegt. Hatte das hungrige Monstrum aufgegeben und suchte bereits andernorts nach Beute, oder sammelte es nur neue Kraft?

»Das Biest hat aufgegeben.«

Apatou Boussets Stimme zerriss den Hauch von Gelassenheit, der sich allmählich ausbreitete. Keine Emotion war dem Xenobiologen anzumerken, er hatte eine sachliche Feststellung getroffen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

»Und wenn nicht? Wenn es nur darauf wartet, dass wir eine Schleuse öffnen?«

»Das würde eine gehörige Portion Intelligenz voraussetzen«, wandte Cyrus Smith ein.

Pia Aftanasia Clonfert lachte verhalten. Für alle in der VAHANA war die mächtige Frau einfach »die Ertruserin«, doch eigentlich war sie nur zur Hälfte ertrusisch. »Wie verhält sich das bei terranischen Katzen? Die liegen doch stundenlang regungslos auf der Lauer, nur um eine einzige kleine Maus zu erwischen.«

»Wir sind keine Mäuse!«, protestierte Pettazzoni.

»Aber wahrscheinlich eine fette Beute für das Biest da d...« Marica Widengren verstummte im Satz. Der SKARABÄUS wurde wieder bewegt.

Vierundvierzig Meter maß der Verbund der beiden Rümpfe, die größte Breite betrug sechsunddreißig Meter, und hoch war der »Käfer« immerhin noch siebzehneinhalb Meter. Diese Masse war, deutlich fühlbar und vor allem auch zu hören, ruckartig angeschoben worden.

»Wenigstens einer oder zwei von uns müssen das Schiff verlassen«, sagte Captain Pettazzoni. »Anders können wir das Tier nicht zur Strecke bringen. Das Risiko ist mir bewusst.«

Mir auch! Wir sind die Maus – und da draußen wartet die Katze.

Die Irmdomerin verbiss sich die Antwort, die ihr schon auf der Zunge lag, denn die Bewegung des SKARABÄUS' wurde allem Anschein nach schneller. Zudem geriet das Schiff in Schräglage.

Jenke zweifelte nicht mehr an der schlimmsten aller Möglichkeiten, dem Sturz in eine Gletscherspalte einschließlich Totalschaden beim Netz.

»Jonas, Startversuch!«, rief sie dem Piloten zu.

Fahle Helligkeit glomm auf. Eine Sirene wimmerte, doch der Heulton hielt keine drei Sekunden lang an. Eine deftige Verwünschung des Piloten folgte.

»Weiterhin Energieabfluss! Dieses verdammte Biest ...«

Die Schräglage nahm zu.

Im nächsten Moment wurde die Rutschbewegung jäh gestoppt. Der SKARABÄUS kam trotzdem nicht völlig zum Stillstand. Fast senkrecht sackte er ab, wenn auch nur ein paar Meter weit. Erst danach hing er fest. Den Geräuschen nach zu urteilen donnerte eine Schneelawine über die Kommandokugel hinweg.

Schließlich war nur mehr ein leises Knistern zu hören. Von außen übertrug es sich auf die Schiffszelle ...

 

*

 

»Fort Kamash solltet ihr sehen. Ich werde euch auf meine Farm einladen, sobald wir auf Terra zurück sind.«

Alban Dodd reckte seine hundertfünfundfünfzig Zentimeter Körpergröße und schaute zur Kommandantin auf. Sein silberfarbenes Lächeln bildete einen eigentümlichen Kontrast zur goldbraunen Haut und seinem grünen Haar. Mit einer geradezu lasziven Bewegung wischte sich der Kamashite beide Hände am SERUN ab.

»Hier ist jedenfalls alles getan, was zu erledigen war«, stellte er fest. »Die Energieversorgung steht wieder. Für wie lange und vor allem, warum die Abschirmung der blauen Kristalle zumindest zeitweise so offensichtlich versagt hat ...« Er hob die Schultern und griff mit der rechten Hand nach seinem Amulett, das er um den Hals trug. »Erwartet von mir keine Wunder, dafür bin ich nicht zuständig.«

»Was ist mit Aay?«, fragte Lanczkowski.

Dodd ließ die Schultern sinken. »Mein Erbgott äußert sich nicht zu Wundern«, behauptete er. »Ich denke, solche Halbwahrheiten sind ihm suspekt.«

»Warum fragst du ihn nicht, ob der Eisrochen noch in der Nähe lauert?«, wandte Jonas Zosimo ein.

Die Antwort kam aus dem rückwärtigen Bereich der Zentrale, nahe dem Durchgang zum Hauptrumpf.

»Der Wanderer unter dem Schnee ist weitergezogen«, knatterte Shimco Patoshins Sprechsegel.

»Wer?«, fasste Lanczkowski nach.

»Der Wanderer unter dem Schnee – der Eisrochen. Seit mindestens dreißig Minuten eurer Zeitmessung herrscht nun schon Ruhe.«

Jenke registrierte, dass der Maschinenbauer ihr die kleine Kopfknolle zuwandte. Seine Atemschlitze vibrierten, die Sinneskrone färbte sich mit dem Goldton der Neugierde.

»Gut.« Sie nickte knapp. Ihr Blick streifte die soeben wieder eingeschalteten Bildschirme, die aber nur matte Düsternis erkennen ließen. Schnee und Eis auf dem Schiffsrumpf bedeckten auch die Optiken.

»Pettazzoni, Widengren – wir öffnen die Schleuse auf Deck eins. Die Rampe wird nur so weit ausgefahren, wie es für eine Orientierung unbedingt nötig ist.«

Die Expeditions-Kommandantin passte sich dem Nacht-Famund der Favadarei an. Bei Namen war das einfach. Die Tag-Sprache benutzte den ersten Namensteil, während der Nacht erhielt der zweite seine Bedeutung. Das galt für viele Dinge und Gegebenheiten. Die Brücke zwischen den Planeten, Shathrona, wurde nur bei Tag so genannt. Nachts redeten die Favadarei ausschließlich vom Fermushath. Zudem gab es die kurze Besonderheit Shath, die zu jeder Stunde gebräuchlich war.

»Der Energiestatus bleibt unbeeinträchtigt!«, meldete Zosimo.

Mit einer raschen Handbewegung schaltete die Kommandantin die Kontrollanzeigen ihrer Konsole ein. Sie nickte zufrieden, als alle relevanten Systeme Grünwerte zeigten.

Der Eisrochen schien sich weit genug entfernt zu haben. Ob erst wenige Kilometer oder schon sehr viel weiter, ließ Jenke dahingestellt. Für sie zählte vor allem, dass das Tier die vermeintliche Beute aufgegeben hatte.

»Der Prallschirm kann wieder aufgebaut werden«, stellte Lanczkowski fest.

»Bodennahes Prallfeld: Matrix steht mit voller Stärke zur Verfügung«, bestätigte der Pilot. »Vortrieb über Gravopuls: Leistungsparameter bis maximal tausend Kilometer in der Stunde.«

»Pettazzoni! Widengren!« Jenke Schousboe fuhr mit ihrem Sessel herum. Ihr Ruf stoppte die beiden, die gerade die Liftkabine betraten, um zum unteren Schleusendeck zu fahren. »Anordnung zurückgezogen! Wir starten, solange die Abschirmung das zulässt.«

»Nach wie vor keine Sicht«, bemerkte Zosimo. »Einige Sektoren abtauen?«