Manfred Kyber

Tiergeschichten und Märchen

 

 

Grafik2

 

 

Grafik5

 

© HörGut! Verlag, 2007

Die leichtsinnige Maus

Es war eine Maus, die war leichtsinnig! Sie tanzte Walzer auf dem Schinken, und wenn sie eine Falle sah, so pfiff sie ein Couplet1 durch die Zähne. Speck hielt sie für gewöhnlich, mit Kartoffeln spielte sie Kegel, ihre Pfoten wusch sie in Suppe, und ihre Krällchen polierte sie mit Butter. Es war traurig, es war traurig!

Oft hatte ihre Tante, eine geborene Feldmaus, die ihr Leben lang von einfacher Rohkost gelebt, sie ermahnt, indem sie kummervoll die Pfoten faltete. „Kind“, sagte sie, „du bist leichtsinnig! Du tanzest auf Nahrhaftem, pfeifst auf Gefährliches, hältst Gutes für gewöhnlich, spielst Kegel mit Bekömmlichem, wäschst deine Pfoten in der flüssigen Grundlage des Familienlebens und polierst deine Krallen in Delikatessen! Wo bleibt da die Moral? Schlüpfrig sind die Brote, die mit Butter bestrichen sind, glatt die Wege, auf denen der Speck rutscht. Glaube es mir, der geborenen Feldmaus, es ist besser, mit wenigen Körnern in der Pfote zu leben, als in Bratensoße zu sterben.“ Und dann wischte sie sich eine Träne mit der Pfote ab. Es war eine Tantenträne. Auch Mäuse weinen sie.

Die Maus aber, die leichtsinnig war, nahm kokett ihren Schwanz mit der Vorderpfote auf, lächelte und sagte:

„Liebe Tante, geborene Feldmaus, ich piepse auf alles, und ich will noch ganz was anderes tun. Ich will heute noch auf Samt schlafen!“

Die Mausetante setzte sich bei diesen Worten auf einen scharfen Rettich und barg die Schnauze in den Pfoten. Wie furchtbar ist es, frivole2 Nichten zu haben, wenn man selbst eine geborene Feldmaus ist!

Die kleine Maus pfiff bedeutsam.

„Tante Feldmaus,“ sagte sie, „hast du schon das Neueste in der Speisekammer gesehen?“

Die Tante bekam eine scharfe Entrüstungsfalte an der Nase.

„Wie sollte ich? Ich lebe bescheiden im Garten und Keller und nähre mich von Mohrrüben und Kartoffeln, wie es meine seligen Eltern schon getan haben. Die Speisekammer ist sündhaft. Alles, was gefährlich ist, ist sündhaft. Das ist Moral! Aber die junge Generation fragt nach Butte und nicht nach Moral! Oh!“

„Butter ist auch besser,“ sagte die leichtsinnige Maus frech, „aber in der Speisekammer ist ganz was Besonderes. Ich hab‘ es gestern zum Souper gespeist – Aspik. Das ist das letzte der Saison, le dernier cri3, wie meine Kusine sagt. Meine Kusine ist in einer Schachtel geboren, wo Paris draufstand. Du weißt doch.“

„Ich weiß,“ sagte die Tante Feldmaus, „ein sträflicher Leichtsinn – schon in der Wiege.“

„Aspik ist schön,“ sagte die Nichte flötend, „das solltest du essen, Tante Feldmaus.“

„Aspik ist gewiss etwas Unmoralisches!“

„Aspik ist das, was quabbelt.“

„Siehst du!“ sagte die Tante Feldmaus.

Wenn die Leute was nicht kapieren, sagen sie „siehst du“ und halten es für unmoralisch. Ich weiß das aus eigener Erfahrung.

Die kleine Maus sang ein Couplet, das ich nicht wiedergeben kann, da es von Aspik und lockerer Gesinnung handelte.

„Pfui, die Welt ist verderbt!“ sagte die Tante Feldmaus und hustete entrüstet.

Die leichtsinnige Maus aber rief:

„Jetzt schlafe ich auf Samt!“ und tanzte die Kellertrepppe hinauf.

Sie tanzte in einer so unerhörten Weise, dass es sicherlich verboten worden wäre, wenn es sich um eine öffentliche Aufführung gehandelt hätte, denn die leichtsinnige Maus lebte im zwanzigsten Jahrhundert. Das ist bekanntlich ein sehr sittliches Jahrhundert, und man muss sich sehr wundern, dass es überhaupt noch leichtsinnige Mäuse gibt und sie nicht alle schon aus dem letzten Loch pfeifen. Aber wir wollen dem zwanzigsten Jahrhundert vertrauen und das Beste hoffen!

Die leichtsinnige Maus tanzte ins Zimmer und sprang gerade in ein Samtkleid hinein, so dass sie mit den Pfötchen drin versank. Es war ein so unsagbar weicher Samt! Samt kann nämlich sehr verschieden weich sein, wie jeder weiß, der sich etwas damit beschäftigt hat.

„Jetzt werde ich also auf Samt schlafen. Huh, ist das wollig!“ sagte die Maus. Legte sich auf die rosa Ohren und seufzte behaglich. So seufzt man nur auf Samt. Dabei lächelte die kleine Maus süffisant und dachte an die Tante Feldmaus, die nun im Keller auf einen scharfen Rettich saß und Kartoffeln mit Moral zu sich nahm. Die Maus war eben leichtsinnig! Leider – leider!

Plötzlich aber packten sie scharfe Krallen und hielten sie fest.

Die Maus erschrak. Nanu, was ist denn das? Samt hat doch keine Krallen, dachte sie.

Sie war eben noch jung und unerfahren. Sonst hätte sie gewusst, das Samt oft Krallen hat.

Die Krallen ließen auch nach, gleich darauf aber fasste sie wieder fester zu, so dass es schmerzhaft wurde. Zugleich erschienen im Dunkeln zwei feurige Augen, kreisrund und greulich anzusehen.

Es sind Automobillaternen4, dachte die Maus, denn sie hatte häufig Sportblätter angeknabbert. Zudem war sie materialistisch und suchte jede Erklärung in Technik und Wissenschaft zu finden. Das tun heute sehr viele, auch dann noch, wenn sie die Katze am Kragen hat. Die Katze bleibt aber trotz aller Wissenschaft eine Katze, und die Krallen bleiben Krallen, auch im zwanzigsten Jahrhundert.

„Sie, Herr Samt“, sagte die Maus dreist, “Sie haben nicht die geringste technische Berechtigung, sich zu bewegen und Krallen zu haben. Das ist wissenschaftlich unhaltbar. Verstehen Sie! Die letzten Forschungen haben das zur Evidenz5 bewiesen. Richten Sie sich doch nach der Naturwissenschaft!“

Das Leuchten der Augen wechselte zwischen Grün und Gelb. Es waren keine sympathischen und keine beruhigenden Farbtöne, und der leichtsinnigen Maus wurde bänglich6 zumute.

Der Samt bekam jetzt eine Stimme. Er sprach laut und deutlich, in mauenden Tönen.

„Nach meiner Lebenserfahrung hat die Natur sich noch nie nach der Naturwissenschaft gerichtet. Wenn ich etwas verschlucke, ist es mir auch gleich, ob es wissenschaftlich erwiesen ist oder nicht. Die Hauptsache ist, dass es gut schmeckt. Aber Sie schmecken sicher nicht gut.“ Die Augen kamen näher, und ein gewaltiger Schnurrbart strich tastend über den Körper der entsetzten Maus.

Nun sah sie ein, dass es lebensgefährlich war. In diesem Samt steckte etwas Furchtbares, Ungeahntes, denn er sprach von Verschlucken, und das hieß, dass sie ihm das war, was ihr Aspik war. Wenn man für jemand Aspik ist, dauert es nie lange - dann ist man weg. Das ist wirkliche Naturwissenschaft, aber keine angenehme. Oh, es war furchtbar - furchtbar! Die leichtsinnige kleine Maus faltete die Pfoten und weinte bittere Tränen - keine Tantentränen, sondern Tränen der Angst und Reue, und sie gelobte, sich bis in den Grund ihrer Mauseseele zu bessern, wenn sie den Tatzen dieses mauenden Samts entschlüpfen würde.

Oh, Tante Feldmaus, wie wahr sind deine Worte, und wie verrucht bin ich gewesen und meine Kusine aus der Schachtel, wo Paris draufstand!

„Nein, Sie schmecken nicht gut“, fuhr der Samt fort. „Ich könnte Sie ja totbeißen“, meinte er höflich erklärend, „aber das ist Knabensport. Ich kenne Mäuse zur Genüge. Ich bin Wirkl. Geheimer Mausrat, Exzellenz, und erhaben über Kindereien. Wenn Sie noch eben geboren wären, könnte man Sie ja zur Not schlucken, doch auch nur zur Morgenmilch. Aber so - nein. Ich habe mich von der Welt zurückgezogen und bin moralisch. Also gehen Sie und gehen Sie in sich!“

Die Maus lief, so schnell sie konnte, und presste die Vorderpfote auf das kleine, klopfende Herz. In der Küche ging sie schon in sich, auf der Kellertreppe noch mehr, und beim scharfen Rettich, wo die Tante saß, war sie schon ganz in sich gegangen. Wenn man in sich geht, bleibt meist nicht viel von einem übrig. So war es auch bei der Maus.

„Oh, Tante Feldmaus!“ rief sie schluchzend, „ich habe etwas Furchtbares erlebt! Ich habe auf Samt gelegen, der Augen und Krallen hatte und in mauenden Tönen sprach. Der Samt konnte mich verschlucken, aber er hat es nicht getan, weil er eine Exzellenz und moralisch war, und darum bin ich in mich gegangen und werde nun auch moralisch werden!“

Die Tante Feldmaus verstand das alles nicht, aber gerade darum war sie doppelt ergriffen. Sie erhob sich von ihrem scharfen Rettich und umpfotete ihre reuige Nichte in tiefster Rührung. Es war eine Tantenrührung. Auch Mäuse haben sie. Und weil das alles eigentlich Blödsinn war, so sagte sie, es wäre ein Wunder, und gründete einen Verein zur Rettung leichtsinniger Mäuse. Die leichtsinnige Maus aber und ihre Kusine aus der Schachtel, wo Paris draufstand, nahmen den Spinnwebschleier und leisteten das Kartoffelgelübde. Und alles war voll des Lobes über den moralischen Samt, der sich von der Welt zurückgezogen hatte. Dies war ein Irrtum. Samt ist nie moralisch. Krallen hat er und Augen auch, oft recht schöne Augen. Aber moralisch ist er nicht. Das ist etwas, was ich ganz genau weiß.

Auch der Wirkl. Geheime Mausrat hatten sich nicht so ganz von der Welt zurückgezogen. Exzellenz schlichen gleich darauf auf leisen Sohlen in die Speisekammer, schoben mit geübter Pfote einige Teller beiseite und speisten eine Schüssel voll zarter Krabben mit tiefem und geschultem Verständnis.

Viele ziehen sich in dieser Weise von der Welt zurück und fressen heimlich die zartesten Krabben. Von solchen Leuten stammt dann die Moral im Keller.

Karlchen Krake

Im Mittelländischen Meer, in einem Felsenloch nahe der Küste, lebte der Tintenfisch Karlchen Krake. Karlchen Krake hatte Augen wie Operngläser, einen sehr bedeutenden Mund und acht Fangarme mit Saugnäpfen, die sich wie Schlangen ringelten und nach Beute suchten. Karlchen Krake war weißgrau, wurde jedoch, wenn er sich ärgerte, abwechselnd braun, rot und gelb und bekam zudem eine Anzahl Warzen auf der Haut. Wenn man das alles bedenkt, muss man leider sagen: Karlchen Krake war unappetitlich. Karlchen Krake sammelte mit seinen Saugnäpfen kleine Steine und baute sich einen Krater, einen Krakenkrater. In diesen Krakenkrater setzte sich Karlchen Krake und lauerte in einer sehr unsympathischen Weise. Im Felsenloch gegenüber wohnte der Schwamm Isidor Schluckigel. „Karlchen“ sagte Isidor Schluckigel, „Karlchen Krake, mit Ihnen wird es noch einmal ein schlechtes Ende nehmen. Sie lauern den ganzen Tag mit Ihren Opernglasaugen auf Beute und können nie genug kriegen. Besonders scheußlich finde ich es, wenn Sie dabei alles, was Sie so verspeisen, mit der Tinte aus Ihrem unangenehmen Tintenbeutel verdunkeln. Nachher sitzen Sie da und tun, als hätten Sie nichts gegessen, und es weiß niemand, was Sie inzwischen alles verschluckt haben. Das ist nicht anständig, Karlchen Krake.“

Karlchen Krake ärgerte sich, wurde braun, rot und gelb und bekam lauter Warzen auf der Haut.

„Regen Sie sich nicht auf, Karlchen Krake“, sagte Isidor Schluckigel, „es schadet Ihrem Teint, und sie bekommen lauter Warzen auf der Haut, wodurch Sie nicht einnehmender wirken. Sie essen auch viel zu große Portionen. Sie haben acht Fangarme mit acht Saugnäpfen. Ich würde nichts sagen, wenn es einer wäre. So essen Sie achtmal zu Mittag, wenn ein anderer einmal zu Mittag isst. Das kann Ihnen nicht bekommen, Karlchen Krake. Das ist eine übertriebene Nahrungsaufnahme. Ich kannte einen Aal, der war auch so gefräßig, und er hat sich schließlich im Versehen selber angefressen. Dieser Aal sah so ähnlich aus wie einer Ihrer Fangarme, und Sie sind gleichsam achtmal das, was dieser Aal war. Überlegen sie sich das einmal, Karlchen Krake!“

„Dieser Aal geht mich gar nichts an“, sagte Karlchen Krake.

„Dieser Aal hieß Longinus Schlüpferig“, sagte Isidor Schluckigel, „und er musste eine Kur brauchen, bis das wieder nachwuchs, was er von sich selber aufgefressen hatte.“

„Es ist mir einerlei, wie dieser Aal hieß“, sagte Karlchen Krake.