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informationen zur deutschdidaktik
Zeitschrift für den Deutschunterricht
in Wissenschaft und Schule

Die Sichtbarkeit
(in) der Literatur

Herausgegeben von
Artur R. Boelderl

Heft 3-2018
42. Jahrgang

StudienVerlag Innsbruck

 

 

 

IMPRESSUM

informationen zur deutschdidaktik (ide)

Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

HerausgeberInnen: Ursula Esterl, Markus Pissarek und Werner Wintersteiner (Arbeitsgemeinschaft für Deutschdidaktik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt).

Redaktion: Ursula Esterl, Institut für GermanistikAECC, Universitätsstraße 65–67, A-9022 Klagenfurt, Tel. +43/(0)463/2700-2721, Fax: /2700-99-2721.

E-Mail: ursula.esterl@aau.at

Internet: http://www.aau.at/ide und http://www.aau.at/germanistik/fachdidaktik

Wissenschaftlicher Beirat: Monika Dannerer (Innsbruck), Margot Graf (Wien), Wolfgang Hackl (Innsbruck), Stefan Krammer (Wien), Andrea Moser-Pacher (Graz), Jens Nicklas (Innsbruck), Lisa Pardy(Wien), Matthias Pauldrach (Salzburg), Claudia Rittmann-Pechtl (Baden), Annemarie Saxalber-Tetter (Bozen), Elisabeth Schabus-Kant (Wien), Sonja Vucsina (Oppenberg), Christa Wernisch (Innsbruck), Elfriede Witschel (Klagenfurt), Gerda Wobik (Klagenfurt).

© 2018 by StudienVerlag

ISSN 0721-9954

ISBN 978-3-7065-5929-4

Layout und Satz: Marlies Ulbing.

Redaktion: Ursula Esterl.

Cover: Walter Oberhauser (Sisyphus); Foto: Daniel Esterl (Markt in Kathmandu).

Verlag: StudienVerlag, Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck; Tel. 0512/395045.

Fax: 0512/395045-15, E-Mail: order@studienverlag.at, Internet: http://www.studienverlag.at

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Abonnement Inland und Ausland: eur 51,50 inkl. MwSt. (zuzüglich Porto).

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Offenlegung laut Mediengesetz: Eigentümer der »informationen zur deutschdidaktik« ist zu 100 % die Arbeitsgemeinschaft für Deutschdidaktik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Obfrau: Ursula Esterl; Stellvertreter: Jürgen Struger; Schriftführer: Arno Rußegger; Kassierin: Katharina E. Perschak.

Grundlegende Richtung: Die grundlegende Richtung der »informationen zur deutschdidaktik« ist die Berichterstattung über alle deutschdidaktisch, pädagogisch und kulturpolitisch relevanten Themen, die Verbreitung von wissenschaftlichen und schulpraktischen Informationen und Positionen.

Alle Beiträge werden von den HerausgeberInnen geprüft.

Weitere Maßnahmen zur Qualitätssicherung: http://www.aau.at/ide

Diese Zeitschrift erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Editorial

ARTUR R. BOELDERL:

»Was nie geschrieben wurde, lesen«. Von der Zeichenhaftigkeit am Grund der Bilder

Magazin

Debatte

U. ESTERL, N. MITTERER, W. WINTERSTEINER: Kann Deutschförderung ideologiefrei gedacht werden?

ide empfiehlt

WERNER WINTERSTEINER: A.-R. Thöming (2017): Genussvolles Aneignen der Künste

Aktuelles

Verleihung des Friedrich-Preises an Prof. Dr. Cornelia Rosebrock

Nachruf – Karlheinz Fingerhut (1939 – 2018)

Neu im Regal

 

 

Zur Sichtbarkeit der Literatur:
Didaktische und bildungspolitische Reflexionen

KARL-JOSEF PAZZINI: Sehnsucht nach Sichtbarkeit, Abgrenzbarkeit und Zurechenbarkeit. Über Kompetenzen und deren Verlust

HAJNALKA NAGY: (Un-)Sichtbarkeit der Literatur in Schule und Gesellschaft. Vorbereitende Analysen und Überlegungen zum Konzept der »literarischen Bildung« als Dispositiv

MARTIN A. HAINZ: Auschwitz sichtbar machen? Zum Deutschunterricht im Rahmen des Lernens über die Shoah

Zum Wechselverhältnis der Sichtbarkeiten zwischen Sprache und Bild:
Visuell(e) Literatur verstehen

SWANTJE REHFELD, GABRIELE LIEBER: Wie das Bild zur Sprache und die Sprache zum Bild kommt – Rekursive Verstehensprozesse

FRANZ BILLMAYER, ANNA GOLLACKNER: Augen auf. Erst schauen, dann lesen. Stichpunkte zur Bedeutung der Sichtbarkeit von Texten

SABINE FUCHS: Sichtbar machen – Narration im textlosen Bilderbuch

Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in der (Kultur-)Vermittlung

ANNA SCHOBER-DE GRAAF und MARKUS WAITSCHACHER (im Gespräch): Räume und Taktiken der Kunstvermittlung

Literarische Sichtbarkeiten:
Anregungen und Beispiele für den Unterricht

HANS J. WULFF: Aesopics: Die Film- und Fernsehgeschichte der aesopischen Fabeln

SARAH MOLDENHAUER: Das Projekt »TrickMisch« als Empowerment-Instrument für junge Deutschlernerinnen

TERESA SCHEUBECK: Zur (Un-)Sichtbarkeit des Narrativen. Erzählende Werbespots nicht nur an-, sondern auch durchschauen

Service

VIKTORIA WALTER: Sichtbares in der Literatur, Sichtbarkeit des Literarischen in Öffentlichkeit und Bildung. Bibliographische Notizen

 

 

 

»Sichtbarkeit« und »Literatur« in anderen ide-Heften

 

 

ide 1-2018

Literaturvermittlung

ide 3-2017

Kultur des Performativen

ide 3-2015

Wissen

ide 2-2015

Kulturen des Erinnerns

ide 1-2015

Bewegte Bilder

ide 2-2013

Musik

ide 1-2013

Literale Praxis von Jugendlichen

ide 1-2012

Kultur des Sehens

 

 

 

Das nächste ide-Heft

 

 

ide 4-2018

Normen und Variation

 

erscheint im Dezember 2018

 

 

 

Vorschau

 

 

ide 1-2019

Deutschunterricht 4.0

ide 2-2019

Verbalisieren. Zur Sprache kommen

 

 

 

 

 

www.aau.at/ide

 

Besuchen Sie die ide-Webseite! Sie finden dort den Inhalt aller ide-Hefte seit 1988 sowie »Kostproben« aus den letzten Heften. Sie können die ide auch online bestellen.

 

 

 

www.aau.at/germanistik/fachdidaktik

 

Besuchen Sie auch die Webseite des Instituts für GermanistikAECC, Abteilung für Fachdidaktik an der AAU Klagenfurt: Informationen, Ansätze, Orientierungen.

»Was nie geschrieben wurde, lesen«

Von der Zeichenhaftigkeit am Grund der Bilder

Vorsicht

Zum Zeitpunkt der Finalisierung des vorliegenden Hefts kursierte im Netz ein recht simples Foto, begleitet von der Frage: Sehen Sie hier eine Tür oder einen Strand?1 An der Antwort schieden und scheiden sich die Geister, die meisten, so heißt es, woll(t)en eine Tür sehen; es ist aber ein Strandfoto, um 90° nach links gekippt. Haben also diejenigen, die Mehrzahl noch dazu, die eine Tür erblick(t)en, unrecht, war der Strand für sie unsichtbar? Oder blieb umgekehrt die Tür für diejenigen, die von Anfang an den Strand gesehen haben, unsichtbar – verborgen hinter der Sichtbarkeit des Strandes? Etwas sehen heißt immer zugleich auch etwas anderes nicht sehen. Das ist freilich eine Binsenweisheit, aber eine, die immer wieder aufs Neue aufzudecken (oder jedenfalls an sie zu erinnern) die Literatur geeignet ist. Die – paradoxe – Antwort »der« Literatur (wenn es sie gibt) auf die Frage, ob besagtes Foto denn nun eine Tür oder einen Strand zu sehen gebe, würde also so schlicht wie unmissverständlich lauten müssen: ja.

Hinsicht

Den Anstoß zur Konzeption des Hefts gab ursprünglich eine bildungspolitische Beobachtung, die in Österreich im Gefolge der Einführung der sogenannten »Zentralmatura« (recte: teilstandardisierte kompetenzorientierte Reifprüfung – an AHS 2014/15 – bzw. Reife- und Diplomprüfung – an BHS 2015/16) sehr schnell die Runde machte, nicht nur, aber vor allem in deutschdidaktischen Kreisen: dass die Literatur dabei zusehends (!) aus dem Blick gerate – sowohl dem der Schülerinnen und Schüler als auch der Lehrpersonen. Dazu ist, auch in dieser Zeitschrift, schon manches gesagt worden, und nicht die Triftigkeit dieser Beobachtung steht im Fokus der nachstehend versammelten Überlegungen unserer inter nationalen wie interdisziplinären Autorinnen und Autoren. Es geht vielmehr um die mit dem diagnostizierten Problem verschwindender Sichtbarkeit der Literatur im schulischen Kontext mit aufgerufene Frage danach, worin diese denn eigentlich bestehe: Wie wird Literatur sichtbar und wie macht sie ihrerseits sichtbar? An Letzterem, daran also, dass Literatur Dinge – Themen, Sachverhalte, Zusammenhänge – sichtbar macht, dürfte weiter kein Zweifel bestehen; aber gibt es einen Konnex zwischen dieser ihrer spezifischen (eben literarischen: literarästhetischen) Weise, Dinge sichtbar zu machen, einerseits und ihrer eigenen Sichtbarkeit respektive Unsichtbarkeit, zumal im gesellschaftlichen Feld, andererseits? Die Tragweite dieser Fragestellung – die natürlich die gesamte Bandbreite zwischen dem theoretischen (z. B. philosophischen, ästhetischen, metapsychologischen) und dem praktischen (z. B. didaktischen, politischen, soziologischen) Bereich einnimmt – lässt sich im Umfang eines Zeitschriftenhefts freilich nicht einmal annähernd abdecken, geschweige denn erschöpfen oder gar vermitteln; doch liefern die eingelangten Beiträge wertvolle Hinweise auf bzw. geben interessante Einblicke in die verschiedenen Dimensionen und Aspekte dieser Thematik.

Bevor ich die Beiträge kurz vorstelle, möchte ich einleitend einige Reflexionen über die Sichtbarkeit (in) der Literatur anstellen, und zwar entlang dreier – nach meinem Dafürhalten – einschlägiger Sentenzen, von denen zwei aus dem literarischen Spektrum stammen, nämlich von Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil, während eine dritte (literatur-)theoretischer Provenienz ist und sich bei Paul de Man findet. Sie lauten:

»Was nie geschrieben wurde, lesen« (Hugo von Hofmannsthal)

»([W]ir) (haben) eher zu lernen, wie man Bilder liest, als wie man sich einen Sinn vorstellt« (Paul de Man)

»Man sieht viele unsichtbare Dinge.« (Robert Musil)

Unbeschadet der verschiedenen, ungeachtet ihrer jeweils präferierten Terminologie von der Stoßrichtung her größtenteils übereinstimmenden, in jedem Fall als »visual« sich präsentierenden turns seit den 1990er Jahren liegt doch wort- bzw. schriftsprachlich wie bildsprachlich realisierten Bedeutungszusammenhängen jedenfalls dies eine gleichermaßen zugrunde, dass es sich nämlich in beiden Fällen um Zeichensysteme handelt (wie uns nicht erst, aber besonders nachhaltig und trotz berechtigter nachmaliger Kritik an ihm der Strukturalismus vor allem slawisch- wie romanischsprachiger Prägung gelehrt hat). Was die Frage der Sichtbarkeit solcher Zeichensysteme betrifft (die nicht schon identisch ist mit der Frage nach deren Lesbarkeit), läuft ihre Unterschiedenheit nicht auf die in gewisser Weise künstliche und sachlich jedenfalls irreführende Alternative Sprache vs. Bild (bzw. »Denken/Schreiben/Erzählen mit Worten« vs. »Denken/Schreiben/Erzählen mit Bildern«) hinaus. Gerade der Strukturalismus und an ihn (durchaus kritisch) anschließende Ansätze hatten diese allzu einfache Opposition bereits unter Verweis auf die beiden Formen der Wahrnehmung zugrundeliegenden Bedingungen der Möglichkeit des Erfassens von Bedeutung überhaupt zu unterlaufen versucht. Viel eher als die vermeintliche Entscheidung zwischen zwei mutmaßlich heterogenen Tätigkeiten »Lesen« und »Schauen« steht daher bezüglich der Frage nach der Sichtbarkeit (in) der Literatur im Mittelpunkt des Interesses, wie es überhaupt zum In-Ersc heinung-Treten von etwas Bedeutsamem kommt, wie Bedeutsames also sichtbar wird. Im einen wie im anderen Fall, bei wort- bzw. schriftsprachlich realisierten Bedeutungen wie bei bildsprachlichen, geht es um Formen des Sehens und in weiterer Folge des Lesens von (sichtbar gewordenen) Zeichen. Von daher sind Literatur- (und das heißt zuerst und zunächst: Text-)Wissenschaftler/innen und Bildwissenschaftler/innen ungeachtet der mit den eingangs erwähnten turns erfolgten Hinwendung zu bildsprachlichen Erscheinungsformen von Kultur gleichermaßen gut beraten, mit Zeichen aller Art zu rechnen bzw. rechnen zu lernen, zumal wenn sie in didaktischen Arbeitsbereichen tätig sind. Wenn der ganz bewusst Strukturalismus und Hermeneutik miteinander auszusöhnen bemühte Paul Ricoeur bekanntermaßen vom zwischen (Schrift-) Sprache und Bild angesiedelten Symbol in definitorischer Absicht gesagt hat, es gebe zu denken (Ricoeur 1974, S. 163; dazu etwa Kemp 1970 und Meyer 1990), so wäre mit Blick auf das Zeichen zu ergänzen, es gebe zu lesen – und zwar unabhängig davon, in welcher konkreten Form es zur Erscheinung gelangt.

Unter diesem Aspekt ließe sich die erste der drei unsere Überlegungen leitenden Sentenzen, Vers 540 des 1893 verfassten, 1894 veröffentlichten und 1898 uraufgeführten Versdramas Der Tor und der Tod Hugo von Hofmannsthals (welcher u. a. für Walter Benjamins geschichtsphilosophisch motivierte Redimensionierung der literarischen Hermeneutik von Bedeutung war), vielleicht dadurch erst richtig würdigen, dass man sie ernst – und das heißt diesfalls: ganz wörtlich – nimmt: »Was nie geschrieben wurde, lesen« (Hofmannsthal 1900, v. 540) umfasste dann nicht nur, worauf Benjamin in erster Linie abhebt, (historische) Handlungen, die es gleichwohl zu »lesen« gälte wie literarische Narrationen, sondern eben auch – nie geschrieben, weil gezeichnet oder gemalt oder auf andere Weise visuell realisiert: bildliche Narrationen. Wie (für – nicht allein – Benjamin) in der Geschichte, so wird auch in Geschichten und Bildern Literatur sichtbar, bzw. umgekehrt: Was in Geschichte/n und Bildern sichtbar wird, empfiehlt er, Benjamin, – und empfiehlt sich allgemein – wenn nicht (ausschließlich) als, so doch (immer auch) wie Literatur aufzufassen.

Auf die dazu erforderliche Fertigkeit würde sich sodann unsere zweite Sentenz richten, Paul de Mans in Auseinandersetzung mit literarischen, insbesondere mit bildstarken, vor allem lyrischen Texten gewonnene Einsicht, die er ebenfalls in die Form einer Empfehlung an den/die Literaturwissenschaftler/in kleidet: dass wir nämlich »eher zu lernen haben, wie man Bilder liest, als wie man sich einen Sinn vorstellt« (de Man 2008, S. 323, kursiv i. O.).

Es war der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, der in kritischer Auseinandersetzung mit dem postum erschienenen Spätwerk seines langjährigen philosophischen Gesprächspartners Maurice Merleau-Ponty mit dem bezeichnenden Titel Das Sichtbare und das Unsichtbare (Merleau-Ponty 1986) in seinem Seminar über Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (Lacan 1978) auf die fundamentale Spaltung des Sehvermögens in Auge und Blick hingewiesen hat. Dabei macht sich, verkürzt dargestellt, das Auge solcherart im Blick des Sehenden bemerkbar, dass es dessen Illusion eines autonomen und gleichsam selbsterzeugenden kognitiven Vermögens stört, indem es dort als blinder Fleck erscheint. Damit wird das sehende Subjekt gewahr, dass es, wenn es sieht, zugleich immer auch gesehen wird (eine Doppelung, die im französischen regarder – »schauen«, »betrachten«, aber auch »betroffen sein« – angelegt ist), sein vermeintlich neutraler Blick entpuppt sich als Ausdruck eines Begehrens. Dessen oberstes Ziel wäre, sich selbst beim Sehen sehen zu können, also zu sehen, wie man sieht (und nicht nur, was man sieht); ein solches Ziel verfolgt nun auch in gewisser Weise die Literatur, sofern sie, wie oben dargelegt, mit dem Sichtbarmachen von Dingen beschäftigt ist: Nicht nur macht sie Dinge sichtbar, sie sagt vielmehr auch und »zeigt« gleichsam nolens volens, dass und wie sie dies tut. Dieses Sagen und Zeigen nicht nur der Dinge, sondern zugleich der Sichtbarkeit der Dinge macht sich freilich als Störung des einfachen Sehens bemerkbar, es unterbricht die Sichtbarkeit, indem es sie auf deren Möglichkeitsbedingungen hin befragt und diese literarisch ausstellt. Wie man, mit den Worten Robert Musils (der hierin wie auch sonst in manchem Merleau-Ponty überraschend nahesteht), »viele unsichtbare Dinge sieht« (Musil 2009, Nachlass Mappe VII/6/50) – dies unsere dritte Leitsentenz –, so liest man in literarischen Texten nicht nur das, was in ihnen und durch sie sicht- bzw. lesbar wird; man liest vielmehr auch das Ungeschriebene mit, das in analoger Weise zum Verständnis des Textes beiträgt wie das Ungesehene, nicht Dargestellte, Weggelassene zum Erfassen eines Bildes (dazu bspw. Stoellger 2014). Nicht umsonst hat Musil seine Vorstellung vom Wesen und von der Leistung der Literatur auch an der Gestalttheorie und deren »Entdeckung« des Wechselspiels von Figur und Hintergrund für die Wahrnehmung geschärft.

Das (bildliche) Vorstellungsvermögen reicht, was Sinnbildung (zumindest) an literarischen Texten betrifft, deswegen zu kurz, weil der Sinn nicht allein davon abhängt, was sich beim Lesen des Textes vor dem geistigen Auge der Lesenden bildet, sondern auch von dem, was sich ihm entzieht – vom Sichtbaren wie vom Unsichtbaren gleichermaßen. Bilder lesen lernen, wie de Man fordert, würde im Unterschied zum einfachen Bildersehen bedeuten, dieser unaufhebbaren Doppelung beim Sehen und Lesen, dieser Spaltung von Auge und Blick Rechnung zu tragen zu versuchen. Lesen hieße aufmerksam dafür sein oder werden, wie viele unsichtbare Dinge man sieht – die nie geschrieben wurden oder besser: die geschrieben wurden, indem sie nicht geschrieben wurden.

Übersicht

In einem ersten Teil stehen didaktische und bildungspolitische Konsequenzen des hier knapp skizzierten Problemfelds der Sichtbarkeit (in) der Literatur zur Debatte. Inwiefern Sichtbarkeit mit Messbarkeit korreliert ist und in welche Aporien die Engführung von beidem im Unterricht führt, erörtert der emeritierte Hamburger Professor für Bildende Kunst und Bildungstheorie und als Psychoanalytiker in Berlin tätige Karl-Josef Pazzini in seinem Beitrag »Sehnsucht nach Sichtbarkeit, Abgrenzbarkeit und Zurechenbarkeit« vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Kompetenzorientierung in der Didaktik. Indem er etwa Messbarkeit als gleichsam unangreifbare, selbstevidente Registratur von Zählbarem (der Pol der Sichtbarkeit im Unterricht) dem Urteil als Entscheidung und angreifbarem Akt (der Pol der Unsichtbarkeit) kontrastiert, kommt er zu dem Schluss, dass Kompetenzdenken ein Rückfall in ältere Philosophie sei, die noch nicht mit den für Bildung und Unterricht maßgeblichen Prozessen der Subjektivierung auf beiden Seiten des Katheders gerechnet habe. Die Klagenfurter Literaturdidaktikerin Hajnalka Nagy stellt in ihrem Beitrag »(Un-)Sichtbarkeit der Literatur in Schule und Gesellschaft« ein Konzept von literarischer Bildung als Dispositiv im Foucault’schen Sinn zur Diskussion und schließt nahtlos, wenngleich aus anderer, spezifisch literaturdidaktisch gewichteter Perspektive an die Subjektivierungsthematik des Beitrags von Pazzini an, wenn sie die Aufmerksamkeit auf hegemoniale Narrative lenkt, die unter der Maßgabe dieses Dispositivs auf Subjektformierungen und Selbstthematisierungen wirken, indem sie etwa literarische Bildung mit nationaler Identität verbinden. Anhand ausgewählter Beispiele aus dem deutschdidaktischen Bereich (darunter die hier eingangs erwähnte Zentralmatura) analysiert sie den Bildungswandel, in dessen Verlauf die Literatur zusehends aus dem Blick zu geraten droht, und beleuchtet dessen tieferliegende gesellschaftliche Hintergründe. Am konkreten Beispiel der Shoah widmet sich sodann der an der PH Burgenland tätige Wiener Germanist Martin A. Hainz in seinem Beitrag »Auschwitz sichtbar machen?« der schwierigen Herausforderung, ob und wie Geschichte und insbesondere diese – unsägliche, unaussprechliche, unbeschreibliche … und auf nachgerade gleißende Weise »unsichtbare« – Geschichte im Deutschunterricht dennoch sichtbar gemacht werden kann: Wie von etwas erzählen, d. h. etwas sichtbar werden lassen, im Bewusstsein darüber, dass diese Sichtbarmachung zugleich eine Unsichtbarmachung bedeutet? – Vielleicht, so Hainz, in Form einer Erzählung von denjenigen Narrativen, die (so viel immerhin jedenfalls) nicht stimmen können ...

Ein zweiter Teil versammelt drei Beiträge, die verschiedene Zugänge zur gemeinsamen (Doppel- oder vielmehr Vexier-)Frage »Visuell(e) Literatur verstehen?« repräsentieren. Die an der Fachhochschule Nordwestschweiz lehrende Professorin für Ästhetische Bildung Gabriele Lieber und die ebenda tätige Deutschdidaktikerin Swantje Rehfeld verfolgen in ihrem als Grundsatzbeitrag angelegten Text »Wie das Bild zur Sprache und die Sprache zum Bild kommt« die zwischen den Ausdrucksformen wechselnden Sichtbarkeiten und stellen wichtige Eckpunkte einer Text-Bild-Didaktik vor, die den zu deren Erfassung erforderlichen rekursiven (multimodalen und multiperspektivischen) Verstehensprozessen gerecht zu werden trachtet. Der an der Universität Mozarteum in Salzburg wirkende Professor für Bildnerische Erziehung Franz Billmayer geht im gemeinsam mit der Grafikdesignerin und an der HTL ebenda tätigen Fachlehrerin für Typographie Anna Gollackner verfassten und grafisch gleichsam selbstreferentiell gestalteten Beitrag »Augen auf. Erst schauen, dann lesen« der Frage nach, inwiefern bestimmte visuelle Aspekte von Texten deren Bedeutung beeinflussen, und plädiert wie der Vorgängerbeitrag für den Einsatz multimodaler Texte im Unterricht. Sabine Fuchs, Professorin an der PH Steiermark und Leiterin des dort angesiedelten Zentrums für Forschung und Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur, bemüht sich in ihrem Beitrag »Sichtbar machen – Narration im textlosen Bilderbuch« darum, das transmediale Potenzial des Narrativen auszuloten, das sie auf einer anthropologischen Grundlage verortet sieht und dem sie wachsende Bedeutung auch und vor allem im Sinne des »Transnationalen« attestiert, insofern sogenannte silent books unabhängig von Sprachkenntnissen von allen Betrachtenden gelesen werden können. Der mit zahlreichen Beispielen und Hinweisen aufwartende Beitrag vermittelt eine anregende Ahnung davon, wie vor allem in Unterrichtssituationen narrative Bildtexte in literarästhetischer didaktischer Absicht eingesetzt werden können und verdeutlicht zugleich das solcher Verwendung innewohnende gesellschaftspolitische Momentum.

Einem Gespräch zwischen Anna Schober-de Graaf, Professorin für Visuelle Kultur an der AAU Klagenfurt, und dem am Universalmuseum Joanneum in Graz tätigen Kunstvermittler und Kurator Markus Waitschacher über »Räume und Taktiken der Kunstvermittlung«, in dem in lockerem Ton Strategien zur Sichtbarmachung von Kunst in unterschiedlichen Kontexten von Öffentlichkeit erörtert werden, die mutatis mutandis durchaus für die spezifischere Problemstellung des Sichtbarmachens von Literatur erprobt zu werden verdienten (siehe dazu nicht zuletzt das Coversujet des vorliegenden Hefts), folgen in einem dritten Teil drei Beiträge als Anregungen und mit Beispielen für das Arbeiten mit visuellen Texten resp. Materialien im Unterricht: Während Hans J. Wulff, pensionierter Professor für Medienwissenschaft am Institut für Literaturwissenschaft der CAU Kiel, die »Film- und Fernsehgeschichte der aesopischen Fabeln« Revue passieren lässt und eindrücklich die Reichhaltigkeit und prägende Kraft dieser besonderen literarischen Form unterstreicht, präsentiert die derzeit als DAAD-Lektorin an der PUCV Valparaíso in Chile weilende Sarah Moldenhauer das intermediale »Projekt TrickMisch als EmpowermentInstrument für junge Deutschlernerinnen«. Teresa Scheubeck, Doktorandin am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur der Universität Regensburg, legt mit ihrem praxisnahen Beitrag »Zur (Un-)Sichtbarkeit des Narrativen« eine kritische, doch dessen Einsatz im Unterricht affirmierende Analyse eines Werbespots auf der Grundlage eines erweiterten Textbegriffs vor, der semantische Ordnungen in (wort-)sprachlich wie bildlich realisierten Zeichensystemen zu erheben und interpretieren erlaubt. Insofern sie ihre Ausführungen um konkrete Aufgabenstellungen ergänzt, wie sie im Deutschunterricht einsetzbar wären, bildet Scheubecks Beitrag eine tragfähige Brücke zwischen den theoretischen Reflexionen über die Sichtbarkeit (in) der Literatur, mit denen das Heft anhebt, und den ausgewählten Beispielen für deren unterrichtspraktische Umsetzung, mit denen es seinen weiten thematischen Bogen schließt.

Abgerundet werden die Ausführungen mit einer von der Klagenfurter Lite ra tu rwissenschaftlerin Viktoria Walter zusammengestellten Auswahlbibliographie zu literaturwissenschaftlichen und fachdidaktischen Fragestellungen zum Thema. Die Frage »Kann Deutschförderung ideologiefrei gedacht werden« führte zu einer kontroversen Debatte in der ide-Redaktion: Ursula Esterl und Nicola Mitterer diskutieren mit Werner Wintersteiner über den ideologischen Hintergrund der Frage der Deutschförderung an Österreichs Schulen. In einem Nachruf gedenkt Werner Wintersteiner des kürzlich verstorbenen Literaturwissenschaftlers unddidaktikers Professor Karlheinz Fingerhut, dessen letzte Publikation im Anschluss daran in der Rezension von Ursula Klingenböck gewürdigt wird.

Dadurch, dass er an dieser Stelle ins Wort gehoben wird, soll auch der Dank des Herausgebers sichtbar werden, der vor allem der ide-Redaktion, namentlich Ursula Esterl, sowie der für Layout und Satz zuständigen Marlies Ulbing für die hervorragende Zusammenarbeit gilt. Ohne die freundliche Unterstützung von Gerald Eschenauer vom Verein BUCH13 (www.buch13.at) wäre die wie stets vorbildliche Covergestaltung des Hefts durch Walter Oberhauser nicht möglich gewesen, auch ihnen sei hiermit herzlich gedankt.

ARTUR R. BOELDERL

Literatur

DE MAN, PAUL (2008): Der Widerstand gegen die Theorie (1987). In: Kimmich, Dorothee (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Vollst. überarb. und aktualis. Neuausg. Stuttgart: Reclam, S. 318–330.

HOFMANNSTHAL, HUGO VON (1900): Der Tor und der Tod. Leipzig: Insel.

KEMP, PETER (1970): Phänomenologie und Hermeneutik in der Philosophie Paul Ricœurs. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 67/3, S. 335–347.

LACAN, JACQUES (1978): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI (1964). Übers. von Norbert Haas. Olten u. a.: Walter.

MERLEAU-PONTY, MAURICE (1986): Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen. Hg. von Claude Lefort. Übers. von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels. München: Fink.

MEYER, URSULA I. (1990): Das Symbol gibt zu denken. Eine Untersuchung zur Symbolinterpretation bei Paul Ricœur. Aachen: ein-FACH-verlag.

MUSIL, ROBERT (2009): Klagenfurter Ausgabe (KA). Kommentierte Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. von Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. Unter Mitwirk. von Rosmarie Zeller. Klagenfurt: Robert-Musil-Institut der Universität Klagenfurt. DVDEdition.

RICŒUR, PAUL (1974): Der Konflikt der Interpretationen 2. Hermeneutik und Psychoanalyse. Übers. von Johannes Rütsche. München: Kösel.

STOELLGER, PHILIPP (Hg., 2014): Un/sichtbar. Wie Bilder un/sichtbar machen. Würzburg: Königshausen & Neumann.

ARTUR R. BOELDERL ist Senior Researcher im FWF-Projekt »MUSIL ONLINE – interdiskursiver Kommentar« am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv der AAU Klagenfurt und Universitätsdozent am Institut für Philosophie ebenda, Kurator von musilonline.at und Redaktor des RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse sowie Wissenschaftlicher Beirat der Linzer Beiträge zur Kunstwissenschaft und Philosophie.
E-Mail: artur.boelderl@aau.at

 

1 https://kurier.at/leben/foto-spaltet-community-sehen-sie-eine-tuer-oder-einen-strand/400105670 [Zugriff: 22.8.2018].

Karl-Josef Pazzini

Sehnsucht nach Sichtbarkeit, Abgrenzbarkeit und Zurechenbarkeit

Über Kompetenzen und deren Verlust

Kompetenz ließe sich zurückführen auf competo: »etwas gemeinsam (zugleich) erstreben suchen«. Stattdessen wird das einzelne Individuum als Zentrum und Adressat, als Ausgangspunkt von Machbarkeit, Zurechenbarkeit, Kontrollierbarkeit gedacht, kaum in seiner Singularität. Es geht um die Perfektionierung eines Individualismus, die einer positiv bewerteten Individualisierung zu entsprechen scheint. Individualisierung ohne das gesellige Beisammensein macht einsam, generiert Optimierungsdruck und Schuldgefühle, macht ausbeutbar und schafft Zustände, die oft nur als Symptome artikulierbar werden: »Unbeschulbarkeit«, Depression (eine Staubsaugerdiagnose für Trauer, Erschöpfung, Überforderung, geronnene Wut, Nicht-Anerkennung ...), ADHS, Essstörungen, Drogenabhängigkeit u. a. m. Kompetenzdenken ist ein Rückfall in ältere Philosophie: Eigenschaftsdenken steht im Gegensatz zur Performativiät. Kompetenzdenken hat eine pornographische Struktur: Es ist zeitnah zielführend ausgelegt, handhabbar, ohne Geheimnisse, alles sichtbar, notfalls messbar, der Erfolg liegt auf der Hand. Das mit dem Kompetenzkonzept aufgegriffene Problem ließe sich mit einem sozialen, politischen, ökonomischen Übertragungskonzept aus der Psychoanalyse differenzierter entwickeln.

Chancen

Die Rede von Kompetenz in der Pädagogik und Didaktik hätte so produktiv sein können. Könnte man doch das Wort auch zurückführen auf competo: »etwas gemeinsam (zugleich) erstreben, – zu erreichen suchen«, schon in der ersten Bedeutung heißt es »zusammentreffen« oder »der Zeit nach zusammentreffen« oder »der physischen Kraft nach ausreichen, seiner mächtig sein« (Georges 1998, Sp. 1347)

Aus Letzterem hätte auch der Sache nach ein Bezug hergestellt werden können, zu den witzig listigen Überlegungen von Odo Marquard unter dem Titel der Inkompetenzkompensationskompetenz (Marquard 1981, S. 23–38), die er als Aufgabe der Philosophie zuschreibt, nach dem sie so viele Zuständigkeiten und Macht, zumindest Diskursmacht verloren hatte. Ich habe keine Einlassung gefunden in den ministeriellen Einführungen des Kompetenzkonzeptes, die sich mit der gesellschaftlichen Potenz der Zuschreibung von Kompetenzen befasst hätte, der Dimension der Macht, zumindest von zugestandenem Einfluss. Marquard schneidet auch die ethische Frage an, die – hier auf die Philosophie und ihre Kompetenz bezogen – darin liegt, dass Kompetenz mit Zuständigkeit, Fähigkeit und Bereitschaft zu tun habe und dass sich diese drei in Deckung bringen ließen. Es habe schon immer Philosophie gegeben, »die für nichts zuständig, zu manchem fähig und zu allem bereit war« (ebd., S. 25).

Vor der Kompetenz

Auch vor dem Reden und Schreiben und Implementieren von Kompetenzen waren weder die Welt noch die Schule in Ordnung. Mit der Rede von Kompetenzen wird etwas zugespitzt, was in der Schule schon war, und etwas in die Schule getragen, das auch anderswo in der Gesellschaft sich entwickelt.

Auch im alten Schulzeugnis und den Noten wurden Einschätzungen von Fähigkeiten und Qualitäten festgelegt, aber sie waren eben als Zeugnis gedacht. Ein Zeugnis beruht ganz wesentlich auf einer Rede von etwas, das andere nicht gesehen haben.

Individuum

Der Einzelne, das Individuum, wird als Zentrum und Adressat gedacht, als Ausgangspunkt von Machbarkeit, dann auch Zurechenbarkeit, notwendiger Kontrollierbarkeit. Es wird dabei ideologisch ermächtigt, also von der Idee her, weil ein anderer Träger als Macht (empowerment) in den konventionellen Systemen nicht gedacht werden kann und, wenn man sie denken würde, als Subjekt der Prozess des Kapitals zum Vorschein käme. Der ist vom Einzelnen aber nur wenig beherrschbar. Er ist außerdem nicht direkt, sondern wie das Unbewusste nur an seinen Bildungen erkennbar. Aber auch der Kapitalprozess braucht Träger, eben Subjekte, die den Prozess unterfüttern und damit ihrer ursprünglichen Definition gerecht werden, Darunterliegende zu sein. Zusätzlich verlangt ist etwas, eine Ursache, ein Zurechnungsfähiger, der sichtbar, fotografierbar, leistungsmäßig messbar wird.

Zeugnis

Davor gab es an Stelle der Messbarkeit und direkten Sichtbarkeit Zeugnisse. Dies wird bis zur Unkenntlich verschüttet. Ist aber dennoch weiter in Kraft, weil die objektive Mess- und Vergleichbarkeit illusionär bleibt.

Jemand gab Zeugnis von dem, was der andere zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort hervorgebracht hat, und tat dies mit seiner Urteilskraft, die letztlich, wie wir seit Kants Kritik der Urteilskraft wissen, immer ein Moment von Mut und Zumutung enthält und unter Einsatz des individuellen Subjekts in Relation zur Gesellschaft geschieht.1 Es bekam dazu einen symbolischen Platz als Schutz und mit Ermächtigung. Mit dem Beamtenstatus des Lehrers wurde so auch bedacht, dass er eine hoheitliche Aufgabe und Erlaubnis hat, in das Leben anderer einzugreifen, so wie z. B. Richter, Polizei und Feuerwehr.2

Urteilskraft wurde von einer Unterstellung im Vorschuss gestärkt, dass jemand, der einen bestimmten Platz einnehmen durfte, die Kraft hatte, je Singuläres mit allgemeinen Kategorien zu verbinden.

Diese Kraft hilft, die Lücke zwischen etwas Abwesendem, Vergangenem und Unsichtbarem zu überbrücken. Diese Kraft liegt letztlich im Anteil am Leben und an der Glaubwürdigkeit dessen, der Zeugnis gibt. Fehlende Sichtbarkeit wird durch Leben, Vertrauen, einen Sprung, einen Einsatz, Liebe und Glaube überbrückt.

Praxis

In der Praxis geht es um noch nicht normalisierte Serien von Entscheidungen und Akten, spannende Anwendung mit ungewissem Ausgang. Sie ist nicht mehr durch eine unhintergehbare Autorität gegründet – sei es Gott oder die Natur. – Ich komme darauf zurück. – Genau diese Schwierigkeit versuchen sich Fundamentalismen aller Art zu ersparen. Praxis wird dann zum Fetisch, zu einem sinnvollen, zweckgerichteten Tun modifiziert. Sie wird zum Kriterium des Denkens, der Theorie. Praxis wird vom Freiheitsraum zu einem Kriterium für Brauchbarkeit und zum Aktionsfeld ausgebildeter Kompetenzen. Andersherum werden dann Theorie und Forschung programmatisch, sie leiten an und müssen dazu tauglich sein. Es geht um die Nachvollziehbarkeit und Maximierung von Leistung und Erfolg. Praxis wandelt sich unter der Hand zum Garanten dafür, dass etwas sichtbar ist, ein Erfolg, etwas dabei hinten rauskommt.

Ein anderer Entwurf von Praxis droht dabei zu verschwinden, eine Konzeption, die für die Künste entscheidend ist:

Praxis ist nach Aristoteles’ Nikomachischer Ethik (1140b6; Aristoteles 1969, S. 160 f.) nicht wie die Poiesis in ein bestimmtes Gefüge von Zwecken eingebunden, sondern ziellos. Genau hier haben seit Mitte oder Ende des 19. Jahrhunderts Künste und Bildungsprozesse ihr Spielfeld. So bedarf Praxis der Urteilsfindung im nicht schon verallgemeinerbaren Einzelfall. Das ist die Problemstellung von Kants Kritik der Urteilskraft (man könnte sagen: seiner ästhetischen Theorie, einer transzendentalen Ästhetik). Im § 9 (B 30) schildert er die Problemlage so: »Daß, seinen Gemütszustand, selbst auch nur in Ansehung der Erkenntnisvermögen, mitteilen zu können, eine Lust bei sich führe: könnte man aus dem natürlichen Hange des Menschen zur Geselligkeit (empirisch und psychologisch) leichtlich dartun.« (Kant 1971b, S. 297) Es ist nicht unwichtig, dass hier Geselligkeit erwähnt wird.

Zur Urteilsbildung gehört ferner Lust. Sie verbürgt in all der Unsicherheit Existenz, wiederum ausgerichtet auf Geselligkeit.

Das ist aber zu unserer Absicht nicht genug. Die Lust, die wir fühlen, muten wir jedem andern im Geschmacksurteile als notwendig zu, gleich als ob es für eine Beschaffenheit des Gegenstandes, die an ihm nach Begriffen bestimmt ist, anzusehen wäre, wenn wir etwas schön nennen; da doch Schönheit ohne Beziehung auf das Gefühl des Subjekts für sich nichts ist. Die Erörterung dieser Frage aber müssen wir uns bis zur Beantwortung derjenigen: ob und wie ästhetische Urteile a priori möglich sind, vorbehalten. (Kant 1971b, S. 297)

Da die an den Erfahrungen beteiligten Sinne täuschbar sind und Affekte ablenken, war das für Kants Architektur der Philosophie wichtig, lässt sich aber ontogenetisch betrachtet nicht halten. Dass Urteile a priori in Bezug auf die individuelle Entwicklung und damit auch für den Unterricht nicht in Anschlag gebracht werden konnten, war Herbarts (1982) Problem.

Ohne im Einzelnen den Argumentationsgang weiter zu verfolgen, springe ich zum Schluss des Paragraphen (B 32), wo Kant einen weiteren geselligen Begriff einführt: Stimmung. Sie wird zu einem Träger des sozialen Bandes mit Rekurs auf die singuläre Urteilsfindung. Letztere ist aber bis hierhin auch in der Argumentationskette Kants letztlich nur durch die Unterstellung abgesichert, dass ein Anderer nachvollziehen könne, was das individuelle Subjekt als sein Lustempfinden artikuliert, und so zu sagen seine Stimmigkeit als Resultat von Stimmung akzeptiert:

Eine Vorstellung, die, als einzeln und ohne Vergleichung mit andern, dennoch eine Zusammenstimmung zu den Bedingungen der Allgemeinheit hat, welche das Geschäft des Verstandes überhaupt ausmacht, bringt die Erkenntnisvermögen in die proportionierte Stimmung, die wir zu allem Erkenntnisse fordern, und daher auch für jedermann, der durch Verstand und Sinne in Verbindung zu urteilen bestimmt ist (für jeden Menschen), gültig halten. (Kant 1971b, S. 298).

Stimmung lässt ein Können und eine Macht entstehen, die jenseits der Bestimmung von Kompetenzen als individueller Eigenschaften liegt, aber notwendig für Bildung, Lehre und Lernen ist. Stimmung ist ein aktiv passiver Prozess mit unbewussten Komponenten.

Qualifikation versus Kompetenz

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