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https://www.checkpoint-demokratie.de/

CHECKPOINT: DEMOKRATIE E. V. (HG.)

… WENN ICH MIR WAS
WÜNSCHEN DÜRFTE …

Impulse für eine Demokratie der Moderne

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Schüren Verlag GmbH
Universitätsstr. 55 · 35037 Marburg
www.schueren-verlag.de
© Schüren 2018
1. bis 3. Tausend
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Thomas Schweer
Gestaltung: Erik Schüßler
Umschlaggestaltung: Wolfgang Diemer, Köln
ISBN 978-3-7410-0262-5
eISBN 978-3-7410-0048-5

INHALT

Renan Demirkan Vorwort

Kapitel I

«Wir wissen erst, was auf dem Spiel steht, wenn es auf dem Spiel steht.» (Hans Jonas)

Christoph Sieber Wie viel Lametta braucht die Demokratie?

Andre Wilkens Was tun statt nichts tun. Und mehr Optimismus, bitte!

Kerstin Jürgens Mut zu sozialer Gerechtigkeit

Ralf Liebe Vom richtigen Umgang mit Freunden

Shary Reeves Gemeinsam sind wir mehr als Zweisam

Tanja Dückers 12 Punkte für eine moderne Demokratie

Kapitel II

«Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für die Welt.» (Mahatma Gandhi)

Frank Stauss Ich wünsche mir, dass sich mehr Menschen aufregen

Lena Gorelik Der Glaube an

Van Bo Le-Mentzel Die Deutschen von morgen

Ahmet Toprak Nicht jedes deutsche Mädchen ist eine Schlampe und nicht jeder muslimische Junge ein Gewalttäter

Christian Kipper «… höher leben, tiefer leben, noch und noch, nicht fertig werden»

Christoph Bornschein Zukunft gestalten statt Gegenwart verwalten

Kapitel III

«Eine Welt, die Platz für die Öffentlichkeit haben soll, kann nicht nur für eine Generation errichtet oder nur für die Lebenden geplant sein. Sie muss die Lebensspanne sterblicher Menschen übersteigen.» (Hannah Arendt)

Diana Kinnert Endlich wieder irritiert

Renan Demirkan Wie sollten wir leben?

Uwe-Karsten Heye Ein Denkmal für Fritz Bauer und der «Benno-Ohnesorg-Platz»

Axel Pape Wünsch dir was …

Silke Burmester Heute ist Schlachttag

Kapitel IV

«Kein schwierigerer Vormarsch als der zurück zur Vernunft!» (Bertolt Brecht)

Michel Friedman Kurz und bündig

Gert Heidenreich Die Wiederkehr der Nashörner. Vernunft in fanatischer Zeit

Guido Maria Kretschmer Gedanken zum Wort Heimat

Antonia Rados Bagdad – Europa

Ayshe Gallé Das Unwetter

Kapitel V

«Hätten wir das Wort, hätten wir die Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht.» (Ingeborg Bachmann)

Nico Hofmann Lasst uns Europa persönlich nehmen

Alexandra Rojkov Demokratie, das sind die anderen

Frank Henschke Angststörung

Birgitt Schippers Fangen wir mit uns selbst an

Markus Siebert Demokratie kann man nicht delegieren

Franziska Augstein Wie man mit dem großen Bären umgeht

Kapitel VI

«Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.» (Johann Wolfgang von Goethe)

Mirna Funk Man erntet immer, was man sät

Erkan Arikan Sag mal …

Sineb El Masrar Mehr Verantwortungsbewusstsein für unser europäisches Erbe!

Ingolf Op den Berg Respekt hat mir niemand beigebracht

Kapitel VII

«Wer nur um Gewinn kämpft, erntet nichts, wofür es sich zu leben lohnt.» (Antoine de Saint-Exupéry)

Thomas Mühlnickel Und die Moral vom Kapital?

Clelia Sarto Was hat, verdammt nochmal, Nachhaltigkeit mit Demokratie zu tun …?

Harald Christ Wo bleibt die Reaktion des «Establishments»? Die Verantwortung der Eliten für die Erneuerung des Gesellschaftsvertrags

Stefan Heimlich Demokratie und Mobilität: zwei Paar Schuhe?

Michael Ebling Gestern wie heute: Kommunale Unternehmen geben Sicherheit

Philipp Lahm Meine acht Lektionen Demokratie

Kapitel VIII

«Es erscheint immer unmöglich, bis man es gemacht hat.» (Nelson Mandela)

Gesine Schwan Kommunales Engagement, Europa und die Flüchtlingsaufnahme

Judith Döker Mehr Utopie wagen – mit Good News

Claus Leggewie Schafft Zukunftsräte!

Hannah Dübgen Imagine all the people …

Götz Werner Armut abschaffen: Arbeit und Einkommen trennen

Checkpoint: Demokratie e. V. sagt Danke!

VORWORT

Liebe Leserinnen und Leser,

ich bin Renan Demirkan, die Initiatorin von «Checkpoint:Demokratie e.V.» – eine Deutsche mit Migrationshintergrund, welcher das ist, spielt eigentlich keine Rolle, denn fast jede Frau oder jeder Mann mit einer Migrationsbiografie hat sehr ähnliche Prozesse des Anwachsens und Heimischwerdens erlebt: sei es die 29-jährige Vietnamesin mit schwarzem Gürtel in Kung-Fu und eigenem Sportstudio, die mit 6 Jahren nach Deutschland kam und sich gerade intensiv zu ihrer Identität befragt – genauso wie ich es in ihrem Alter in den 1970er-Jahren getan habe.

Oder sei es die Berliner Schauspielerin mit italienischer Herkunft, die seit ihrer frühesten Kindheit hier lebt und nun mit Mitte 40 den Kopf schüttelt, weil sie für die Einbürgerung einen Deutschkurs belegen soll. Vor 20 Jahren musste ich eine Bescheinigung von Kiepenheuer und Witsch vorlegen, dass ich meine Bücher selbst und in Deutsch geschrieben habe.

Oder der Komiker mit marokkanischem Ursprung, der sich gezwungen fühlt, sich bei jedem Auftritt gegenüber sexualisierten Übergriffen von muslimischen Nordafrikanern abzugrenzen. Wie ich es getan habe in den Kopftuchdebatten.

Ein Mensch mit Migrationshintergrund lebt in einem Januskopf, der sich ständig selbst überprüft und rechtfertigt, weil nichts in dem neuen Land selbstverständlich ist – und für die meisten nie sein wird.

Um es noch einmal ganz klar zu sagen – für all die, die durch die aktuelle Debatte um den weltbekannten Fußballer Mesut Özil, offensichtlich das erste Mal von einer Doppelidentität gehört haben:

Jede Identität speist sich aus der Summe all der Erfahrungen und Gefühle ab dem Moment der Befruchtung und verändert sich ein ganzes Leben lang. Dabei sind jede Erfahrung und jedes Gefühl nahtlos vorhanden und abrufbar. Das heißt, jeder Mensch ist mit jedem Atemzug und per DNA mehr, als er selbst es wahrzunehmen imstande ist!

Und so bin ich, die gebürtige Türkin, die mit 7 Jahren nach Deutschland kam, immer zugleich Deutsche und Türkin – Mutter und Tochter – Nachbarin und Kollegin und so weiter.

Migranten haben in der Regel mehrere Heimaten und sprechen in der Regel mindestens zwei Sprachen – Migranten vom afrikanischen Kontinent sprechen sogar mehrheitlich 3 bis 6 Sprachen.

Dass da der Begriff der «Integration» nicht sehr hilfreich war und je sein wird, erklärt sich von selbst.

Ich habe die zahllosen, demütigenden Versuche, mit den «runden Tischen» und absurden «Integrationsplänen» eingewanderte Menschen zu stigmatisieren, seit 50 Jahren abgelehnt, warum will ich hier nicht noch einmal ausführen – nur so viel:

Jedes Neue verändert das Bestehende und auch sich selbst.

Und diese Wechselwirkung verändert und erweitert ganz unmerklich den Kosmos aller Beteiligten.

Es entsteht etwas neues Drittes – ein neues Ganzes, in dem eben nicht der eine Teil den anderen gönnerhaft toleriert!

Es verändern sich übergangslos Umgangsformen, Traditionen, die Sprache sowie der Inhalt von Worten, wie oben erwähnt das Verständnis über «Identität». Aber auch «Heimat» und «Zuhause» sind in einer multikulturellen Weltgemeinschaft anders gefüllt, als es mal in den isolierten Nationalstaaten üblich war.

Heute ist Heimat die subjektive Inschrift einer Biografie, in der sich das Gelebte widerspiegelt, und das so verschieden ist wie der Fingerabdruck der jeweiligen Person. Jeder Urlauber, der regelmäßig nach Portugal fliegt, fühlt sich in seinem Feriendomizil heimisch, jede Austauschschülerin, die aus den Staaten zurückkehrt, wird das heimische Gefühl mit ihrer kalifornischen Gastfamilie mit sich tragen.

Das Zuhause dagegen ist ein privater Dom der Besinnung, ein sozialer Ort, ein Dach über dem Kopf, ein Bett, in das man sich legt, der Tisch an dem an dem man sich (ver)sammelt.

Es gibt keinen Plural von Zuhause.

Wohl aber die Mehrzahl: Heimaten.

Mit einem zerstörten Heimatgefühl kann der Mensch weiterexistieren, sich weiterentwickeln – jedoch nicht ohne ein Zuhause!

Etwas Neues oder jemand Unbekanntes ist so gesehen immer eine Bereicherung meiner eigenen Welt.

Jeder Elternteil kann bestätigen, wie das neugeborene Kind seine gemeinsame Welt von Grund auf in eine völlig neue Existenz verwandelt.

Und sicher hat auch jeder mal die veränderte Dynamik innerhalb der Nachbarschaft gespürt, allein durch den Einzug eines einzigen neuen Mieters.

Und so gäbe es unzählige Beispiele – wie ein Neu-Dazukommen, das das Alte und das Neue neu ordnet – bis hin zur Musik, den Gewürzen und Ritualen.

Das bedeutet, wir alle müssen die Veränderungen in und um uns herum bewusst und gemeinsam gestalten.

Und wenn wir bei der Wortwahl der «Integration» bleiben, damit es denen leichter fällt, die es so gern benutzen, dann müssen wir uns alle gemeinsam in etwas Neues integrieren, das wir dann gemeinsam gestalten!

Oder anders formuliert: Wir müssen uns gemeinsam so synchronisieren, dass wir gemeinsam eine neue Geschichte schreiben!

Mit einem neuen geistigen und gesellschaftlichen Konsens des Respekts voreinander, denn die grassierende Toleranz ist bei genauer Betrachtung eine systemische Stigmatisierung und Tyrannei in Häppchen.

Deutschland ist mein Land und ich sage – wie es Nazim Hikmet über die Türkei in einem Gedicht geschrieben hat: Ich liebe mein Land.

Und ich kann diesen Satz sogar mit größter Freude aussprechen und bin dabei weit entfernt von Begriffen wie Patriotismus und Nationalstaatlichkeit:

Denn ich liebe dieses Land mit der mir so vertrauten Sprache und den aberwitzig verschiedenen Landschaften. Ich liebe die unterschiedlichen Regionen und ihre Eigenheiten und ich bin glücklich über eine einzigartige Verfassung – die die Würde des Menschen im ersten Artikel festgeschrieben hat und die Demokratie und die Sozialstaatlichkeit garantiert, Artikel 20.1.GG.

Und deshalb tut es mir fast körperlich weh, dass es meinem Land nicht gut geht. Ich meine es nicht materiell – sondern mental.

Denn unterm Strich ist das Bruttoinlandsprodukt im Weltvergleich sogar eine der besten auf dem Globus.

Und trotzdem fühlen sich so viele abgehängt und alleingelassen.

Es macht mich schlaflos, dass es wieder Kräfte in der politischen Landschaft gibt, die die einzigartige Verfassung untergraben, mit den durch sie garantierten demokratischen Privilegien der Meinungs- und Pressefreiheit.

Und es beunruhigt mich zutiefst, dass unsere Verfassungshüter den allmählichen Verrohungen im öffentlichen Raum nahezu tatenlos zusehen.

Sie haben über 10 Jahre nichts getan, als 10 Menschen nachweislich von Rassisten erschossen wurden. Sie haben nichts getan, als selbsternannte «Retter des Abendlandes» zur «Jagd» auf unsere offene Gesellschaft und die plurale Demokratie geblasen haben und sie tun kaum etwas Wirkungsvolles, um die Teilhabe im Sozialstaat zu sichern.

Warum das so ist, kann ich mir – wie so viele nicht erklären. Als Künstlerin ist es aber meine Aufgabe, Missstände aufzuzeigen, und so möchten alle Beteiligten mit dieser Anthologie Impulse geben für eine strukturelle Kehrtwende.

Getreu dem Artikel 20.4GG: Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Von der Hirn- und Verhaltensforschung wissen wir, dass der Mensch durch Einsicht und oder durch Erfahrung lernt – wobei Katastrophenerlebnisse besonders nachhaltig wirken.

Nun liegen die entsetzlichen Katastrophen auf dem europäischen Kontinent glücklicherweise schon über 70 Jahre zurück, was aber gleichzeitig die Gefahr birgt, deren verheerende Folgen zu vergessen und zu ignorieren.

Wie viele merke auch ich, welch eine große Kraft ich aufbringen muss, um mich nicht an die neue und täglich wachsende Gewalt zu gewöhnen, im Umgang, in den Bildern, in der Sprache und im politischen Diskurs: dass Kinder zu Massenmördern an Kindern werden, dass Menschen das Ertrinken der Aussichtslosigkeit vorziehen, dass Armut entmenschlicht und Kriege immer wieder neue Kriege produzieren.

Es ist beschämend und ein Armutszeugnis für uns alle, dass wir die anstehenden, dringend notwendigen Reformen für ein Leben in der Moderne durch Ablenkungsmanöver über «Flüchtlinge» und «Sündenbockdebatten» immer weiter hinauszögern.

Aber wir müssen einen Schnitt machen und neu ansetzen, und dazu gibt es viele Ideen in diesem Buch, wie einen flächendeckenden Demokratieunterricht in den Schulen oder Bürgerräte als vierte Gewalt für aktive Mitsprache oder ein bedingungsloses Grundeinkommen und eine grundsätzliche, soziale Neuordnung.

Um nur drei der Vorschläge der 43 Autorinnen und Autoren dieses Buches zu nennen.

In ihren Texten beschreiben sie so intensiv wie selten das tiefe Unbehagen über die aktuellen sozioökonomischen Verschiebungen und machen Vorschlage, wie Politik und Bürgerschaft gemeinsam strukturelle Neubestimmung unseres Gesellschaftsvertrags gestalten können.

Es ist mir ein großes Bedürfnis, mich bei jeder einzelnen Autorin und jedem einzelnen Autor zu bedanken!

Ich danke Euch und ich danke Ihnen mit all meinen Sinnen für diese polyphone Wunschliste für eine Demokratie der Moderne. Ohne Euer und Ihr Mittun wäre dieses inspirierende, transtonale Orchester der Analysen und Konzepte nicht möglich gewesen!

Renan Demirkan im August 2018

KAPITEL I

«Wir wissen erst, was auf dem Spiel steht, wenn es auf dem Spiel steht.»
(Hans Jonas)

CHRISTOPH SIEBER

WIE VIEL LAMETTA BRAUCHT DIE DEMOKRATIE?

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Christoph Sieber ist Kabarettist, Autor und Mensch. Seit annähernd 20 Jahren ist er gern gesehener Gast auf Deutschlands Kleinkunstbühnen. Für sein Schaffen wurde er unter anderem mit dem Deutschen Kleinkunstpreis ausgezeichnet. Im ZDF moderiert zusammen mit Tobias Mann die Kabarettsendung MANN, SIEBER!

Wir müssen der AfD dankbar sein für ihren Aufstieg. Sonst hätten wir vielleicht gar nicht bemerkt, wie schlecht es um die Demokratie steht:

Dass im Zuge der Fluchtbewegungen Menschen zu uns kommen, die unsere Werte nicht teilen, ist nämlich nicht das größte Problem. Viel schwerer wiegt, dass sie auf eine Gesellschaft treffen, die völlig entwurzelt ist. Eine Gesellschaft, die außer dem neoliberalen Mantra des höher, schneller, reicher kaum mehr einen Wertekanon besitzt.

Eine Gesellschaft, die von sich behauptet «christliches Abendland» zu sein, in dem aber die Kirchen leer sind und an Ostern ein eierlegender Hase gefeiert wird.

Wir leben in einem Staat, der im absoluten Wachstumswahn das vergessen hat, was eine Gesellschaft zusammen hält: die Solidarität.

Das kapitalistische Versprechen, dass alle am Wohlstand teilhaben, wenn die Wirtschaft boomt, ist längst widerlegt. Der Kapitalismus produziert neben einigen Gewinnern einfach viel zu viele Verlierer.

Letztlich gilt im Kapitalismus nur eine Maxime: Jeder gegen jeden und der Dreisteste gewinnt.

Gerade in solchen Zeiten bräuchte es eine politische Führung, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht an den Forderungen der Wirtschaft.

Und so kommen immer häufiger Zweifel auf: Leben wir tatsächlich in einer Demokratie oder ist es nicht eher eine Art Simulation von Demokratie?

Sitzen in den Parlamenten tatsächlich Volksvertreter oder pseudodemokratische Aushängeschild mächtiger Unternehmen und Banken?

Welcher Politiker, welche Politikerin kann tatsächlich von sich behaupten, nur ihrem Gewissen verpflichtet zu sein?

Und wer ist dieses Volk? Wie viele haben sich von der Politik abgewendet und fühlen sich nicht mehr repräsentiert und werden infolgedessen auch politisch nicht mehr wahrgenommen und vertreten?

Welcher Politiker sollte sich für die Abgehängten interessieren, die sich von der Politik abgewendet haben, wenn diese eh nicht zur Wahl gehen?

Und steckt dahinter die Taktik, die Menschen auf legalem Wege zu entmündigen, um es dann mit einem schulterzuckenden «das ist Demokratie» abzutun?

Stimmt es, dass die Demokratie immer dann am besten funktioniert, wenn sie keine ist?

Der Kapitalismus braucht die Demokratie nicht. Er schätzt sie, gewiss, wegen ihrer Zuverlässigkeit und weil sie die Leute bei (Kauf)-Laune hält. Und weil der Wohlfahrtsstaat dafür sorgt, dass selbst die Ärmsten einer Gesellschaft in der Lage sind zu konsumieren.

Aber der Wohlstand hat schon immer jegliche moralische Skrupel in den Hintergrund rücken lassen. Unser Wohlstand basiert ja nicht erst seit gestern auf Ausbeutung von Natur, Ressourcen und Menschen anderswo.

Und jetzt frisst der Kapitalismus halt auch die Demokratie und mit ihr all die Errungenschaften der Moderne:

Sie nennen es Freiheit, meinen aber Macht.

Sie nennen es Gerechtigkeit, meinen aber Privilegien.

Und sie nennen es Gleichheit, meinen aber die Verteidigung des Status Quo.

Nur noch 58 Prozent der europäischen Jugendlichen halten die Demokratie für die alles in allem beste Staatsform.

Die Demokratie hat an Attraktivität verloren. Sie ist die graue Maus unter den Regierungssystemen. Sie handelt von Grundgesetz und Umsatzsteuervoranmeldung. Sie handelt von langweiligen Phrasendreschern in der Politik, von Politikverdrossenheit und Koalitionsverhandlungen. Da ist wenig Glamour, wenig Lametta.

Demokratie handelt von Meinungsbildung, bevor man eine Meinung hat. Das ist anstrengend. Die Demokratie ist mühselig, langweilig und für die meisten eine ergraute Selbstverständlichkeit.

Autokraten versprechen da mehr Action. Da ist mehr Lametta. Da geht die Meinungsbildung schnell und Koalitionsverhandlungen sind kurz. Opposition Rübe ab. Widerspruch zwecklos.

Man muss sich nicht langwierig in Themen einarbeiten, denn es gibt ja nur eine Meinung. Das gibt Halt und Orientierung. Diktatur heißt Fahnen, Aufmärsche, Paraden und der unliebsame Nachbar verschwindet einfach über Nacht.

Doch eines sollte uns immer gewiss sein: Ein bisschen Diktatur geht nicht! Wenn sie kommt, dann mit aller Macht und Gewalt.

Und deshalb müssen wir der AfD dankbar sein, weil sie uns vor Augen führt, wie wichtig es ist, für diese Demokratie zu kämpfen. Dass wir nicht zulassen dürfen, dass sie zur Fassade verkommt, hinter der sich antidemokratische Kräfte formieren und dass die Demokratie nicht erneut zum Steigbügelhalter des Faschismus werden darf.

Wir werden erkennen müssen, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist und dass dieses Land nicht geprägt wird von Begriffen wie Nation, Blut, Ehre, Religion und Abgrenzung, sondern dass es Artikel eins des Grundgesetzes ist, der den Kern unseres Zusammenlebens ausmacht: Die Würde des Menschen ist unantastbar!

Die Würde des Menschen ist unantastbar und nicht die Würde des Deutschen, des Christen oder des steuerzahlenden Leistungsträgers. Viele haben die Stärken der Demokratie vergessen. Dass die Stärke der Demokratie ja nicht ist, dass die Mehrheit bestimmt, wo es langgeht, sondern dass sie die Rechte der Minderheiten achtet. Die Würde muss ja auch gar nicht erkämpft werden für die gesellschaftlichen Gewinner, sondern sie muss erkämpft werden für die, die selbst nicht kämpfen können. Und sie muss auch für die erkämpft werden, die einem zuwider sind, die anderer Meinung sind und für die, die einem auf den Sack gehen. Ja, die Demokratie ist keine Wohlfühloase, in der man sich einmal gemütlich einrichtet, und dann ist für alle Ewigkeit Ruh. Nein, sie muss immer wieder von neuem erstritten werden. Demokratie heißt Diskurs, heißt aushalten von Andersdenkenden, Anderslebenden, heißt Aushalten von Ignoranz, Dummheit und Markus Söder.

Die große Errungenschaft der Aufklärung ist die Überwindung der Grenzen von Rasse, Nationalität, Religion und Ideologie.

Geben wir den antidemokratischen Kräften, die alles verachten, was dieses Land ausmacht – Freiheit, Demokratie, Vielfalt, Toleranz – keine Chance!

Und lasst uns eines nicht vergessen: Nicht der Markt regelt die Dinge, sondern das Grundgesetz.

ANDRE WILKENS

WAS TUN, STATT NICHTS TUN. UND MEHR OPTIMISMUS, BITTE!

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© GERLIND KLEMENS

Andre Wilkens ist Autor und Mitbegründer der Initiative «Offene Gesellschaft»

Hat die offene Gesellschaft ihre besten Tage hinter sich? Bricht das illiberale Zeitalter an, das Victor Orbán nicht müde wird von der Donau her auszurufen? Oder vertrauen wir unsere Gesellschaft gar geistlosen Algorithmen an, die uns aus den Mühen der Demokratie befreien sollen? Hat die offene Gesellschaft eine Zukunft?

Ja, aber!

Erst einmal, die offene Gesellschaft ist keine abstrakte Theorie, keine vage Fiktion. Auch keine ferne Utopie. Die offene Gesellschaft ist hier und jetzt und ganz real. Sie hat eine Verfassung. Das Grundgesetz regelt das Zusammenleben aller Deutschen, egal welcher Herkunft sie sind. Es schützt die Einzelnen vor Willkür, Not und Unrecht. Es garantiert freie Medien, freie Wahlen und den Rechtsstaat. Und es sieht vor, dass der Staat als Sozialstaat Daseinsvorsorge betreibt. Die offene Gesellschaft ist die ziemlich zivilisierteste Form von Gesellschaft, die uns bisher gelungen ist.

Aber sagen wir es ruhig laut und deutlich: Die offene Gesellschaft ist nicht perfekt, unfertig, sie muss dringend verbessert werden. Ja, sie lebt geradezu von ihrer ständigen Kritik und davon, dass Benachteiligungen skandalisiert oder Entwicklungsdefizite beklagt werden.

Demokratie heißt ja nicht, dass alles gut sei und die große allgemeine Zufriedenheit herrsche – die demokratische Praxis besteht im Gegenteil im permanenten Aushandeln von Konflikten und im Widerstreiten von Interessen. Gegner des demokratischen Prinzips setzen denn auch alles daran, ihre eigene Abwählbarkeit zu beseitigen, wenn sie einmal an die Macht gekommen sind. Sie kommen in der Demokratie an die Macht, nutzen aber dann die demokratischen Verfahren, um sie abzuschaffen. Daher ist die offene Gesellschaft nie gesichert und bedarf der ständigen Pflege und Verteidigung.

Die größte Gefahr für die offene Gesellschaft sind aber nicht die Angriffe ihrer Feinde, sondern das zu geringe Engagement ihrer Freunde. Das liegt auch daran, dass Angriffe auf die Demokratie nicht etwa erst dann erfolgreich sind, wenn Parteien, die gegenüber der offenen Gesellschaft feindlich eingestellt sind, bei Wahlen Mehrheiten erreichen. Der Erfolg liegt im Agenda-Setting, im Setzen von Themen, die sukzessive zu Themen der Allgemeinheit werden. So sagt die Anzahl der Wählerstimmen nur unzureichend etwas über ihren faktischen politischen Einfluss aus. Das Starkmachen der Themen «Sicherheit» und «Zuwanderung» hat zu ganz erheblichen kollektiven Deutungsveränderungen in den vergangenen Jahren geführt und ist nun sogar in den Koalitionsvertrag eingegangen, ist also politikgestaltend geworden.

Die solchem Agenda-Setting zugrundeliegende Strategie ist die der planvollen Grenzüberschreitung. Diese Strategie verwendet die politischen Gegner und auch die Medien als Resonanzkörper, die entlegene Auffassungen und Behauptungen beständig in kritischer Absicht so lange wiederholen, bis sie zum Bestandteil des Alltagsbewusstseins geworden sind und dann politikgestaltend werden. Auf solche Weise werden Inhalte, Begriffe und Tonalitäten sukzessive Bestandteil politischer Alltagskultur – wenn eben nicht hinreichend Gruppen, Individuen und politische Repräsentanten auftreten, die eigene Themen setzen, die dieses Agenda-Setting konterkarieren und verhindern.

Und genau darum geht es jetzt. Die Kritik der etablierten Verhältnisse darf ja nicht zum Privileg der Neonationalen und Illiberalen werden. Die Freunde der offenen Gesellschaft müssen mit eigenen Themen aggressiv Agenda-Setting betreiben, dabei positive Grenzüberschreitungen betreiben und diese solange wiederholen, bis sie damit in die politische Alltagskultur vordringen. An Themen mangelt es nicht. Am Analysieren auch nicht. Aber am konkreten Tun schon eher. Gucken wir uns nur um.

Laut Oxfam gehört heute dem reichsten einen Prozent der Menschheit mehr als den restlichen 99 Prozent. Auch in Deutschland besitzen die oberen 10 Prozent zwei Drittel aller Vermögen, Tendenz steigend. Wenn man es nicht auf eine gewaltsame Umverteilung hinauslaufen lassen will, muss die Angleichung der Lebensverhältnisse eine Priorität in einer offenen Gesellschaft sein. Statt uns mit Lohn- und Steuerdumping gegenseitig das Leben schwer zu machen, sollten wir uns wieder ganz konkret das Ziel setzen, nachhaltigen Wohlstand für alle zu schaffen, am besten gleich in der ganzen EU. Ein Bürgereinkommen oder Ähnliches kann über die digitale Revolution, ihre Roboter und deren faire Besteuerung finanziert werden. Das Einkommen würde in dem Maße zunehmen, wie die Produktivität von Maschinen steigt. Das ist die digitale Dividende für alle.

Die Macht der Aufmerksamkeit liegt in den Händen von ein paar wenigen privaten Firmen, die diese für profanen materiellen Gewinn und zum Ausbau ihrer politischen Macht ausnutzen. Der öffentliche Raum ist in Gefahr, ein Schlachtfeld von kommerzieller und staatlicher Manipulation zu werden. Die politischen Konsequenzen sehen wir in den USA, China, Russland und auch schon hier in Deutschland. Aber der öffentliche Raum ist ein öffentliches Gut und darf nicht privaten Werbeplattformen überlassen werden. Wir müssen ihn schützen durch Standards, Gesetze, Bildung und durch eine Neuerfindung von öffentlich-rechtlichen Medien.

Soziale Netzwerke gibt es nicht erst seit Facebook, sie sind tausende Jahre alt und machen uns Menschen aus. Manche nennen es sozialen Zusammenhalt. Diesen gilt es zu stärken – analog und digital. Soziale Netzwerke dürfen nicht denen überlassen werden, die daraus eine Maschine zur Massenmanipulation gemacht haben. Und gerade Europa braucht eine Öffentlichkeit, die Menschen verbindet und nationale Filterblasen aufbricht. Denn ohne die bleiben wir in unserer von nationalem Denken geprägten Welt gefangen und können den europäischen Wald vor lauter nationalen Bäumen nicht sehen. Wir haben vor fast 50 Jahren mit Airbus gezeigt, wie man Utopien mit Industriepolitik umsetzt. Eine funktionierende europäische Öffentlichkeit ist in Zeiten von digitaler Wahlmanipulation und Fake News mindestens so wichtig wie eine europäische Luftfahrtindustrie damals, wahrscheinlich sehr viel wichtiger.

Nach einem starken Zuzug von Kriegsflüchtlingen und Migranten ist die Integration in unsere offene, pluralistische Gesellschaft eine große Herausforderung, die uns viele Jahre beschäftigen wird. Vieles läuft hier viel besser, als es die Medien wahrhaben wollen. Manches läuft auch wirklich schief. Aber Integration ist nicht nur eine Aufgabe für Flüchtlinge. Integration geht uns alle an. Nicht unwesentliche Teile der Eliten sind schlecht integriert und zerstören Systemvertrauen. Nicht abreißende Skandale um Volkswagen und Deutsche Bank, Steuerflucht und Postenschacherei in der Politik zeigen fehlende Gemeinwohlorientierung und damit mangelndes Demokratieverständnis. Es ist eine Frage der demokratischen Kultur, so etwas nicht weiter zu tolerieren und gerade auch von unseren Eliten stärkere Integrationsbereitschaft einzufordern. Integration ist eine Leistung, die jeder von uns erbringen muss, ob Flüchtling oder Sachse, Bayern-Spieler oder VW-Abgasmanager, Kanzlerkandidat oder Behördenchefin.

Hier könnte man noch viele Themen hinzufügen, bei denen es der planvollen Grenzüberschreitung nach vorne bedarf, vom Mangel an sozialen Wohnraum, über Kinderarmut bis zum eskalierenden Artensterben. Es gibt wahrhaft viel zu tun. Am Setzen von eigenen Themen und an der Lösungskapazität für real existierende Probleme wird sich entscheiden, ob die offene Gesellschaft eine Zukunft hat oder nicht. Es braucht eine Dialektik des Erhaltens und des radikalen Veränderns – des Erhaltens vom Wertegerüst der offenen Gesellschaft und der Entwicklung radikal neuer Entwürfe des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die auf die wirtschaftlichen und technologischen Fragen des 21. Jahrhunderts konkrete Antworten geben. Die offene Gesellschaft ist nicht einfach Status quo. Sie braucht und hat eine Zukunft jenseits der real existierenden Verhältnisse. Nur indem wir die offene Gesellschaft permanent verändern, werden wir sie erhalten. Sie ist im wahrsten und kreativen Sinne Entwicklungsland.

Der in diesem Kontext sicher selten zitierte Jack White von den «White Stripes» hat zur Zukunft des Rock ’n’ Roll neulich etwas sehr Gutes in Die Zeit gesagt: «Es ist lange her, dass Rock ’n’ Roll für Furore sorgte. Nirvana haben eine ganze junge Generation dazu gebracht, sich Gitarren anzuschaffen. Seitdem ist nicht viel passiert. Aber damit ein Genre lebendig und attraktiv bleibt, braucht es solche Schübe wie Smells like Teen Spirit! Wenn die ausbleiben, stirbt ein Genre.»

Hat die offene Gesellschaft eine Zukunft? Das hängt vor allem von ihren Freunden ab. Wer später nicht nur nostalgisch über das verlorengegangene liberale Zeitalter schwärmen will, muss jetzt etwas tun, damit sich die neonationalen Feinde der offenen Gesellschaft nicht einfach deshalb durchsetzen, weil die anderen in ihren bequemen Couchgarnituren sitzengeblieben sind und sich von Netflix haben berieseln lassen.

«Optimismus ist Pflicht. Man muss sich auf die Dinge konzentrieren, die gemacht werden sollen und für die man verantwortlich ist», sagte Karl Popper. Ich würde hinzufügen: Optimismus macht aber auch viel mehr Spaß als dieses ewige Genöle.

KERSTIN JÜRGENS

MUT ZU SOZIALER GERECHTIGKEIT

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© KERSTIN JÜRGENS

Kerstin Jürgens ist Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Kassel. Sie forscht zu Fragen rund um den Wandel der Arbeitswelt, zur Digitalisierung der Gesellschaft und neuen Mensch-Maschine-Kooperationen. Jürgens war Mitglied im Beraterkreis des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zum Weißbuchentwurf Arbeiten 4.0 (2015–2017). Gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes leitete Jürgens die Expertenkommission «Arbeit der Zukunft» (2015–2017), die jüngst ihren Abschlussbericht Arbeit transformieren! vorstellte.

Gesellschaft ist ein voraussetzungsvolles Projekt. Dies liegt vor allem daran, dass sich eine große Zahl von Menschen darauf einigen muss, nach welchen Prinzipien man auf einem begrenzten Territorium zusammenleben will. Wer darf überhaupt dabei sein? Darf man seine Meinung frei äußern? Kann man auf Toleranz hoffen, auch wenn man nicht den Vorstellungen anderer entspricht? Vor allem aber: Wer setzt sich mit seinen Interessen durch? Der Umgang mit diesen Fragen gibt uns Auskunft darüber, in was für einer Gesellschaft wir leben. Setzen sich wenige Stärkere durch und zwingen anderen ihren Willen auf, oder gibt es gegenseitigen Respekt und werden unterschiedliche Interessen anerkannt und zum Wohle aller austariert?

Fragt man die jüngeren Generationen nach ihren Wünschen, dann geben sie meist an, dass sie gern in einer «gerechten Gesellschaft» leben wollen. Dies passt zu anderen Ergebnissen aus der Forschung: In Gesellschaften mit geringen Einkommensunterschieden sind offensichtlich alle zufriedener, und ab einem bestimmten Einkommensniveau kann man offenbar auch durch noch mehr Geld nicht noch glücklicher werden. «Glück» und «Gerechtigkeit» sind nun aber höchst schwammige Begriffe. Je nachdem, in welcher eigenen Lage man sich befindet und welchen Blick man auf seine Umwelt hat, erscheint etwas je anderes als «gerecht» oder «ungerecht». Kann es dann überhaupt so etwas wie Gerechtigkeit in einer Gesellschaft geben, wenn doch die Interessen der Menschen unterschiedlich sind?

Historisch hat sich gezeigt, dass die Orientierung an sozialer Gerechtigkeit für eine Gesellschaft als Zusammenleben vieler von Vorteil sein kann. Auslöser hierfür waren die Folgen der industriellen Revolution, als Dampfmaschine und Elektrizität die Arbeitsweisen radikal veränderten. In dieser Zeit entstanden die moderne Lohnarbeit in Fabriken oder Büros und Arbeitstage, die man jenseits der Familie und an separaten Orten ausführte. Regeln für die Nutzung menschlicher Arbeitskraft gab es in dieser frühen Periode der Industrialisierung kaum. Der Arbeitstag war fast so lange wie die Wachzeit; auch Kinder wurden in die Produktion einbezogen. Arbeitsverträge, Arbeits- und Gesundheitsschutz oder eine Sozialversicherung gab es nicht. Folge war ein völliger Verschleiß menschlicher Arbeitskraft. Die Säuglingssterblichkeit war extrem hoch, die Verelendung der Massen schritt voran. Die Gesellschaft sah sich mit einer sozialen Frage konfrontiert, die sie grundlegend destabilisierte.

Die Antwort auf diese Krisensituation waren Begrenzungen für das Marktgeschehen. Wirtschaftliche Aktivität wurde nicht unterbunden oder gar verstaatlicht, man setzte ihr allerdings klare Vorgaben. Soziale Gerechtigkeit war in dieser Phase kein parteipolitisches Steckenpferd, sondern eine gesellschaftliche Überlebensfrage. Es verwundert daher nicht, dass sie als Idee, auch getragen von den Lehren aus dem nationalsozialistischen Faschismus, ihren Weg bis in die Verfassung gefunden hat, die Deutschland ausdrücklich als soziale Marktwirtschaft ausweist. Diese Verankerung im Grundgesetz ist Erbe eines langen historischen Lernprozesses – und zugleich Mahnung für die politisch Verantwortlichen, gleich welcher Partei sie angehören.

Dass die Debatte um die soziale Gerechtigkeit in Deutschland gegenwärtig wieder so lebendig geführt wird, muss deshalb alarmieren. Grund hierfür sind keineswegs nur Schlagabtausche zwischen wissenschaftlichen Instituten, die sich über den Grad von Zunahme oder Stagnation der Spreizung von Reichtums- und Einkommensverteilung streiten. Ursache ist vielmehr, dass viele Menschen nicht nur «verunsichert» sind, sondern sich bereits «abgehängt» sehen, z. B. weil sie trotz einer Vollzeitbeschäftigung für sich und ihre Familie die Existenz nicht gut absichern können. Mit der Digitalisierung stehen zudem Rationalisierungswellen von Arbeit ins Haus: Behält man seinen Arbeitsplatz? Ist man den zukünftigen Anforderungen gewachsen, wenn Robotik, digitale Assistenzen und Algorithmen «mitarbeiten»?

Der französische Soziologe François Dubet hat mit seinem Team herausgefunden, dass die Menschen Ungleichheit durchaus akzeptieren. Lebens- und Bildungswege sind eben unterschiedlich und können dann in auch je verschiedenen Status- und Einkommenspositionen enden. Als ungerecht empfinden sie jedoch, wenn schon die Chance auf Aufstieg verwehrt ist (also etwa das Bildungssystem die unterschiedlichen Ausgangslagen nicht auszugleichen vermag) oder auch für exakt gleiche Arbeit unterschiedliche Entgelte gezahlt werden (z. B. abhängig von Geschlecht oder der Herkunft). Solche «ungerechten Ungleichheiten» sind es, die eine Demokratie in ihren Grundfesten angreifen. Lässt sich von der Arbeit nicht mehr gut leben und benötigen nun auch die Zugewanderten bezahlbaren Wohnraum und Beschäftigung ohne zu hohe Einstiegshürden, wächst die Konkurrenz «unten» in der Gesellschaft. Folge ist wachsender Unmut, der sich seine Kanäle sucht, sei es als Ressentiment gegen «die» Politik, sei es als Hetze gegen Fremde und Schwache. Die Toleranz und die Empathie gegenüber anderen nehmen ab – und radikale Protestgruppen erhalten Zulauf. Oft separat verhandelte Themen wie Arbeitsmarktpolitik, technologischer Fortschritt und Zuwanderung stehen also für die Menschen in Zusammenhang.

Deutschland steht nun mit der Digitalisierung vor einem umfassenden Strukturwandel am Arbeitsmarkt – hat aber ganz offensichtlich eine soziale Frage schon im Gepäck. Wir sind deshalb erneut mit der Frage konfrontiert, welches Modell des Zusammenlebens nun gelten soll. Wirkt der Zuspruch zur Demokratie ungebrochen, so scheint das Leitbild einer sozialen Marktwirtschaft längst fragil. Folgt der Staat noch dem Ziel, einen sozialen Ausgleich herzustellen und Teilhabechancen für alle abzusichern? Oder haben wir es nur noch mit einem Zerrbild längst vergangener Zeiten zu tun? Allzu lange schon werden die immer gleichen Missstände beklagt: etwa ein Schulsystem, dem es viel zu schlecht gelingt, soziale Unterschiede auszugleichen, oder eine Arbeitswelt, in der viele Menschen zu wenig verdienen, um für sich und ihre Kinder eine Zukunftsperspektive zu haben. Eines der reichsten Länder der Welt scheint arm an innerer Solidarität.

Dass Gestaltungsmächtigkeit durchaus vorhanden und auch wirtschaftlich vorteilhaft wäre, hat sich in der Vergangenheit an vielen Stellen gezeigt. Es war für die moderne Wirtschaft eine Überlebensfrage, dass die einzelnen Arbeitenden vor den Widrigkeiten der Märkte geschützt wurden und so ihre Leistungsfähigkeit für die Betriebe bewahrt werden konnte. In einer digitalisierten Welt erleben wir nun, wie schnell technologische Innovationen voranschreiten und unser Zusammenleben verändern – und wir benötigen hierfür neue Regeln, weil sich die Versprechen nach mehr Transparenz, effizienterem Arbeiten und einer bequemeren Alltagsgestaltung, die sich die Innovationen auf die Fahne schreiben, nicht von alleine realisieren werden. Die Interventionen müssten von einer Klärung aller datenschutzrechtlichen Fragen bis hin zur Regulierung der neuen Geschäftsmodelle der Internetökonomie reichen. Solche Interventionen wären letztlich auch hilfreich, um überhaupt das herzustellen, was vielfach gefordert wird, aber nur bei gleichen Regeln für alle möglich ist: freien Wettbewerb.

Werden politische und ökonomische Konstellationen durch globale Verflechtungen immer unüberschaubarer, ist die Gestaltungsmächtigkeit im nationalen Rahmen sicher begrenzt. Sie ist aber nicht gänzlich verschwunden und kann auch im Kleinen positive Wirkung entfalten. Exemplarisch zeigte sich dies in der Wirtschaftskrise 2008/09: Deutschland überstand die Krise vor allem deshalb eher glimpflich, weil schon vorab Konzepte entwickelt wurden, um Marktdynamiken einzuhegen. Statt Menschen in die Arbeitslosigkeit zu entlassen, bewährten sich Kurzarbeit oder tariflich und betrieblich vereinbarte Arbeitszeitkonten. Qualifiziertes Personal konnte gehalten werden. Dort, wo sich der Gesetzgeber zurückhält, tun sich hingegen Verwerfungen auf: Sei es, wenn Verstöße gegen bereits vorhandene gesetzliche Regelungen (etwa zum Mindestlohn oder Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz) nicht bestraft werden, oder wirksame Instrumente gänzlich fehlen, z. B. gegen die Ausweitung eines Niedriglohnsektors, der Armut in einem reichen Land und soziale Konflikte provoziert, und der auch die europäischen Nachbarn extrem unter Druck setzt, diesem Weg zu folgen und Standards für die arbeitenden Menschen abzusenken.

Ich wünsche mir deshalb vor allem eines: die soziale Marktwirtschaft als Verfassungsauftrag wiederzubeleben. Das würde bedeuten, die Frage der Verteilung von Ressourcen und Chancen auf Teilhabe offensiv anzugehen und das Marktgeschehen wieder stärker sozial zu rahmen. Dies wäre keineswegs, wie so oft behauptet wird, innovationsfeindlich oder wirtschaftsschädigend. Der Vorschlag ist vielmehr von der Erkenntnis geleitet, dass Zuspruch zur Demokratie ebenso wie Leistungsfähigkeit und kreative Ideen der Menschen am besten in geschützter Atmosphäre entstehen, d. h. an einem Ort, an dem Gedanken frei kursieren können und man das Morgen nicht fürchtet. Die umsichtige Moderation von Interessen und das Gespür für die Voraussetzungen sozialen Zusammenhalts sind deshalb entscheidend. Sie sind die Basis dafür, Herausforderungen der Zukunft annehmen und eine Gesellschaft fortschreiben zu können, in der, neben wirtschaftlicher Wohlfahrt, auch Demokratie, Freiheit und Toleranz weiter gedeihen.

RALF LIEBE

VOM RICHTIGEN UMGANG MIT FREUNDEN

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Ralf Liebe, Jahrgang 1965, Drucker und Verleger, lebt und arbeitet im Rheinland (Weilerswist bei Köln), Vater zweier Kinder mittlerweile jenseits des erziehungspflichtigen Alters. Versucht seit 30 Jahren mit Büchern die Welt ein bisschen besser und schöner zu machen.

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich den interessanten Satz gelesen, dass eine Demokratie nicht an ihren Feinden, sondern an zu wenigen Freunden zu Grunde geht. Dies ist so bedauerlich wie auch erklärlich, macht es einem unsere Demokratie ja oft auch nicht gerade leicht, gut mit ihr befreundet zu sein.

Von meinen Freunden erwarte ich Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, respektvollen Umgang miteinander, Hilfe und Unterstützung. Meiner Freundin Demokratie mangelt es an vielem. Sie neigt zur Lüge, mehr als ich dies tue. Auch wäre es schön, wenn sie tatsächlich öfter mal aufrichtig wäre und mir ehrlich gesteht, dass sie eben keine Idee hat, wie eine Schwierigkeit denn zu lösen wäre. Über mangelnden Respekt mir gegenüber kann ich mich nicht beklagen, bin ich doch sowohl weiß, wie auch Mann und noch dazu halbwegs respektabel wohlhabend und nicht auf ihre finanzielle Unterstützung angewiesen. Meine Freundin gibt sich des Weiteren noch mit – wie ich finde – allerlei Gesindel ab: Waffenlobbyisten, Diktatoren, zwielichtigen Unternehmern, Umweltzerstörern – um nur ein paar zu nennen. Darüber hinaus irritiert mich meine Freundin Demokratie immer wieder, weil sie gerne auf falsche Freunde hört und andererseits gute Ratschläge geflissentlich ignoriert. Manchmal ist sie auch ganz einfach nur blöd.

Aber egal. Eigentlich. Denn ich mag sie ja. Sie hat ja auch ganz viele nette Eigenschaften. Irgendwie hat sie es ja hinbekommen, dass ich in meinen 53 Lebensjahren keinen Krieg erleben musste. Sie hat mich ausgebildet (okay, nicht immer so richtig gut, aber sie hat sich schon Mühe gegeben), lässt mich weitestgehend unbehelligt, sorgt dafür, dass ich mich sicher fühle. Ich kann in Museen und Theater gehen, kann dieses Land verlassen und wiederkommen. Strom und Wasser in bester Qualität bekomme ich zu bezahlbaren Preisen geliefert, die Benutzung von Straßen kostet mich nichts. Busse und Bahnen bringen mich auch an so gut wie jeden Ort. Meine Freundin sorgt dafür, dass Recht gesprochen wird und ich diese Rechtsprechung auch noch verstehen kann, auch wenn mir nicht jedes einzelne Urteil erklärlich ist. Sie ist schon sehr fleißig, vielleicht verzeihe ich ihr deswegen auch ihre vielen Fehler und Mängel.