Jonathan Freedland
Intervention
Thriller
Aus dem Englischen von Rainer Schmidt
FISCHER E-Books
Jonathan Freedland ist einer der renommiertesten Journalisten Großbritanniens. 1967 in London geboren, arbeitete er jahrelang als politischer Korrespondent in Washington. Er ist Journalist und Kolumnist für den ›Guardian‹, schreibt regelmäßig für ›The New York Times‹ und ›The New York Review of Books‹. Für die BBC präsentiert er eine Radiosendung zur Zeitgeschichte, ›The Long View‹. Für Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in London.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel ›Pantheon‹
im Verlag HarperCollins, London
© Jonathan Freedland 2012
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Umschlagabbildung: www.buerosued.de
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402554-4
Für meine Mutter,
die stärkste und sanfteste Person, die ich kenne
Sie schmerzte ihn, diese Fahrt, sie quälte ihn, und doch kam er Tag für Tag wieder her, um sich zu peinigen. Jeden Morgen, ob der Himmel dunkel vom Regen war oder, wie heute, von sengender Sonne erfüllt, war James Zennor kurz nach Tagesanbruch hier auf dem Wasser und ruderte allein auf dem als Isis bekannten Abschnitt der Themse.
James liebte diese frühen Morgenstunden. Die Luft roch frisch, der Himmel war leer, alles war still. Eine Familie von Moorhühnern pütterte am Rand des Wassers entlang, aber auch sie gab keinen Laut von sich, als behielte sie ihre Ansichten genau wie er lieber für sich.
Das Boot glitt jetzt dahin, und die federnde Bewegung, mit der James’ Hände die Ruder so drehten, dass sie senkrecht ins Wasser tauchten, bevor sie waagerecht durch die Luft schnitten, verlief praktisch automatisch. Er schaute auf den Fluss, der im Sonnenlicht funkelte wie mit Juwelen besetzt. In solchen Augenblicken, wenn die wahre Anstrengung gerade erst angefangen hatte, wenn der Himmel blau war und die Luft eine kühle Liebkosung, konnte er fast vergessen, was mit seinem zerstörten Körper passiert war. Dann konnte er sich fast fühlen wie der Mann, der er einmal gewesen war.
Abgesehen von jenem einen schicksalhaften Jahr im Ausland kam er seit einem Jahrzehnt an diese Stelle – seit er Student gewesen war, dankbar für seinen Platz in seiner College-Mannschaft. Er war sogar Schlagmann für Oxford in einem Rennen gegen Cambridge gewesen, bis heute berühmt für seinen knappen Ausgang. Aber das war lange her. Heute kämpfte er nur noch gegen sich selbst.
Er schaute nach links und rechts, aber da war noch immer niemand unterwegs. In der Zeit des Vorlesungsbetriebs sah er um diese Zeit manchmal ein paar der ehrgeizigeren Crews auf dem Wasser, die für eine der Regatten trainierten – jüngere Männer, die ihn an sein eigenes jugendliches Ich erinnerten. James Zennor war noch keine dreißig. Aber er hatte so viel durchgemacht, dass er sich doppelt so alt fühlte.
Er blinzelte nach oben und genoss das Gefühl, sich blenden zu lassen. Dann richtete er den Blick wieder auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Als seine Augen sich erholt hatten, konnte er die Bäume auf dem rechten Ufer erkennen; sie schirmten den Weg ab, den er und Florence so oft genommen hatten, vor Harrys Geburt und auch danach. James kam gern mit seinem Sohn hier herunter und stellte sich zärtlich vor, Harry könnte sich genauso in den Fluss verlieben wie er selbst als Junge, nur durch seine ständige Nähe. Aber seit ein paar Monaten war Harry nervös und klammerte sich ängstlich an die Hand seiner Mutter, wenn sie zu dicht ans Wasser herankamen. Das würde vorübergehen, da war James sicher. An Tagen wie heute schien alles möglich zu sein.
Er stellte sich vor, wie sein Sohn in diesem Augenblick aussah. In zwei Monaten wurde er drei, und jetzt schlief er bestimmt ganz tief und hielt mit einer Hand Snowy fest, den kleinen Eisbären, der ihn abends immer ins Bett begleitete. Genau so hatte James ihn heute Morgen gesehen, als er sich zu seinem Rudertraining hinausgeschlichen hatte. Was immer er und Florence sonst durchgemacht haben mochten, sie hatten zusammen ein wunderschönes Kind in die Welt gesetzt.
Als er sich jetzt der Schleuse von Iffley näherte und wendete, geschah das Unvermeidliche. Seine linke Schulter schmerzte. Der Schmerz war nicht weniger scharf, weil er vertraut war, brennend und stechend zugleich, als stoße man ihm mehrere dicke, weißglühende Nadeln in den Körper. Jeder Tag begann mit der Hoffnung, es werde diesmal anders sein, der Schmerz werde später kommen, oder überhaupt nicht. Heute, bei diesem perfekten Wetter, hatte diese Hoffnung noch heller gestrahlt als sonst. Aber als er jetzt auf die Folly Bridge zuruderte, wusste er, dass sich nichts geändert hatte.
Er versuchte, sich auf die kurzen, seligen Halbsekunden der Erleichterung zu konzentrieren, wenn die Ruderblätter über das schwere Wasser hinwegglitten: die Erholung vor dem Pull. Er versuchte, sich das kühle Wasser des Flusses vorzustellen, seine sanfte, lindernde Wirkung auf seine brennende Haut.
Jeder Pull presste ihm die Lunge zusammen, und seine Atemzüge klangen wie das Keuchen von jemandem in weiter Ferne, aber sein Herzklopfen war so laut wie ein Motor auf Hochtouren.
Das Boot schnitt durch das Wasser; der schlanke, schmale Bug teilte es lautlos. Er wusste, vom Ufer aus beobachtet würde die Bewegung mühelos aussehen. Gut eingespieltes Mannschaftsrudern sah immer so aus: menschliche Wesen, zu einer einzigen, kraftvollen Maschine verschmolzen, alle ihre Kräfte auf ein einziges Ziel gerichtet. Wenn man die richtigen Männer ausgesucht hatte, die stärksten und besten, leistete das Wasser scheinbar keinen Widerstand mehr.
Ein Einer sah selten so erfreulich aus; ein einzelner Mann konnte nicht den gleichen Schwung hervorbringen, nicht das gleiche Gefühl von Ordnung hervorrufen. James war sicher, dass sein eigenes Rudern besonders unelegant aussah. Seine ruinierte linke Schulter sorgte dafür. Der linke Arm, der jetzt für alle Zeit schwächer war als der rechte, konnte nicht mithalten, und die perfekte Symmetrie war unerreichbar. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie sein Boot im Zickzack den Fluss hinunterschlingerte, auch wenn man ihm schon ein Dutzend Mal gesagt hatte, dass es nicht so war.
Er rang nach Luft und warf einen Blick nach vorn. Folly Bridge war in der Ferne gerade noch sichtbar. Wenn er dort angekommen wäre, hätte er die Strecke auf der Isis bis zur Schleuse und wieder zurück dreimal zurückgelegt, eine Distanz von viereinhalb Meilen. Sein Körper verlangte, dass er aufhörte. Sein übliches Morgenpensum hatte er bereits absolviert. Aber er musste an die Männer denken – Männer in seinem Alter oder jünger –, die auf dem Kontinent kämpften, an die Piloten, die sich bereithielten, den Himmel über England zu verteidigen und alles für das zu geben, was der neue Premierminister warnend als »Schlacht um England« bezeichnet hatte. Bei jedem Pull dachte er daran, wie kraftlos seine Anstrengungen im Vergleich zu den ihren waren. Wenn sie ihren Teil taten, dann konnte er wenigstens …
Aber plötzlich verschärfte sich der ewige Schulterschmerz so, als sei etwas gebrochen. Hatte sich da ein Knochensplitter gelöst? Die Qualen waren unbeschreiblich.
James presste die Zähne zusammen. Um sich abzulenken, zwang er sich, an das zu denken, was er gestern Abend im Rundfunk gehört hatte. Die Hauptnachrichten drehten sich nach wie vor um die Versenkung der französischen Flotte durch die Briten vor Algerien. Typisch Churchill war das. Anders als Chamberlain, dieser verdammte Trottel, hatte Churchill begriffen, dass hier kein Platz für Zauderer, keine Zeit für Artigkeiten war. Nachdem Paris erobert worden war, würden Frankreichs Schiffe in die Hände der Deutschen fallen, und da war es besser, sie allesamt zu zerstören. Die Franzosen sahen es allerdings nicht so; sie waren wütend, und die Vorwürfe rumorten immer noch.
Seine Schulter schickte Schockwellen der Pein durch den Körper, aber er achtete nicht darauf. Was war als Nächstes gekommen? Die BBC bemühte sich nach Möglichkeit, ihre Sendungen mit etwas Positivem zu beginnen, um die schlechten Nachrichten, die danach kamen, abzufedern. Welche bittere Pille hatte die Versenkung der französischen Flotte gestern Abend noch versüßen sollen? Die Schmerzen zerrten an seinen Nerven, aber er ließ sich nicht unterkriegen. Genau: die Kanalinseln. Sark hatte sich den Nazis ergeben, zwei Tage nach Alderney, und die Kanalinseln waren jetzt vollständig in deutscher Hand. Eine schockierende Vorstellung. Er war nie dort gewesen, aber er war an der englischen Südküste aufgewachsen und hatte immer gewusst, dass man mit der Fähre nach Jersey hinüberfahren konnte und die Menschen dort Englisch sprachen. Allein in den letzten paar Wochen war das Hakenkreuz über Norwegen, Frankreich, Belgien und Holland aufgezogen worden, und jetzt auch in einem kleinen Winkel von England. Hitler kam näher.
James zog die Ruder ein, ließ das Boot über das glatte Wasser gleiten und tat, wie er glaubte, einen Seufzer der Erleichterung. Erst als ein Schwarm Teichhühner wild aufflatterte, begriff er, dass er geschrien hatte. Ein Mann auf dem Leinpfad drehte sich erschrocken um und ging dann eilig davon.
James steuerte ans Ufer, so nah wie möglich am Bootshaus. Er stemmte sich hinaus auf trockenes Land und machte sich auf den schwierigsten Augenblick seines morgendlichen Trainings gefasst. Er bückte sich tief hinunter und packte die Leine am Bug, um das Skiff aus dem Wasser zu ziehen und auf seine gesunde Schulter zu heben. Eins, zwei, drei – und mit einer Anstrengung, bei der er am liebsten laut aufgeheult hätte, war das Boot draußen und auf seiner Schulter. Taumelnd legte er die paar Schritte ins Bootshaus zurück und legte das Skiff in sein Gestell.
Dann blieb er ein paar Augenblicke stehen, rang nach Atem und schaute zum Himmel hinauf, dessen prachtvolles Kornblumenblau ihm vorkam wie eine Lüge. Der Himmel über dem Königreich wurde zum Schlachtfeld, und in den Großstädten gellten jede Nacht die Luftschutzsirenen. Erst vor wenigen Nächten hatten deutsche Flugzeuge Cardiff bombardiert. Mit welchem Recht sah der Himmel jetzt so friedlich aus?
James ging zügig an den Bootshäusern der Colleges vorbei – St. John’s, Balliol, New und die anderen, jetzt allesamt verschlossen und wie ausgestorben. Auch wenn das eher auf die Universitätsferien als auf den Krieg zurückzuführen war, verfluchte er im Stillen noch einmal sein Schicksal.
Bei seinem Fahrrad angekommen, das er an einem Pfahl zurückgelassen hatte, schwang er ein Bein über den Sattel und trat kräftig in die Pedale. Er genoss die kinetische Abwechslung für seinen Körper nach dem unerbittlichen Vor-und-Zurück auf dem Wasser. Er trieb sich über die kleine Brücke, steil gewölbt wie ein Regenbogen, und weiter über die Wiese von Christ Church. Er sah sowohl die weidenden Kühe – die seit Beginn der Lebensmittelrationierung eher nützlich als bloß dekorativ aussahen – als auch die Flächen, die man umgepflügt hatte, um dort Kartoffeln anzupflanzen. Das geschah jetzt überall in Oxford: Selbst der kleinste private Garten oder Rasen wurde in ein Gemüsebeet verwandelt, um die nationale Lebensmittelversorgung zu sichern.
Er radelte zwischen Merton und Corpus Christi hindurch, an Oriel vorbei und in die High Street. Die Colleges waren um diese Zeit menschenleer, aber viele von ihnen würden sich bald füllen, und ein neuer Tag des vorgeschriebenen Kriegsdienstes würde beginnen. Als er in Richtung St. Giles rechts abbog, vermied er es, so gut es ging, einen Blick auf das Märtyrerdenkmal zu werfen. In nördlicher Richtung fuhr er nach Hause.
Es war noch nicht sieben, und so waren kaum Autos unterwegs. Aber selbst wenn der Berufsverkehr einsetzte, würden es heute weniger sein als noch vor einem Jahr. Dafür sorgte die Benzinrationierung. James wusste von einem abenteuerlustigen Burschen, der eine Lösung gefunden hatte und seinen Tank mit einem Gebräu aus Whisky und Paraffin füllte – sein Auto, beschwerte er sich jetzt, stinke »wie ein besoffener Laternenanzünder« –, aber wie es aussah, zogen die meisten Autofahrer von Oxford es vor, ein solches Risiko nicht einzugehen. Wer es tat, stieß jetzt auf Kontrollstellen an den Ausfallstraßen im Norden, Süden, Westen und Osten der Stadt, Straßensperren, die dafür sorgen sollten, dass die Behörden genau wussten, wer hier kam und ging, als wäre Oxford nun ein Militärstützpunkt und keine alte Universitätsstadt. Sogar zwischen Pembroke und Christ Church gab es eine Straßensperre, aber um einen Radfahrer kümmerten sie sich nicht weiter.
Nicht, dass man den Krieg hätte vergessen können, ganz gleich, wie man sich fortbewegte. Da waren die Verkehrsampeln unter ihren mönchsartigen Kapuzen, eine der zahllosen Veränderungen, die wegen der Verdunklung vorgeschrieben waren. Merkwürdiger aber war die vollständige Abwesenheit von Straßenschildern und Wegweisern, die man allesamt abmontiert hatte, um einer potentiellen Besatzungsarmee Kopfschmerzen zu bereiten. Sollten die Jerrys doch selbst zusehen, wie sie sich in Oxford zurechtfanden.
Der Schmerz in seiner Schulter war wieder erwacht. Er sah auf die Uhr und fing an zu rechnen, um sich abzulenken. Wenn er mit voller Kraft radelte, müsste er in viereinhalb Minuten zu Hause sein.
Als er die Banbury Road entlangschoss und der Wind an seinen Ohren vorbeirauschte, wurde ihm bewusst, dass er einen rasenden Appetit hatte. Magere vier Unzen, das war seine ganze Speckration für eine Woche. Die könnte er in einem Augenblick herunterschlingen, mit einem einzigen Frühstück! Und was nützte einem ein Ei alle dreieinhalb Tage?
Endlich tauchte die Parks Road vor ihm auf. Ein großes schwarzes Auto stand mit laufendem Motor an der Ecke.
Florence schaute hinüber zu ihrem Sohn am Küchentisch. Er saß auf einem Berg von Kissen, damit er an seinen Teller herankam, doch hatte er seinen Margarine-Toast kaum angerührt. Stattdessen beugte Harry sich über seinen Malblock. In der Hand hielt er einen roten Buntstiftstummel.
»Nicht mehr lange, Harry, versprochen.« Noch einmal öffnete sie jede Schublade in der Küche, durchwühlte und schloss sie wieder. Wo zum Teufel war er nur?
Alles andere war fertig: der methodisch gepackte Koffer, Mäntel für die Reise, feste Schuhe. Mit dem Pass war sie vorsichtig gewesen; sie hatte ihn wohlüberlegt ans hintere Ende der zweiten Schublade in ihrer Kommode gelegt, unter ihre Unterwäsche. In diesen privaten Bereich würde James wohl kaum eindringen. Doch als sie vor fast einer Stunde nachgesehen hatte, war er nicht da gewesen. Es war das Erste, was sie getan hatte, nachdem sie lange im Bett geblieben war und sich mit fest geschlossenen Augen schlafend gestellt hatte, während sie hörte, wie James sich wusch, anzog und zum Fluss hinausfuhr. Regungslos hatte sie dagelegen und seinen Routinehandlungen gelauscht, bis die Haustür sich hinter ihm geschlossen hatte. Danach hatte sie noch zwei Minuten gewartet – sie hatte auf den Wecker geschaut –, für den Fall, dass er etwas vergessen hatte und zurückkam. Als die Luft rein war, war sie aufgestanden, und ihre geistige Checkliste stand ihr klar und übersichtlich vor Augen. Aber als sie die zweite Schublade öffnete, war da keine Spur von ihrem Pass gewesen. Hatte James ihn irgendwie gefunden und versteckt? Hatte jemand ihr Geheimnis verraten? Aber wenn ihr Mann etwas gewusst hatte, warum hatte er nichts gesagt? Wollte er ihr eine Falle stellen?
Sie schaute wieder hinüber zu Harry. Er hielt den Kopf gesenkt und war auf seine Malerei konzentriert. Sie trat hinter ihn und spähte über seinen Kopf hinweg, und plötzlich spürte sie einen Kloß im Hals. »Was ist das, Schatz?«
Harry drehte sich um, und seine Augen waren wie zwei runde blaue Teiche. Florence sah darin eine schreckliche Melancholie, bevor ihr klarwurde, dass sie in den Augen ihres Sohnes ihr eigenes Spiegelbild gesehen hatte.
»Das ist unser Haus«, sagte Harry, und seine Stimme klang leise und rauchig, ganz anders als bei Kindern seines Alters, aber ganz so wie bei James. »Da drinnen, da bin ich.« Er zeigte auf einen Umriss, der ungefähr aussah wie ein Fenster, und dann wanderte sein dicker kleiner Finger zu einer anderen Gestalt: »Und das bist du und Daddy.«
Florence’ Augen brannten. »Das ist hübsch, Harry.« Sie versuchte, munter zu klingen. Es war das dritte Haus, das er in den letzten zwanzig Minuten gemalt hatte.
Sie nahm die Suche wieder auf und bemühte sich, nicht an Harry und sein Bild zu denken. Sie wollte nicht, dass irgendetwas ihre Entschlossenheit aufweichte. Wo in Gottes Namen hatte sie den Pass hingetan?
Vielleicht hatte sie ihn in ihrer Panik übersehen. Sie nahm sich vor, methodischer zu suchen, und kehrte zum dritten Mal zu den Küchenschubladen zurück. Sie nahm das Besteckfach aus der obersten und ging dann zur nächsten weiter. Teekannenwärmer, Servietten, ein Holzlöffel, eine Taschenlampe und ein Satz Batterien. Schließlich die unterste Schublade, voll mit James’ Männerkram: Schraubenzieher, Zangen, ein Schraubenschlüssel, eine Dose Fahrradöl und noch mehr Batterien für die Taschenlampe. Seit der Krieg ausgebrochen war, gab es anscheinend in jedem Winkel des Hauses Taschenlampen und Batterien. Aber der Pass war nicht da.
Florence sah auf die Uhr. Viertel vor sieben. Spätestens um sieben müssten sie weg sein. James kam nie vor viertel nach sieben zurück. Sie musste jetzt nur einen kühlen Kopf bewahren.
Sie lief in sein Arbeitszimmer. Ein furchtbares Durcheinander – schwankende Türme von Papieren, Büchern und einer anscheinend vollständigen Sammlung des Journal of Experimental Psychology. Sie hob den größten Stapel hoch und verlagerte ihn vorsichtig auf den Stuhl. Dann nahm sie das Februar-Heft des New Statesman herunter, auf dessen Titelblatt mehrere Kaffeetassen ihre kreisförmigen Spuren hinterlassen hatten. Darunter lag die Tribune. Weitere Briefe, ein eselsohriges Exemplar von Mein Katalonien von George Orwell – den ihr Mann immer Eric nannte, nachdem er ihm in Spanien begegnet war –, der dicke Cricket-Almanach. Aber kein Pass. Ein wochenalter Ausschnitt aus dem Daily Sketch: »Wehrpflicht jetzt bis 36«, lautete die Schlagzeile. Es war fünf vor sieben.
»Mummy!«, kam ein Schrei aus der Küche.
»Nicht jetzt, Harry.«
»Mummy.« Hartnäckiger.
»Mummy hat zu tun.« Sie wühlte sich durch eine Schreibtischschublade voller Farbbänder, Büroklammern und Löschpapierunterlagen. »Mach es doch Snowy schon mal in deiner Tasche bequem.«
»Da ist ein Mann an der Tür.«
Sie erstarrte. Konnte James schon wieder da sein, so viel früher als sonst? Aber das war Unsinn. Wenn er da wäre, würde er hereinkommen. Warum sollte er draußen herumstehen? Es sei denn, er hätte seinen Schlüssel vergessen und wollte nicht klingeln, weil er Harry nicht wecken wollte. Lieber Gott, was sollte sie tun?
Sie schlich sich in den Flur, und durch die bunte Scheibe im oberen Teil der Tür sah sie sofort, dass es Leonard war. Sie erkannte die hochgewachsene, straffe Silhouette. Erleichtert ließ sie die Schultern sinken und öffnete die Tür.
Sein von Brillantine glänzendes Haar war noch in Ordnung, aber er war rot vor Anstrengung. »Er hat früher Schluss gemacht. Ich habe ihn eben gesehen.«
»Was?«
»Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. James ist fertig mit Rudern; ich glaube, er war heute schneller als sonst. Oder ich habe mich mit der Zeit vertan. Aber er ist fertig. Er wird in zehn Minuten hier sein. Fünfzehn, höchstens.«
Sie verzog das Gesicht, und als habe er ihren Ausdruck missverstanden, fügte er in scharfem Ton hinzu: »Denk daran, es hängen zu viele Leute davon ab, Florence. Es steht zu viel auf dem Spiel.«
»Warte einen Augenblick.«
Verzweifelt durchsuchte sie die restlichen Schubladen und schaufelte Zigarettenpapier beiseite, leere Streichholzschachteln und ausländische Münzen, hauptsächlich spanische. Sie wandte sich den Bücherregalen zu und nahm Band für Band und dann ganze Blöcke von Büchern heraus, darunter die komplette orangegelbe Strecke des »Linken Buch-Clubs«, und warf alles auf den Boden. Kein Pass.
Harry hatte angefangen zu weinen, vielleicht, weil er Leonard, einen Fremden, vor der Haustür sah, vielleicht aber auch wegen ihrer kaum verhüllten Frustration. Aber sie musste ihn ignorieren. Sie lief noch einmal ins Schlafzimmer. Sie hatte bereits gegen eins der unausgesprochenen Tabus ihrer Ehe verstoßen und einen Blick in James’ Kleiderschrank geworfen, aber jetzt würde sie gründlich suchen. Sie fegte die zwei oder drei Anzüge und dunklen Jacketts zur Seite, die an der Stange hingen, und dann fiel sie auf die Knie und befühlte den Hartholzboden. Sie fand etwas und riss es heraus.
Ein Schuhkarton. Voller Hoffnung riss sie den Deckel herunter, aber darin lagen nur zwei feste schwarze Lederschuhe, noch in Seidenpapier gewickelt. Mit einem Gewissensbiss erkannte sie, dass es die Schuhe waren, die er zu ihrer Hochzeit getragen hatte, besser gesagt, zu der Hochzeitsparty, die sie fast sechs Monate später in England gefeiert hatten.
Ein Schatten fiel über sie. Sie drehte sich um und sah Harry, der aus seinem Stuhl entkommen war und zitternd in der Tür stand. »Mummy?« Die Tränen liefen ihm über die Wangen.
Sie merkte, dass ihre eigenen Augen zu brennen anfingen. Trotz wochenlanger Vorbereitungen würde sie jetzt scheitern. »Nicht weinen, Schatz. Es wird alles gut.«
Eine letzte Chance. Sie packte den Schemel neben der Badezimmertür, stieg hinauf und schaute in das oberste Fach des Kleiderschranks. Zwei dicke, ungetragene Pullover lagen dort. Sie schob sie auseinander. Nichts. Sie wollte aufgeben, als sie einen verschwommenen Umriss entdeckte, kaum sichtbar, braun an Braun. Sie streckte die Hand aus und berührte Leder. Sie war enttäuscht – noch ein verdammtes Buch, mit muffig riechenden Seiten und ohne Worte auf dem Umschlag. Als sie es aufschlug, fiel ein Bild heraus. Harry hob es auf und betrachtete den gutaussehenden jungen Mann in Uniform inmitten seiner Kameraden, die alle ein Gewehr in der Hand hielten. Glücklich schrie er auf, als er ihn erkannte: »Daddy!«
Florence gab sich endgültig geschlagen. James musste den Pass gefunden und mit zum Fluss genommen haben. Was für ein grausamer Trick.
Nur die Verzweiflung ließ sie dahin zurückkehren, wo sie mit der Suche angefangen hatte – zu ihrer Wäscheschublade. Sie nahm jedes Stück einzeln heraus, als wolle sie ein letztes Mal ihre Gründlichkeit demonstrieren. Als sie ein Paar schwarze Strümpfe heraushob, machte ihr Herz einen Satz. Sie zog an dem Stoff, und darin verhakt hing ein kleines, steifes, dunkelblaues Büchlein. Wie um alles in der Welt hatte sie es übersehen können? Da war ihr Pass, genau da, wo sie ihn hingelegt hatte, die ganze Zeit.
»Was hat Mummy gesagt, Harry? Du siehst, es wird alles gut.« Sie hörte den brüchigen Klang ihrer Stimme, als sie ihren Sohn aufhob und in einem Schwung auf ihre rechte Hüfte setzte. Mit der Linken nahm sie den Koffer, den sie fast eine Stunde zuvor für diesen Augenblick griffbereit in den Flur gestellt hatte. Sie trat aus der Haustür. Draußen wartete Leonard. Sie hatte keine Zeit mehr für einen Blick zurück. In seiner kleinen Hand hielt Harry immer noch das Bild seines Vaters.
An dem Tag, an dem er sie zum ersten Mal erblickte, sah James mehr von Florences nackter Haut als in der ganzen Zeit bis zu ihrer Heirat. Strenggenommen stimmte das nicht ganz, aber er behauptete es gern – allerdings selten in gemischter Gesellschaft.
Sie lernten sich im heißen Juli 1936 in Barcelona kennen. Er war vorher nie in Spanien gewesen. Ja, eigentlich war er überhaupt noch nirgendwo gewesen. Er wanderte in der Stadt herum und spazierte mit großen Augen über die prächtigen breiten Boulevards, atemlos vor Aufregung und Stolz. An den Gebäuden mit ihren seltsam wie weinende Augen geformten Fenstern hingen Banner und Girlanden, die ihn und ungefähr sechstausend andere Ausländer zur Olimpiada Popular begrüßten, zur Volksolympiade. Auf der offiziellen Flagge der Veranstaltung waren drei heroische, muskulöse Gestalten in Rot, Gelb und Schwarz abgebildet, die gemeinsam eine einzelne Standarte hochhielten. Erst nach einer Weile erkannte James, dass mindestens einer der symbolischen Athleten in dem Emblem eine Frau war; der zweite war ein rothäutiger Mann, und der dritte war unverkennbar ein Schwarzer.
Er hätte nicht überrascht sein müssen, denn dies war die alternative Olympiade, dazu gedacht, den offiziellen Spielen, die eine Woche später und mehr als neunhundert Meilen weiter östlich in Berlin stattfinden würden, die Schau zu stehlen. Während diese Spiele eine Demonstration arischer Überlegenheit sein sollten, war die Volksolympiade ein Fest von Sozialisten, Idealisten und Radikalen, die sich aus Gewissensgründen weigerten, an Herrn Hitlers Volksfest teilzunehmen.
»Na, gewinnen werden wir nicht, das kann ich dir jetzt schon sagen«, hatte James gemeint, als er und sein Freund Harry nach einer Reise, die fast achtzehn Stunden vorher in der Victoria Station begonnen hatte, aus dem Zug stiegen. »Nicht bei dieser Hitze. Wir sind den eiskalten Morgen und den Nebel über dem Cherwell gewohnt. Das hier sind die verdammten Tropen.«
»Jetzt pass mal auf, Zennor. Wenn ich eine Unke haben wollte, hätte ich Simkins mitgenommen, oder diesen anderen Idioten, Lightfoot. Ich habe dich mitgenommen, und zwar wegen deines rhetorischen Talents. Du bist hier, weil du uns Mut machen und das Team zum Sieg anspornen sollst.«
»Ich dachte, ich wäre hier, weil ich ein verdammt guter Ruderer bin.«
»Das bist du auch. Also Schluss mit diesen defätistischen Reden. Wir werden die Massen nicht mit ödem britischen Pessimismus zur Revolution führen, oder?«
Harry Knox, Winchester und Balliol, erblicher Baronet und ehemals führender Aktivist der … was war es gewesen? James meinte, es war die Independent Labour Party, aber es konnte auch eine andere sozialistische Gruppe mit anderen Initialen gewesen sein; es war schwer, da auf dem letzten Stand zu sein. Nach Barcelona zu kommen war Knox’ Idee gewesen, als Ausgleich dafür, dass sie die echten Olympischen Spiele verpassten – wobei er darauf bestand, diese Bezeichnung nicht zu verwenden –, und als Gelegenheit, Position gegen den Faschismus zu beziehen. James war als Schlagmann für das britische Boot in Berlin nominiert worden, und dies sollte sein Trostpreis sein.
Zusammen mit allen anderen internationalen Athleten wurden sie im Hotel Olímpico an der Plaza de España untergebracht, und in der Lobby wimmelte es bereits von Neuankömmlingen aus den Vereinigten Staaten, Holland, Belgien und Französisch-Algerien. Die meisten waren wie Harry und James von einem Arbeiterbund, einer sozialistischen Partei oder einer Gewerkschaft entsandt worden, nicht von ihrem Land. James bezweifelte, dass den Auswahlverfahren ebenso rigorose sportliche Kriterien zugrunde lagen wie bei den offiziellen Olympischen Spielen. Aber, wie Harry gesagt hatte: »Darum geht es doch nicht, oder?«
Die ausgelassene Atmosphäre hielt eine Woche lang an. Ihre Zimmertür stand immer offen, und marxistische Hürdenläufer aus Dänemark und anarchistische Sprinter aus Frankreich gingen bei ihnen ein und aus. Das ganze Gebäude war Schauplatz einer einzigen endlosen Party. James hatte kaum seinen Koffer abgestellt, als ihm ein riesenhafter italienischer Kugelstoßer, der sich bald als Kommunist im Exil erwies, eine Flasche in die Hand drückte und ihn drängte, sie auf einen Zug leer zu trinken, statt daran zu nippen. James las das Etikett – Sangre de Toro, »Stierblut« – und trank. Der Wein schmeckte moschusartig schwer und fruchtig. Er hatte ihn nicht besonders gemocht, aber später hatte er den Geschmack dieses katalanischen Weins immer mit Freiheit verbunden.
Schließlich waren sie auf die Straße hinausgeströmt und waren von einer Tapas-Bar in die nächste gezogen. James konnte sich nicht erinnern, auch nur einmal für Essen und Trinken bezahlt zu haben, als wären sämtliche Barbesitzer von Barcelona den olympischen Gästen dankbar dafür, dass sie ihre junge Republik unterstützten und genau das taten, was das Internationale Olympische Komitee fünf Jahre zuvor verweigert hatte, nämlich Barcelona statt Berlin zu wählen.
Er kaute an einer Portion calcots, auf Holzkohle gegrillte Frühlingszwiebeln, die er, wären sie ihm in England angeboten worden, als furchterregend exotisch zurückgewiesen hätte, als Harry – er hatte schon jetzt einen Sonnenbrand und große Schweißflecken unter den Armen – ihn mit laszivem Grinsen ansah. »Es heißt, die Schwimmerinnen veranstalten heute Nacht noch ein Training.«
»Harry, nicht mal du kannst so verzweifelt sein«, antwortete James und tat sein Bestes, um wie ein Mann von Welt zu klingen. Er hatte ein wenig Erfahrung mit Frauen, jedenfalls mehr als Harry. Den größten Teil seines zweiten Jahres in Oxford war er mit Daisy zusammen gewesen, einer blonden, schwanenhalsigen Altphilologin vom St. Hugh’s College. Tastend hatte er sich, wenn auch durch die Kleidung hindurch, eine gewisse Vertrautheit mit ihrem Körper erarbeitet, aber seine Unschuld hatte er mit Eileen verloren, die eine Sekretärinnenfachschule in der Woodstock Road besuchte. Sie hatte nicht Daisys feingeschnittene Züge, aber ihre Konturen waren weicher, und sie hatte mehr Ähnlichkeit mit ihm: provinziell, aus Nottingham. Er traf sich jeden Mittwochabend mit ihr, und gelegentlich gingen sie samstags zusammen ins Kino. Mit seinen anderen College-Freunden brachte er sie nie zusammen, so dass sie eher seine Geliebte als seine Freundin war. Jetzt dachte er ein wenig beschämt an die Geheimniskrämerei, mit der er diese Affäre behandelt hatte, aber sie hatte sie nie in Frage gestellt. Jeden Mittwoch um halb sieben, wenn ihre Mitbewohnerin in der Chorprobe war, hatte sie ihn in ihre Bude gelassen – und in ihr Bett.
»Na, dann komm halt nicht mit, James.« Harry spürte die Verachtung seines Freundes. »Ich bin sicher, es gibt auch eine aufregende wissenschaftliche Monographie, die du lesen kannst.«
»Da es dir offensichtlich so wichtig ist, alter Junge, werde ich mitkommen und dir Gesellschaft leisten.«
Es zeigte sich, dass Knox’ Tratsch ausnahmsweise den Tatsachen entsprach. Als sie im Schwimmbad ankamen, hatte sich bereits eine Zuschauermenge versammelt. Es waren hauptsächlich Männer, aber auch Familien, die nach dem Abendessen noch einen Spaziergang durch die dampfende Nacht unternahmen – kleine Kinder mit Eis in der Hand, manche auch auf den Schultern ihrer Väter, und alle schauten den Schwimmerinnen im Licht des Mondes zu.
Knox kämpfte sich mit den Ellenbogen durch drei Reihen Zuschauer, um näher heranzukommen, aber James mit seinen eins neunzig hatte auch so freie Sicht auf die Startblöcke am rechten Ende des Beckens – und er sah sie sofort.
Ihr Haar war unter einer Bademütze verborgen, aber er sah, dass sie dunkel war, dunkler wenigstens als die übrigen Mädchen. Sie hatte zwei feine schwarze Linien über den Augen – Augen, die selbst auf diese Entfernung funkelten. Später sollte er feststellen, dass sie grün wie Edelsteine waren und von innen zu leuchten schienen. Ihre Nase war vollkommen, nicht winzig, keine Stupsnase wie bei manchen anderen Mädchen, sondern irgendwie kräftig. Sie war die Größte unter den Schwimmerinnen, und sie hatte lange, schlanke und – dank der katalanischen Sonne – bronzebraune Beine. Aber es war ihr lebhaftes Gesicht, ihr Lachen und die Art, wie die anderen zu ihr aufschauten, was sie einzigartig und zur geborenen Anführerin der Gruppe machte. James war fasziniert.
Er sah zu, wie sie ihre Mannschaft organisierte und jeder der sechs Schwimmerinnen eine Bahn zuwies. Sie kicherten und waren sich ihres Publikums bewusst. Ihre weißen Badeanzüge schienen im silbernen Licht des Mondes zu fluoreszieren, und ihre Gestalten waren scharf umrissene Silhouetten. Als sie ihm die Seite zuwandte und auf den Startblock stieg, um sich sprungbereit zu machen, schaute er bewundernd auf ihre Figur, und als sie in den Knien federte und die Arme zu einer Pfeilspitze formte, dachte er sich, dass man sich so in der Antike die Göttin Diana vorgestellt haben musste, eine Göttin von makelloser Kraft und Schönheit. Im Mondlicht, mit dem Haar unter der weißen Badekappe verborgen, sah sie aus wie eine Marmorstatue.
Das Wettschwimmen dauerte eine Weile, und die Menge löste sich nach und nach auf. Aber Harry wollte nicht gehen, und James ließ ihn gern in dem Glauben, es sei seine Idee, noch zu bleiben. Als die Frauen aus dem Becken gestiegen waren und ihre Bademäntel angezogen hatten, gingen die zwei zu ihnen hinüber. Sie gaben sich schreckliche Mühe, zu schlendern.
»Ich muss sagen, ihr wart alle wahnsinnig gut«, versuchte Knox ein Gespräch zu beginnen, und sein Tonfall klang mehr als sonst nach Upperclass – eine nervöse Angewohnheit, die immer dann zutage trat, wenn Harry von Angesicht zu Angesicht mit dem zu tun hatte, was er als »das schöne Geschlecht« bezeichnete. James spürte, dass auch sein Herz schneller schlug, und statt einen Scherz zu riskieren, der vielleicht nicht zündete, oder sonst wie ungeschickt zu erscheinen, hielt er lieber den Mund.
Zwei der Ladys lachten hinter vorgehaltener Hand, eine dritte schaute abwechselnd auf ihre Füße und schüchtern wieder hoch. James entging nicht, dass fünf der sechs Mädchen ihn und nicht Harry anschauten, ein Phänomen, das er nicht zum ersten Mal erlebte, wie er sich eingestand. Das Einzige, was ihm diesen Augenblick verdarb, war der Umstand, dass die Göttin ihn nicht beachtete. Sie trug stattdessen die Sportsachen zusammen und nahm eine Stoppuhr von der Lehne eines Zuschauerstuhls. Endlich kam sie aber doch herüber. Sie schaute in die Runde, streckte Harry die Hand entgegen und schenkte ihm ein Tausend-Watt-Lächeln.
»Miss Florence Walsingham«, sagte sie. Ihre Stimme klang selbstsicher und melodisch, aber dabei überraschend sanft. Harry stammelte eine Antwort. Sie nickte aufmerksam und hatte Augen nur für ihn. Es war, als existierte James überhaupt nicht. Aber kurioserweise störte ihn das nicht. Es bedeutete, dass er sie anstarren, ihr Lächeln genießen und einer Stimme zuhören konnte, die augenblicklich an das West End bei Nacht denken ließ, an Dinner in einem Restaurant am Strand, Cocktails in Pall Mall und tausend andere Freuden, die er nur erahnen konnte.
Schließlich wandte sie sich ihm zu. Sie hob die Hand, zog ihre Bademütze ab und enthüllte dunkelbraunes Haar, das in langen, glänzenden Locken auf ihre Schultern fiel. Es war nicht vollständig trocken; die feuchten Enden klebten an ihren Wangen. Unwillkürlich malte er sich plötzlich aus, wie diese Frau aussah, wenn sie schwitzte, während sie mit ihm schlief. Seine ausgestreckte Hand musste eine oder zwei Sekunden zu lange in der Luft schweben, bevor sie sie ergriff. Aber als sie es tat und ihn mit ihrem Hochspannungslächeln fixierte, war er überwältigt. Vom Verlangen natürlich, aber auch von einem Drang, den er noch nie erlebt hatte: Er wollte sich in ihr verlieren, in sie eintauchen und das Wasser über sich zusammenschlagen lassen.
James und Florence verbrachten jeden Augenblick der nächsten vier Tage miteinander. Sie sah ihm beim Rudern, er ihr beim Schwimmen zu. Sie waren beide groß, dunkel und attraktiv und waren bald eins der auffälligeren Paare auf der Plaza de España. Sie gingen gemeinsam auf die endlosen Partys im Hotel, auf seiner und auf ihrer Etage, aber vor allem wollten sie einfach zusammen sein.
Nach Florences morgendlichem Schwimmtraining machten sie lange Spaziergänge. Das Schwimmzentrum war in Montjuïc, auf einer Anhöhe, auf der früher eine Festung und ein Gefängnis gestanden hatten, die aber für die Weltausstellung sieben Jahre zuvor neugestaltet worden war. Sie begannen in den neuangelegten Gärten und betrachteten die Aussicht, und dann schlenderten sie bergab, vorbei an den Ausstellungspavillons von 1929. Am Poble Espanyol, dem spanischen Museumsdorf, machten sie Pause, und schließlich standen sie staunend vor dem wunderbar verschnörkelten Magischen Springbrunnen. Im warmen Sonnenschein – er im weißen Hemd, die Ärmel bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt, sie in einem Baumwollkleid, das sie zu umschweben schien – erzählten sie einander, wie sie zu Mannschaftskameraden bei der Volksolympiade geworden waren.
»Schuld daran sind Harry und seine Genossen in der ILP«, sagte er, als sie das erste Mal wirklich miteinander sprachen.
»In der Independent Labour Party?«
»Ja, genau. Independent Labour Party.«
»Bist du da Mitglied?«
»Nein. Ich bin das, was Harry als Trittbrettfahrer bezeichnet. Und du?«
»Na, ich bin auf jeden Fall Sozialistin, wenn du das meinst.« Sie sprach mit einem Akzent, den er noch nie gehört hatte, bevor er nach Oxford gekommen war, schon gar nicht in seiner Heimatstadt. Es war nicht das King’s English, wie man es im staatlichen Rundfunk hören konnte, sondern eher der Tonfall, in den Harry verfiel, wenn er eine Flasche Wein geleert hatte oder wenn er mit seiner Mutter sprach – oder natürlich in Gesellschaft junger Damen. James vermutete, es handele sich um den Akzent der Upperclass oder etwas sehr Ähnliches. »Unausweichlich, in Anbetracht meines Gebiets.«
»Deines Gebiets.« Er bewunderte die Arroganz eines einundzwanzigjährigen Mädchens, das – vier Jahre jünger als er – von sich sprach wie von einer Expertin. »Und was ist dein Gebiet, Miss Walsingham?«
Sie wandte das Gesicht in die Sonne. »Ich bin Wissenschaftlerin, Mr. Zennor.«
»Wissenschaftlerin. Wahrhaftig.«
Sie ignorierte seine Herablassung. »Ich habe soeben mein Examen in Naturwissenschaften auf Somerville abgelegt. Nächstes Jahr gehe ich dorthin zurück.«
»Wozu denn?«
»Um zu promovieren, natürlich. In Biologie.«
Beinahe hätte er einen Witz gemacht – etwas über angewandte Forschung –, aber klugerweise überlegte er es sich anders. »Und was hat das mit Sozialismus zu tun?«
»Du bist doch auch Wissenschaftler, oder?«
»Na ja, es gibt Leute, die würden das bestreiten. Manche bezeichnen die Psychologie als ›Philosophie des Geistes‹. Andere behaupten, sie sei der jüngste Zweig der Medizin.«
»Mich interessiert nicht, was ›manche‹ sagen.« Sie nahm seinen Arm. »Mich interessiert, was du sagst.«
Am liebsten hätte er sie an Ort und Stelle geküsst, vor allen Leuten. Sie brauchte ihn nur anzusehen, mit diesem elektrisierenden Lächeln, und er fiel in endlose Tiefen. »Also gut«, räumte er ein. »Ich sage, es ist auch eine Wissenschaft. Die Wissenschaft des Geistes.«
»Gut. Dann sind wir beide Wissenschaftler.« Sie drückte seinen Arm, und er spürte, wie ihre Energie auf ihn überging.
Er zwang sich zur Konzentration. »Du hast mir noch nicht erklärt, was das alles mit Sozialismus zu tun hat.«
»Das liegt doch auf der Hand, oder? Wissenschaft ist Vernunft. Es geht darum, zu erkennen, was rational ist, und alles andere zu eliminieren. Der Sozialismus hat das gleiche Ziel: die rationale Organisation der Gesellschaft.«
»Aber Menschen sind nicht rational, oder?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Sieh uns an. Hier.« Er schaute auf seinen Unterarm, auf dem zart Florences Finger lagen. »Was ist daran rational?«
Ein besorgter Blick huschte über ihr Gesicht, als ziehe ein Wolkenschleier über die Sonne. Er war fast so schnell verschwunden, wie er gekommen war. Er wusste nicht, was ihr Sorge bereitete – der Schlag, den er ihrem Argument versetzt hatte, oder die Frage, was sie da eigentlich tat, Arm in Arm in einem fremden Land mit einem Mann, den sie kaum kannte.
»Oh, es ist absolut rational«, zwitscherte sie, und ihre Begeisterung war wieder da. »Aber um dich zu überzeugen, müsste ich dich mit Wissenschaft blenden.«
Ihre Liebesaffäre ging die ganze heiße Juliwoche weiter, während sie sich auf den Beginn der Spiele am 19. vorbereiteten. Sie saßen bis in die Nacht hinein in der Bar an der Ecke, wo Harry mit seiner improvisierten Band Ukulele spielte – zwei Amerikaner mit Trompete und Bass, von denen der eine sich als der prominente Auslandskorrespondent Edward Harrison entpuppte, und eine Turnerin aus Antwerpen als Sängerin –, aber sie blieben immer in ihrem eigenen Kokon. James wollte alles über Florence wissen und war bereit, ihr mehr über sich selbst zu erzählen, als er je irgendjemandem erzählt hatte.
»Was ist denn Zennor für ein Name? Ein ausländischer?«
Er lachte. »Aus Cornwall ursprünglich.«
»Mehr nicht?« Es klang, als sei sie enttäuscht.
»Meine Vorfahren sind ostwärts gewandert«, sagte er. »Nach Bournemouth.«
»Nach Bournemouth. Aha. Bei ›Zennor‹ hätte ich gedacht, du hättest wenigstens, ich weiß nicht, vielleicht Piratenblut in den Adern. Aus Sansibar –«
»Oder Xanadu.«
»Frechdachs.« Sie gab ihm einen scherzhaften Klaps auf den Arm, aber in Wirklichkeit war es nur ein Vorwand, ihn zu berühren.
»Bournemouth ist nicht eben exotisch, was?«
»Eigentlich nicht. Tut mir leid, mein Lieber. Überhaupt kein fremdländisches Blut?«
»Meine Eltern sind Quäker, wenn das zählt. Beide Lehrer, beide Quäker. Er Mathe, sie Klavier. Solideren, provinzielleren Menschen als diesen beiden wirst du nie begegnen. Sie wissen noch nicht genau, was sie von mir halten sollen.«
»Sind die Quäker nicht Pazifisten?«
»Doch.« Er beobachtete, wie sie schnell im Kopf rechnete.
»Bedeutet das, dein Vater war –«
»Kriegsdienstverweigerer? Wieder richtig.«
»Du liebe Güte. War er im Gefängnis?«
»Beinahe, aber dann doch nicht. Zwangsarbeit zum Wohle des Landes. In seinem Fall auf einem Bauernhof.«
»Verstehe.« Sie nagte an der Unterlippe, eine Geste, in die er sich schon verliebt hatte. »Deshalb sind sie aus Cornwall weggegangen. Sie konnten nach dem Krieg nicht wieder nach Hause, aus Scham.«
Er starrte sie an und fragte sich, ob er irgendeinem Trick zum Opfer gefallen war. Noch nie hatte er die Geschichte irgendjemandem erzählt, nicht einmal Harry. Aber sie war intuitiv auf die Wahrheit gestoßen.
So ging es in dieser kurzen, schwindelerregenden Woche. Schicht um Schicht enthüllten sie einander. Manchmal war die Anwesenheit einer weiteren Person dazu nötig, wie an dem Abend, als sie in der Tapas-Bar geblieben waren, nachdem die wandernde Party der Athleten weitergezogen war.
»Wir halten Sie hoffentlich nicht auf«, hatte Florence zu dem Wirt gesagt, einem rundlichen Mann, vermutlich doppelt so alt wie sie, der irgendwann gegen zwei Uhr früh anfing, die Tische abzuwischen. Er wehrte ab und dankte ihnen dafür, dass sie nach Barcelona gekommen waren. In einer Mischung aus gebrochenen Sprachen – hier ein bisschen Pidgin-Englisch, da ein paar holprige Worte Spanisch – fingen sie an, sich zu unterhalten, und er erklärte ihnen, Spanien werde bald ein Vorbild für die Welt sein, ein kommunistisches Utopia.
»Ja, wenn die Menschen dafür stimmen, dann soll es auch so sein«, meinte Florence.
»So ist es«, fügte James hinzu. »Das ist es, was Militär und Kirche begreifen müssen: Die Regierung wurde vom spanischen Volk gewählt. Wem das nicht gefällt, der soll sie bei der nächsten Wahl abwählen.«
»Nein, nein, nein«, rief der Mann mit dem Lappen in der Hand. »Nicht abwählen. Wenn wir den Kommunismus hier haben, bleibt er. Immer.«
»Selbst wenn das Volk sich dagegen entscheidet?« Florence zog die Stirn kraus.
»Es wird sich nicht dagegen entscheiden.«
»Aber wenn doch?«
»Wird es nicht. Man darf es nicht erlauben. Erst wenn die Revolution gesichert ist, dürfen sie wieder wählen.«
»Und wie lange wird das dauern?« James nahm den Faden auf, den Florence begonnen hatte. »Wie lange dauert es, bis eine Revolution ›gesichert‹ ist? Jahrzehnte vielleicht? Sehen Sie sich Russland an.«
»Die Sowjetunion ist die größte Demokratie der Welt!«
Florence und James sahen einander an, bevor Florence sagte: »Ich glaube, Mr. Stalin braucht sich den Wählern nicht allzu oft zu stellen, oder?«
Der Mann sah sie verständnislos an.
»Kommunismus ist schön und gut, aber nur, wenn er demokratisch ist. Sonst ist er genauso schlimm wie alle anderen verrotteten Systeme, wenn Sie mich fragen«, sagte James.
Der Mann räumte weiter auf, und James’ wiederholte Versuche, die Rechnung zu bezahlen, wies er zurück. »Sie sind Gäste in meinem Land, und Sie unterstützen die Republik!« Als James ihm noch einmal einen Geldschein hinhielt, scheuchte er sie hinaus.
»Das ist wie ein Boykott gegen Berlin«, sagte James, als sie langsam zum Hotel zurückkehrten. »Man muss kein Kommunist sein, um Hitler und die Nazis zu verabscheuen. Dazu braucht man nur ein halbwegs anständiges menschliches Wesen zu sein. Der Mann ist ein widerwärtiger Unmensch.«
Sie sprachen über Politik und die Welt, aber in Wirklichkeit erkundeten sie einander und entdeckten mit jedem Gespräch, mit jeder neuen Begegnung, wie gut die Kurven und Konturen ihrer Seelen sich ineinanderfügten. Und dann, in geraubten Stunden am Nachmittag oder spätnachts, taten sie das Gleiche mit ihren Körpern – vorsichtig zuerst, wobei Florence ihn lockte, bis er es nicht mehr ertragen konnte, um ihn dann mit plötzlicher Leidenschaft zu überraschen. Seine lebhafteste Erinnerung war die an ihr Gesicht, ganz nah vor ihm in der Dunkelheit, an ihre Münder, die abwechselnd im Flüsterton eines Liebespaars miteinander sprachen und sich küssten.
Das Resultat war ein fieberhaftes Verlangen nach dem Geschmack, der Berührung und dem Geruch des anderen, das sie beide schockierte. Er brauchte nur so nah neben Florence herzugehen, dass ihr Duft ihn erreichte, um rasendes Begehren nach ihr zu empfinden. Mehr noch – und das hatte er selbst mit der lieben, freigebigen Eileen nie erlebt –, Florence schien genauso zu empfinden wie er. Ihr Verlangen war genauso groß wie seines.
Und während der Himmel über Barcelona sich verfinsterte und die Gastlichkeit in den Gesichtern ihrer spanischen Gastgeber sich in verstörte Besorgnis verwandelte, konzentrierten James und Florence sich auf das ernsthafte Unternehmen der Liebe zueinander.
Erst als sie von einer verschlüsselten Radiobotschaft hörten – »Über ganz Spanien wolkenloser Himmel« lautete das verabredete Signal der Verschwörer –, begriffen sie, dass ein Staatsstreich im Gange war. Faschisten und Nationalisten waren fest entschlossen, die republikanische Regierung zu stürzen, die die Blüte der internationalen radikalen Bewegungen nach Barcelona eingeladen hatte, um der Parade der Nazis in Berlin eine lange Nase zu drehen.
Plötzlich erschien die Vorstellung von Kurzstreckenläufen, Ausscheidungskämpfen und Halbfinalen bedeutungslos. Selbst diejenigen, die glaubten, der Putsch werde schnell niedergeschlagen werden, und sich nicht vorstellen konnten, dass das Land dicht vor einem fürchterlichen Bürgerkrieg stand, sahen ein, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, um Olympische Spiele zu spielen. Als sich im Hotel Olímpico das Gerücht von der Absage der Wettkämpfe verbreitete, warteten nur wenige auf seine Bestätigung.
James war beim Packen, als Harry mit feuerroter Haut zu ihm kam. James sah sofort, dass er im Handumdrehen nüchtern geworden war.
»Wo willst du hin, Zennor?«
»Sag nicht, du hast es noch nicht gehört. Die Spiele sind –«
»Abgesagt, ich weiß. Aber wo willst du hin?«
»Na, ich dachte … wenn es keine Spiele gibt … das heißt, ich wollte Florence fragen, ob –«
»Du hast doch nicht vor abzureisen, oder? In der Stunde der Not dieser Republik?«
James schaute Harry forschend ins Gesicht. Sein Freund sah ernst aus. »Was schlägst du vor?«
»Ein paar von uns bleiben hier. Um die Republik zu verteidigen.«
»Aber … aber du bist doch kein Soldat.«
»Ich kann mich ausbilden lassen. Der springende Punkt ist, Zennor, wir sind rekrutiert worden.«
»Rekrutiert?«
»Die Geschichte hat uns rekrutiert.«
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