3309.jpg

Kati Naumann

Mit Illustrationen von Silvia Baroncelli

393-072.tif

KOSMOS

3338.jpg
3359.jpg
3378.jpg

„Verflixt! Warum ist der Koffer denn plötzlich so schwer?“, rief Tilli und pustete sich die Kringelhaare aus der Stirn.

Ihre Stimme hallte durch das Treppenhaus der Markstraße Nummer 12. Sie zog den Kopf ein, um sich nicht an dem alten Holzbalken zu stoßen, und schleifte das Koffermonster zum Treppenabsatz. Unten im Hausflur wartete schon ihre allerbeste Freundin Annika. „Soll ich dir mit deinem Gepäck helfen?“, fragte sie.

„Ich schaff das schon!“, versicherte Tilli und wollte ihren Koffer anheben. Plötzlich machte es Peng und sie hielt bloß noch den Griff in der Hand. Der schwere Koffer aber polterte mit einem Höllenlärm die Treppe hinunter.

Annika quiekte erschrocken und hüpfte zur Seite. Auf der letzten Stufe sprangen auch noch die Metallverschlüsse auf und der ganze Inhalt des Koffers verteilte sich auf dem Steinboden.

„Ach du dickes Radieschen!“, rief Tilli. „Mein Koffer ist explodiert!“

Entsetzt starrte sie auf die Bescherung. Annika versuchte sie zu trösten: „Das packen wir einfach schnell wieder ein. Ich helf dir.“

Auf Annika konnte Tilli sich immer verlassen. Die beiden teilten sich einfach alles, die Schulbank, ihre Frühstücksbrote, den Spind im Schulkeller und ein bisher unentdecktes Geheimversteck. Annika holte Tilli auch jeden Morgen ab, damit sie gemeinsam zur Schule gehen konnten. Aber an diesem Tag hatte sie gar keine Schultasche dabei. Stattdessen trug sie einen riesigen Rucksack, mit dem sie nun überall anstieß.

Gemeinsam versuchten die beiden die verstreuten Sachen einzusammeln. Plötzlich glaubten sie, auch noch Geister zu sehen. Hatte sich die gelbe Regenjacke nicht gerade bewegt? Die Jacke richtete sich auf, wackelte mit den Ärmeln – und darunter kam Tillis kleiner Bruder Jacob zum Vorschein.

„Kein Wunder, dass dein Koffer so schwer war“, rief Annika. „Da sitzt ein blinder Passagier drin!“

Das konnte doch nicht wahr sein! Tilli stemmte ihre Arme in die Seiten und brüllte: „Raus aus meinem Koffer!“

Im Nachbarhaus wummerte es an die Wand. Das war Frau Wurstmayr. Sie beschwerte sich immer, wenn es nebenan bei Familie Hupf zu laut wurde.

Irgendwo im Haus öffnete sich eine Tür.

„Was ist denn da los?“ Die Stimme gehörte Vera Hupf. Sie war die Mama von Tilli und Jacob.

Jacob rappelte sich auf und schrie zurück: „Nichts Schlimmes passiehiert!“

393-005.tif

Im Dachgeschoss öffnete sich eine weitere Tür.

„Etwas Schlimmes ist passiert?“, schallte es durch das Treppenhaus. Die Stimme gehörte Mona Tingel, Tillis Oma, die sich aber lieber Moma nennen ließ.

Besorgt stürmte sie die Treppe hinunter und fragte: „Ist etwa mein großer Karton umgefallen?“

Moma war nämlich die Betreiberin des Schulcafés „Pustekuchen“ und diesmal hatte sie einen ganzen Karton voll – aber halt! Das sollte doch eine Überraschung werden! Zum Glück stand die riesige Kiste mit dem geheimnisvollen Inhalt noch unversehrt in der Ecke neben der Haustür.

Nun kam auch noch Tillis Mama nach unten. „Mein guter Koffer!“, rief sie entsetzt. „Ich hab dir doch gesagt, dass du vorsichtig damit umgehen sollst, Tilli!“

Den schicken Lederkoffer nahm sie immer mit auf Dienstreisen. Er war sehr teuer gewesen und sie hatte ihn Tilli nur ausnahmsweise geborgt.

„Aber ich war vorsichtig!“, verteidigte sich Tilli und hielt ihrer Mama den Koffergriff unter die Nase. „Ich kann nichts dafür. Der Henkel ist abgerissen.“

„Dann hast du eindeutig zu viel hineingepackt“, schimpfte ihre Mama.

„Hab ich nicht!“ Tilli war den Tränen nah. „Und überhaupt ist nur Dumbo schuld!“

Immer wenn sie wütend auf ihren Bruder war, nannte sie ihn Dumbo, weil er so große Ohren hatte.

Ihre Mama sah sie streng an. „Sag nicht immer Dumbo zu deinem Bruder.“

„Aber der ist heimlich in meinen Koffer geklettert“, klagte Tilli.

Erschrocken untersuchte ihre Mama Jacobs Kopf nach Beulen.

„Hast du dir wehgetan?“, fragte sie besorgt.

„Nö“, versicherte Jacob und grinste schon wieder. „Ich bin ja weich gefallen.“

„So was machst du nie wieder!“, sagte seine Mama. „Das ist gefährlich. Irgendwann wäre dir vielleicht die Luft ausgegangen.“

„Gar nicht“, behauptete Jacob. „Ich hab mir doch extra Luftlöcher reingebohrt.“

Erst jetzt sahen sie, dass der teure Koffer wie ein Schweizer Käse durchlöchert war. Vera Hupf steckte traurig ihren Finger in eines von Jacobs Luftlöchern.

„Siehst du, Mama?“, rief Tilli. „Der hat meinen Koffer kaputt gemacht. Nicht ich.“

393-006.tif

Ihre Mama stemmte die Arme in die Seiten. „Das ist ja wohl immer noch mein Koffer! Jacob, was hattest du überhaupt in meinem Koffer zu suchen?“, fragte sie ratlos.

„Ich wollte auch mal auf Klassenfahrt gehen“, maulte Jakob. „Immer machen wir bloß blöde Wandertage. Warum dürfen die auf Klassenfahrt gehen und ich nicht?“

„Weil du erst in der zweiten Klasse bist und wir schon in der fünften“, gab Tilli zurück und ärgerte sich schrecklich. „Auf so eine dumme Idee kann bloß ein kleiner Bruder kommen.“

Jacob stampfte wütend mit dem Fuß auf. „Das war ein prima Plan! Wenn der blöde Koffer nicht kaputtgegangen wäre, hättet ihr mich erst im Schullandheim gefunden.“

Tilli blies entrüstet die Backen auf. „Dann hätten wir dich sofort wieder mit der Post zurückgeschickt“, versicherte sie.

Das fehlte noch, dass ihr kleiner Bruder mit auf Klassenfahrt kam. Es war schon schlimm genug, dass Tilli sich mit ihm das Zimmer, die Mama und die Oma teilen musste. Die Klassenfahrt wollte sie für sich allein haben!

„Im nächsten Jahr macht ihr bestimmt auch eine Fahrt“, versuchte Moma ihn zu trösten. „Dieses Jahr wird das leider noch nichts für dich.“

„Wenn wir nicht langsam losgehen, wird es auch für uns nichts“, drängelte Annika. „Dann fährt der Bus nämlich ohne uns ab.“

„Ja, aber wo packe ich denn nun meinen Kram rein?“, fragte Tilli verzweifelt. Ihre Sachen lagen im ganzen Treppenhaus verteilt. Und sie konnte unmöglich mit einem zerlöcherten Koffer ohne Griff losziehen.

Zum Glück hatte Moma eine Idee. „Auf dem Dachboden muss noch irgendwo mein alter Rucksack liegen. Da passt dein ganzer Kleiderschrank rein.“

Während Moma nach oben rannte, um den Rucksack zu holen, fingen die Freundinnen an, Tillis Sachen zu ordnen und wieder zusammenzulegen.

Jacob entdeckte den Bikini seiner Schwester und warf ihn kichernd durch die Luft, sodass er an der Treppenhauslampe hängen blieb.

3425.jpg

„Hol den zurück!“, fauchte Tilli.

„Wir brauchen im Schullandheim unbedingt Badesachen“, erklärte Annika. „Da gibt es nämlich ein tolles Schwimmbad mit Wasserrutsche.“

Jacob schniefte. Die hatten es vielleicht gut!

Als Moma mit dem Rucksack zurückkehrte, machte Tilli ein enttäuschtes Gesicht. Mit so einem ausgebeulten, verstaubten Ding sollte sie auf Klassenfahrt gehen? Tillis Mama warf den Rucksack über das Treppengeländer und klopfte ordentlich darauf herum. Als sich die Staubwolke gelegt hatte, sah er ein klein wenig besser aus. Er war mit bunten Stoffresten geflickt und trug ganz viele Souveniraufnäher aus Indien, Marokko, Nepal und anderen fernen Orten.

„Der ist schon um die ganze Welt gereist“, erklärte Moma stolz. „Den hatte ich sogar beim Hippiefestival in Woodstock mit.“

393-072.tif

„So sieht der auch aus“, flüsterte Annika und kicherte.

Tilli war sicher, dass die schicke Luisa sie mit diesem bunten Flickenrucksack aufziehen würde. Aber sie hatte wohl keine andere Wahl.

„Ich laufe schon mal los und halte den Bus auf“, schlug Moma vor.

Dann schnappte sie sich den großen, geheimnisvollen Karton und schleppte ihn aus der Tür.

Wenige Minuten später waren Tillis Sachen in Momas altem Rucksack verstaut. Zum Glück hatte Tilli den kürzesten Schulweg der Welt. Die Freundinnen mussten nur am Haus von Frau Wurstmayr vorbeiflitzen, und schon waren sie am ehrwürdigen Sandsteingebäude des Günter-Schulzentrums angelangt. Davor befand sich in einem Anbau mit großen Fenstern das Schulcafé „Pustekuchen“. Hier konnte man sich in der Sommerhitze mit selbst gemachtem Fruchteis abkühlen und am Durstlöschautomaten einen frischen Saft zapfen. Wenn man sich über jemanden ärgerte, konnte man demjenigen mit Senfmuffins einen Streich spielen und sich hinterher mit Momas Versöhnungskeksen entschuldigen. Das „Pustekuchen“ war die Rettungsinsel der Schule und das schönste Café in ganz Sonnenburg.

Direkt vor der Cafétür mit dem aufgemalten Muffin stand ein großer, lila Reisebus. Daneben hielt Frau Rosenblatt besorgt nach Tilli und Annika Ausschau. Frau Rosenblatt war nicht nur die netteste Lehrerin der Schule, sie war auch die Klassenlehrerin der 5b und ging natürlich mit auf große Fahrt.

„Da seid ihr ja endlich!“, rief sie erleichtert, als die Freundinnen angerannt kamen. „Jetzt sind alle da. Einsteigen, meine Häschen! Hopphopp!“

Sämtliche Schüler der anderen Klassen hingen sehnsüchtig an den Fenstern des Schulgebäudes und winkten. Nur die strenge Frau Habersack schnaufte: „Endlich eine ganze Woche Ruhe vor diesen Rabauken!“

Dabei waren die Schüler in Tillis Klasse nur sehr lustig, manchmal vielleicht ein wenig laut, aber ganz bestimmt keine Rabauken.

Nun ging der Sturm auf die besten Plätze im Bus los. Annika setzte sich hinter Robo und hielt neben sich den Platz für Tilli frei. Die schicke Luisa saß hinter ihnen. Kanita, die neu in der Klasse war, setzte sich ganz allein hinten auf den allerletzten Platz. Der faule Lars wiederum nahm gleich den ersten Platz neben der Tür, damit er nicht so weit laufen musste.

393-008.tif

Gerade als der Busfahrer die Türen schließen wollte, kam Moma angelaufen und rief erschrocken: „Halt! Jetzt hätte ich fast das Wichtigste vergessen!“

Sie reichte die geheimnisvolle Kiste herein und erklärte: „Da ist eine Überraschung für euch drin! Ihr dürft sie öffnen, sobald der Erste von euch Hunger bekommt.“

Dann schlossen sich die Türen endgültig mit einem lauten Zischen und der Bus fuhr los.

Das Letzte, was sie alle von der Schule sahen, war das „Pustekuchen“, vor dem Moma stand und fröhlich mit einer Serviette winkte.

3470.jpg

„Oje“, seufzte Annika. „Wir werden das ‚Pustekuchen‘ bestimmt schrecklich vermissen im Schullandheim!“

„Keine Sorge“, beruhigte Luisa sie und wedelte mit dem Reisekatalog. „Hast du nicht gelesen? Wir werden dort von einem Sternekoch verpflegt!“

Tilli aber war sicher, dass niemand auf der Welt so gut kochte wie ihre Moma.

Der Bus war noch nicht einmal aus der Stadt Sonnenburg herausgefahren, als Lars verkündete: „Ich hab Hunger! Dürfen wir die Kiste aufmachen?“

Frau Rosenblatt klappte den Deckel auf und gleich zog ein wunderbarer Duft durch den Bus. Alle schnupperten und riefen „Ah!“ und „Oh!“.

„Seht doch“, rief Frau Rosenblatt begeistert und holte hübsch bedruckte Tüten heraus, auf denen „Fröhliche Reise!“ stand. „Proviantpäckchen“, sagte sie, „und Früchtetees in vielen verschiedenen Sorten. Und ein großer Korb mit Süßkirschen.“

Gleich lief allen das Wasser im Mund zusammen und Frau Rosenblatt reichte die Päckchen durch. Moma hatte für jeden eins gepackt, natürlich auch für Frau Rosenblatt und für Elins Vater, der als Begleitung mitfuhr. Die Tüten wurden gleich geöffnet und neugierig untersucht. Darin waren natürlich nicht nur einfache Brote. Moma dachte sich schließlich immer etwas Besonderes aus.

„Guckt mal. Ich hab ein Raketen-Sandwich“, grinste Robo und biss den orangeroten Feuerschweif aus Möhre ab.

393-009.tif

Tilli fand ein Brot in Wolkenform und einen halben Apfel. Es war natürlich kein normaler Apfel in ihrer Tüte, sondern Moma hatte aus der Schale Streifen herausgeschnitten, sodass er aussah wie ein aufgespannter Regenschirm. In jeder Tüte befand sich außerdem noch ein leckerer Minimuffin am Stiel. Alle verglichen den Inhalt ihrer Tüten und es wurde eifrig hin und her getauscht.

„Ich muss unbedingt ein Foto von meiner Tüte machen!“, rief Tilli.