Catherine Miller

Miss Olivia und ihr ziemlich umwerfender Wintercocktail

Roman

Aus dem Englischen von Katharina Förs und Sonja Schuhmacher

Insel Verlag

Miss Olivia und ihr ziemlich umwerfender Wintercocktail

Diese Widmung ist gleichsam eine Ergänzung. Da Miss Olivia und der Geschmack von Gin Randolph gewidmet war, ist es nur recht und billig, Miss Olivia und ihr ziemlich umwerfender Wintercocktail meiner wunderbaren Oma Rose zu widmen. Wenn sie weiter lieb zu mir ist, werde ich auch für mich behalten, dass das nicht ihr richtiger Vorname ist.

Prolog

Traditionen sind etwas Schönes ‒ tröstliche, immer wiederkehrende Rituale. Olivia hatte die Gewohnheit gepflegt, am Ende jeden Tages ihrem Mann John und ihrer Tochter Jane zuzuprosten, die sie viel zu früh verloren hatte. Und viel zu lange hatte sie gebraucht, um sich davon zu erholen, und viel zu lange hatte die Beziehung zu ihrem Sohn Richard darunter gelitten.

Jahrelang hatte sie diese Tradition in ihrer Strandhütte gepflegt. Es war eine ganz private Angelegenheit gewesen. Ein stiller Moment, in dem sie würdigte, was sie zusammen gehabt hatten und was hätte sein können. Es war ein Ritual; eine Chance, die Vergangenheit zu reflektieren, und gleichzeitig eine Gelegenheit, neue Ginsorten zu probieren … um irgendwann hoffentlich den perfekten Cocktail zu finden.

Es war ihr kaum bewusst gewesen, dass es sie nicht weiterbrachte, ihr Leben lang alles für sich zu behalten. Weitergebracht hatte es sie schließlich, die Türen ihrer Strandhütte zu öffnen und andere Menschen einzuladen, sich an ihrer Suche zu beteiligen. Weitergebracht hatte es sie, mit ihrem Sohn zu reden und das Leben zu feiern. Sich darauf zu konzentrieren, wozu sie in der Lage war, anstatt die Grenzen zu akzeptieren, die ihr von außen auferlegt werden sollten.

Der kleine Ginhütten-Club, der als wöchentliches Treffen in ihrer Strandhütte begonnen hatte, war rasch ausgeufert ‒ Olivia hatte feststellen dürfen, dass sie nicht die Einzige war, die eine Leidenschaft für Gin hatte. Nie im Leben hätte sie geglaubt, aus der Ginhütte würde eine richtige Bar entstehen, doch dank der Zusammenarbeit einer großen Gemeinschaft, angeführt von ihrem Strandhütten-Nachbarn Tony, war genau das im Handumdrehen geschehen.

Und weil ihr Herz seither an mehreren Orten hing, gab es nun noch mehr Traditionen. Manche Traditionen entwickeln sich von Generation zu Generation, Olivias veränderten sich mit den Jahreszeiten.

Als der Sommer in den Herbst überging, merkte Olivia, dass allein in ihrer Strandhütte zu sitzen für sie nicht mehr den gleichen Zauber hatte wie früher. Ihr Refugium in der Westbrook Bay hatte seine Anziehungskraft nicht verloren, aber es schien Olivia nun verlockender, ihren abendlichen Gin Tonic im Kreis ihrer Freunde in der »Ginhütte« oder in Oakley West zu genießen und nicht nur den Verstorbenen, sondern auch den Lebenden zuzuprosten.

Und noch etwas hatte sich verändert. Ihr Sohn nahm sich jetzt Zeit für sie. Jedes Wochenende schaufelte sich Richard frei, um die »Ginhütte« zu besuchen und, wenn nötig, auszuhelfen. Außerdem hatte er seine totale Alkoholabstinenz aufgegeben und genoss nun ebenfalls ab und zu ein Gläschen. So hatten sie nun ihr eigenes Ritual entwickelt.

Passenderweise hielten sie es auf der Gedenkbank in den Sunken Gardens auf den Klippen der Westbrook Bay ab. Sie hatte die Bank damals für ihren Sohn gestiftet, als er noch ein Kind war. Er brauchte einen bleibenden Ort des Gedenkens an den Mann, den sie beide geliebt hatten. Immer noch liebten. Sich mit Richard an einem Ort zu treffen, der Vergangenheit und Gegenwart zusammenführte, erfüllte sie mit tiefer Befriedigung.

»Langsam wird es ein bisschen frisch, um sich draußen zu treffen, was meinst du?« Richard setzte sich zu ihr auf die Bank.

»Sag mal, wer von uns ist vierundachtzig, mein Junge?« Olivia fragte sich, ob es noch zu früh war, ihrem Sohn zu Weihnachten Hausschuhe und eine Decke zu schenken. Offenbar besaß er, ganz im Gegensatz zu ihr, eine alte Seele. Der Körper war allerdings eine andere Geschichte.

»Ich möchte bloß vermeiden, dass du dir eine Erkältung holst.« Vielleicht würde Richard nie aufhören, den besorgten Sohn zu spielen, doch zumindest wusste Olivia nun, dass er immer nur ihr Bestes wollte, auch wenn sie das in der Vergangenheit manchmal schrecklich geärgert hatte.

»Richard, ich trage drei Schichten übereinander. Ich werde ganz bestimmt nicht umkommen. Es ist Oktober in Westbrook, und wir haben weiß Gott keine arktische Kältewelle.« Olivia hatte den gewohnten Kaftan und die Leinenhose mit einer langen Strickjacke und einer knallrosa Fleecejacke ergänzt. So, wie sie eingepackt war, hätten unter den Klamotten fünfzehn Flaschen Gin Platz gefunden. Das sollte ja wohl genügen, um sie warm zu halten.

»Dann muss vielleicht ich mich wärmer anziehen. Und das, was ich predige, auch selber beherzigen.« Richard trug Hemd und Hose. Er kam inzwischen lockerer daher ‒ früher war für ihn nichts außer Anzug und Krawatte in Frage gekommen ‒, aber noch nicht locker genug, um daraus zu schließen, er habe endlich gelernt sich zu entspannen. Doch zumindest war ein Fortschritt zu verzeichnen.

»Also, was steht diese Woche auf der Karte?«, fragte Richard. Ihr neues allwöchentliches Ritual war bereits in Stein gemeißelt.

»Wir können erst anfangen, wenn Tony da ist. Das weißt du genau.« Olivia öffnete ihre Fleecejacke. Darunter hatte sie zwar nicht fünfzehn Ginflaschen versteckt, aber für Thermosflaschen eigneten sich die Innentaschen ganz gut.

»Ob ich irgendwann einmal vor ihm probieren darf?«

»Jetzt können wir mit der Tradition nicht brechen, denn in der ›Ginhütte‹ ist Tony der Chef, es ist also recht und billig, wenn er als Erster kostet, was er servieren wird.«

Neue Gins aufzuspüren und zu verkosten war immer Olivias »Ding« gewesen. Sie fand es ziemlich toll, dass aus ihrem Hobby so viel mehr geworden war, und genoss es, neue Varianten auszuprobieren. Obwohl es Tonys Idee gewesen war, aus der Ginhütte eine richtige Bar zu machen, hatte er es gern Olivia überlassen, neue Sorten zu entdecken.

Olivia widmete sich dieser Aufgabe von ihrem Zimmer in der Seniorenresidenz Oakley West aus, unterstützt von Veronica und Randy, die ebenfalls dort wohnten. Das Trio probierte die neuen Gins und wählte aus, womit sie sich kombinieren ließen, bevor Olivia die Kreationen jeweils am Sonntagmorgen Tony und Richard präsentierte.

Sie trafen sich immer, bevor all die Strandhüttennachbarn zu ihrem wöchentlichen Gemeinschafts-Picknick eintrudelten. Sonntags öffnete die »Ginhütte« erst abends, sodass sie Gelegenheit hatten, alle zusammenzukommen und einander auf den neuesten Stand zu bringen.

Die Karte wechselte jeweils montags, und eine Woche vorher trafen sie die Entscheidung. Wenn Olivias Wahl heute auf Zustimmung stieß, dann würde Tony für kommende Woche eine entsprechende Menge der Gins bestellen, die sie vorschlug. Bisher war noch keine einzige Sorte abgelehnt worden.

Olivia fand es großartig, dass ihre Hauptfunktion die der Verkosterin war. Es war eine schwierige Aufgabe, aber irgendjemand musste ja die Verantwortung auf sich nehmen. In ihrem Alter, so fand sie, war sie einer solchen Bürde durchaus gewachsen.

»Entschuldigt, ich bin spät dran«, sagte Tony, als er den Eingang zum Park erreichte und die Treppe zu ihnen hinunterlief. »Esme hat mich gebeten, ein paar Vorräte einzuräumen. Bewegung habe ich heute also schon genug gehabt.«

»Mum wollte mich nicht probieren lassen, ehe du kommst. Anscheinend bist du ihr Lieblingskind, ganz klar.« Richard sprach mit Tony, als wären sie Geschwister. Das traf zwar nicht zu, doch zwischen Olivia und ihren Strandhüttennachbarn herrschte durchaus eine familiäre Atmosphäre. Die Ereignisse im Sommer hatten sie noch stärker zusammengeschweißt. Durch den Umzug nach Oakley West war Olivias Leben viel interessanter geworden, als sie es je für möglich gehalten hätte.

»Sie weiß eben, dass ich einen feineren Gaumen habe als du. Wir können nicht zulassen, dass du ohne Aufsicht Gins absegnest«, scherzte Tony, während er sich zu den beiden auf die Bank setzte.

»Wenn du meinst.«

Olivia ignorierte das Geplänkel und widmete sich der wichtigen Aufgabe, das Getränk zu servieren. Diese Woche hatte sie einen Himbeergin und einen Verschnitt ausgewählt. Beide schmeckten rein und erfrischend und waren ganz ihr Fall.

Tony und Richard zeigten ihre Zustimmung durch Laute und ihre Mimik, als sie an den Thermosflaschen-Bechern nippten. Hier ging es nicht so edel zu wie in der »Ginhütte«, wo sie die Getränke voller Stolz ansprechend anrichteten ‒ aber sie wollten ja schließlich nur den Geschmack testen.

»Die sind perfekt für die Zeit vor der Weihnachtssaison. Und anschließend wird es dann festlich.«

»Was hast du geplant, Tony?«, fragte Olivia, neugierig wie ein Schulmädchen.

»Ich könnte es dir verraten, aber ich möchte nichts ausplaudern, bis alles unter Dach und Fach ist. Ich werde heute ein Planungstreffen organisieren.«

Olivia wusste, dass sie ihm richtig auf die Nerven gehen musste, wenn sie ihm irgendeine Information entlocken wollte. »Biiiiiiitte?«

»Sagen wir mal, es soll gin-spirierend sein.«

»Der Mann ist einfach gut!«, sagte Richard.

»Kommt schon, trinkt aus. Wir müssen zum Picknick.« Zu dem Thema würde sich Tony jetzt nicht mehr äußern.

Olivia hob ihren Thermosflaschen-Deckel mit dem letzten Restchen Gin Richtung Himmel. »Auf euch, John und Jane, wo immer ihr seid.« Das war der Trinkspruch, den sie stets flüsterte.

»Und auf die Familie und die Freunde«, fügte Richard hinzu.

»Und auf die ›Ginhütte‹«, schob Tony nach.

Sie stießen noch einmal an. Es machte Olivia glücklich, dieses neue, wöchentliche Ritual. Dieses stille Einverständnis, dass alles sich veränderte, und manchmal durchaus auch zum Guten. Natürlich wünschte sie sich immer noch, John wäre bei ihnen. Dass sie hätte miterleben können, wie er älter wurde, oder welchen Beruf ihre Tochter ergriffen hätte. Doch diese Gedanken hielten sie nicht länger davon ab, das Hier und Jetzt zu genießen. Die Tatsache, dass sie nun jede Woche mit ihrem Sohn und ihrem besten Freund hier saß und das Vermächtnis pflegte, das von ihrer Ehe übrig geblieben war, empfand sie als Segen. Einen Segen, den sie immer fortzuführen hoffte. Familie. Freunde. Gin. Das waren die wichtigsten Dinge in Olivias Leben. Sie fühlte sich reich.

1

Olivia liebte Weihnachten. Es gab nichts an diesem Fest, das ihr nicht gefallen hätte: das Schenken, die Gelegenheit, weihnachtliche Klunker zu tragen, die Zeit, die man miteinander verbrachte. Dieses Jahr freute sie sich ganz besonders darauf. Da sie nun in der Seniorenresidenz Oakley West wohnte, würde mehr gefeiert werden, zusammen mit vielen Menschen (und ohne dass sie hinterher saubermachen musste). Und außerdem gab es Pläne für die »Ginhütte«. Tony hatte bislang sehr geheimnisvoll getan, doch bald würde sie Bescheid wissen.

Darum verließ sie ihre geliebte Strandhütte früher als üblich. Sie wollte rechtzeitig in der »Ginhütte« sein, wo diskutiert werden sollte, wie sie das Geschäft in den ruhigen Wintermonaten am Laufen halten konnten ‒ sie selbst hatte auch ein paar Ideen dazu. Die Eröffnung der neuen Bar im Sommer war ein größerer Erfolg gewesen, als sie sich hatten träumen lassen, doch jetzt, wo die Touristen ausblieben, konnte es rasch bergab gehen.

Es war ein frischer Oktobertag. Die Morgenkühle machte Olivia auf ihrem Weg über die Promenade bewusst, dass es jetzt tatsächlich ratsam schien, mehrere Schichten übereinander zu tragen. Sie zog ihre rosa Fleecejacke enger um sich. Nicht zum ersten Mal überlegte sie, ob sie in ein Skateboard investieren sollte, um ihren vierundachtzigjährigen Allerwertesten auf dem betonierten Weg schneller vorwärtsbewegen zu können.

Als Olivia schließlich die Steigung zur Royal Esplanade erklommen hatte, blickte sie hinüber zur »Ginhütte«. Das silberfarbene Schild glänzte im Sonnenlicht. Wie hübsch es aussehen würde, wenn es erst geschmückt war! Bestimmt leuchtete es dann, üppig mit Lametta behängt, wie der Stern oben auf dem Weihnachtsbaum. Vielleicht sollte sie bei dem Treffen auch ein paar Dekorationsvorschläge einbringen. Olivia war der felsenfesten Überzeugung, an Weihnachten müsse man es einfach übertreiben. Möglicherweise eine Art Überkompensation, die sich im Laufe der Jahre entwickelt hatte, denn als Richard noch ein Kind war, hatte sie in den ersten Jahren mit ihm allein die Weihnachtszeit nur überstanden, indem sie sich voll und ganz auf das Fest einließ.

Heute glänzten die Fenster nicht vor Lametta, sondern von der Sonne, die sich darin spiegelte. Irgendetwas an der Fassade des Gebäudes hatte sich verändert, aber sie kam nicht drauf, was es war.

Während sie sich auf der Suche nach einem besseren Blickwinkel über den Rasen bewegte, bemerkte Olivia die Papierstreifen, die an dem Schild über der Eingangstür hingen. Hatte sie doch gewusst, dass etwas anders war. Vielleicht hatte Tony doch dekoriert. Aber Papierstreifen hatten nichts Weihnachtliches, und private Feste waren, abgesehen von einer Geburtstagsparty vor zwei Wochen, noch keine in der »Ginhütte« gefeiert worden. Zu diesem Anlass hatten sie nur Ballons als Deko gehabt ‒ zumindest soweit sie es mitbekommen hatte. Und so senil, dass es ihr nicht aufgefallen wäre, war sie noch nicht, zumal die Papierstreifen genau über dem Eingang hingen und sie mehrmals ein und aus gegangen war, ohne etwas zu bemerken.

Olivia bedeckte wegen des reflektierenden Sonnenlichts die Augen mit einer Hand und trat näher.

Es waren nicht bloß Papierstreifen dort befestigt. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, das gesamte Schild zu dekorieren. Jetzt prangte dort eine pinkfarbene 3D-Form, was ziemlich seltsam aussah. Sollte daraus vielleicht ein Schneemann werden? Etwas anderes fiel ihr dazu nicht ein. Vielleicht hatten Tonys Söhne, die das Schild ja entworfen hatten, es für die Wintersaison umgestaltet? Wahrscheinlich würde das beim Treffen heute Vormittag auch ein Thema sein.

So, wie Olivia jetzt stand, konnte sie die Aufschrift nicht entziffern, sie ging also weiter darauf zu und wechselte wegen des gleißenden Sonnenlichts sogar die Straßenseite.

Als sie endlich in der Lage war, das umgestaltete Schild genau zu betrachten, musste sie die Schrift fünfmal lesen, bis sie sicher war, sich nicht zu irren.

Auf dem Schild stand nicht mehr »Ginhütte«. Jetzt war zu lesen: »Scheißhütte«.

»Am Gin kann es verdammt noch mal nicht liegen«, sagte Olivia in ihrer Überraschung. »Wir servieren die besten Sorten der Welt«, stellte sie für jene unsichtbaren Mächte klar, die ihrem Selbstgespräch lauschen mochten.

Und als wäre diese Verunglimpfung nicht genug, prangte dort zu allem Überfluss auch noch ein runder pinkfarbener Pappmaché-Hintern, von dem braune Papierstreifen hingen. Es war die kreativste Darstellung von Durchfall, die sie je gesehen hatte.

Falls man der »Ginhütte« für die Wintersaison ein anderes Image verpassen wollte, dann bestimmt nicht dieses. Selbst Tonys Söhnen war so etwas nicht zuzutrauen. Olivia war überzeugt, dass sie inzwischen im Hinblick auf die »Ginhütte« alle Albernheiten hinter sich gelassen hatten. Was auf dem Schild nun zu sehen war, sprach eine andere Sprache. Hier drückte irgendjemand auf reichlich groteske Weise seine Abneigung gegen dieses Lokal aus. Ein Akt der Willkür, der ihr unangenehm aufstieß.

Das entsprach ganz und gar nicht den Erwartungen, die Olivia für diesen Tag gehegt hatte. Sie kam so früh zu dem Treffen, weil ihre Vorfreude auf die Weihnachtszeit kaum zu zügeln war ‒ und nicht, um als Erste zu entdecken, dass sie Opfer eines Streichs geworden waren. Jetzt würde sie Tony beibringen müssen, dass an seinem Gebäude ein Hintern mit durchfallbraunen Papierstreifen hing.

Eines stand fest: Ihr Engagement für die »Ginhütte« würde verhindern, dass sie jemals eine langweilige alte Schachtel wurde.

2

Es war nicht einfach, sich an irgendeine vernünftige Tagesordnung zu halten, solange ein Hintern aus Pappmaché auf dem Tisch lag.

»Ich meine, wieso? Wieso sollte sich jemand diese Mühe machen? Es ist so … sinnlos«, sagte Esme.

Alle waren zu dem Treffen erschienen, konnten aber den Blick nicht von dem Hintern lösen und kamen daher mit der Diskussion der anstehenden Themen keinen Schritt weiter. Veronica und Randy waren ebenfalls dazugestoßen und machten das Oakley-West-Trio komplett. Auch von Olivias Strandhüttennachbarn fehlte niemand: Tony war da, Esme und die drei Jungs, außerdem Mark und Lily sowie Paul und Skylar.

Tony und Randy war es ziemlich leicht gelungen, alles zu entfernen, was der Ganove hinterlassen hatte. War es überhaupt ein Akt des Vandalismus, wenn keine bleibenden Schäden entstanden? Auf alle Fälle war es eine Riesen-Unverschämtheit, ob es nun gesetzwidrig war oder nicht.

»Das war ganz genau geplant!«, meinte Paul. »Es muss ganz schön Mühe gekostet haben. Und Zeit. Um einige Buchstaben so akkurat abzudecken, andere aber nicht, dafür musste der Täter sehr genau arbeiten.«

Vielleicht verstand Paul mehr vom Basteln mit Papier, als Olivia ihm zugetraut hätte. Aber er hatte recht. Die betreffende Person musste Maß genommen oder genau gewusst haben, wie das Originalschild gestaltet war.

»Sollen wir die Polizei einschalten?«, fragte Skylar.

Olivia hatte seit dem vergangenen Sommer eigentlich genug von der Polizei. Nach den schockierenden Vorgängen in der Seniorenresidenz Oakley West war sie fest überzeugt gewesen, dass nun keiner mehr versuchen würde, der »Ginhütte« Steine in den Weg zu legen. Warum sollte auch irgendjemand einem Ort schaden wollen, der für sie und viele andere ein Quell der Freude war? Und dieser Akt der Willkür erschien ihr als klares Signal dafür, dass jemand der Bar nicht wohlgesonnen war. Zwar war sie nicht scharf darauf, rechtliche Schritte einzuleiten, aber doch erschüttert genug, um dies in Betracht zu ziehen.

»Sie haben ja nichts wirklich Schlimmes angestellt. Das Schild selbst ist nicht beschädigt, und wenn nicht irgendwer das Ganze fotografiert hat, wird die Aktion keine weiteren Folgen haben. Vielleicht ist es eine Art Yarn-Bombing. Wir müssen aufpassen, ob andernorts auch solche ›Papp-Graffiti‹ auftauchen«, erklärte Tony.

»Was ist Yarn-Bombing?«, wollte Randy wissen. Auch die meisten anderen Anwesenden wirkten perplex.

Tony erklärte, dass Briefkästen oder Ähnliches manchmal mit dekorativen gestrickten Extras verziert werden, doch die Stille im Raum zeigte, dass keiner wirklich begriff, worum es ging.

»Ich verstehe das trotzdem nicht. Wozu all die Mühe, wenn doch klar ist, dass es zerstört wird, sobald jemand es entdeckt? Und gestrickte Mützen für Briefkästen sind ja harmlos, die sollen nur eine Art Gemeinschaftsgeist ausdrücken. Das hier war gehässig, wer auch immer es getan hat.« Veronica verschränkte die Arme vor der Brust und machte so ihre Missbilligung deutlich.

»Ich glaube nicht, dass wir die Polizei einschalten müssen«, erklärte Tony mit Nachdruck. »Es ist ein Streich, hinter dem wahrscheinlich ein paar Jugendliche aus dem Ort stecken, die nichts Besseres zu tun haben und das wahnsinnig witzig finden. Wir werden es ignorieren und hoffen, dass es dabei bleibt.«

»Ich bin mir nicht sicher, dass es ein Streich war. Der Täter hatte Hintergedanken«, widersprach Olivia, die nicht hinnehmen wollte, dass die Sache als Albernheit abgetan wurde.

»Stimmt, es sieht nach gründlicher Vorbereitung aus, aber wir werden es nicht melden und hoffen, dass es dabei bleibt. Ist das für dich erst mal in Ordnung?«

Olivia nickte. Sie wollte keine Zeit mit der Polizei verschwenden, obgleich ihre Intuition ihr sagte, dass die Angelegenheit damit noch nicht erledigt war.

Damit sie sich anderen Themen zuwenden konnten, nahm Tony schließlich den Hintern vom Tisch und verstaute ihn in einer Ecke.

Olivia konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als ein paar von den braunen Papierstreifen sich ablösten und eine Spur auf dem Boden bildeten. Sie war nicht die Einzige im Raum, die es bemerkte, denn auch die anderen begannen zu kichern, und Tony musste sie zur Ordnung rufen.

»Nachdem wir uns bisher nur mit dem Hintern befasst haben, möchte ich jetzt zu den Themen kommen, die wir eigentlich besprechen wollten. Sind damit alle einverstanden?«

»Prima«, meinte Randy.

»Ich möchte sicher gehen, dass die ›Ginhütte‹ auch in der Wintersaison gut weiterläuft«, berichtete Tony, nachdem das Gekicher sich gelegt hatte. »Die Lokalzeitung hat einen Weihnachtscocktail-Wettbewerb ausgeschrieben, und ich bin überzeugt, wir können ihn gewinnen, wenn wir uns ein paar Rezepte auf Gin-Basis einfallen lassen. Ich dachte, wir könnten die Gäste mit einbeziehen und sie in der Vorweihnachtszeit über die besten Cocktails auf der Karte abstimmen lassen.«

Die »Ginhütte« war berühmt für die ganz unterschiedlichen Ginsorten. Jede Woche gab es zwei neue Gin-Spezialitäten sowie einen Cocktail mit einem dieser Gins zu kosten. Bereits jetzt war die Bar für ihre Spezial-Cocktails bekannt ‒ und wenn sie den Preis bekämen, wäre ihr Ruf offiziell beglaubigt. Außerdem würde es Spaß machen, auf diese Weise weiterhin Gäste anzulocken. Nachdem der »Ginhütten«-Club am Anfang so zu kämpfen gehabt hatte, wollten sie nun sicher gehen, dass er überlebte.

»Sollen diese Weihnachts-Cocktails auch weihnachtlich schmecken?« Olivia arbeitete im Geiste bereits alle möglichen Ideen aus. Weihnachtliche Gerichte zählten definitiv zu den drei Dingen, die sie an Weihnachten besonders schätzte. Da gab es so viele Geschmacksrichtungen, mit denen sie spielen konnten … wobei sie bezweifelte, dass gefüllter Truthahn als Cocktail funktionierte.

»Ja, sowohl der Name als auch der Geschmack sollen weihnachtlich sein. Beteiligen können sich alle Pubs und Bars in der Thanet-Region. Ich vermute ein reges Interesse. Der Preis wird nicht leicht zu holen sein, aber vor allem kann er uns helfen, weiterhin Gäste anzuziehen. Ich glaube, wenn unsere Gäste sich an der Entscheidung, was wir einreichen, beteiligt fühlen, werden sie gern alle Rezepte probieren.«

Das wäre vermutlich sowieso der Fall, dachte Olivia. Die Bar war immer noch sehr beliebt, obwohl der Sommer längst zu Ende war. Aber es schadete ja nichts, frischen Wind hineinzubringen.

Tony wechselte jetzt zu den übrigen Themen, die er diskutieren wollte: Ob die Personalbesetzung in Ordnung war und welche Getränke in der kommenden Woche auf der Karte stehen sollten.

Olivia war nicht bei der Sache. Sie überlegte, ob pikante Geschmäcker als Bestandteil von Cocktails funktionieren konnten. Höchstwahrscheinlich schmeckte ein Cocktail, der von Truthahn mit Cranberrys inspiriert war, abscheulich, aber sicher sein konnte sie nur, wenn sie ein wenig experimentierte. Der perfekte Ort dafür war die ursprüngliche Ginhütte ‒ ihre geliebte Strandhütte. Es würde Spaß machen, mit einigen Ideen zu spielen und das Ergebnis selbst zu probieren, bevor man die Getränke anbot.

»Steht für heute noch etwas anderes an?«, fragte Tony.

Die Versammlung war ja wohl noch nicht zu Ende? Olivia hatte, ganz in ihrer eigenen Welt, Überlegungen angestellt, wie man Weihnachtspudding und -gebäck in Cocktail-Geschmäcker verwandeln konnte. »Ja, ja, durchaus.« Olivia schoss hoch wie ein Korken aus der Flasche, als sie merkte, dass sie fast ihre Bushaltestelle verpasst hatte.

Natürlich nicht wirklich ihre Bushaltestelle, aber die Gelegenheit, über eine ihrer Ansicht nach verpasste Gelegenheit zu sprechen. Sie wollte Tony und die anderen mit ins Boot holen.

»Die Bühne gehört dir, Olivia. Worüber willst du reden?« Tony setzte sich. Jetzt ruhten aller Augen auf Olivia. Sie hatte sich nicht so ungraziös ins Rampenlicht katapultieren lassen wollen, aber um gesehen zu werden, war Aufstehen einfach das Beste.

»Hmmmpf.« Olivia räusperte sich. Wo sollte sie bloß anfangen? »Ich habe nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir das Hotel mehr nutzen sollten. Natürlich weiß ich, dass der Vorbesitzer damit Geld verloren hat, aber ich glaube wirklich, dass wir im kommenden Jahr noch einiges mehr bieten könnten. Wochenenden zum Beispiel, gin-spirierende Wochenenden, an denen man die Feinheiten der Cocktail-Zubereitung lernt, solche Sachen. Ich weiß, das macht viel Arbeit, aber vielleicht sollten wir es wenigstens ausprobieren.«

»Ich habe auch schon in diese Richtung gedacht«, meinte Esme. »Die ›Ginhütte‹ ist Tonys Baby, aber sie läuft in letzter Zeit gut, ohne dass ich mich groß engagieren müsste. Und da die Jungs ihre Mama nicht mehr so nötig brauchen, würde ich sehr gern den Hotelteil auf Vordermann bringen. Es ständig geöffnet zu halten wäre ein enormer Aufwand, aber die Idee, einzelne Wochenenden anzubieten, gefällt mir. Was meinst du dazu, Tony?« Esme wandte sich ihrem Mann zu.

»Wenn ihr beide, du und Olivia, es gern zu eurem Projekt machen wollt, ist das für mich in Ordnung. Vielleicht möchte noch jemand anderes mithelfen?«

Begeistertes Nicken kam aus allen Ecken des Raumes, insbesondere von Randy und Veronica. Die Vorstellung, dass sich das Oakley-West-Trio auf diese Weise mit einem eigenen Projekt beschäftigen könnte, machte Freude. Das Leben in der Seniorenresidenz war nicht mehr so einengend wie zuvor, aber vom angebotenen Programm war Olivia immer noch wenig begeistert. Besser, sie sorgten selbst für ihre Unterhaltung.

»Klingt also nach einem Plan«, sagte Tony. »Die einzige Frage ist, was für eine Art Wochenende ihr als Generalprobe anbieten wollt.«

Olivia hatte schnell entschieden, was ihr vorschwebte. Zwar war sie von der Idee eines Junggesellenabschieds sehr angetan, aber die Aussichten, dass sich so kurz vor Jahresende eine Gruppe in der richtigen Größe anmeldete, waren gering. »Wie wär's mit einem Weihnachtsglitzerwochenende? Wir könnten es mit der Suche nach dem perfekten Cocktail kombinieren.«

»Das hört sich großartig an«, meinte Esme, und auch etliche andere Anwesende nickten zustimmend. »Es wird ein weihnachtliches, gin-spiriertes Wochenende.«

»Ist aber nicht gerade ein griffiges Motto, oder?«, warf Randy ein. »Da muss uns noch was Besseres einfallen.« Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, während er überlegte.

»Hat jemand eine Idee?«, fragte Esme.

»Wie wär's mit einem Jingle-Bells-Retreat? Nein, nicht Jingle, ich meine Gingle«, schlug Veronica vor.

»Gingle«, wiederholte Tony. Jetzt war es an ihm, laut heraus zu lachen. »GIN-gle, kapiert? Das ist fabelhaft!«

Auch Olivia musste über das alberne Wortspiel schmunzeln und war entzückt angesichts der Aussicht, ihre liebste Zeit im Jahr mit ihrem Lieblingsgetränk in Verbindung zu bringen. Sie hoffte bloß, dass nicht noch mehr Ärsche auftauchten. Denn so lustig der Hintern an dem Schild ausgesehen hatte, sie empfand ihn eher als Drohung denn als Blödelei. Und das gefiel ihr ganz und gar nicht.

3

Die Wochen vergingen für Olivias Geschmack viel zu schnell. In ihrem Leben war gerade so viel los, dass sie am liebsten das Tempo gedrosselt hätte. Allerdings bot sich dazu kaum die Möglichkeit. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, Rezepte für den Wettbewerb auszuprobieren, obwohl die Weihnachtscocktails schon bald auf der Wochenkarte angekündigt werden sollten.

Das war ganz schön aufregend, denn an diesem Sonntag würde nicht nur Olivia eine Thermosflasche dabei haben, sondern auch Tony! Er wollte den ersten Weihnachtscocktail für die »Ginhütte« präsentieren. Olivia fand es super, nicht als Einzige während der Woche Hausaufgaben erledigen zu müssen.

»Also, was hast du da drin?«, fragte sie. Sie war richtig gespannt, was Tony in seiner Flasche hatte. Auch andere Mitglieder der »Ginhütten«-Crew arbeiteten an Rezepten, aber anstatt sich über ihre Ideen auszutauschen, hatten sie sehr geheimnisvoll getan. Man hätte denken können, sie stünden miteinander im Wettbewerb ‒ was Olivia gar nicht so abwegig fand.

Olivia war in Sorge, dass alle so ziemlich die gleichen Rezepte präsentieren würden, wenn sie nicht miteinander sprachen. Ihr eigener Gedankenblitz war hoffentlich ein wenig ausgefallener, aber um zu wissen, ob sie nicht völlig danebenlag, würde sie noch ein paar Experimente durchführen müssen.

»Das Rezept stammt von Paul. Erzählt ihm bloß nicht, dass ich euch habe verkosten lassen, sonst glaubt er, es würde gemauschelt.«

»Ist dir klar, dass es zwischen uns keine Konkurrenz gibt?« Diesen Punkt musste Olivia einfach klarstellen.

»Offiziell nicht, aber die Gäste werden einen Cocktail zum Sieger küren. Also wird derjenige, dessen Rezept schließlich die ›Ginhütte‹ repräsentiert, Grund zu diebischer Freude haben«, meinte Tony.

»Und welches Rezept hast du mitgebracht, Richard?« Olivia war sicher, dass ihr Sohn seine Idee nicht unter Verschluss halten würde.

»Das verrate ich nicht. Du willst wohl immer die Nase vorn haben, Mum.«

Das konnte Olivia nun wirklich nicht von sich behaupten. Wenn überhaupt, so lag sie zurück, denn die anderen hatten ihre Cocktail-Kreationen offenbar alle schon bei der Hand.

»Der hier nennt sich Schokoladen-Orangen-Cocktail«, erklärte Tony. »Paul hat gesagt, diese Geschmäcker erinnern ihn an Weihnachten.«

Der Drink schmeckte wie klassische Orangenschokolade, und Olivia fand ihn ziemlich gut. Ärgerlich war, dass Tony die Zutaten nicht verraten wollte und sich auch nicht dazu äußerte, wie der Cocktail serviert werden sollte. Sie war sicher, dass er Baileys Chocolate enthielt, während sie den Gin nicht identifizieren konnte. Auch die übrigen Ingredienzen schmeckte sie nicht heraus. Dazu hätte sie weitere Kostproben gebraucht, doch Tony rückte nicht mehr heraus, und außerdem war es jetzt Zeit für ihr wöchentliches Picknick.

»Orangenblüten-Gin?«, riet Olivia noch einmal.

»Meine Lippen sind versiegelt.«

Es war frustrierend, aber wenigstens hatte ihre eigene Idee keinerlei Ähnlichkeit mit dieser Variante.

»Wenn ihr beiden nichts dagegen habt, gehe ich schon mal voraus. Es war so eine arbeitsreiche Woche, dass Esme und ich noch kaum ein Wort miteinander wechseln konnten.«

»Geh nur. Ich komme mit Mum nach«, meinte Richard.

Es klang, als sei Olivia eine tattrige alte Dame, die nicht allein zurechtkam. Allerdings war sie Lichtjahre langsamer als diese Jungspunde. Als Tony loslief, war das wie eine Bestätigung, dass die ganze Welt jünger und fitter war als sie selbst. Manchmal war Altwerden wirklich großer Mist.

»Was soll in deinen Cocktail rein, Mum?«

»Das werde ich gerade dir erzählen.« Olivia musste grinsen. Dieser Cocktail-Wettbewerb versprach lustig zu werden.

Anstatt sich auf ihrem Weg die Promenade entlang anzuschweigen, weil sie beide nichts verraten wollten, machten sie sich einen Spaß daraus, Mutmaßungen über die Zutaten des Cocktails anzustellen, den sie gerade probiert hatten.

Das war eines der besten Ergebnisse, zu denen die Eröffnung der »Ginhütte« geführt hatte: dass Olivias Beziehung zu ihrem Sohn wieder ins Lot gekommen war. Viel zu viele Jahre war sie alles andere als entspannt gewesen, und es war schön, sich jetzt wieder in Gesellschaft des anderen wohlzufühlen.

Früher war Richard für Olivias Geschmack immer zu beschäftigt gewesen. Seine Anwaltskanzlei in London verschlang den Großteil seiner Zeit, und seine Mutter war für ihn zu einer Belastung geworden. Doch durch die Ereignisse rund um die »Ginhütte« hatten sie beide gemerkt, wie wichtig Familie ist, auch wenn die Schatten der Vergangenheit über der Gegenwart liegen. Den Rest der Familie konnte ihnen nichts und niemand zurückgeben, aber sie hatten einander ‒ Mutter und Sohn ‒, und es kam darauf an, sich daran festzuhalten.

Inzwischen arbeitete Richard nicht mehr wie ein Tier und nahm sich die Wochenenden frei wie jeder normale Mensch. Freitags kam er her und half Tony in der »Ginhütte«, wo an den Freitag- und Samstagabenden reger Betrieb herrschte. Wenn nicht allzu viel zu tun war, verbrachte er auch Zeit mit Olivia, und sonntags wurden die neuen Gins probiert. Anschließend trafen sich alle Strandhüttenpächter zum feiertäglichen Picknick.

Die Strandhüttennachbarn kochten abwechselnd ein Mittagessen, und auch alle anderen trugen etwas zum leiblichen Wohl bei. Heute sollte es Zupfbraten geben. Esme hatte das Rezept perfektioniert, und es war eine von Olivias Lieblingsspeisen.

Die Tische aus den Hütten wurden zusammengestellt, und nach und nach trudelten alle ein, bewaffnet mit Pasta, Salaten und anderen leckeren Beilagen. Olivia und Richard brauchten diese Woche nur die Brötchen mitzubringen. Überhaupt teilte man ihnen meist die einfacher zu beschaffenden Speisen zu, denn die beiden hatten ja vor Ort keine Küche zur Verfügung.

Olivia füllte ihren Teller gierig mit allem, was angeboten wurde. Diese Sonntagnachmittage waren etwas ganz Besonderes. Seit der Eröffnung der »Ginhütte« sah sie ihre Nachbarn nicht mehr zufällig beim zwanglosen Kommen und Gehen. Meist traf man sich eher in der Bar als hier am Strand. Umso schöner, dass sie an dieser Tradition festhielten. Sie stärkte ihren Gemeinschaftsgeist. Außer Richard und Olivia hatten sich Skylar und ihr siebenjähriger Sohn Lucas aus der Nachbarhütte eingefunden. Richard beschäftigte sich gern mit Lucas, und sie bauten oft extravagante Strandburgen. Dann war da Paul, der Fischer, der sich bei Gesprächen meist zurückhielt. Machte er allerdings mal den Mund auf, waren seine Worte immer hörenswert. Tony und Esme aalten sich auf ihren Liegestühlen, obwohl gar nicht genug Sonne da war, um sich darin zu aalen. Ihre drei Söhne, TJ und die Zwillinge, spielten wie so oft Kricket, während Mark und Lily, das nette Paar aus der letzten Strandhütte in ihrer Reihe, ganz mit sich beschäftigt war und tiefe Blicke tauschte. Neben ihnen saßen Randy und Veronica, die zwar keine eigene Strandhütte ihr Eigentum nannten, aber immer mit von der Partie waren. Was die Blicke betraf, machten sie Mark und Lily Konkurrenz. Randy und Veronica bildeten mit Olivia zusammen das Oakley-West-Trio, das nach der Eröffnung der »Ginhütte« durch die Medien bekannt geworden war. Sie waren in den Schlagzeilen gewesen, weil sie bei jeder Gelegenheit aus ihrem Heim ausgebüxt waren, um den geheimen Club zu bilden, von dem bald jeder wusste. Seit die beiden ein Paar waren, fühlte sich Olivia manchmal wie der Anstandswauwau. Aber es gelang ihnen recht gut, einen Mittelweg zu finden: Mal verbrachten sie ihre Zeit als Freunde zusammen, dann wieder blieb das Paar für sich.

Die Truppe bestand aus ganz unterschiedlichen Menschen, und doch überdauerten diese Freundschaften schon viele Jahre. Und auch regelrechte Stürme, wie sich bereits gezeigt hatte.

Vielleicht waren die faulen Sonntagnachmittage deshalb so vergnüglich. Alle kamen ohne Erwartungen, ohne Programm. Hier am Strand fühlten sie sich wohl miteinander, und die ganze Welt schien hell und ruhig. Schade, dass sie es nicht öfter schafften, aber die Bar lief jetzt sehr gut. Die Familie Salter lebte davon, und alle wollten sie unterstützen. Immerhin war in der Westbrook Bay vielleicht nie zuvor etwas derart Spannendes passiert, und noch war die Anziehungskraft der Bar nicht geschwunden. Keiner von ihnen hatte das Interesse daran verloren. Und so würde es hoffentlich bleiben.

Olivias Augen waren einmal wieder größer gewesen als ihr Magen, und sie hatte Mühe, das Essen, das sie sich auf den Teller geladen hatte, zu bewältigen. Ein weiteres Stück Baguette mit Schweinefleischfüllung im Mund, lehnte sie sich entspannt zurück und nahm die Szene in sich auf. Schöner hätte es kaum sein können.

Alle kauten fröhlich, zu beschäftigt mit dem Essen, um sich zu unterhalten. Nur Tony aß nichts ‒ er war müde von den langen Arbeitsstunden in der »Ginhütte«, das war ihm anzusehen. Er lag, den Sonnenhut über dem Gesicht, in seinem Liegestuhl.

Schade, denn Olivia plauderte sonntags gern mit Tony. Das Geschäft nahm ihn zeitlich derart in Anspruch, dass sie kaum noch dazu kamen, sich so zu unterhalten wie während seiner kurzen Arbeitslosigkeit.

Richard war zu sehr mit Essen beschäftigt, um zu reden, und behielt nebenbei Lucas im Auge. Das war wichtiger als ein Gespräch mit seiner lieben alten Mutter.

Als sie schließlich satt war und keinen Bissen mehr herunterbrachte, lehnte sich Olivia in ihrem Liegestuhl zurück. Mit ein wenig Glück würde sie es später schaffen, ihren Teller vollends leer zu essen. Der Zupfbraten war zu lecker, um etwas übrig zu lassen.

Es war tröstlich, dem Meer zu lauschen. Es konnte die Gedanken, die manchmal den Geist überschwemmten, ertränken. Olivias Geist war in letzter Zeit ruhiger, jetzt wo ihr Sohn wieder Teil ihres Lebens war. Die Schatten waren immer noch da, aber die Gegenwart stand im Vordergrund und sie selbst war zufriedener denn je. Heute beunruhigte sie der blöde Hintern aus Pappmaché. Wenn es etwas im Leben gab, das sie verabscheute, so waren es Mobbing und Boshaftigkeit. Auch wenn das Papp-Graffiti harmlos scheinen mochte, so stank es doch nach beidem. Es war wahrscheinlich die passiv-aggressivste Art der Beleidigung, die ihr je untergekommen war. Offenbar steckte ein Plan dahinter, und Olivia war sicher, dass es dabei nicht bleiben würde. Wer auch immer das Ding angebracht hatte, würde erneut Schwierigkeiten machen. Die Frage war bloß: Warum? Doch da bisher weiter nichts vorgefallen war, verstand sie selbst nicht recht, wieso es sie immer noch beschäftigte. Jedenfalls machten sich alle anderen offenbar weniger Gedanken darüber als sie.

Ein neues Geräusch drang an ihr Ohr, das die Wellen und das Kricketspiel der Jungs überlagerte. Ein einzigartiges Geräusch, das mit nichts zu vergleichen war ‒ irgendetwas zwischen einem Schnarchen und dem Schmatzen, das zu hören ist, wenn das letzte Wasser durch den Badewannenausguss fließt.

Es war das Todesrasseln.

Olivia setzte sich augenblicklich auf. Warum bloß hörte sie dieses Geräusch? Vielleicht war es ein Echo. Eine Erinnerung. Bis zum Ruhestand hatte sie jahrelang im Hospiz gearbeitet. Die Menschen, die sie in den Tod begleitet hatte, konnte sie gar nicht mehr zählen. Die letzte Dame, deren Sterben sie miterlebt hatte, war ihr noch gut in Erinnerung. Die Familie lebte eine Stunde entfernt und hatte sich dafür entschieden, nicht über Nacht zu bleiben. Natürlich war es dann nachts so weit, und die Familie konnte nicht mehr rechtzeitig zur Stelle sein. Da es Olivias letzte Schicht war, blieb sie freiwillig bei der Dame, damit sie es in ihren letzten Stunden angenehm hatte. Es waren dann eher Minuten gewesen. Olivia hatte die Hand der Dame gehalten, solange sie noch warm war, obwohl schon kein Leben mehr in ihr war. Ihr Todesrasseln war kurz und stimmlos gewesen, jenes Ringen um Atem, wenn das Herz schon zu schwach ist, um die Lungen in ihrem Kampf zu unterstützen.

Dieses Geräusch hatte hier nichts zu suchen. Olivia spähte hinüber zu Randy und Veronica. Vielleicht gaben alte Käuze beim Knutschen ja ähnliche Töne von sich? Zum Glück hatten sie trotz ihrer unübersehbaren Zuneigung füreinander nicht angefangen, wie Teenager bei jeder sich bietenden Gelegenheit Zungenküsse auszutauschen. Aber das konnte ja noch kommen.

Nein, sie waren es nicht. Stattdessen ließen sie sich wie alle anderen das Festmahl schmecken.

Sie musste es sich wohl einbilden. Hier waren alle möglichen seltsamen Geräusche zu hören. Sogar die Möwen konnten auf eine Weise kreischen, die einen vermuten ließ, es sei ein Vogelmassenmord im Gange. Vielleicht stritten sie sich um ein Stück Pommes.

Da war es wieder.

Das Rasseln. So deutlich. So klar. Ein Ton, der in der Seele weh tat. Das kehlige Luftholen, das es kaum mehr schafft, den Menschen am Leben zu halten.

Ohne groß nachzudenken, bewegte sich Olivia so schnell wie schon lange nicht mehr. Plötzlich wusste sie genau, wo das Geräusch herkam, und es war hier ganz und gar fehl am Platz.

Sie war alt. Ein solches Geräusch sollte eigentlich sie selbst von sich geben. Oder Randy. Oder Veronica. Jedenfalls nicht Tony. Sie waren dem Tod so viel näher als er mit seinen nicht einmal fünfzig Jahren. Er hatte halbwüchsige Kinder. Er hatte mit der »Ginhütte« beruflich umgesattelt. Die Zeit für ihn war noch nicht gekommen.

Mit zwei flinken Bewegungen schlug sie den Hut von seinem Gesicht und tat dann etwas, das sie nie zuvor getan hatte. Bisher hatte sie Menschen immer nur die Hand gehalten, damit sie auf ihrem letzten Weg nicht allein waren. Diesmal würde sie das Leben nicht kampflos zu Ende gehen lassen.

Obwohl sie schon seit zwanzig Jahren nicht mehr für den National Health Service arbeitete und niemals an einem echten Menschen die Herzdruckmassage ausgeführt hatte, bearbeitete sie nun Tonys Brust mit den Händen, als hinge ein Leben davon ab. Denn das war tatsächlich der Fall.

Und jedes Mal, wenn sie zudrückte, setzte Olivia alle Willenskraft daran, den Tod abzuwenden. Wenn schon jemand auf spektakuläre Weise den Geist aufgeben sollte, dann sie selbst. Nicht Tony. Für Tony war es viel zu früh.

4

Als sie zwei Tage später das Krankenhaus betrat, zitterten Olivia unwillkürlich die immer noch schmerzenden Arme. Alle beim Picknick Anwesenden hatten tatsächlich geglaubt, Tony würde schnarchen. Hätte Olivia nicht so beherzt eingegriffen, wäre Tonys Todesrasseln unter Umständen unbemerkt verstummt.