Inhaltsverzeichnis
Cover
Titelseite
KAMALATTA lesen...
I GRENZGÄNGEREI
II GRUBEGRABEN
III DIE MÜHE UMS LEBEN
IV FREUDE
Mühe ums Lesen – Nachwort von Oliver Tolmein
I.
II.
III.
IV.
Impressum und Copyright
Christian Geissler
KAMALATTA
romantisches fragment
signet
in den jahren der arbeit an diesem buch haben mir freunde geholfen, auch fremde, haben geld gegeben, essen, wohnung, zutrauen, ermutigung. sie haben zu mir gesagt, schreib weiter. keiner von ihnen hat gewusst, was das wird. deshalb nenne ich jetzt hier nicht die namen. ich will niemandem öffentlich eine geschichte anhängen, die er falsch findet oder gefährlich. ich habe keinen namen vergessen. ich sehe jedes gesicht. es sind auch gesichter gefangener frauen und männer aus guerilla und widerstand. ohne sie alle, drinnen und draußen, hätte ich dieses buch nicht schreiben können.
cg, 8–5–88, aaltuikerei.
Glossar
Der Roman »kamalatta« atmet das Lebensgefühl und die Erfahrungswelt seines linken, widerständigen Personals in den 1970er Jahren. Er ist geprägt von den politischen Debatten innerhalb einer weit gefassten Linken, zu der freischwebende Mitglieder von Arbeitsloseninitiativen, AnarchistInnen, DKP-GenossInnen und SympathisantInnen bzw. Mitglieder bewaffneter Gruppen zählen. So enthält er zahlreiche explizite oder auch nur durch bestimmte Chiffren oder in der Szene übliche Kürzel angedeutete Anspielungen auf Personen, Institutionen und Ereignisse sowie Zitate aus politischen Erklärungen dieser Jahre.
Zugleich enthält er unter der Oberfläche der erzählten Handlung ein dichtes Geflecht von Anspielungen und Verweisen auf für Christian Geissler wichtige Werke der Literatur, der bildenden Kunst und der Musik – mal unter Nennung von Namen oder Titeln, mal versteckt wie Kassiber aus einer anderen Welt.
Schließlich steht »kamalatta« in einer engen Beziehung zu den vorangegangenen Romanen »Das Brot mit der Feile« und »Wird Zeit, dass wir leben«: Das Figurenensemble überschneidet sich, Ereignisse und Situationen werden aufgegriffen, entfalten neue Wirkungen. Ingo Meyer hat im Nachwort zu »Das Brot mit der Feile« die Spuren einzelner Figuren und des ganzen Ensembles durch die auch »Trilogie des Widerstands« genannten Romane verfolgt. Die Kenntnis der »Vorgänger« erleichtert das Verständnis »kamalattas«, ist aber keine Voraussetzung.
Der Versuch, all diese Bezüge zur Realität, zur Kunst und innerhalb des Geisslerschen Werks in einem Glossar zu »kamalatta« aufzublättern, würde ausufern und am Ende doch scheitern. So haben wir uns bemüht, ein »schlankes« Glossar zu erstellen: Namen von Personen der Zeitgeschichte, von Orten oder Bezeichnungen von Ereignissen haben wir nur in Ausnahmefällen aufgenommen, da sie sich meist direkt erschließen und im Internet finden lassen. Dasselbe gilt für literarische Anspielungen und Zitate: hier heben wir einzelne Zusammenhänge hervor, die wir über »kamalatta« hinaus bei Geissler für wichtig halten. Bezüge zu Figuren und Ereignissen aus der »Trilogie des Widerstands« deuten wir an einzelnen Stellen an, auch, um damit Interesse für eine Lektüre der anderen Romane zu wecken.
in berlin haben sie gestern einen rausgeschossen Am 14. Mai 1970 haben Ulrike Meinhof und drei weitere Mitstreiterinnen Andreas Baader während des bewachten Besuchs einer Bibliothek aus der Haft befreit, ein Angestellter wurde dabei angeschossen.
ein psychiatrisch entwickelter mann aus princeton  Am Ende des Romans »Das Brot mit der Feile« berichtet der Fernsehjournalist Proff über die Olympischen Spiele in Mexiko 1968. Bei Protestaktionen der Bevölkerung schlägt er einen Polizisten mit der Kamera nieder, wird verhaftet, verhört und gezwungen, der Folter mexikanischer Widerständler beizuwohnen. In der Folge verstummt Proff. Federführend bei den Verhören Proffs und bei der Folter ist der Psychiater und CIA-Mann aus Princeton, der nun bei der Organisation und Ausbildung der »Special Forces« (»green berets«) in der ehemaligen SS-Junkerschule in Bad Tölz eine zentrale Rolle spielt. Siehe auch: »Das Brot mit der Feile«, S. 418–423.
jarama Im Spanischen Krieg tobte im Februar 1937 eine dreiwöchige Schlacht am Jarama. Ernst Busch schrieb dazu sein Lied »Am Rio Jarama«.
lamarque Roger Lamarque, Figur aus dem Roman »Das Brot mit der Feile«, französischer Genosse, der in Kämpfen gegen die Militärjunta in Griechenland getötet wurde und nach dem Nina und Jan Ahlers ihren Sohn – meist einfach »rocker« – genannt haben.
aka Allgemeines Krankenhaus Altona.
ponto Jürgen Ponto, Sprecher des Vorstands der Dresdner Bank, wurde am 30. Juli 1977 von Mitgliedern der RAF erschossen. Die Tat stand in einer Reihe von Morden an Repräsentanten der bundesrepublikanischen Gesellschaft im Jahr 1977, an Generalbundesanwalt Siegfried Buback (7. April) und am Vorsitzenden des Bundesverbands der Deutschen Industrie Hanns-Martin Schleyer (18. Oktober).
FD7 Fachdirektion 7 – Staatsschutz – der Hamburgischen Landespolizei.
arganda – alabanda Arganda del Rey: Ort der Schlacht am Jarama. Alabanda: Freund Hyperions in Hölderlins Roman »Hyperion oder Der Eremit in Griechenland«.
marliring Justizvollzugsanstalt im Lübecker Stadtteil Marli, Marliring 41.
schwarzen hamburger Figur aus »Wird Zeit, dass wir leben«
wer redet, der ist uns nicht tot Abgewandelte Zeile aus Gottfried Benns Gedicht »Kommt«, auf das Geissler immer wieder anspielt: »Kommt, reden wir zusammen / wer redet, ist nicht tot …⁠«; bei Geissler auch: »wer redet, ist noch nicht tot«.
mengele Josef Mengele, SS-Arzt im KZ Auschwitz.
dietegen Hauptfigur der gleichnamigen Novelle Gottfried Kellers.
palmaille DKP-Büro Hamburg-Altona, Palmaille 24.
erste frau erschossen Am 15. Juli 1971 wurde bei einer Großfahndung nach Mitgliedern der RAF Petra Schelm in der Stresemannstraße in Hamburg-Altona erschossen.
aneken einhundertvier Eine an Ulrike Meinhof angelehnte Figur aus »Das Brot mit der Feile«, die über Widerstandskämpferinnen gegen die Nazis arbeitet. In »Das Brot mit der Feile« wird erzählt, wie die Mutter Ahlers’ am Bahnhof Bad Oldesloe von der SS erschossen wurde (S. 79–85).
pest von wyhl Das in Whyl am Kaiserstuhl geplante Atomkraftwerk. Es war das erste in der Bundesrepublik, dessen Fertigstellung durch massive Protestaktionen aus der Bevölkerung verhindert wurde.
langley Sitz des CIA Hauptquartiers, oft als Synonym für den Nachrichtendienst verwandt.
ilona Figur aus »Das Brot mit der Feile«, 1958 an Krebs gestorbene Mutter von Nina Ahlers und ihrem Bruder Larry, Aktivistin der Ostermarschbewegung.
ei des kolumbus Anspielung auf »Das Brot mit der Feile«: auf dem Boden eingenommene, in sich gekrümmte Haltung, die Tapp, Ahlers und andere als Disziplinierungsmaßnahme bei der Bundeswehr kennenlernen mussten (u. a. S. 86 f.).
im inselgras damals bis jetzt Anspielung auf »Das Brot mit der Feile«: Nina und Ahlers waren frisch verliebt auf »ihre Insel« gefahren und dort mit dem »Baron« aneinander geraten. Ahlers überrumpelt den Baron, nimmt seine Waffe an sich und droht (S. 165–194).
gelöchert und abgelegt und vergessen vermutlich eine Anspielung auf die Erschießung von Thomas Weisbecker durch die Polizei in Augsburg am 2. März 1972.
bantumak Figur aus »Das Brot mit der Feile«: Armenarzt, Freund von Ahlers, der später Arzt in der JVA wurde.
boye Figur aus »Das Brot mit der Feile«: Die SDS-Studentin Astrid Steen hat in »kamalatta« den Namen der Schriftstellerin Karin Boye (»Kallocain. Roman aus dem 21. Jahrhundert«) als Deckname gewählt. Weitere von der bewaffneten Gruppe angenommene Decknamen beziehen sich auf Figuren des Widerstands aus »Wird Zeit, dass wir leben«.
robert beck Figur aus »Das Brot mit der Feile«: KPD-Funktionär und Gewerkschafter, der sich gegen die zentralistische Führung der Partei auflehnt.
bonnie & clyde Anspielung auf »Das Brot mit der Feile«: Am Ende des Romans gehen Ahlers, Larry und FreundInnen in Bahrenfeld ins Kino, sehen den Film und kommen verändert aus dem Kino heraus (S. 466–468).
dreiundsiebzig moabit Anspielung auf den Prozess gegen Inge Viet in Berlin und deren Ausbruch aus dem Gefängnis. Sie benutzte dazu eine ins Gefängnis eingeschmuggelte Feile. Ob dies, über den Topos hinaus, bei der Titelfindung für »Das Brot mit der Feile« eine Rolle gespielt hat?
sechslingspforte die Sechslingspforte ist eine Hamburger Hauptverkehrsstraße in Alsternähe. teddy Wohnhaus Ernst Thälmanns, seit 1969 Ernst-Thälmann-Gedenkstätte; raffey Raffey war der größte VW-Händler Hamburgs; 
damals der negt Auf dem Kongress »Am Beispiel Angela Davis« im Juni 1972 kritisierte der Soziologe Oskar Negt, es sei erpresserisch, wie die RAF die Solidarität der Linken einforderte, und forderte die Linke seinerseits auf, sich von der »Mechanik der Solidarität« zu befreien.
hadamar Landesheilanstalt Hadamar: zwischen 1941 und 1945 Tötungsanstalt im Rahmen sogenannten Aktion T4; kälte­rascher Dr. Siegfried Rascher führte im KZ Dachau Unterkühlungsversuche an Häftlingen durch; wittlich im Kreiskrankenhaus Wittlich wurden Zwangssterilisationen durchgeführt; la roche das Pharma-Unternehmen Hoffman-La Roche lieferte die Barbiturate, die zur Ermordung behinderter Menschen eingesetzt wurden.
schlosser Figur aus »Wird Zeit, dass wir leben«, KPD-Funktionär, der verhaftet und von Genossen aus der U-Haft befreit wird.
nun muss sich alles alles wenden Zeilen aus Ludwig Uhlands »Frühlingsglaube«.
nebensonnen »Die Nebensonne«, Lied aus »Die Winterreise« von Wilhelm Müller, vertont von Franz Schubert; lindenbaum »Der Lindenbaum«, dito; die schöner wird mit jedem Tag Zeilen aus Ludwig Uhlands Gedicht »Frühlingsglaube«, ebenfalls von Schubert vertont.
wir sind noch nicht tot Die folgende Passage ist ein dichtes Geflecht von literarischen Anspielungen, wie Geissler sie immer wieder in seine Texte einwebt: »wir sind noch nicht tot« spielt auf Gottfried Benns Gedicht »Kommt« (siehe oben zu S. 57) »schon nah den Klippen …« entstammt demselben Gedicht. Das »alte buch« kann sich auf Geisslers Roman »Das Brot mit der Feile« oder auf Erzählungen Platonows beziehen, aus denen die Zeilen »hab keine angst …⁠« stammen. Diese werden auch schon in »Das Brot mit der Feile« zitiert, wo Ahlers die Erzählungen im Knast liest (S. 126). Wenn Proff fortfährt »im zitat, einmal hörte er den posaunen­chor …⁠«, bezieht er sich auf das in »Das Brot …« direkt folgende Erlebnis von Ahlers im Knast. In »Das Brot« spielt der Chor allerdings »ein andres lied«: »Wohlauf in Gottes schöne Welt«. Diese Szene hat Geissler sich, wie andere auch, nicht ausgedacht: Sie ist seinem Dokumentarfilm »Ein Jahr Knast« (gemeinsam mit Hajo Dudda und Lothar Janssen, NDR 1971) entnommen.
asperg Festung Hohenasperg bei Asperg, Vollzugskrankenhaus der baden-würtembergischen Justiz
ein film war fertig Anspielung auf »Die ersten Soldaten – Erfahrungen aus dem Winter 1955/56«, Dokumentarfilm von Christian Geissler u.a., NDR 1980. 
karo und leo Figuren aus »Wird Zeit, dass wir leben«. Sie und andere Genossen befreien den KPD-Funktionär Schlosser aus der U-Haft.
damit sie soldaten werden hernach oder werfen Anspielung auf Geisslers Dokumentarfilme »Wir gehen ja doch zum Bund. Arbeiter unter 18« und »Wir heiraten ja doch. Arbeiterinnen unter 18«, beide gemeinsam mit Hajo Dudda und Lothar Janssen, NDR 1972.
moro Anspielung auf Aldo Moro, 1963–1968 und 1974–1976 Ministerpräsident Italiens, Mitglied der Democrazia Cristiana, 1978 von den Roten Brigaden entführt und ermordet.
heidelbergarbeit Geissler überblendet in den vorangegangenen Passagen eigene Kindheitserlebnisse mit der Abrichtung von Kindern zu Folterknechten in Nicaragua unter Diktator Anastasio Somoza. Er bezieht sich dabei auf Jean Zieglers »Gegen die Ordnung der Welt« (1985, S. 160), in dem Ziegler auch angibt, das zwei Heidelberger Psychiater das »Schulungsprogramm« für Somozas Schergen ausgearbeitet haben.
hamburger jute In »Wird Zeit, dass wir leben« wird von den Arbeitskämpfen in der »Billstedter Jute« erzählt, der »Norddeutschen Jute-Spinnerei und Weberei A. G«, in der vorwiegend Frauen arbeiteten. In dem Zusammenhang wird der Polizist Moritz, eigentlich ein Freund der Protagonisten, erschossen (vgl. vor allem S. 177–190).
doris maase, esther bejarano, sonja schwarz, marianne scheringer Die Aufzählung umfasst mehr oder weniger bekannte Überlebende des NS-Terrors. Hervorheben möchten wir Bruno Meyer, nach dessen Vorbild die Figur Leo Kantfisch im Roman »Das Brot mit der Feile« gestaltet ist, und Richard Scheringer. Mit Scheringer hat sich Geissler immer wieder beschäftigt. Für die Reihe »Zeugen der Zeit« des NDR drehte er 1980 einen Dokumentarfilm über ihn.
das große los, fucik »Das große Los. Unter Soldaten, Bauern und Rebellen«, Autobiografie Richard Scheringers; Julius Fucik: »Reportage unter dem Strang«.
das bild von sassetta aus siena »Der selige Rainier befreit die Armen aus einem Gefängnis in Florenz«, Gemälde von Stefano di Giovanni Sassetta de Siena, vollendet 1444, abgebildet auf dem Schutzumschlag der Erstausgabe »kamalattas« 1988. Siehe hier.
eppendorfer Universitätsklinikum Eppendorf (UKE).
ten years after Bild des Malers Volker Stelzmann.
ein engel leonore Anspielung auf Ludwig van Beethovens Oper »Fidelio«.
kampf für die lebensnotwendigen dinge von Geissler immer wieder aufgegriffenes Zitat aus einem der letzten Gedichte Pier Paolo Pasolinis (»La nuova giuventù«), nachgewiesen in den »Freibeuterschriften«, Wagenbach Quarthefte Nr. 96, 1975, S. 132 (Nachwort von Agathe Haag).
nur hurtig fort, sei wach und munter Zeile aus Ludwig van Beethovens Oper »Fidelio«.
und denke dem traume nach Zeilen aus Müller Schubert: »Die Winterreise«.
los, opa, mach dich tot, hooh haah Verweis auf »Das Brot mit der Feile«: Nina und Ahlers auf »ihrer Insel« drohen dem Baron, s.o. zu S. 157.
dello Großer norddeutscher Opel-Händler
eins von maria iffland, eins von gisela lichterfelde Maria Lino, portugiesische Malerin, hat lange in Hamburg gelebt und hatte ihr Atelier in der Ifflandstraße; Gisela Breitling, Malerin, geboren in Berlin-Lichterfelde.
karo sich schmüser zurechtgelauert Anspielung auf »Wird Zeit, dass wir leben«.

 1988