VVorwort

Dieses Buch widmet sich dem Thema „Umgang“ auf zweierlei Weise. Erstens richten wir unseren Fokus auf die rechtlichen Rahmenbedingungen, die für getrenntlebende Eltern wesentlich sind, damit sie miteinander einen guten Umgang ihres Kindes organisieren können. Und zweitens nehmen wir in den Blick, was es braucht, um mit sich selbst, Expartnern, dritten Beteiligten und nicht zuletzt den Kindern so umzugehen, dass die Zeit nach einer Trennung gut gemeistert werden kann, mit oder ohne Hilfe.

Auch wenn in den letzten Jahren andere Konstellationen „aufholen“: In der Mehrzahl der Fälle leben die Kinder nach einer Trennung bei der Mutter und bekommen Umgang zum Vater. Diese Tatsache spiegelt die Mehrzahl unserer Fallbeispiele wider. Schauen Sie deshalb an diesen Stellen im Buch auf Ihre persönliche Situation und passen Sie die Beispiele entsprechend für Sie an.

Wir haben auch darauf verzichtet, den Text zu „gendern“ und bleiben in der Regel bei der männlichen Form. Dies ist nicht als politisches Statement zu verstehen, sondern schlicht der Einfachheit und vor allem einer besseren Lesbarkeit geschuldet. Als Autoren sind wir uns der Macht von Sprache naturgemäß sehr bewusst und wünschten uns eine lesbare Form, in der sich die Gleichstellung von Frauen und Männern im geschriebenen Wort manifestiert.

Wenn wir vom „Kind“ sprechen, meinen wir entweder tatsächlich ein Kind oder auch mehrere Kinder- auch an diesen Stellen bitten wir Sie zu schauen, wie Sie es passend auf Ihre persönliche Situation übertragen können.

Berlin, im Juni 2018

Dr. Isabell Lütkehaus und Thomas Matthäus



1Einige Hinweise zum Start

Der Umgang mit uns selbst und anderen zeigt uns, wer wir sind und wie es uns geht. Sind wir voller Freude und Optimismus dann strahlen wir das aus und unsere Umgebung spiegelt uns in der Regel – früher oder später – unsere inneren Zustände. Gehen Sie mit einem Lächeln zur Wohnungstür, vor der der Vater Ihrer Tochter steht, weil er die Tochter zum Umgang abholen will, klappt die Übergabe eher reibungslos und Ihre Tochter kann entspannt in den Umgang gehen. Stehen Ihnen Kummer oder Ärger im Gesicht, fängt Ihre Tochter bei der Übergabe vielleicht an zu weinen und der Vater macht Ihnen Vorwürfe, weil Sie vergessen haben, das Kuscheltier mit in den Rucksack zu packen.

In diesem Buch haben wir uns bemüht, möglichst viele Fragen zum Umgang zu beantworten, die uns Eltern nach einer Trennung oder Scheidung stellen und welche sich über die Dauer fast zweier Jahrzehnte beruflicher Praxis im Bereich „Umgang“ nicht sehr verändert haben. Bei unseren Recherchen haben wir festgestellt, dass es zwar einige Fachbücher zum Thema gibt, jedoch keinen umfassenden Ratgeber für Eltern.

Nutzen Sie dieses Buch als Informationsquelle, Ratgeber und Inspiration dafür, das Leben als Eltern für Ihre Kinder und mit ihnen so gut zu meistern, dass Sie sich Ihre Freude und Ihren Optimismus erhalten oder wiedergewinnen. Und mit einem Lächeln im Gesicht den Vater Ihrer Tochter an der Wohnungstür treffen können, von dem wir hoffen, dass ihm die Gesetze der Resonanz bekannt 2sind, auf dass Ihre Tochter einen guten Umgang genießen kann.

I. Zum Aufbau dieses Buches

Ratgeber

Der Aufbau unseres Buches ist dreidimensional: Einleitende Abschnitte, die wesentliche Informationen zum Thema vermitteln, wechseln mit Fallbeispielen (reale, anonymisierte Fälle oder Falltypen aus der Praxis) und einer Frage-Antwort-Szenerie ab, ergänzt von einem Lexikon der Fachbegriffe sowie einer Übersicht zu den Beteiligten an Umgangsverfahren. Alle im Fließtext dargestellten Fachbegriffe werden im Lexikon verständlich erklärt und die beteiligten Institutionen im 6. Kapitel dargestellt.

Informationen

Rechtliche oder praktische Informationen rund um das Thema Umgang leiten viele Kapitel ein. Hier berücksichtigen wir die aktuelle Rechtslage und etwaige, erkennbare Trends in der Rechtsprechung. Naturgemäß können wir hier nur allgemein informieren und keine individuelle Rechtsberatung ersetzen. Ergänzt wird dieser theoretische Teil durch alltagsnahe praktische Informationen, die wir im Rahmen unserer jahrzehntelangen Arbeit mit Trennungspaaren sammeln konnten und die uns über den Einzelfall hinaus hilfreich erscheinen.

Fragen

Die eine oder andere (rechtliche) Umgangsregelung mag sich zwar über Jahre und Jahrzehnte verändern, doch haben wir festgestellt, dass es sehr viele Fragen gibt, die Eltern uns bereits vor knapp 20 Jahren gestellt haben und die uns heute weiterhin gestellt werden. Dazu kam, dass wir immer wieder nach hilfreicher Lektüre zum „Umgang“ gefragt wurden, so dass wir beschlossen haben, selbst dieses Buch zu schreiben. Unsere Aufgabe bestand also unter anderem darin, die sich häufig wiederholenden Fragen zu sammeln, aufzuschreiben und zu überlegen, auf welche Weise wir sie so beantworten können, dass unsere Leser etwas davon haben. Demzufolge 3haben wir diese Fragen unverfälscht in unser Buch übernommen, also in dem Wortlaut, in dem sie uns gestellt wurden. Anschließend haben wir die Fragen geordnet und daraus ist ein Herzstück dieses Buches entstanden.

Dabei haben wir festgestellt, dass diese Fragen in vier unterschiedliche Bereiche zielen. „Was soll ich meinem Kind über die Trennung sagen?“ ist zum Beispiel in erster Linie eine pädagogische Frage. „Muss ich mein Kind zum Umgang mit dem Vater geben, obwohl er keinen Unterhalt zahlt?“ zielt auf einen rechtlichen Aspekt. Psychologische Aspekte stehen im Vordergrund bei der Frage: „Soll ich als Vater mit allen Mitteln um mein Kind kämpfen?“ Und die Frage: „An wen wende ich mich, wenn ich eine Beratung in Sachen Umgang brauche?“ ist vor allem praktischer Natur. Auf der Grundlage der aktuellen Rechtslage fokussiert dieses Buch die pädagogischen, psychologischen und praktischen Fragen zu allen Aspekten des Umgangs. Unser Ziel ist es, dass Sie umfassend informiert werden über alle wesentlichen Aspekte zum Umgang und, das ist für uns das Wichtigste, dass Sie nach der Lektüre in der Lage sind, zum Wohl ihrer Kinder und zum eigenen Wohl, mit Blick auf die besonderen Herausforderungen nach einer Trennung, gestärkt zu handeln.

Interviews, Umgangsberichte und Zitate

Besondere Freude bereitet es uns, dass wir in der glücklichen Lage sind, einige interessante Interviews zu spezifischen Umgangsfragen, die wir mit Betroffenen und Fachleuten führen durften, ergänzen zu können. Zahlreiche Umgangsberichte von Eltern und Kindern fließen nicht nur als praktische Informationen sowie als anonymisierte Beispielfälle ein, sondern wesentliche Aspekte dieser Berichte werden an unterschiedlichen Stellen zur Veranschaulichung eines Sachverhaltes zitiert.

4II. Eine Übersicht über die Kapitel

1. Trennungen / Familie / Alleinerziehend und Patchwork

Nicht nur in Berlin, sondern überall in der westlichen Welt hat sich die Lebensrealität von Familien in den letzten Jahrzehnten rasch geändert. Während es in den Nachkriegsjahren noch eher die Ausnahme war, dass Eltern sich trennten, erzählen uns heutzutage Eltern, dass in der Klasse ihrer Kinder fast alle Eltern getrennt sind und die Neuigkeit für ihre Kinder zwar sehr traurig, aber nicht schockierend war. Die Kinder sähen bei anderen Familien, dass das Leben nach der Trennung der Eltern weitergehe, manchmal sogar gut oder besser als vorher.

Aktuelle Studien zeigen, dass es immer mehr Trennungen und Scheidungen von Paaren gibt zu immer früheren Zeitpunkten. Oft sind die Kinder noch sehr klein, häufiger gehen Paare bereits in der Schwangerschaft auseinander. Dies hat unterschiedliche Gründe, die wir hier nicht ausführlich erhellen wollen. Einen Hinweis darauf liefert uns die Emotionalisierungsthese von Rosemarie Nave-Herz, auf die wir im ersten Kapitel kurz eingehen.

Jedes vierte Kind wächst in Deutschland entweder bei einem alleinerziehenden Elternteil oder in einer Patchworkfamilie auf. So bezeichnet man neu zusammengesetzte Stieffamilien, bei denen Kinder mit einem Stiefelternteil leben und mindestens noch einem Halb- oder Stiefgeschwisterkind. Auch wenn diese Form der Lebensgemeinschaft von der Ausnahme zur Realität wird, kann sie im Alltag recht komplex sein und viel Belastbarkeit, Offenheit, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit auf Seiten der Kinder und Organisationstalent, gute Kommunikation und Kooperation sowie ständige Kompromissbereitschaft auf Seiten der Eltern fordern.

Eine Trennung bedeutet zunächst fast immer einen dramatischen Einschnitt in das bisherige Leben als Familie, der gemeistert werden will; später können die Beteiligten aus dieser Krise heraus auch die Chancen für einen Neuanfang als Familie wahrnehmen. Diesem 5Komplex „Trennung“ und „Familie“ widmen wir uns im → 1. Kapitel.

2. Elternwohl

Dem Vorteil, dass heutzutage Trennungen nicht mehr stigmatisieren und alleinerziehende Elternschaft als Familienmodell gesellschaftlich anerkannt ist, steht gegenüber, dass das Drama des Einzelnen, weil es ebenso regelmäßig vorkommt, unterschätzt wird, und somit auch die zahlreichen und oft schwer belastenden Konsequenzen, die aus einer Trennung folgen. Besonders in Großstädten aufgrund der dort dominierenden Familienstrukturen fehlt häufig eine Unterstützung durch das Umfeld. Über die Folgen einer Trennung für die Eltern und wie sie damit gut zurechtkommen sprechen wir im → 2. Kapitel.

3. Kindeswohl

Neben den Eltern, für die eine Trennung viel Veränderung bedeutet, erleben Kinder jeden Alters ein Auseinandergehen ihrer Eltern als tiefen Einschnitt in ihr Leben. Vertrautes geht verloren, der gewohnte Familienalltag findet nicht mehr statt, Verlustängste und Sorgen wachsen. Einige wesentliche Maßnahmen können dazu beitragen, dass die Bedürfnisse der Kinder weiter erfüllt werden, dass sie Trennungen gut überstehen und zu ausgeglichenen Menschen heranwachsen. Diesem zentralen Thema widmen wir uns im → 3. Kapitel.

4. Familie bleiben: Umgangsmodell als Fundament

Ob alleinerziehend oder gemeinsam erziehend oder parallel erziehend – die Familie kann erhalten bleiben. Durch unseren Ratgeber unterstützen wir Eltern und Kinder dabei, einen guten Weg als gemeinsame Familie in neuer Form zu finden. Das passende Umgangsmodell, → 4. Kapitel, stellt hierfür ein ganz wesentliches Fundament dar, es bietet die Basis für wertvolle familiäre Kontakte und gemeinsame Erlebnisse, organisiert den Alltag der Beteiligten und 6ermöglicht es den Eltern, in gutem Kontakt mit den Kindern zu stehen und weiterhin für deren Bedürfnisse sorgen zu können.

Fundierte Erfahrungswerte aus Jahrzehnten der Trennungsmediation sowie des Begleiteten Umgangs teilen wir an dieser Stelle mit unseren Lesern; wir geben rechtliche und praktische Informationen sowie andere Hilfestellungen und unterstützen somit Paare dabei, auch nach einer Trennung gute Eltern zu bleiben und einen für alle Beteiligten passenden neuen Weg als Familie zu finden. Dabei unterscheiden wir nicht zwischen verheirateten und nichtverheirateten Paaren, da dies für den Umgang weder rechtlich noch praktisch einen wesentlichen Unterschied macht. Umgangsmodelle besprechen wir im → 4. Kapitel und Unterstützungsangebote zur Gestaltung des Umgangs stellen wir anschließend im → 5. Kapitel vor.

5. Fachbegriffe und Beteiligte

Zentrale Fachbegriffe, die uns auch im Buch begleiten, erläutern wir im → 6. Kapitel und im → 7. Kapitel stellen wir typische Beteiligte eines Umgangsverfahrens oder eines gerichtlichen Verfahrens vor.

6. Muster und Checklisten

Neben wesentlichen Informationen, die Ihnen helfen, sich im Dschungel rechtlicher Bestimmungen und pädagogischer bzw. psychologischer Ambivalenzen gut zurechtfinden, bietet unser Ratgeber — und damit entsprechen wir einem oft geäußerten Wunsch von Eltern — eine Fülle praktischer Informationen und Unterstützung in Form von Checklisten, Mustern von Umgangsvereinbarungen und Übersichten zu Anlaufstellen zur Beratung. All das, neben einigen Umgangsberichten von Eltern, aus denen wir im Buch zitieren, finden Sie im → 8. Kapitel, damit abgerundet wird, dass wir Ihnen wichtige analoge und digitale Quellen zu den zentralen Themen dieses Buches und als Anregung zu spezifischen Themen darüber hinaus zur Verfügung stellen.

71. Kapitel

Familie im Wandel

Was ist Familie? Mama, Papa und Kind, die glücklich unter einem Dach leben? Und vielleicht noch im weiteren Sinne Großeltern, Tanten und Onkel, Cousins? Was ist mit Paten, Au-pair, WG-Mitbewohnern?

I. Familienbegriff

Wenn wir auf die „Familie schauen, dann sehen wir, dass sich in den letzten Jahrzehnten vieles geändert hat. Nicht nur in der Großstadt, in ganz Deutschland nimmt die Pluralität der Lebensformen weiter zu, es gibt gleichgeschlechtliche Paare, die Kinder großziehen, es gibt Pflegeeltern und weiter zunehmend Patchworkfamilien und immer mehr Eltern, die ihre gemeinsamen Kinder nicht mehr unter einem Dach großziehen. Also gemeinsam und doch getrennt, manche auf kooperative Weise, manche in paralleler Elternschaft. Manche alleinerziehend, weil der andere Elternteil nicht vor Ort sein kann oder will.

Nach der klassischen Definition ist die Familie eine freiwillig begründete Lebensgemeinschaft von meist mehreren Generationen, die – außer bei den Eltern – auf Verwandtschaft beruht; sie hat biologische und soziale Funktionen. Gerade der Aspekt der Verwandtschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. So kennen wir heute viele Menschen, die in Lebensgemeinschaften zusammenleben, 8die nicht miteinander verwandt sind, und gleichzeitig steigt auch die gesellschaftliche Anerkennung, als Frau oder Mann, mit einem Kind alleine zu leben. Zunehmend spielen im Leben eines Kindes deshalb eben nichtverwandte Personen eine größere Rolle als früher — neue Partner der Eltern beispielsweise, wie auch Freunde, Paten, WG-Mitbewohner.

Über den ehemaligen Fußballtrainer des FC Bayern München, Louis van Gaal, können wir spekulieren, dass er mit seiner Familie in einem klassischen Setting (Vater, Mutter, Kinder) lebt. Van Gaal hat in einem Interview ein paar Anekdoten aus seinem Familienleben erzählt. Mit Blick auf unser Thema „Umgang“ ist interessant, dass van Gaal auch erzählt hat, er lasse sich von seinen Töchtern siezen. Das hört sich mit Blick auf aktuelle westeuropäische gesellschaftliche Werte bezüglich des miteinander Umgehens anachronistisch an, während in den Feuilletons gleichzeitig darüber debattiert wird, wie wir heute darunter leiden, dass uns unsere Kinder keinen Respekt mehr entgegenbringen, weil wir sie zu kleinen Tyrannen erzogen hätten. Dieser Logik folgend müsste eine Anrede eines 16-jährigen Sohnes an seine Eltern mit „Hey Leute“ bereits als Zeichen hoher Wertschätzung zu interpretieren sein.

Fakt ist, dass wir im Jahr 2018 in Deutschland und Teilen Europas in Gesellschaften leben, die eine Vielfalt von Lebensmodellen und damit auch Umgangsformen für das Miteinander beherbergen, die (meistens) friedlich nebeneinander existieren.

Die Vorstellung davon, was wir mit „Familie“ meinen, hat sich im Laufe der Zeit verändert und wird sich bestimmt weiter verändern, das ist ein natürlicher Vorgang im Rahmen menschlicher Weiterentwicklung. So beziehen sich manche Fachleute heute gar nicht mehr auf klassische Definitionen von Familie, sondern bieten eher Interpretationsspielräume an.

Eine interessante Prämisse, wenn wir den Fokus auf eine Definition von Familie richten, ist: Haben sich Familien(modelle) in den letzten Jahren tatsächlich so stark verändert und tun es weiterhin oder ändert sich gerade unsere Wahrnehmung, die unseren Blick dafür erweitert bzw. fokussiert, dass bestimmte Familienmodelle doch gar nicht so neu sind, wie wir dachten? Dass es bestimmte Familienmodelle 9schon „immer“ gegeben hat, nur unser Blick beziehungsweise der Blick der Historiker oder Soziologen andere Prozesse und Umstände unserer Lebensweise priorisiert hat?

Anja Steinbach hat für die Bundeszentrale für politische Bildung im Jahr 2017 einen Essay veröffentlicht, der den Wandel von Familienstrukturen — und unseren Blick darauf — untersucht. Sie räumt in diesem Essay, aus dem wir wesentliche Inhalte hier zusammenfassen wollen, mit einigen Klischees über unser Bild von Familie auf.

Lassen Sie uns damit beginnen: Wenn wir über unser Bild von Familie sprechen, dann oft mit dem Verweis auf frühere Bilder von Familie. Die Vorstellung zum Beispiel, dass in der Vergangenheit mehrere Generationen unter einem Dach friedlich zusammenlebten und sich gegenseitig unterstützten, entspricht laut Steinbach überhaupt nicht der Realität. Denn die Lebenserwartung der Älteren habe damals gar nicht ausgereicht, das Älterwerden der Kinder oder gar der Enkel erleben zu können. Die Autoren können an dieser Stelle behaupten, dass sie dies im Geschichtsunterricht der 80er Jahre nicht so gelernt haben. Wir können uns noch gut an die Texte erinnern, in denen von den über mehrere Generationen zusammenlebenden Großfamilien am Ende des 19. Jahrhunderts die Rede ist, die vor allem aus ökonomischen Zwängen heraus zusammenlebten.

Von den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts sprechen Sozialwissenschaftler oft als der Zeit des „Golden Age of Marriage“. Denn in diesen zwei Jahrzehnten dominierte als Familienmodell in weiten Teilen des westlichen Europas und Nordamerikas das Modell: Heterosexuelles, verheiratetes Paar mit einem Kind. Seitdem würden wir, laut Steinbach, immer wieder vor allem dieses Modell als Folie für unser Bild von Familie nehmen und dabei zwei Dinge außer Acht lassen: Erstens dominierte dieses Modell lediglich 20 Jahre, was mit Blick auf menschliche und gesellschaftliche Entwicklung eine sehr kurze Zeitspanne darstellt. Zweitens würden wir dabei vergessen, dass es (fast) alle Familienformen, die wir heute untersuchen können, schon immer gegeben hat.

Wie erwähnt „hüten“ sich viele Sozialwissenschaftler im Jahr 2018 vor einer allzu starren Definition von „Familie“. Steinbach stellt uns 10stattdessen drei Kernelemente, die Familien heute definieren und von nichtfamilialen Lebensformen unterscheiden, vor:

Das erste Kernelement, welches übrigens in allen Gesellschaften zu allen Zeiten Gültigkeit besitzt, ist die biologisch-soziale Doppelnatur von Familie. Das biologisch meint hier den schlichten Fakt, dass Familien die Funktion erfüllen, Kinder zu gebären und aufzuziehen. Das Soziale meint, dass die Kinder erzogen werden, dass sie ihre physischen und emotionalen Bedürfnisse innerhalb der Familie befriedigen können, dass sie Schutz und Fürsorge finden. Innerhalb einer Familie ist auch Raum für die Bedürfnisse der Eltern und auch für Eltern stellt die Familie somit einen Schutzraum dar.

Das zweite Kernelement benennt die Generationendifferenzierung: Zu einer Familie zählen wir immer mindestens zwei Generationen. Eine Familie kann natürlich auch aus drei oder vier Generationen bestehen. Dabei ist der Begriff der Kernfamilie geprägt worden, der sich auf die Einheit Eltern-Kind bezieht. Weitere Generationen, zu denen dann Großeltern und Urgroßeltern gehören können, werden mit dem Begriff „Mehrgenerationen-Familie“ erfasst.

Das dritte Kernelement beschreibt das besondere Verhältnis der Familienmitglieder untereinander: Sie stehen in einem Kooperations- und Solidaritätsverhältnis. Außerdem sind sie durch eine spezielle Rollenstruktur charakterisiert. So werden zum Beispiel an den Vater bestimmte Verhaltenserwartungen gestellt und an die Enkelin ebenso. Diese Erwartungen variieren nach Kultur und Zeit. Doch sind diese Erwartungen immer mit den Kooperations- und Solidaritätsbeziehungen innerhalb der Familie verknüpft.

Dieses dritte Kernelement lässt sich gut beobachten, wenn eine Familie sich von außen bedroht fühlt. Eben noch lagen die Familienmitglieder in einem heftigen Streit auf offener Straße, als eine fremde Person von außen sich einmischt und den Großvater auffordert, nicht so laut zu schreien und seine 13-jährige Enkelin nicht mit Schimpfworten zu beleidigen. Haben Sie eine solche Situation schon einmal erlebt? Sofort nach dem „Angriff“ von außen beendet die Familie ihren Streit, schließt sich deutlich als verschworene 11Gemeinschaft zusammen und richtet ihre Aufmerksamkeit gemeinsam auf den Eindringling, der nun unter Umständen mit einer Flut von Schimpfworten und Sätzen wie: „Was geht Dich das an?“, „Kümmere Dich um Deine Angelegenheiten!“ bedacht wird. Und auch der Hund der Familie knurrt oder bellt die Stimme von außen an. Die Familie solidarisiert sich und kooperiert untereinander.

Zusammengefasst können wir sagen: Um von Familie zu sprechen, braucht es mindestens eine Generationenbeziehung, deren Angehörige sich auf eine besondere Weise verbunden fühlen und Leistungen füreinander erbringen. Daraus folgt, dass die Ehe, das Zusammenleben und die simple biologische Verbundenheit keine relevanten Kriterien mehr sind, um bestimmte Lebensformen als Familie zu definieren. Denn neben der oben beschriebenen Kernfamilie, mit verheirateten oder nicht verheirateten Partnern, gibt es darüber hinaus eine große Vielfalt von Lebensformen, die heute als Familie definiert werden: Einelternfamilien, Stieffamilien, gleichgeschlechtliche Familien, Adoptivfamilien und Pflegefamilien. Alleinstehende und auch Paare ohne Kinder – egal ob verheiratet oder nicht – werden entsprechend nicht als Familien bezeichnet.

Schauen wir uns mit Frau Steinbach sozialhistorische Untersuchungen an, stellen wir fest, dass es vor einigen hundert Jahren eigentlich alle Familienformen, die wir heute kennen, bereits schon gab: Im 18. und 19. Jahrhundert gab es eheliche und nichteheliche Partnerschaften, es gab Einelternfamilien, Stieffamilien und Pflegefamilien. Gründe dafür waren einmal die geringere Lebenserwartung der Menschen und der Fakt, dass aus wirtschaftlichen Gründen verstorbene Partner schnell ersetzt werden mussten. Kurz: Ökonomische Gründe führten zu diesen Zeiten folgerichtig zu einer Vielfalt von Lebensformen.

Und was ist der entscheidende Unterschied zum Jahr 2018?

Um noch einmal mit Frau Steinbach zu sprechen: Der größte Unterschied zwischen vergangenen und heutigen Familienformen liegt nicht in ihrem Vorkommen begründet. Der größte Unterschied ist, dass die meisten Menschen im westlichen Europa heute freiwillig darüber entscheiden, ob sie eine Familie gründen wollen oder nicht 12und nicht mehr aus ökonomischen Zwängen heraus zu dieser Entscheidung getrieben werden.

Auch für die Ehe gilt: Die Menschen heiraten nicht, weil es Ehebeschränkungen gibt, sondern weil sie nicht heiraten wollen. Die Einelternfamilien und auch Stieffamilien entstehen nicht mehr, weil Menschen früh versterben, sondern als logische Folge von Trennungen und Scheidungen und Folgepartnerschaften.

Ergänzt werden soll an dieser Stelle noch, dass seit relativ kurzer Zeit zwei Familienformen anerkannt werden, die es vorher so nicht gab: Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern (Regenbogenfamilien) sowie Familien mit Kindern, die durch künstliche Befruchtung gezeugt werden (Inseminationsfamilien).

Waren es noch vor hundert Jahren also noch vor allem ökonomische Herausforderungen, die das Familienleben prägten, sind es heute vor allem unsere eigenen Ansprüche und Erwartungen, die das Leben in einer Familie zu einer komplexen Angelegenheit machen. Die Frage „Wie will ich leben?“ können wir uns erst stellen, seit die ökonomischen Bedingungen so gut sind, dass wir uns darüber immer weniger Gedanken machen müssen und uns zunehmend unseren emotionalen Bedürfnissen widmen können.

Die Soziologin Rosemarie Nave-Herz hat dazu eine These formuliert, die unter dem Begriff „Emotionalisierungsthese“ prominent geworden ist. Diese These begründet die mangelnde Stabilität von Ehen damit, dass romantische Liebe und emotionale Motive wichtig geworden sind, eine Ehe (oder überhaupt Paarbeziehung) einzugehen. Gleichzeitig steigen die Ansprüche an den Partner und die Toleranz für bestimmte Verhaltensweisen sinkt. So führt der Fortschritt, nicht aus ökonomischen Zwängen heraus verheiratet beziehungsweise in einer Beziehung sein zu müssen dazu, dass Beziehungen viel öfter aufgelöst werden als in der Vergangenheit. Denn wenn der romantische Blick der ersten Monate der nüchternen Betrachtung des Partners weicht, führt dieser Prozess zu einer deutlich höheren Trennungsrate von Paaren als noch vor 30 Jahren, auch wenn das Paar Kinder hat oder betreut.

Wir wissen nicht, ob Herr van Gaal sich auch von seiner Frau und seinen Freunden siezen lässt. Es ist auch nicht bekannt, ob die Töchter 13van Gaals tatsächlich mehr über Respekt gelernt haben als im Vergleich der Sohn, der seine Eltern mit „Hey Leute“ ansprechen darf. Wahr ist jedoch, dass sich die Trennungen von Eltern und der daraus folgende ständige Wandel von Familienmodellen quer durch die Gesellschaft ziehen. Sozialer Status sowie Umgangsformen innerhalb der Familien sind dabei unerheblich. Was erheblich ist und unserer Aufmerksamkeit bedarf, sind die Folgen für die Kinder nach einer Trennung und die Belastungen für die Eltern im Trennungsprozess.

II. Trennung: Chancen und Risiken

Nicht nur in Hamburg, Berlin oder München, sondern überall in der westlichen Welt hat sich die Lebensrealität von Familien in den letzten Jahrzehnten rasch geändert. In der Grundschulklasse der schwäbischen Jugend der Co-Autorin in den siebziger Jahren gab es eine alleinerziehende Mutter, die als Außenseiterin galt. Diese Mutter wirkte sozial benachteiligt, musste gegen ihren Wunsch arbeiten gehen und daher kam ihre Tochter oft zu Familie der Co-Autorin zum Mittagessen. Heutzutage erzählen uns Eltern, die wegen ihrer Trennung in unsere Sprechstunden kommen, dass in der Klasse ihrer Kinder fast alle Eltern getrennt sind. Die Kinder wachsen im Austausch darüber miteinander auf. Sie sehen, dass es anderen Familien ähnlich geht wie der eigenen Familie. Obwohl eine Trennung und das daraus oftmals resultierende Leben als alleinerziehender Elternteil nicht mehr unbedingt zu einer sozialen Stigmatisierung und Außenseiterposition führen, bleibt die Trennung eine große Herausforderung für das zukünftige Leben als Familie.

III. Umgangsmodell als Fundament

Ein wesentlicher Baustein für das neue Familienmodell stellt ein für alle Beteiligten passendes und gut im Alltag praktikables Umgangsmodell dar, das die Bedürfnisse der Kinder erfüllt und gleichzeitig von den Eltern gut getragen werden kann. Auf diese Weise können alle Beteiligten auch nach der Trennung weiterhin als Familie leben.

14Als kleinen „Vorgeschmack“ auf das → 4. Kapitel, in dem wir diverse Umgangsmodelle vorstellen und als Beispiel für eine Familie, die ihre Trennung gut gemeistert hat, präsentieren wir hier ein erstes Interview zu dieser Thematik.

Interview mit Mava S., Berlin

Wie beschreiben Sie Ihr heutiges Umgangsmodell?

Wir leben getrennt seit unsere Tochter anderthalb Jahre alt ist. Damals war mir nicht klar, ob und wenn ja, wie der Vater in Beziehung zu unserem Kind sein möchte. Er hat sie eher sporadisch mit gepackter Versorgungstasche für 2–3 Stunden gesehen und sich mir gegenüber immer wieder als unzuverlässig erwiesen. Vier Jahre später sind wir beim 50/50 Modell angekommen. Er kümmert sich inzwischen so gut um unsere Tochter, dass sie voller Freude zu ihm geht. Und auch ich kann mich inzwischen auf seine Unterstützung verlassen, nur die finanzielle Verantwortung trage ich nach wie vor alleine. Dass unser gemeinsames Elternsein inzwischen so gut funktioniert ist das Ergebnis harter Arbeit.

Wir begreifen uns als eine Familie, auch wenn wir Eltern kein Paar mehr sind. Das heißt, dass wir regelmäßig Zeit zu dritt verbringen und uns als Eltern gegenseitig unterstützen. Unsere Tochter lebt an festen Wochentagen beim Vater beziehungsweise bei mir. Neben ganz klaren Abmachungen gestalten wir den Umgang auch flexibel. Wenn es einem Elternteil gesundheitlich nicht gut geht, beruflich oder privat etwas Besonderes ansteht oder unsere Tochter krank ist, besteht keiner von uns darauf, an den Abmachungen festzuhalten, sondern wir versuchen dem anderen Elternteil möglichst gut den Rücken frei zu halten. Wir Eltern stehen im ständigen Kontakt miteinander, wir sprechen uns mindestens einmal täglich. So haben wir ein gutes Gefühl davon, was gerade bei unserer Tochter ansteht. Wir unterstützen unsere Tochter auch dabei im Kontakt mit dem anderen Elternteil zu sein, bei dem sie gerade nicht ist. Sei es durch Telefonanrufe oder sei es, dass man gemeinsam etwas für den anderen bastelt. Unsere Wohnungen liegen nicht weit voneinander entfernt, so dass das Lebensumfeld des Kindes immer dasselbe ist, egal bei wem sie gerade wohnt.

Es scheint, als hätten wir ein Modell gefunden, dass für uns alle stimmig ist. Unsere Tochter äußert schon manchmal, dass sie sich wünscht, dass wir alle zusammenwohnen. Sie hat aber akzeptiert, dass wir das nicht wollen. Oft erzählt sie begeistert davon, was sie mit dem anderen Elternteil erlebt hat. Obwohl sie bei dem Vater eine andere Sprache spricht, 15eine andere Kultur lebt und andere Regeln gelten, schaffen wir so viele Überschneidungen, dass sie ihr Leben zwischen zwei Haushalten trotzdem als eine Welt erlebt. Dazu gehört, dass wir die jeweiligen Feiertage immer als Familie feiern, auch wenn ein Elternteil keinen Zugang zu der entsprechenden Tradition hat. Und wir gehen immer gemeinsam zu den Kitafeiern und ihre Freunde sind natürlich in beiden Haushalten willkommen.

Was die Verantwortlichkeiten rund um die Kindessorge angeht, wissen wir beide inzwischen ziemlich gut, wer was übernimmt. Und nehmen es so, wie es ist, auch hin. Natürlich haben wir oft nicht dieselbe Meinung und streiten uns auch immer wieder mal. Dennoch ist unsere Familienkonstellation stabil und harmonisch. Zu diesem Punkt zu kommen hat uns viel Mühe, Zeit und Kraft gekostet. Gerade in den ersten Jahren nach der Trennung war überhaupt nicht klar, in welcher Beziehung wir als Eltern zueinanderstehen oder der Vater mit dem Kind steht und unsere Tage waren gespickt mit Frust, Enttäuschungen, Überforderung, Unsicherheit und sogar Misstrauen.

Worin liegt Ihrer Ansicht und Erfahrung nach der Schlüssel für diese positive Entwicklung?

Zum einen die ganz grundlegende Erkenntnis von uns beiden, dass wir über das Kind für immer miteinander verbunden sind. Daran kann man nichts mehr ändern. Aber es liegt an uns. Wir haben uns auch in den schwersten Zeiten, in denen man dem anderen am liebsten nie wiedersehen würde oder für den unmöglichsten Menschen auf der Welt hält, immer an unsere goldene Regel gehalten: Niemals schlecht vor dem Kind über den anderen reden. Dadurch haben wir selber auch immer wieder das Augenmerk auf den guten Eigenschaften des andern gehalten. Es liegt an uns, wie wir unser Miteinander als Eltern gestalten. Und das soll möglichst angenehm sein.

Dann beiderseits der unendliche Wille, das Beste für unsere Tochter möglich zu machen. Dafür mussten wir oft unsere Bedürfnisse hintenanstellen und auch immer wieder mal den eigenen Stolz unter den Teppich kehren. Trotz tiefer Verletzungen haben wir immer wieder die Mauern runtergerissen und sind aufeinander zugegangen. Für das Wohl unserer Tochter. Wir haben nicht aufgehört, miteinander zu kommunizieren. Da wir glauben, dass sie uns beide braucht und das Recht hat uns beide lieben zu dürfen. Geholfen hat uns beiden außerdem unsere spirituelle Praxis, jeweils ganz anders, aber ähnlich in dem Verständnis, das Beste aus dem zu machen, was das Leben anbietet und daran zu wachsen. 16Außerdem vertraue ich darauf, dass unsere Tochter so stark ist, innerhalb unseres unkonventionellen Familienmodells gut für sich zu sorgen und im Bedarfsfall ihre Bedürfnisse lautstark mitteilt.

Betrachtet man unsere Familie von außen, ist es naheliegend sich zu fragen, was das verbindende Element ist. Ich rede deutsch mit unserer Tochter, der Vater ausschließlich hebräisch, als Eltern sprechen wir miteinander Englisch. Über den Vater ist unsere Tochter mit der jüdischen Religion und den kulturellen Traditionen Israels verbunden. Sie gehen gemeinsam zu den Feiertagen in die Synagoge, sie bekommt seine alltägliche Praxis ganz selbstverständlich mit und entsprechend bekommt sie jüdisch geprägte Werte von ihm vermittelt. Unsere Tochter mag den Geschmack der Gerichte des Nahen Ostens und wenn sie hebräisch spricht, gestikuliert sie temperamentvoll und leidenschaftlich. Bei mir wiederum bekommt sie meine alltägliche spirituelle Yogapraxis mit und ich vermittle meine Wertehaltung und Weltsicht. Zudem zelebrieren wir die christlichen Feiertage Ostern und Weihnachten, da dies für mich Bestandteil unserer kulturellen Tradition ist und ich diese mit Freude weitergebe. Nicht nur ist das Essen, das bei mir auf den Tisch kommt völlig anders, sondern natürlich dazu auch die deutschen Tischmanieren und Umgangsformen im Allgemeinen. Die Deutsche und der Jude — oft scherzen wir, dass wir ein Friedensbaby gemacht haben.

Der Kindsvater und ich bleiben flexibel und in ständigem Austausch, so dass wir unser Umgangsmodell immer wieder an das anpassen, was gerade gebraucht wird. Hier reagieren wir vor allem auf die Bedürfnisse unserer Tochter, die inzwischen sehr gut äußern kann, was sie braucht. Beispielsweise fordern sie vor allem die Übergaben. Wir haben die Wechsel somit größtmöglich reduziert, zudem die Wechsel hauptsächlich in die Kita verlegt, so dass sie nicht direkt von den Armen des einen in die Arme des anderen Elternteils wechseln muss oder wir verbinden den Wechsel mit einem Familienessen oder einem kleinen gemeinsamen Ausflug, um den Übergang fließender zu gestalten.

Was haben Sie aus dieser Erfahrung für sich gelernt?

Manchmal sind die Rahmenbedingungen für ein gemeinsames Elternsein alles andere als ideal. Auch wenn man denkt: „Das kann ja wohl nicht wahr sein?!“ ist es genau so wahr. Das gemeinsame Elternsein wirklich nachhaltig gut gestalten kann nur funktionieren, wenn man alle Hoffnungen und Erwartungen, dass der andere endlich mehr so ist, wie man ihn sich wünscht, loslässt. Erst wenn man diesen harten Prozess hinter sich hat und den anderen so annimmt wie er nun mal ist, kann 17man ernsthaft anfangen zu gestalten. Ich werde nie aufhören, ehrlich und direkt zu artikulieren, was ich brauche und mir wünsche. Ob der Kindsvater meine Erwartungen erfüllt, liegt nicht in meiner Macht. Es liegt aber sehr wohl in meiner Macht, ob ich mich ständig darüber ärgere oder ich es einfach hinnehme. Und mir in dem Wissen, dass der Vater manche meiner Bedürfnisse im Elternsein nie erfüllen wird, diese gegebenenfalls durch andere Strategien abdecke.  Und mich stattdessen an dem erfreue, was der Vater in unsere Familie einbringt.

Im Endeffekt ist es dieselbe bedingungslose Akzeptanz wie gegenüber dem gemeinsamen Kind. Die eigenen Kinder nerven ja auch manchmal schrecklich oder haben Macken, die man sich wegwünscht. Dennoch ist völlig klar, dass man sich damit arrangieren muss und man würde niemals zweifeln, dass man irgendwie für immer zusammengehört.

192. Kapitel

Elternwohl

I. Bedeutung der Trennung für die Eltern

Die neue Lebenssituation nach der Trennung ist mit zahlreichen Herausforderungen verbunden. Auf Paarebene sind Verletzungen entstanden, die heilen müssen, Einsamkeit und schlechtes Gewissen gegenüber dem Kind sowie Ängste, ihm zu schaden und es weniger zu sehen, den guten Kontakt zu verlieren. Der verlassene Elternteil ist oft zutiefst verletzt und enttäuscht, macht sich persönliche und materielle Sorgen über die eigene Zukunft und die der Kinder sowie trauert der Idee der gemeinsamen Familiengemeinschaft nach. Den Elternteil, von dem die Trennung ausging, plagen häufig Selbstvorwürfe und ein schlechtes Gewissen gegenüber dem ehemaligen Partner und insbesondere den „verlassenen“ Kindern. Zieht ein Elternteil aus der bisherigen gemeinsamen Wohnung, entstehen zusätzliche Kosten, eine bezahlbare und kindgerechte neue Wohnung, idealerweise in der Nähe, muss gefunden und eingerichtet werden, zusätzliche Fixkosten entstehen und gleichzeitig wird der regelmäßige Kontakt zu den Kindern sowie deren Betreuung komplizierter. Der zurückbleibende Elternteil lebt weiter in einer Wohnung mit Erinnerungen an die Zeit als Familie unter einem Dach, zwischen Lücken, wo der andere Möbel und Erinnerungsstücke mitgenommen hat, und höheren Kosten für eine jetzt vielleicht zu teure Wohnung. Vielleicht besteht eine Herausforderung des hauptbetreuenden Elternteils darin, neben der Aufgabe mit eigener Trauer, 20Enttäuschung und Ängsten umgehen zu müssen, den Kindern immer wieder die neue Situation zu erklären, sie zu trösten und Zuversicht auszustrahlen. Aus der Tatsache, dass eine Trennung in weiten Teilen Deutschlands mittlerweile keinen gesellschaftlichen Makel mehr bedeutet ist nicht zu schließen, dass der Vorgang selbst emotional leicht zu verarbeiten sei. Eine Trennung bedeutet für die Expartner und insbesondere den Partner, der gegen seinen Willen getrennt wurde, einen dramatischen und tiefen Lebenseinschnitt, der Kummer und Schmerzen erzeugt, Ängste und Fragen aufwirft und vor ganz neue Herausforderungen stellt. Vor dem Hintergrund der Emotionalisierungsthese von Rosemarie Nave-Herz leuchtet dies ein. Denn gerade, weil das Thema Beziehung und Partnerschaft emotional sehr bedeutsam ist — denken Sie zum Beispiel an die Hochkonjunktur der Partnervermittlungen – dann verstehen wir, dass das Ende einer Partnerschaft starke emotionale Verwerfungen nach sich ziehen kann.

Die Trennung als Paar und damit als Familie „unter einem Dach“ bedeutet für alle Beteiligte den Übergang in eine neue Lebenssituation, zahlreiche Dinge des Alltags, die bisher wie nebenher auf Zuruf funktionierten, bedürfen jetzt gründlicher Organisation, voriger Absprachen und zusätzlicher Planung.

Aus den Erzählungen vieler Paare hören wir, dass die ersten beiden Jahre nach der Trennung die schwierigsten seien. Die persönliche Enttäuschung, sowie Wut, Hass und Liebeskummer sind noch sehr frisch, die organisatorische Umstellung in eine Familie mit gegebenenfalls zwei Wohnsitzen enorm, es ergeben sich im Alltag Betreuungslücken, die es zu überbrücken gilt und gleichzeitig entsteht ein finanzieller Mehrbedarf, den man irgendwie decken muss. Auch für den Partner, der gegangen ist, möglicherweise um einer neuen Liebe nachzugehen, folgen aus der Trennung viele belastende Momente. Typische Begleiterscheinungen einer Trennung sind:

Eltern leisten den enormen Spagat, ihre Kinder aus dem Paarkonflikt herauszuhalten, gleichzeitig aber authentisch zu bleiben. Das Wohlbefinden und Selbstwertgefühl von Kindern, auch für ihr weiteres Leben, hängt stark davon ab, dass es Eltern im neuen Familienmodell gelingt, weiterhin ihre psychischen und körperlichen Bedürfnisse ausreichend zu befriedigen, zugleich sich selbst aber nicht zu überfordern. Das Verhalten der Eltern nach der Trennung ist also wesentlich relevant für das weitere Leben der Kinder.

Wenn im Flugzeug akuter Druckverlust angezeigt wird, werden Sie aufgefordert, sich selbst als erstes mit der Sauerstoffmaske zu versorgen, ehe sie Ihre Kinder unterstützen, sich diese Maske anzulegen. Denn Sie nützen ihren Kindern nicht, wenn Sie selbst aus falscher Prioritätensetzung ohnmächtig werden und ihnen dann nicht mehr helfen können. Denken Sie an dieses Beispiel, wenn das schlechte Gewissen Sie plagt, weil Sie etwas für sich tun, sich dabei egoistisch vorkommen und ständig daran denken, dass Sie jetzt nicht ausgehen dürfen mit einer Freundin, weil ihre Kinder Sie ständig brauchen, drei Monate nach der Trennung von Ihrem Mann. Das ist kein Aufruf zur Vernachlässigung der Kinder, sondern unser Appell gründet auf der schlichten Wahrheit, dass Ihre Kinder vor allem als Vorbild von Ihnen lernen, wie Jesper Juul sich ausgedrückt hat. Dazu gehört, dass Sie Ihre eigenen Bedürfnisse ernst nehmen und ihnen Geltung verschaffen, auch oder gerade in schwierigen Trennungssituationen. Was nützt den Kindern eine gestresste, von Schuldgefühlen geplagte Mutter, die sich zähneknirschend um die Bedürfnisse ihrer Kinder kümmert und dabei das eigene Leben vergisst? Was lernen die Kinder daraus? Auch hier gilt: Qualität immer vor Quantität! Lieber eine halbe Stunde liebevoller Zuwendung als drei Stunden angestrengten Zusammenseins aus einem Pflichtgefühl heraus.

22II. Bedürfnisse der Eltern

Nehmen Sie sich die Zeit, sich einmal die Liste einiger der wichtigsten menschlichen Grundbedürfnisse (ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ewige Haltbarkeit) zu vergegenwärtigen, die wir hier aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen haben:

Wenn wir hier einmal kurz innehalten und mit nüchternem Blick auf Trennungen schauen, dann sehen wir sie im Verlauf menschlichen Lebens erst einmal als völlig natürliche Vorgänge, die stetig und ständig stattfinden. Denn so wie wir uns verändern und entwickeln — auch mit Blick auf unsere Bedürfnisse —, werden diese Prozesse auch von Trennungsprozessen begleitet. Wir trennen uns von unserem ersten Kuscheltier, von Freunden aus dem Kindergarten, aus der Schule. Wir trennen uns von Gewohnheiten, Wohnorten, Meinungen, Haltungen, Gegenständen — und eben auch Menschen. Manche Trennungen erleben wir als nicht sehr bewusst, 23sie passieren einfach. Andere Trennungen erzeugen eine große emotionale Resonanz in uns.

Als Eltern, die sich trennen, haben wir vielleicht darüber gelesen oder gehört, welche schlimmen Folgen die Trennung für unsere Kinder haben könnte. Wahrscheinlich denken wir nicht an erster Stelle daran, welche Chancen und Potentiale eine Trennung beinhaltet. Genau darum soll es an dieser Stelle eben auch gehen: Mit unserer Haltung, auch die Potentiale einer Trennung zu beachten, laden wir Sie dazu ein, sich mutig die aus der Trennung resultierenden Möglichkeiten anzusehen. Wenn Trennungen der Unterstützung schauen wir uns ausführlicher im → 5. Kapitel an.

Das bedeutet nicht, dass wir Sie dazu ermuntern, sich ihre Trennung schön zu reden. Eine elterliche Trennung bleibt für alle Beteiligten eine krisenhafte Situation, die viel Energie fordert. Häufig bekommen Sie das Gefühl, mit dieser Situation auch überfordert zu sein. Die emotionalen und strukturellen Belastungen an Sie und ihre Kinder sind real und nicht wegzudenken.

III. Trennungsphasen

Trennungen verlaufen in der Regel in mehreren Phasen. Die meisten Fachleute sprechen heute von vier Phasen:

Unabhängig davon, in welcher Phase der Trennung Sie sich gerade befinden, gibt es eine Vielzahl von Herausforderungen, die das Leben jetzt an Sie heranträgt, damit Sie sie meistern können. Denn das Leben nimmt keine „Rücksicht“ auf Ihre besondere Situation und will weitergelebt werden. Manches Mal werden Sie vielleicht denken, dass Sie vor der Fülle an Herausforderungen wie vor einem zu hohen Berg kapitulieren müssen und nicht mehr weiterwissen. In dieser Situation hilft das Prinzip der kleinen Schritte weiter und die Gewissheit, dass Sie sich auch Pausen gönnen dürfen. Eine Etappe auf den Berg stellt die Orientierung im Gelände dar, der Plan, wo es hingehen soll, eine Idee, an welchen Stellen sich Stolpersteine befinden könnten. In diesem Sinne haben wir die wichtigsten Herausforderungen für Sie zusammengefasst und stellen sie Ihnen hier vor:

IV. Finanzielle Situation