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UTB 5039

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Georg Eckert / Thorsten Beigel

Historisch Arbeiten

Handreichung zum Geschichtsstudium

Vandenhoeck & Ruprecht

PD Dr. Georg Eckert lehrt Neuere Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal.

Dr. Thorsten Beigel ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Alte Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal.

Online-Zusatzmaterialien zum Buch finden Sie unter

http://www.utb-shop.de/9783825250393.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagbild: „Der Pferdedieb von Berlin“ – Karikatur auf Napoleons Raub der Quadriga vom Brandenburger Tor. Radierung (um 1813). © bpk/Kunstbibliothek, SMB/Knud Petersen

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
EPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

UTB-Band-Nr. 5039

ISBN 978-3-8463-5039-3

Inhalt

Einleitung: Historisch! Arbeiten!

Suchen & Finden

1.Recherchestrategien

2.Ad fontes! – Wege zu den Quellen

2.1Quellenformen

2.2Archive: Schatzkammern des Historikers

2.3Digitale Sammlungen und Editionen

2.4Quellenrecherche konkret

3.Formen der Literatur-Recherche

3.1Die unsystematische Recherche

3.2Die systematische Recherche

3.3Lokale Kataloge der Universitätsbibliotheken

3.4Verbundkataloge

3.5Nationale und internationale Kataloge

3.6Fachportale

3.7Bibliographische Datenbanken

4.Freie Internetrecherche: Fluch und Segen

5.Der Weg zum Material: Ein Beispiel

6.Zur Vertiefung

Lesen & Denken

1.Quellen: Material des Historikers

1.1Quellen unterscheiden: Gattungen und Provenienz

1.2Quellen suchen: Strategien der Recherche

1.3Quellen finden: Die Qual der Wahl

1.4Quellenkritik: Kern des Historisch Arbeitens

1.5Digitale Quellen: Ein regulärer Sonderfall

1.6Zur Vertiefung

2.Literatur: Zugänge zur Wissenschaft

2.1Literaturgattungen: Orientierung in den Formaten

2.2Literatur suchen: Strategien der Recherche

2.3Literatur finden: Jede Recherche ist einzigartig

2.4Literaturkritik: Den eigenen Verstand üben

2.5Digitale Literatur: Qualität in Quantität

2.6Zur Vertiefung

3.Quellen, Literatur & Fragestellung

3.1Quellen erfassen: Das Besondere suchen

3.2Quellen verstehen: Die „W-Fragen“ als Hilfe

3.3Quellen erklären: Von der Beobachtung zur Deutung

3.4Thesen formulieren: Erkenntnisse bedeutsam machen

3.5Zur Vertiefung

Reden & Schreiben

1.Guter Stil: Historisch Arbeiten als Erlebnis

2.Darstellungsformen und ihre Eigenarten

2.1Hausarbeit: Die Pflicht

2.2Essay: Die Kür

2.3Referat: Die Eigenheiten des direkten Dialogs

2.4Rezension: Ein wesentliches Wissenschaftsmedium

2.5Formalia: Hauptsache der Darstellung

2.6Zur Vertiefung

Die Form des Historisch Arbeitens

1.Die äußere Gestalt

2.Belegen & Zitieren

2.1Der Anmerkungsapparat

2.2Arten von Zitaten

2.3Die Bibliographie

Anhang

Freud & Leid des Hochschullehrers

In Kürze: Merkblatt für alle Genres

Checklisten

Zu den Vertiefungen

Abbildungsverzeichnis

Nachwort

Einleitung: Historisch! Arbeiten!

Historisch Arbeiten ist kein Hexenwerk, sondern ein Handwerk: ein facettenreiches und kreatives, dessen Ausübung ein ungeheures Privileg darstellt, eines der schönsten Handwerke überhaupt. Man kann es erlernen. Man muss es geduldig erlernen, wenn man es mit Freude und Erkenntnisgewinn betreiben möchte – für sich selbst und für andere.

Zum Zweck des Buches: Geschichtswissenschaft als Handwerk

Übung macht den Meister.1 Wie jedes Metier hat auch Historisch Arbeiten seine eigenen Techniken und Methoden. Das nötige Handwerkszeug stellt diese Handreichung zum Geschichtsstudium vor: anhand von Beispielen aus der konkreten Quellenarbeit und getragen von vielfältigen Erfahrungen aus dem Alltag universitärer Lehrveranstaltungen in mittlerweile gut achtzig Semestern – zunächst als Studenten, später als Hochschullehrer.

Historisch Arbeiten will also gelernt und geübt sein: über viele Semester hinweg, nicht von einem Tag auf den anderen. Zu Lernprozessen gehören auch Fehler. Manche davon sind nachgerade nötig, viele indes unnötig – sie lassen sich durch gründliches Nachdenken und stete Aufmerksamkeit vermeiden. Das gilt zumal für Fehler jenseits der besonderen Regeln unseres Metiers und der Wissenschaft. Rechtschreibfehler beispielsweise braucht man nicht erst zu begehen, um sie vermeiden zu können. Hier heißt es schlichtweg: Arbeiten! Und erst dann: Historisch!

Deshalb weist das vorliegende Buch auch und gerade auf zahlreiche kleine Fehlerquellen hin, aus denen große Enttäuschungen resultieren können: für denjenigen, der historisch arbeitet, ebenso wie für sein Publikum. In dieser Praxisnähe und in seiner unmittelbaren Orientierung am konkreten Arbeitsprozess ergänzt es die mannigfachen Einführungsdarstellungen ins Studium der Geschichte und in die Geschichtswissenschaft.2 Es versucht, exemplarisch darzustellen, was eigentlich gar nicht darstellbar ist. In einer Manufaktur gleicht kein Produkt exakt dem anderen.

Kurzum

Jedes Produkt des Historisch Arbeitens entsteht als Unikat, als kleines Kunstwerk für sich – weil jede Quelle einzigartig ist und ebenso jeder, der darüber nachdenkt. Entwickeln Sie also getrost Handwerkerstolz!

Historisch Arbeiten: Einheit in der Vielheit der Epochen

Historisch Arbeiten ist eine Einheit. Gleichwohl präsentiert sich Geschichte in den Universitäten eher als Vielheit: in eigenen Abteilungen für Alte Geschichte, für Mittelalterliche Geschichte, für Neuere Geschichte und für Zeitgeschichte.3 Diese übliche, oftmals noch weitaus differenziertere Einteilung in Epochen resultiert auch aus praktischen Gründen. Wie jede Wissenschaft ist die Geschichtswissenschaft arbeitsteilig organisiert. Schon einzelne Epochen umfassen ungeheuer viel Quellen-Material, in dem ungeheuer viele Ereignisse und Entwicklungen greifbar werden – handzuhaben wiederum erst mit speziellen Fertigkeiten wie Sprachkenntnissen und Spezialwissen aus der anwachsenden Fachliteratur. Außerdem hat die Geschichte eine Sonderstellung unter den Wissenschaften: Geschichte wird zwar nicht jeden Tag besser, aber wächst mit jedem Tag an! Vergangenheit veraltet nicht, auch „alte“ Deutungen tragen kein Verfallsdatum in sich. Sie verlieren keineswegs ihre Relevanz und Überzeugungskraft, bloß weil sie „alt“ sind.

Man kann die steigende Spezialisierung beklagen, weil der Zusammenhang der gesamten Geschichte immer weniger sichtbar und darstellbar gerät. Aber sie wird mit jedem Fortschritt in Wissen und Methoden unvermeidlicher und schlägt sich zuerst in der Konzentration auf bestimmte Epochen nieder. Manche Historiker beschäftigen sich vornehmlich mit der griechisch-römischen Antike (ca. 1500 v. Chr. bis 600 n. Chr.), andere mit dem christlichen Mittelalter (ca. 600 bis 1450), andere mit der Frühen Neuzeit (ca. 1450 bis 1850), weitere wiederum mit der Geschichte unserer Gegenwart. Zusätzlich zu solchen Spezialisierungen in der Zeit bestehen unzählige andere wie etwa solche im Raum: für die Geschichte bestimmter Orte, Städte, Landschaften, Territorien, Länder, Staaten, Kontinente, ja der Welt insgesamt. Historisch Arbeiten reicht von der Früh- bis zur Zeitgeschichte, von der Lokal- bis hin zur Globalgeschichte.

Mitunter quer zu diesen Spezialisierungen liegen solche, die an bestimmte Quellen, an bestimmte Methoden und an besondere Gegenstände gebunden sind. Das spiegeln die Binnenfächer der Geschichtswissenschaft wider, darunter Politik-, Ideen-, Wirtschafts-, Sozial-, Kultur-, Wissenschafts-, Technik-, Migrations- oder Geschlechtergeschichte und viele mehr. Diese Auflistung gibt nur einen Vorgeschmack auf unterschiedliche Herangehensweisen.4 Letztere stehen überdies oft in engem Kontakt mit Disziplinen außerhalb der Geschichtswissenschaft, die selbst historisch arbeiten: zum Beispiel die Literatur- oder die Rechts- oder die Religions- beziehungsweise Theologiegeschichte oder die Ethnologie.

Diese Zugänge zur Vergangenheit unterscheiden sich weniger im Prinzip als in den jeweiligen Quellen und im konkreten Umgang damit. Kunsthistoriker brauchen zur Analyse ihrer Bildquellen andere Kenntnisse und Methoden als Historiker, die aus Staatsverträgen und amtlichen Korrespondenzen die Geschichte der Internationalen Beziehungen rekonstruieren. Gleichwohl bestehen zwischen allen Binnenfächern sinnvolle Verbindungen, auch zwischen diesen exemplarisch genannten: Rembrandt war Künstler und Diplomat zugleich.

Historiker, die mit seriellen Quellen wie Taufregistern oder Steuerlisten arbeiten, nutzen wiederum andere Analysemethoden: quantitative, im weitesten Sinne statistische. Sie setzen eher sozialwissenschaftliche Verfahren ein als hermeneutische, die ihrerseits auf den Sinn einer Text-, Bild- oder sonstigen Quelle gerichtet sind. Wie viele Quellentypen, so viele besondere Merkmale, die es bei der Deutung zu beachten gilt. Deshalb widmet sich eine eigene Subdisziplin, die sogenannten Historischen Hilfswissenschaften,5 der Nutzbarmachung vor allem vormoderner Quellen mit ihren spezifischen Bestandteilen: zum Beispiel Inschriften (Epigraphik), Münzen (Numismatik) oder Siegel (Sphragistik) – während sich „Digital Humanities“6 einerseits mit digitalen Quellen, andererseits mit der digitalen Aufbereitung von nicht-digitalen Quellen auseinandersetzen.

Zu vielen Teilfächern der Geschichtswissenschaft gehören daher spezielle Konventionen beziehungsweise Praktiken, die in anderen Teilfächern wiederum keine wesentliche Funktion hätten und deshalb kaum genutzt werden (können). Wer römische Inschriften studiert, bedarf anderer Werkzeuge als ein Filmhistoriker – beide brauchen Zitationsweisen, die ihren Quellen gerecht werden, beide benötigen eigene Standardwerke, Fachzeitschriften, Datenbanken und vieles mehr. Sämtliche Spezialdisziplinen und ihre Instrumente aufzulisten, würde den Rahmen dieser Einführung sprengen;7 deshalb finden Sie im Folgenden nur gelegentlich kursorische Verweise auf das jeweils epochen-, disziplin- und quellenspezifische Handwerkszeug – und Beispiele, an denen sichtbar wird, was alle Teilfächer eben doch verbindet.

Denn egal, welche Epoche Sie anhand welcher Quellen und mit welcher Fragestellung untersuchen: Das Prinzip bleibt sich gleich. Historisch Arbeiten verbindet alle, die sich der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte beziehungsweise spezifischer Geschichten widmen. Es bezeichnet eine Denkweise, die wir gemeinsam pflegen – unabhängig vom Gegenstand, an dem wir arbeiten: Wir wollen Vergangenes erklären. Das ureigene Material aller Historiker dazu sind Quellen. Jenseits aller notwendigen Spezialisierungen lautet das besagte gemeinsame Prinzip: „ad fontes“, das heißt: „zu den Quellen“!

Kurzum

Wer historisch arbeitet, richtet seinen Blick immer ad fontes: Jede Untersuchung muss von Quellen ausgehen, dem Rohstoff aller historischen Erkenntnisbildung – und sich mit ihnen auf dem jüngsten Stand der Literatur befassen, also den Werkzeugen der Erkenntnis. Bindeglied zwischen beiden Elementen ist die jeweilige Fragestellung: der Aspekt, unter dem Sie die von Ihnen ausgewählte Quelle untersuchen und erklären.

Was heißt „Historisch Arbeiten“? Zur Orientierung

Umgangsweisen mit Geschichte gibt es viele. Nicht alle davon sind wissenschaftlich angeleitet. Das ist so, und wahrscheinlich muss es sogar so sein. Geschichte gehört nicht den Historikern allein, sondern ist formender Bestandteil kollektiver und individueller Identitäten. Sie dient persönlicher wie gesellschaftlicher Selbstverständigung. Deshalb werden selbst tagespolitische Diskussionen immer wieder im Medium der Geschichte geführt, deshalb betreiben Geschichts-philosophien8 historische Standortbestimmungen.

Historisch Arbeiten hingegen meint mehr und zugleich weniger. Es beschränkt sich nicht auf die Geschichtswissenschaften, sondern lässt sich in allen Disziplinen anwenden. Ein Biologe, der die Entstehung der Arten erforscht, arbeitet im weitesten Sinne historisch, ebenso ein Ökonom, der frühere Wirtschaftskrisen untersucht. Beide möchten Phänomene der Vergangenheit erklären, ebenso wie ein Historiker – idealiter „sine ira et studio“, „ohne Zorn und Parteieifer“,9 wie es der römische Geschichtsschreiber Tacitus formuliert hat. Dieser Rat soll vor einer großen Versuchung bewahren. Sie ist menschlich. Man darf ihr zwar nachgeben, muss es bisweilen womöglich gar: Es ist die Versuchung eines Richteramtes, das Gestalten oder Geschehnisse aus der Vergangenheit für gut oder schlecht, für fortschrittlich oder rückschrittlich befinden zu müssen meint. Jede Gegenwart urteilt über die Vergangenheit und vor allem über deren angebliche Moral oder Unmoral. Aber daraus kann kein wissenschaftlicher Beruf entstehen; Wissenschaft ist kein Weltgericht. Darauf haben die Pioniere der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung bestanden, die Gelehrten des Historismus im 19. Jahrhundert.10 Schauprozesse über die Vergangenheit sind das Gegenteil des Historisch Arbeitens, das verstehen statt verurteilen will.

Ähnliche Vorbehalte gelten für respektive wider Patentrezepte, die sich vermeintlich aus der Vergangenheit für die Gegenwart gewinnen ließen. Derlei gehört gewiss ebenso unvermeidlich zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichte, gewiss aber ebensowenig zur wissenschaftlichen: Der Historiker ist eher „rückwärts gekehrter Prophet“11 als qualifizierter Glaskugelleser für die Zukunft. Wer Gedanken aus den Quellen als angemessen oder gar objektiv richtig beziehungsweise falsch bewerten möchte, arbeitet desgleichen nicht mehr historisch. Moralische, religiöse, ideologische oder psychologische Programmaussagen haben hier keinen Platz. Die Antike für besser oder kultivierter zu halten als das angeblich so dunkle Mittelalter, ist eher ein Urteil des Geschmacks als der wissenschaftlichen Präzision. Historisch Arbeiten heißt Beschreiben, nicht Bewerten.

Daraus folgt nicht, dass man jeder Quelle beizupflichten hätte oder gar gut respektive richtig finden müsste, was sie behauptet – ganz im Gegenteil: Manche Historiker arbeiten an entsetzlichen Quellen. Holocaust-Historiker beispielsweise nutzen die abstoßende Kraft ihrer Quellen, andere hingegen die anziehende. Aus dieser Reibungsenergie gewinnen sie Verständnis dafür, warum es so gekommen ist, wie es gekommen ist. Wer wirklich historisch arbeitet, muss sich seine Helden und seine Ideale vom Leibe halten. Historiker machen sich nicht einmal mit der besten Sache gemein.

Das ist auch der Sinn eines vielfach und vielfach falsch zitierten Mottos, das einer der wirkungsmächtigsten deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts ausgegeben hat, Leopold von Ranke: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beygemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen“.12 Das schließt ein, Aussagen der Zeitgenossen nicht für bare Münze zu nehmen. Vielmehr gilt es, sie zu durchschauen und unausgesprochene Absichten oder Annahmen zwischen den Zeilen zu entdecken. Am Ende kommt es darauf an, die Zeitgenossen zu verstehen: eigentlich sogar besser, als sie selbst ihr eigenes Handeln verstanden hätten.13

In diesem Sinne heißt Historisch Arbeiten also: Geschehnisse, Entwicklungen, Strukturen, Personen et cetera aus der Vergangenheit nachvollziehen und verstehen zu wollen. Das bedeutet vor allem, sich auf die zeitgenössische Sicht der Dinge einzulassen, statt posthume Besserwisserei zu betreiben; es beinhaltet auch, das nachträgliche Wissen um die spätere Entwicklung hintanzustellen – und alles aus seiner Vor- statt Nachgeschichte zu erklären. Historisch arbeitet, wer zu fragen versucht, wie es hat kommen können, nicht aber, wer zu beweisen strebt, wie es habe kommen müssen.

Zahlen, Daten, Fakten sind dabei höchst relevant – als Voraussetzung jeglicher Erkenntnis. Historisch Arbeiten erfordert unbedingt die Kenntnis der handelnden Personen, der Chronologie der Ereignisse, der Geographie und vieler Aspekte mehr. Aber intellektuelle Ordnung entsteht nicht durch bloße Aneinanderreihung von Phänomenen, sondern letztlich durch die Suche nach kausalen Zusammenhängen. Abzuwägen, wo sich tatsächlich Ursache und Wirkung aufeinander beziehen lassen und wo eher nicht, gehört zu den anspruchsvollsten Anforderungen an den Historiker. Das Wissen darum, was geschehen ist, ist erst die notwendige Bedingung für das Ringen um Erklärungen, wie und warum es wahrscheinlich geschehen ist.

Kurzum

Historiker sammeln keine Fakten. Historiker machen Fakten: indem sie entscheiden, welche vergangenen Ereignisse und Entwicklungen ihre Aufmerksamkeit verdienen – und welcher weiteren Ereignisse und Entwicklungen es wiederum bedarf, um sie zu erklären. Historiker müssen begründen, welche ausgewählten Phänomene der Vergangenheit sie für darstellenswert halten und welche nicht. Historisch Arbeiten zwingt zum Weglassen!

Zum Aufbau des Buches: Ein Wegweiser

Dieses Buch folgt idealtypisch den drei großen Schritten auf dem Weg zu einer guten schriftlichen Arbeit oder zu einem gelungenen Vortrag – den gängigsten Darstellungsformen für Erkenntnisse, die aus Historisch Arbeiten entstehen. In der Realität finden diese Schritte nicht nacheinander, sondern nebeneinander statt: nur eben mit unterschiedlichen Schrittweiten in den unterschiedlichen Etappen. Am Anfang des Weges steht meist „Suchen und Finden“, darauf folgt „Lesen und Denken“, am Ende steht „Reden und Schreiben“.

Kurzum

Wissenschaft ist ein Prozess, der niemals abgeschlossen ist. Er endet immer nur vorläufig – als großer Dialog mit allen, die schon einmal zum Thema gearbeitet haben.

Dass der Weg zur Hausarbeit im Folgenden besonders anschaulich dargestellt wird, beruht auf zwei pragmatischen Erwägungen. Erstens stellt die Hausarbeit in allen Teilgebieten der Geschichtswissenschaft eine Art Königsdisziplin des Studiums dar. Dieser auch in vielen Prüfungsordnungen festgelegte Vorrang ist zweitens gut zu rechtfertigen: Wer eine Hausarbeit zu erstellen und also die Resultate seiner Quellenanalyse kompetent darzulegen versteht, wird um so leichter einen anregenden Essay verfassen oder ein überzeugendes Referat halten – oder gar eine Doktorarbeit14 erstellen können.

Suchen und Finden begleitet das Historisch Arbeiten fortwährend, prägt es indes von Anfang an. Die Recherche ist nicht bloß Voraussetzung, sondern bereits wesentlicher Bestandteil des Historisch Arbeitens: Je besser die „Rohstoffe“, desto besser am Ende das „Produkt“. Vorzügliche Bedeutung trägt also die Recherche nach Quellen – sowie nach dem jeweils passenden Instrumentarium: vor allem einschlägige Literatur und Bearbeitungsmittel wie Wörterbücher, Kommentare oder Nachschlagewerke. Anregungen aus anderen Epochen und Disziplinen können eine informierte und interessante Thesenbildung enorm bereichern.

Kurzum

Wer gut sucht, hat also schon gefunden: reichhaltige Quellen, das passende Instrumentarium der Fachliteratur, Anregungen für die eigene Deutung und bereits die erste inhaltliche Ausrichtung der eigenen Studien.

Darauf folgen Lesen und Denken: die konkrete Analyse der entdeckten Quellen mithilfe der recherchierten Literatur – inklusive der Entwicklung einer klaren, im Laufe des Arbeitsprozesses verfeinerten Leitfrage. Sie stellt den Ausgangspunkt jeder Untersuchung dar und bereitet den Weg zur These, das heißt zur umfassenden Erklärung der Quellenbefunde. Erster, aber keineswegs letzter Schritt ist die Be- und Umschreibung der Quellen: um jenen Aspekt zu identifizieren, dem sich die Deutung dann im Besonderen widmet.

Kurzum

Jede Auseinandersetzung mit Quellen zielt darauf ab, ein bestimmtes, genauer: selbst zu definierendes historisches Phänomen besser erklärbar zu machen.

Reden und Schreiben heißt, den sprichwörtlichen roten Faden in die verschiedenen Darstellungsformen hineinzuweben. Indem Sie historisch arbeiten, arbeiten Sie für sich – und zugleich für andere. Wer eine Hausarbeit einreicht, kommuniziert auf wissenschaftlichem Niveau mit seinem Hochschullehrer. Egal ob universitärer Essay oder Zeitungsbeitrag, ob Fachvortrag oder Museumsführung, ob private Diskussionsrunde oder Schulstunde: Vermittlung meint einerseits, sich an den fachlichen Standards für gängige Genres zu orientieren. Andererseits gilt es, die eigene Darstellung dem jeweiligen Publikum und dessen Vorwissen anzupassen – und so in einen Dialog einzutreten.

Kurzum

Worin besteht das Ziel einer historischen Darstellung?

imagesLehren: Dem Publikum etwas in klarer, wissenschaftlich nachvollziehbarer Weise erklären – zum Beispiel ein Ereignis, eine Entwicklung oder eine Struktur aus der Vergangenheit.

imagesBewegen: Das Publikum zum Nachdenken bringen, zur Diskussion anregen – nicht darüber, ob „gut“ war, was geschehen ist, sondern darüber, wie und warum es geschehen ist.

imagesErfreuen: Dem Publikum durch eine schöne Erzählung großes Vergnügen bereiten – also durch eine gute, überzeugende Sprech- und Schreibweise, die eine These erst diskutabel macht.

Die äußere Form ist keine lästige Nebenwirkung des Historisch Arbeitens, sondern gehört zu seiner Eigenart. Formalia schaffen einen äußeren Rahmen für jedwede Erkenntnis. Dazu gehört neben Rechtschreibung, Zeichensetzung & Co. vor allem: eine angemessene, eine präzise, ja eine schöne und gute Sprache, ein Bewusstsein für Stile und Formen überhaupt. Die diversen wissenschaftlichen Genres weisen ihre spezifischen Eigenheiten auf und unterscheiden sich durch ein wesentliches Merkmal von nichtwissenschaftlichen Darstellungen: durch den sogenannten Apparat. Er beinhaltet vollständige, eindeutige Nachweise von Zitaten und Paraphrasen aus Quellen wie Literatur – üblicherweise in Gestalt von Fußnoten, einer Bibliographie, gegebenenfalls Abbildungsnachweisen et cetera. Fehlt der Apparat, verkommt der Künstler zum Banausen, zum Imitator, im schlimmsten Fall gar zum Plagiator.

Konkrete Beispiele, die freilich keinerlei Anspruch auf die ohnehin unmögliche vollständige Erfassung der jeweiligen Quelle erheben, veranschaulichen im Folgenden die einzelnen Arbeitsschritte. Sie beziehen sich in diesem Buch vorwiegend auf den Ersten Weltkrieg: ein intensiv erforschtes Geschehen, das unsere Welt und unsere Weltauffassung bis heute formt, das deshalb auch bis in unsere Gegenwart hinein immer wieder zu großen Debatten führt, unter Historikern wie in der Gesellschaft,15 das sich multiperspektivisch und weit jenseits der eigentlichen Kriegshandlungen untersuchen lässt – und ein Geschehen, an dem besonders deutlich wird, inwiefern Historiker sich in die Wahrnehmung der Zeitgenossen hineinversetzen müssen. Selbst Fotografien aus dem Krieg waren keine Abbilder, sondern auf ihre Weise jeweils Simulationen und Stimulationen der Wirklichkeit; wer historisch arbeitet, befasst sich nicht allein, aber eben auch mit vergangenen Bedeutungszuweisungen, wie sie etwa auf einer Feldpostkarte mit der Motivbeschriftung „Mittagspause im Feindesland“ erfolgte (siehe S. 143).

Bei allen Aha-Erlebnissen, die sich aus den Beispielen ergeben mögen, gilt: Historisch Arbeiten geschieht in der Manufaktur, nicht am Fließband. 08/15 ist eine höchst ungeistige Angelegenheit – und als Metapher übrigens ein Beleg für die anhaltende Bedeutung des Ersten Weltkriegs: 08/15 war ursprünglich nur die Bezeichnung eines deutschen Maschinengewehres, ist aber zur Chiffre für die im Krieg forcierte Standardisierung geworden.16 Auch deshalb lädt dieses Buch zu verschiedenen Lektüren ein. Die Lektüre primär anhand der typographisch abgesetzten Beispiele (vor allem im Abschnitt „Lesen & Denken“) ist eine unter mehreren Möglichkeiten. Wer mag, kann umgekehrt vorgehen und auf die konkreten Beispiele gerade verzichten – um sich an den etwas abstrakter gefassten Regeln zu orientieren. Wer sich einen ersten Überblick verschaffen möchte oder bereits intensive eigene Erfahrungen erworben hat, mag wiederum nur einzelne Teile des gesamten Buches ausführlich studieren und seine Lektüre auf die Rubrik Kurzum konzentrieren wollen, oder sich von fett gedrucktem Merksatz zu fett gedrucktem Merksatz hangeln. Wer hingegen ganz am Anfang des Studiums (oder vielleicht auch einer Hausarbeit in der Schule) steht, dürfte von einer geschlossenen Lektüre des Buches von der ersten bis zur letzten Seite besonders profitieren: Es soll als genereller Ratgeber ebenso dienen wie als konkreter Begleiter für die einzelnen Arbeitsschritte. Ein Anhang mit diversen Checklisten, die auch unabhängig von der weiteren Lektüre zur Anwendung kommen können, soll eine Selbst-Überprüfung ermöglichen; dieser Anhang umfasst zudem Reflexionen zu den diversen Vertiefungs-Übungen, die am Ende der einzelnen Buchkapitel stehen.

Suchen und Finden, Lesen und Denken, Schreiben und Reden sind die tragenden Elemente des Historisch Arbeitens. Sie ruhen auf dem Fundament der Formalia. So wie die nebenstehende Abbildung ist auch dieses Buch insgesamt notwendigerweise idealtypisch angelegt. Es beschreibt das Wesen des Historisch Arbeitens und bildet es auf einen idealen und zugleich einen typischen Verlauf eigener Studien ab. Die drei Elemente Suchen und Finden, Lesen und Denken sowie Schreiben und Reden stellen drei Arbeitsphasen dar – die sich in der Theorie gut scheiden lassen, in der Praxis allerdings zeitlich wie gedanklich überlagern. Die Recherche, die hier am Anfang dargestellt ist, begleitet selbstverständlich den gesamten Arbeitsablauf; gelesen und gedacht werden muss bereits beim Suchen und Finden. Während des Schreibens, ja selbst beim Reden wiederum findet immer ein Denkprozess statt, der bisweilen zu neuen Rechercheaufträgen führt. Das geschieht nicht, weil man es sich vornimmt, sondern ist eine List der Vernunft, gegen die sich niemand schützen kann: glücklicherweise!

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Abb. 1: Elemente des Historisch Arbeitens

Daraus geht hervor, was das vorliegende Buch nicht darstellen kann: eine Patentlösung für alle denkbaren Fälle des Historisch Arbeitens oder für die Analyse einzelner Quellen. Jeder Handwerker hat seine eigenen Fertigkeiten, individuell angeeignet aus allgemeinen Anleitungen; er passt seinen Werkzeugkasten stets an seine Erkenntnisbedürfnisse und die Beschaffenheit seines Materials an, nutzt seine eigenen Methoden, seine eigenen Kniffe, seine eigenen Techniken der Selbstüberlistung. Zu jeder Fragestellung und Darstellung gehört immer auch die Persönlichkeit des Fragenden beziehungsweise Darstellenden. Deshalb versteht sich dieses Buch vornehmlich als erfahrungsgesättigte und systematisierte Sammlung von Hinweisen, worauf es beim Historisch Arbeiten ankommt.

Kurzum

Historisch Arbeiten macht Lust: zunächst einmal Ihnen selbst, dann aber Ihrem Publikum – konkret etwa durch einen neugierig stimmenden Titel, durch eine anregende (gerne auch kontroverse) These, durch eine transparente Gliederung Ihrer Darstellung, nicht zuletzt durch eine schöne sprachliche Ausgestaltung.

1Auch den
großen Meister macht die Übung, wie etwa die folgende Sammlung von Schreiberfahrungen prominenter Gelehrter lehrt: Narr, Wolf-Dieter/Stary, Joachim (Hg.): Lust und Last des Wissenschaftlichen Schreibens. Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer geben Studierenden Tips, Frankfurt am Main 22000.

2Darunter wären etwa zu empfehlen: Jordan, Stefan: Einführung in das Geschichtsstudium, Stuttgart 2005; Freytag, Nils/Piereth, Wolfgang: Kursbuch Geschichte. Tipps und Regeln für wissenschaftliches Arbeiten, Paderborn 52011. Mit Blick auf das Internet: Danker, Uwe/Schwabe, Astrid: Geschichte im Internet, Stuttgart 2017.

3Daran orientieren sich auch empfehlenswerte praxisnahe Einführungsdarstellungen wie: Blum, Hartmut/Wolters, Reinhard: Alte Geschichte studieren, Konstanz 22011; Hartmann, Martina: Mittelalterliche Geschichte studieren, Konstanz 2004; Emich, Birgit: Geschichte der Frühen Neuzeit studieren, Konstanz 2006; Wolbring, Barbara: Neuere Geschichte studieren, Konstanz 2006.

4Details etwa bei: Jordan, Stefan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 32015; Cornelißen, Christoph (Hg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt am Main 42000.

5Brandt, Ahasver von: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Stuttgart 182012.

6Jannidis, Fotis/Kohle, Hubertus/Rehbein, Malte (Hg.): Digital Humanities. Eine Einführung, Stuttgart 2017.

7Orientierung stiften etwa: Eibach, Joachim/Lottes, Günter (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 22011; Goertz, Hans-Jürgen (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 32007.

8Baberowski, Jörg: Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005. Einen Überblick anhand von Quellentexten ermöglichen: Hardtwig, Wolfgang (Hg.): Über das Studium der Geschichte, München 1990; Rau, Susanne/Studt, Birgit (Hg.): Geschichte schreiben. Ein Quellen- und Studienhandbuch zur Historiographie (ca. 1350–1750), Berlin 2010.

9Tac. Ann. I 1.

10Jaeger, Friedrich/Rüsen, Jörn: Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992; Nordalm, Jens (Hg.): Historismus im 19. Jahrhundert. Geschichtsschreibung von Niebuhr bis Meinecke, Stuttgart 2006.

11So besagt das vielzitierte Fragment: Schlegel, Friedrich: Athenaeum, Band 1 (1798), Zweytes Stück, S. 20.

12Ranke, Leopold von: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Leipzig/Berlin 1824, S. Vf.

13Oder in Humboldts Formulierung: Der Historiker sucht nach „Ideen, die, ihrer Natur nach, ausser dem Kreise der Endlichkeit liegen, aber die Weltgeschichte in allen ihren Theilen durchwalten und beherrschen“: Humboldt, Wilhelm von: Über die Aufgabe des Geschichtschreibers, in: Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden, Band 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, hg. v. Andreas Flitner/Klaus Giel, Darmstadt 1960, S. 585–606, hier: S. 601.

14Dazu unübertroffen und auch im Digitalzeitalter unverändert gültig: Eco, Umberto: Wie man eine wissenschaftliche Abschlußarbeit schreibt. Doktor-, Diplom- und Magisterarbeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Heidelberg 122007.

15Wie etwa im Falle von: Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013 – zur kontroversen Rezeption exemplarisch: Winkler, Heinrich August: Und erlöse uns von der Kriegsschuld, in: Die Zeit, 31. Juli 2014, S. 14.

16Die bis heute bestehenden DIN-Normen gehen auf den im Jahre 1917 gegründeten Normenausschuß für den Maschinenbau zurück: Berz, Peter: 08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts, München 2001, S. 73–76.

Suchen & Finden

Die Materialrecherche ist die Voraussetzung für ein gutes und erfolgreiches Studium, mithin auch die Kernkompetenz für gelungene Hausarbeiten sowie alle anderen Genres. Zum einen weisen Sie mit der eigenständigen Recherche eine wesentliche Befähigung zur Wissenschaft nach. Zum anderen entscheidet die Qualität Ihres Materials über die Qualität Ihrer Arbeit – also auch über deren Benotung. In der Regel erhalten Sie von Ihrem Hochschullehrer zwar bereits Hinweise auf wichtige Werke, die Sie aber keineswegs von der Pflicht zur eigenständigen, vertieften Suche entbinden.

Am Anfang einer wissenschaftlichen Arbeit stehen das Interesse für ein bestimmtes Thema und die Entwicklung einer provisorischen Fragestellung. Darauf folgt die Recherche des Materials, also der Quellen und Literatur – rasche Rückwirkungen auf die Definition Ihres Themas eingeschlossen. Auch wenn wir im Folgenden Quellen- und Literaturrecherche separat vorstellen, gehen in der Praxis beide Formen meist Hand in Hand.

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Abb. 2: Der Einstieg in die Arbeit

1. Recherchestrategien

Bei allen Themen lohnt es sich, verschiedene Strategien für die Suche in Bibliothekskatalogen und Datenbanken anzuwenden. Das heißt zum Beispiel, freie Suche, Schlagwortsuche, Suche nach Erscheinungsdatum und anderes zu kombinieren. Außerdem lohnt es sich stets, die Suchworte etwa auch in englischer und französischer Schreibweise einzugeben. Erstens ist gerade bei älteren Datensätzen die Verschlagwortung bisweilen suboptimal, so dass Sie einschlägige Titel verfehlen könnten. Zweitens sollten Sie grundsätzlich fremdsprachige Literatur in die Recherche einbeziehen, denn Wissenschaft darf nicht an Sprachgrenzen enden. Häufig sind nur kleinere Änderungen nötig, bisweilen unterscheiden sich die Begrifflichkeiten deutlich: Der „Delisch-attische Seebund“ heißt im Englischen „Delian League“, die „Dunklen Jahrhunderte“ der Bronzezeit sind indes von den „Dark Ages“ des Mediävisten zu unterscheiden – und der „Erste Weltkrieg“ wird als „Great War“ bezeichnet.

Mit zunehmender Erfahrung werden Sie Ihre Suchstrategien und dadurch Ihre Ergebnisse verbessern. Wie Sie Ihre Recherchefähigkeiten erhöhen und die Angebote der Kataloge über die triviale Titelstichwortsuche hinaus besser nutzen, müssen Sie selbst ausprobieren. Dabei helfen Ihnen Einführungskurse, die es an den meisten Universitätsbibliotheken gibt, Online-Hilfen etwa bei den Verbundkatalogen und eigene Bücher.17

2. Ad fontes! – Wege zu den Quellen

Quellen stellen die Basis jedweder historischen Arbeit dar. Entsprechend bedeutsam ist die Suche nach geeigneten Quellen – ob Sie nun für eine konkrete Fragestellung einschlägige Quellen suchen oder Quellenbestände auf der Suche nach lohnenden Fragestellungen systematisch durchforsten. Die Wege zu den Quellen sind so vielfältig wie die Quellen selbst.

2.1 Quellenformen

Quellen können in verschiedenen Formen vorliegen – im Original oder vervielfältigt, gegenständlich, gedruckt, digital. Für die Quellenrecherche ist zunächst die Trennung zwischen edierten und unedierten Quellen bedeutsam. Unedierte Quellen liegen gewissermaßen in Rohform vor, im Originalzustand oder was im Laufe der Zeit davon übrigblieb. Das können Originalschriftquellen sein, Bilder oder materielle Quellen (Orden, Kleidung, Denkmäler oder Ruinen und vieles andere mehr), auch immaterielle Quellen (wie Sitten, Gebräuche, mündlich tradierte Erzählungen). Manche Quellen werden in Museen und Archiven aufbewahrt, andere auch auf dem Dachboden Ihrer Großeltern oder (im Falle von Bauwerken und Monumenten) in aller Öffentlichkeit, andere stecken wortwörtlich in den Menschen: Sagen, Volkslieder, Manieren und mehr.

Edierte Quellen – zumeist Schrift- oder Bildquellen, aber auch materielle Zeugnisse – stellen eine nach wissenschaftlichen Kriterien aufbereitete Form von Quellen dar, ob gedruckt oder digital. Erst die Edition macht die Originale einem breiteren Nutzerkreis zugänglich. Außerdem vermittelt sie wichtige zusätzliche Informationen über Zustand, Überlieferungswege (Fundkontext bei archäologischen Zeugnissen, handschriftliche Überlieferung bei Texten) und dergleichen. Bei vielen schriftlichen Quellen beginnt die Edition mit Entzifferungsarbeit, etwa bei antiken Papyri oder mittelalterlichen Handschriften. Doch selbst neuzeitliche Schriftquellen wie eine Feldpostkarte müssen zunächst im Wortsinne genau gelesen und entschlüsselt werden. Quelleneditionen sind Produkte historisch-kritischer Forschung und daher nicht identisch mit der Originalquelle. Gute Editionen zeichnen den Weg vom Original zur Edition nach.

Je nach Quellentypus und Quellengattung unterscheidet sich die Gestaltung der Editionen. Bei Bildquellen besteht sie zumeist aus einer gedruckten oder digitalen Reproduktion, kombiniert mit ergänzendem Textkommentar, dessen Umfang sehr unterschiedlich ausfallen kann. Bei gegenständlichen Quellen ist eine genaue Beschreibung des Objektes sowie der Fund- und Überlieferungsumstände angefügt (insbesondere bei Quellen, die durch archäologische Grabungen zutage gefördert wurden).

Schriftquellen werden wissenschaftlich durch sogenannte kritische Editionen erschlossen, in denen in der Regel ein kritischer Apparat erläutert, wie die Original-Quelle in gedruckte Form gebracht wurde – angefangen mit der Definition, was denn das „Original“ sei. Bei einer mittelalterlichen Urkunde aus dem Archiv scheint die Frage noch leicht beantwortbar (wenngleich deren Echtheit und die mögliche Existenz weiterer handschriftlicher Exemplare auch hier zu prüfen sind). Doch welches ist das „Original“ eines geläufigen Quellentextes wie Caesars Bericht über den Gallischen Krieg? Die Antwort lautet in diesem Fall schlicht: keines! Das Original-Manuskript, das Caesar seinen Schreibern diktierte, ist unwiederbringlich verloren. Wir besitzen lediglich Abschriften aus späterer Zeit, die durch einen jahrhundertelangen Abschreibeprozess auf uns gekommen sind; in diesem Beispiel datieren die ältesten Handschriften, deren gemeinsame spätantike Vorlage nicht mehr erhalten ist, aus dem 9. Jahrhundert. Der Text von Caesars Commentarii, den Sie möglicherweise im Lateinunterricht in Buchform vorliegen hatten, resultiert aus Versuchen, den wenigstens teilweise entstellten – sei es durch Abschreibfehler, sei es durch aktive „Korrekturen“ – „Originaltext“ auf Basis viel jüngerer Handschriften zu rekonstruieren. Über diese Versuche legen in wissenschaftlichen Editionen die kritischen Apparate Rechenschaft ab, indem sie verschiedene Lesarten wiedergeben und bewerten: bei Caesars Commentarii wie bei sämtlichen anderen antiken literarischen Texten.

Doch nicht nur antike Quellen oder mittelalterliche Urkunden bedürfen einer solchen Edition, um über einen engen Kreis von Spezialisten hinaus für Historisch Arbeiten benutzbar zu werden. Selbst moderne, gedruckte Quellen haben eine mitunter komplexe Entstehungsgeschichte: so beispielsweise Ernst Jüngers Beststeller „In Stahlgewittern“ – die mehrfach überarbeiten Kriegstagebücher des Autors aus dem Ersten Weltkrieg, bei denen sich die Auflagen erheblich voneinander unterscheiden. Kritische Ausgaben versetzen Sie also in die Lage, selbst ad fontes zu gehen, ohne das jeweilige Original selbst in der Hand zu haben.

Kurzum

Benutzen Sie – wo immer möglich – eine solide, wissenschaftliche Quellenedition!

2.2 Archive: Schatzkammern des Historikers

Wer die Maxime „ad fontes!“ ernst nimmt, findet auch den Weg ins Archiv. Archive sind die Schatzkammern der Quellenarbeit. Quellen aus Archiven sind zwar nicht „besser“ oder „schlechter“ als Quellen aus Editionen, die ihrerseits wiederum meist aus Archivbeständen erarbeitet werden – aber weitaus weniger genutzt: Hier besteht die Chance zu echten Pioniertaten. In Archiven können Sie Quellen entdecken, an denen bislang kaum jemand oder vielleicht noch niemand gearbeitet hat. Nutzen Sie die Gelegenheiten, die Ihnen Archive in der Umgebung bieten – fast immer sogar unentgeltlich!

Woher weiß man, welches Archiv für die eigenen Studien relevant ist? Erste Hinweise geben Quelleneditionen oder Fachliteratur: Sie weisen die Herkunft ihrer Quellen nach. Am Fundort können Sie oft ähnliche oder weitere Quellen finden. Einen zentralen Katalog für die Bestände aller Archive gibt es freilich nicht, auch keine Datenbank, die alle Archivalien erfasste – aber doch Portale, die diesem Zwecke für einzelne Länder oder Themen zumindest nahekommen: darunter der Kalliope-Verbund für Nachlässe und Autographen (http://kalliope-verbund.info) oder das Archivportal-D (https://www.archivportal-d.de). Größere Archive, insbesondere das Bundesarchiv (http://www.bundesarchiv.de) und die Archive der Bundesländer, ermöglichen oft online eine erste Bestandsübersicht; kleinere Archive können diese Aufgabe selten leisten, haben aber oft faszinierende Bestände.

Am Anfang steht die Überlegung, welche Quellen in welcher Art von Archiven am ehesten erhalten sein könnten. Viele Faktoren sind dabei zu beachten: der erwartete Inhalt der Quelle, die erwartete Art der Quelle, nach der Sie suchen, ihre Provenienz (Herkunft), das Schicksal ihrer Überlieferung – etwa Beute-Archivalien aus Kriegszeiten. Quellen, die unmittelbar mit dem Staat verbunden sind, finden Sie naturgemäß am ehesten in staatlichen Archiven, Quellen über unternehmerische Aktivitäten in Unternehmensarchiven, Taufregister und Vergleichbares in kirchlichen Archiven. Einen Überblick über die wichtigsten Archive und einen ersten Einblick in die Archivkunde erhalten Sie andernorts leicht.18 In Deutschland bestehen unter anderem folgende Arten von wichtigen Archiven:

imagesStaatsarchive: Bundesarchiv, Archive der Bundesländer, Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

imagesKommunale Archive (bei kleinen Gemeinden ohne eigenen Archivar oftmals im zuständigen Kreisarchiv integriert).

imagesKirchliche Archive: meist in den jeweiligen Landeskirchen oder Bistümern organisiert (bisweilen auch in staatlicher Obhut).

imagesWirtschaftsarchive: Größere Unternehmen verfügen oftmals über eigene Firmenarchive, ebenso manche Verlage. Es gibt aber auch eigenständige Archive wie das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv zu Köln.

imagesAdelsarchive: Traditionsreiche Adelshäuser unterhalten bisweilen eigene, mitunter ungenutzte Archive, bisweilen wird ihre Überlieferung als Depositum in Staatsarchiven aufbewahrt.

imagesUniversitätsarchive: Viele Universitäten führen eigene Archive, wichtige einschlägige Quellen lagern indes oft in Staatsarchiven.

imagesWissenschaftliche Institutionen: beispielsweise das Deutsche Literaturarchiv in Marbach oder das Deutsche Musikarchiv, das der Deutschen Nationalbibliothek angegliedert ist.

imagesParteien, Verbände, Stiftungen, Vereine und Gewerkschaften besitzen oft eigene Archive.

imagesGedenkstätten sind in mancher Hinsicht selbst Archive, manchmal sind ihnen eigene Archive angegliedert (etwa unter Begriffen wie „Dokumentationszentrum“).

imagesPrivate Nachlässe aller Art: Der Deutsche Bundestag hat Stiftungen für die Pflege der Archivalien einiger besonders bedeutender Politiker gegründet (derzeit namentlich: Otto von Bismarck, Friedrich Ebert, Konrad Adenauer, Theodor Heuss, Willy Brandt, Helmut Schmidt) – doch die meisten Nachlässe unter anderem bedeutender Politiker und Künstler werden als Deposita in einschlägigen Archiven (wie Parteistiftungen) oder in Privatregie aufbewahrt.

Die Benutzung der Archive ist in Benutzungsordnungen geregelt. Machen Sie sich damit am besten vertraut, ehe Sie eine weite Reise zum Archiv antreten: Zum Beispiel gibt es oftmals feste Bestellzeiten für die Lesesäle und andere Regularien. Sie sind für Ihre Recherchen ebenso wichtig wie generelle Regeln. Staatliche (und manche kirchlichen) Archive unterscheiden sich prinzipiell von privaten. Letztere dürfen willkürlich selbst entscheiden, wem sie welche Quellen vorlegen, und bestimmen selbst über die Bedingungen der Benutzung und Verwertung; vielfach müssen Sie zunächst Ihr Forschungsinteresse benennen, ehe Sie Zugang bekommen oder eben auch nicht. Anderes verhält es sich bei ersteren: Hier haben Sie als Staatsbürger einen Rechtsanspruch auf Einsicht in Archivalien, der seine Grenzen nur in gesetzlich genau fixierten Einschränkungen findet – wie insbesondere dem Schutz der Privatsphäre (ein großes Streitthema etwa bei der Nutzung der „Stasi-Unterlagen“, von denen manche gar nicht oder nur teilweise geschwärzt zugänglich sind) und Sperrfristen (meist 30 Jahre, in manchen Fällen auch länger, potentiell ewig, so laut Bundesarchivgesetz dann, wenn „das Wohl der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährdet würde“19).

Übrigens verfügen viele Archive auch über mehr oder weniger umfangreiche Bibliotheken, die zu den jeweiligen Beständen passen: Nutzen Sie auch diese Möglichkeiten! Und vor allem: Nehmen Sie vorab Kontakt zu den Experten auf – die jeweiligen Archivare freuen sich über die Zusammenarbeit mit Archivbenutzern und kennen die Bestände selbst meist so gut, dass sie oft geradezu sprechende Findbücher sind. Sie geben Ihnen wertvolle Tips für Ihre Recherche. Zuvor sollten Sie sich freilich mit der Bestände-Übersicht befassen und, falls verfügbar, mit den einschlägigen Findmitteln: Repertorien oder Findbücher verzeichnen die Bestände eines Archives und erfassen sie bisweilen bereits so feingliedrig, dass Sie vorab gezielt bestimmte Bestände (mit entsprechenden Signaturen erfasst) zur Einsicht vor Ort im Archiv bestellen können.

Für die Suche nach Nachlässen bestimmter Personen eignen sich etwa der Kalliope Verbundkatalog (http://kalliope-verbund.info) oder die Nachlassdatenbank des Bundesarchives (http://www.nachlassdatenbank.de). Wenn Sie beispielsweise mehr über die Entstehung des „Aufrufs an die Kulturwelt“ (siehe S. 142) erfahren wollen, könnten Sie nach Nachlässen der Unterzeichner suchen. Dazu zählte auch der renommierte Archäologe Wilhelm Dörpfeld, dessen Unterlagen teilweise im Wuppertaler Stadtarchiv aufbewahrt werden.20

2.3 Digitale Sammlungen und Editionen

Internet und Digitalisierung haben die Suche nach Quellen einerseits erleichtert. Andererseits verliert man in der schieren Unübersichtlichkeit der Angebote leicht den Überblick. Insbesondere in der scheinbar mühelosen Verfügbarkeit liegen Gefahren. So verführerisch es ist, eine Suchanfrage bei Google abzuschicken und dem erstbesten Treffer zu folgen, so groß ist auch die Gefahr, aufs Glatteis zu geraten.