Über das Buch

Wenn die Frage »Gehen oder bleiben?« mehr Zeit beansprucht als die Planung des nächsten Urlaubs, dann raten Heike Blümner und Laura Ewert: Natürlich gehen! Schmissig erklären sie, wie wir uns aus toxischen Beziehungen lösen können, warum Untreue nicht unbedingt, kein Sex jedoch fast immer zur Trennung führt, welche finanziellen Hürden Trennungswillige nehmen müssen. Und was uns danach erwartet. Denn wer die Trennung wagt, wird viel gewinnen.

Heike Blümner Laura Ewert

Schluss jetzt

Von der Freiheit sich zu trennen

hanserblau

1

Wir müssen reden

Endlich besser trennen

Eine unglückliche Beziehung ist noch lange kein Grund für eine Trennung. So manch ein Paar wird das müde nickend bestätigen, dabei die Tischdecke glatt streichen oder sich der Pflege der Zimmerpflanze zuwenden. Und dass eine unglückliche Ehe einem der beiden Partner nicht als Grund ausreicht, einer Scheidung zuzustimmen, erfahren wiederum die Eheleute, die am Tisch des Scheidungsanwaltes sitzen und die Zukunft unterschiedlich bewerten. Sie starren auf die Maserung des Holzes, in der Hoffnung, dort eine hilfreiche Botschaft zu entdecken.

Dass jedoch im Jahr 2018 eine »unglückliche« Ehe dem höchsten Gericht in Großbritannien nicht als Scheidungsgrund genügte, löste nicht nur Empörung sondern auch ein leichtes Gefühl von Platzangst aus: Tini Owens wollte sich nach vierzig Jahren von ihrem Ehemann Hugh scheiden lassen, aber der Supreme Court entschied, dass ihr gefühltes Unglück nicht relevant genug sei. Tini ist Ende sechzig, ihr Mann um die achtzig, und sie findet, dass ihre Beziehung am Ende ist, die Liebe verschwunden, und dass ihr Mann sich oft »unvernünftig« verhalten habe. Wofür diese Verhandlung ganz nebenbei der beste Beweis war. Dort nämlich verkündete Ehemann Hugh, er wolle sich partout nicht scheiden lassen. Die Ehe mit Tini sei zwar »keine emotional intensive Beziehung«, aber man hätte es doch viele Jahre geschafft, »schlecht und recht miteinander auszukommen«. Doch seine Frau ist nicht davon abzubringen, seit drei Jahren besteht sie auf die Scheidung. Das Gericht sagt, sie müsse mindestens fünf warten.

Kaum jemand trennt sich plötzlich und aus einer Zerstörungswut heraus. Trennungsabsichten werden in den meisten Fällen unzählige Tage, Nächte, Duschgänge und Autofahrten länger bedacht, als die in leidenschaftlicher Unzurechnungsfähigkeit gehauchten »Wollen wir zusammenziehen?« oder »Willst du mich heiraten?«. Ist der Bund jedoch einmal geschlossen, gilt auch in Deutschland von staatlicher Seite, dass sich nicht leicht lösen kann, was einfach nicht zusammengehört. Niemand macht einem das Trennen leicht: man selbst nicht, der Partner nicht und die Institutionen auch nicht.

Hierzulande muss ein Ehepartner mit Trennungswillen ohne den davon überzeugten Gegenpart zwar in der Regel nur ein Jahr auf die Scheidung warten, aber wenn einer von beiden störrisch ist, muss der, der die Beziehung verlassen möchte, beweisen, dass das Trennungsjahr ohne Rückfälle abgeschlossen wurde. Übersetzt bedeutet das: Unter Umständen muss recht schmutzige Wäsche sehr öffentlich gewaschen werden. Findige Anwälte werden bei Bedarf weitere Verzögerungstaktiken aus dem Hut zu zaubern wissen, die im Zweifelsfall maximal die Genugtuung ihrer Mandanten mit sich bringen.

In Extremfällen gibt es theoretisch noch die fristlose »Blitzscheidung« — ein kongenialer Begriff, der den bellizistischen Aspekt dieses Unterfangens genauso andeutet wie die Kehrseite der Liebe auf den ersten Blick. Die Blitzscheidung kann jedoch nur einschlagen, wenn die Ehe »eine unzumutbare Härte« für mindestens einen der Partner darstellt. Das Internet läuft über mit Kanzleien, die ihre Dienste speziell für diese Fälle anbieten. Auf der Website eines dieser Befreiungs-Spezialisten wird sicherheitshalber jedoch gleich erwähnt, dass für dieses Unterfangen »hohe Anforderungen« gelten. Entscheidend sei »wie ein vernünftig denkender Dritter die Lage einschätzen würde«. Damit ist vermutlich ein Richter gemeint. Allein die Wahl dieser Formulierung beweist, dass es um die Vernunft von sich trennenden Menschen oft nicht zum Besten steht. Und dass sich mit der Prüfung auf vorfristliche Trennung gut auf Klientenfang gehen lässt. Bestimmt auch, weil das persönliche Unglück sich akut immer wie ein Härtefall anfühlt. Doch nach unten ist viel Luft: Misshandlungen, Morddrohungen oder sogar der Verdacht auf Tötung von Angehörigen waren bisher unter anderem vor Gericht anerkannte Gründe für die schnelle Scheidung. Die Nicht-Mitgliedschaft in diesem Club versüßt den Scheidungswilligen immerhin die Wartezeit.

Meistens sind es allerdings nicht Gerichte oder Gesetze, sondern wir selbst, die uns im Wege stehen. Das Durchstehen einer Trennung gleicht nicht selten einem emotionalen Bootcamp, es treibt einen an die eigenen Grenzen. Die vielsagenden Worte »Wir müssen reden« oder »Es geht nicht mehr« müssen rausgewürgt werden. Themen angesprochen, die jahrelang runtergeschluckt wurden. Warum eigentlich? Weil die Angst vor den Folgen zu groß war. Zu groß die Sorge, jemand könnte verletzt werden. Und nun haben sich die Folgen blöderweise verselbstständigt. Derjenige, der diese Worte zuerst ausspricht, befindet sich in einer merkwürdigen Position. Einerseits so nah bei sich, und gleichzeitig ist es, als hätte er oder sie den Raum verlassen und schaute sich bei allem nur noch zu. Es ist ein bizarrer Moment, in dem der vertrauteste Mensch schlagartig auf Distanz gebracht wird. Fünf, zehn oder mehr Jahre war dieser Mensch selbstverständlich berührbar, nach diesem Moment ist er es nicht mehr. Wann haben wir uns überhaupt das letzte Mal geküsst? So richtig?

Eine letzte Umarmung vielleicht. Noch eine. Eventuell der ungelenke Versuch von Trost durch genau die falsche Person. Denn der Körper ist schon halb weg. Flüchtet genau in die andere Richtung. Nicht mehr in den anderen rein, immer tiefer und tiefer, wie damals, als alles anfing. Sondern raus, als würde der andere Körper ausgeschieden und der eigene wieder geschlossen. Wie in einem Science-Fiction-Film, in dem ein Alien aufgibt, einen menschlichen Körper zu übernehmen.

Es nützt von daher nichts, etwas anderes zu behaupten: Trennungen und Scheidungen sind erst mal mies. Allen Beteiligten tut es weh, mindestens einem von beiden leid. Kinder wünschen sich Zauberstäbe zu Weihnachten, um die Eltern wieder zusammen zu zaubern, und weil sie schon mal dabei sind, gleich noch ein Geschwisterchen dazu. Und als wäre das alles nicht schlimm genug, muss man nach einer Trennung ständig zu Ikea fahren. Dort fließen plötzlich Tränen, ausgerechnet in der Badezimmerabteilung. Sie tropfen auf die Handtücher, die zum Glück »besonders saugfähig« sind. Heimlich schnäuzt man sich in den Waschlappen, lässt ihn unauffällig im Mülleimer zurück. Ein Notfall. Das Äquivalent zum Mundraub.

Der Legende nach ist Liebeskummer schrecklicher, je früher im Leben er stattfindet. Erwachsene Menschen, die sonst eher nicht als Empathiker durchgehen und nicht einmal mit dem jugendlichen Opfer verwandt sind, schauen es wissend an oder zwinkern ihm zu: »Ist es der Erste?« Seufzen. Dechiffriert bedeutet das: Jeder muss da mal durch, der Schnitt durchs Herz vernarbt. Danach wird es nie wieder so schlimm wie mit Leo aus der zwölften Klasse.

In den folgenden Jahren wird diese Hoffnung implodieren wie Leos Wunsch, Fußballprofi zu werden. Denn während auf der einen Seite Träume kleiner werden, wird bei der Realität ordentlich draufgelegt: Eventuell kommen Kinder hinzu, mehr oder weniger erfüllende Berufe, Vereinsmitgliedschaften, Kredite, Besitz von Hunden oder Häusern und andere, nicht in Zahlen messbare Verpflichtungen. Ehe man sichs versieht, hat man eine »Vergangenheit«. Und die ist zwar weniger glamourös, aber ähnlich kompliziert wie die einer Hollywooddiva. Sich anständig zu trennen, während wir zwischen Vergangenheit und Zukunft stehen, ist eine oscarreife Leistung. Wir sind Regisseur, Produzent und Hauptdarsteller, das Drehbuch ist sperrig, und wir auch noch dessen Co-Autor. Meistens wird während der Produktion auch noch das Budget knapp. Und dennoch: Die besten Filme entstehen gerade nicht, wenn alles immer nach Plan läuft.

Geschichten von der Liebe werden aus Gewohnheit lieber vom Anfang her erzählt, und wenn ein Ende darin vorkommt, dann sollte es doch bitte mit dem Attribut happy versehen werden. Doch auch dem Ende wohnt ein Zauber inne. Trennungsgeschichten haben einen unterschätzten Thrill. Ohne sie wüssten wir weniger über die Irrungen und Wirrungen der Liebe und noch weniger über uns selbst. Wir können die eigenen Unzulänglichkeiten nicht mehr übersehen. Wünsche müssen nicht mehr von den Augen des Gegenübers abgelesen werden. Mehr noch: Eine Trennung ist ein Crashkurs in Sachen eigener Strapazierfähigkeit. Es ist zwar anstrengend, aber es bilden sich auch Fähigkeiten heraus, die in einer Zweierbeziehung oft verkümmern.

Bevor hier Missverständnisse aufkommen: Glückliche Paare machen sich nicht nur als Figürchen auf Hochzeitstorten gut. Auch in echt sind sie hübsch anzusehen. Wie sie zu zweit in Restaurants sitzen und sich unterhalten, wie sie sich gegenseitig stützen, wenn der Weg abschüssig ist. Ein Hoch auf die Liebe! Jedes glückliche Paar macht die Welt zu einem besseren Ort. Nur gibt es eben längst nicht genug von diesen glücklichen Paaren. Zu viele Menschen harren immer noch dauerhaft zu zweit in ihrem selbst gezimmerten Leid aus. Von außen scheint es oft unbegreiflich. Meistens ist es wohl die Angst vor der Bewegung, die dazu führt, dass Unglückliche einfach bleiben, komme, was wolle. Die Angst vor Verlust wird mit Liebe verwechselt.

Dabei ist auch das Trennen ein Akt der Liebe. Auch der Liebe zu sich selbst. Wer Trennen nicht als Scheitern begreift, wird Beziehungen und romantische Liebe realistischer einschätzen können. Denn nur wer sich bewusst macht, warum er oder sie sich trennen muss, wird auch herausfinden, wie er lieben kann. Verstehen, wann Absprung, wann Dranbleiben gefordert ist. Eine Trennung ist eben nicht die bloße Zerstörung des Verlassenen. Es ist wichtig, das Image von Trennungen zu verbessern. Nicht um eine Flucht beim ersten Problemchen zu rechtfertigen. Sondern um die sichtvernebelnden Selbstvorwürfe zu verringern. Es geht darum, unnötigen Schmerz und emotionale Umwege zu vermeiden. Es wäre bereits einiges gewonnen, wenn sich Druck, Scham und das schlechte Gewissen gegenüber den Kindern, den Eltern, Nachbarn und Normen säuberlicher von den Dingen separieren ließen, um die es wirklich geht — nämlich die Defizite innerhalb der Beziehung. Es würde den Menschen helfen, die mitten im Schlamassel stecken, das Drama wenigstens ein bisschen runterzuregeln. Unsere Privatbeziehungen und Trennungen finden nämlich nicht in abgeschotteten Räumen statt, selbst wenn wir beim Streiten Türen und Fenster schließen.

So gesehen sind Trennungen auch ein weiterer und dringend notwendiger Schritt zur Emanzipation der Frau. Denn Frauen sind häufiger geneigt, Dinge zum vermeintlichen Wohle anderer oder aller auszuhalten. Für das möglichst andauernde Glücksgefühl in der Beziehung, für das Dekor im tatsächlichen wie im übertragenen Sinne, ist tendenziell immer noch sie zuständig. Für die Sofakissen aus Marokko genauso wie dafür, dass nicht nur im Urlaub alle gute Laune haben. Und auch für die Trennung ist sie zuständig, sie trennt sich eher als der Mann. Oft nach langem Abwägen, ein gutes Stück Trauerbewältigung ist dann ihrerseits bereits geschafft. Der Partner reagiert überrascht. Deshalb wird eine Trennung auch eher als ihr Versagen ausgelegt, dabei ist es fast egal, was zuvor passiert ist. Das vermittelt nicht nur mehr oder weniger subtil das Umfeld, sondern nicht zuletzt oft auch die Frau sich selbst. Dabei wird zwar heute nicht mehr mit dem Finger auf Geschiedene oder alleinerziehende Mütter gezeigt, wie es noch vor ein, zwei Generationen der Fall war. Stattdessen wird immer noch die andauernde Ehe und die Zweisamkeit an sich idealisiert.

Im Bundespräsidialamt zum Beispiel sind einige emsige Beamte dafür zuständig, sich um die relevanten Jubiläen im Land zu kümmern, die der Präsident offiziell ehrt. Mit Brief, Siegel und Unterschrift. Dazu gehören »Altersjubiläen« ab hundert Jahren. Für das siebte Kind einer Familie wird eine »Ehrenpatenschaft« übernommen. Auch eine alleinerziehende Mutter oder Vater mit sieben Kindern von unterschiedlichen Vätern beziehungsweise Müttern, zugegeben ein vermutlich eher seltenes Szenario, käme heute in den Genuss des präsidialen Glückwunschschreibens und der 500-Euro-Einmalprämie. Doch sie hätten vermutlich eh keine Zeit, den Brief zu öffnen. Aufmunternde Grüße von ganz oben erhalten auch die Ultras unter den deutschen Langzeitpaaren. Und von denen gibt es gar nicht mal so wenige: Zum 65., 70., 75. und 80. Hochzeitstag tüten die Beamten je einen offiziellen Brief ein, und das taten sie 2017 genau 14.821-mal, Tendenz seit Jahren steigend. Je nach Wohnort gibt es zu den höchsten Hochzeitstagen noch eine Urkunde oder einen Blumenstrauß vom Bürgermeister, fast wie beim Sportfest.

Zur »Eisernen Hochzeit« (fünfundsechzig gemeinsame Ehejahre) bringt der Bundespräsident noch eine freundliche Unterstellung aufs Papier: »Es ist schön zu wissen, dass Menschen so lange durch viele Jahrzehnte glücklich zusammenleben, alles teilen und Verantwortung füreinander und für andere übernehmen.« Danach wird mit steigenden Jahren die Wortwahl karger: »Zu meiner Freude hörte ich, dass Sie (…) Ihren 70. Hochzeitstag zusammen feiern können. Zu diesem Festtag möchte ich Ihnen herzlich gratulieren«, heißt es fünf Jahre später. Die jährlichen Geburtstagsbriefe von der Sparkasse klingen herzlicher. Noch einen Fünfer-Sprung weiter, und das drohende Zwangsende der Ehe wird gleich mit angedeutet: »Zu diesem Festtag, den nur sehr wenige Ehepaare erleben dürfen, möchte ich Ihnen von Herzen gratulieren.« Ohne diesen zweifellos bemerkenswerten Alterspaaren in die hoffentlich immer noch agile Polonaise fahren zu wollen: Romantischer Sound klingt anders.

Letztlich wird jedoch von höchster Stelle bestätigt, was die Gesellschaft trotz aller Emanzipationswellen, Scheidungsraten und bunterer Beziehungsalternativen immer noch honoriert: Das andauernde Paarsein gilt als zu belohnende Leistung per se, was sich für Verheiratete sogar Jahr für Jahr steuerlich auf dem Konto niederschlägt. Ähnlich hartnäckig wie das Ehegattensplitting hält sich auch der Glaube daran, dass die Quantität an Ehejahren als messbare Grundlage für deren Qualität zugrunde gelegt werden kann. Nicht, dass das immer falsch wäre, aber es ist eben auch nicht grundsätzlich richtig.

So harren Menschen in ungesunden Beziehungen aus und können mit ihren eingeschlafenen Biografien nie auch nur ansatzweise ihr Potenzial entfalten. Je länger, desto besser, hat sich, mal laut, mal leiser, Über-Ich-mäßig in unseren Köpfen festgesetzt. Das verlangsamt viele Trennungsprozesse. Dabei weiß heute selbst der engagierteste Wedding Planner, dass diese Formel nicht automatisch gilt, und dennoch kann sich auch der aufgeklärteste Millennial nicht völlig davon frei machen.

Die nachhaltige Ehe wird sanft und nachhaltig propagiert. Als könnte man sie erlernen wie Autofahren. Und bei vielen Menschen läuft es ja auch irgendwann wie von selbst und ohne nachzudenken. Das führt dazu, dass sie irgendwann nicht mehr wissen, wo die Fahrt genau hingehen soll. Das andauernde Paarsein gehört dann eben zum Erwachsensein dazu wie das Lang-aufbleiben- und Unendlich-viel-Chips-essen-Dürfen. Von beidem wissen wir, dass es seinen Reiz schneller verliert, als einem lieb ist. Aber so wie Frauen mit Kinderwunsch plötzlich überall nur noch Bäuche sehen, strahlen die frisch getrennte Person an jeder Ecke glückliche Pärchen an. Wie sie gemeinsam Brillengestelle aussuchen, den Strand — nur um uns zu ärgern — in Zeitlupe entlangjoggen, oder beim Familienurlaub ihre präpubertären Kinder zum Dauerkichern animieren. Und schon zweifelt man wieder an der eigenen Bindungsfähigkeit oder fantasiert gleich von einer ganzen Gesellschaft, die zur wahren Liebe nicht mehr fähig ist. Empfindet fast eine Art Sozialneid auf Besserliebende. Warum gehöre ausgerechnet ich nicht zu den Auserwählten?

Sogar Der Spiegel entschied sich im Sommer 2018, als Angela Merkels Kanzlerschaft laut dem Nachrichtenmagazin »am seidenen Faden« hing, für ein anscheinend brennenderes Titelthema: »Für immer? Wie Liebe gelingt«. Auf dem Bild nähern sich die Gesichter eines Mannes und einer Frau mit halb geöffneten Mündern zum Kuss. Und auch wenn es im Artikel selbst leider an konkreten Tipps mangelte, so lässt sich daraus in jedem Fall schließen, dass sich allein das Versprechen auf die Antwort der Frage gut verkaufen lässt, obwohl eigentlich jeder weiß, dass es die Antwort nicht gibt.

Trotzdem suchen wir nach ihr wie einst der Prophet nach dem Wort. Heutzutage, wo uns bei dem Wort Gebot zuerst das eBay-Schnäppchen einfällt. In einer Gesellschaft, in der die Angebote der Religionen nicht mehr viele Menschen überzeugen, kommt der Zweierbeziehung eine wichtigere Bedeutung zu: Sie soll Gemeinschaft bieten und die Hoffnung, dass etwas ewig bestehen kann. Die Verbindung wird nach religiöser Manier mit Ritualen aufgeladen, um ihr ein vermeintlich sicheres Fundament zu geben: Paar-Tattoos, ein mit Initialen verziertes Vorhängeschloss an der nächstbesten Brücke, mehr Kosenamen als die heilige Maria. Wir glauben weniger an Gott, aber umso mehr an die Zweierbeziehung. Wir haben keine Angst mehr vor dem Jüngsten Gericht, aber vor dem Scheidungsrichter.

Wie jede Religion hat sie in der Praxis unterschiedliche Auswirkungen auf das Leben von Männern und Frauen. Für beide Geschlechter jedoch gilt: Wer sich freiwillig aus dieser Glaubensgemeinschaft verabschiedet, der verlässt nicht nur den Partner, sondern auch das weltweit beliebteste und akzeptierteste Konstrukt des Zusammenlebens und muss sich neue Gewissheiten suchen. Für manche mag das bedrohlich klingen. Andererseits liegt genau darin auch die mögliche positive Sensation einer Trennung: selbst dafür verantwortlich zu sein, wohin die Reise geht. Auch wenn auf den Hotelpreisvergleichsseiten die Einstellung immer automatisch auf Doppelzimmer gesetzt ist.

Wir könnten beruhigt zur Kenntnis nehmen, dass Beziehungsenden den meisten Menschen gleich mehrere Male im Leben unterkommen. Und verrückterweise überleben wir diese Phasen sogar, auch wenn wir feucht ins Kissen brüllen, dass wir nie über sie oder ihn hinwegkommen, SMS schreiben, die wir schon beim Abschicken bereuen, und uns wundern, wie oft am Tag sich Hass und Liebe abwechseln können. Hoffnung ist dabei keine schlechte Erfindung. Würden wir nicht wissen, dass es immer irgendwie weitergeht, würde die Menschheit schneller aussterben als durch den Klimawandel. Eine Trennung ist keine Naturkatastrophe.

Das Gefühl, nicht mehr intakt zu sein, obwohl der Getrennte den Partner oder die Partnerin gar nicht wirklich vermisst, sondern vielmehr die Unsicherheit an ihm oder ihr nagt, überhaupt noch liebenswert zu sein — das lässt sich überwinden. Auch, indem diesen und unzähligen anderen negativen Gefühlen erst mal Platz eingeräumt wird. Und ja, dieser Teil macht wirklich nicht so viel Spaß.

Aber es gibt auch eine andere Seite. Das ist die Kraft, die durch eine Trennung freigesetzt wird, und egal, wer sie ursprünglich ausgesprochen hat, beide Partner können davon stärker profitieren als von der Eingewöhnung der Kinder in die Kita oder der Anschaffung eines »Superzüngler«-Vibrators. Im Sprint geht es nun zum neuen Ich. Es bilden sich Muskeln an Stellen, an denen sich jahrelang Gewohnheit und Fett angesetzt hatten. An den Stellen, die lange Zeit Denkmal waren für die stillen Abende vor dem Bildschirm zu Hause, die Familienpizza jeden Sonntag und das zweite Bier als tägliches Highlight.

Alltägliche Situationen werden neu empfunden. Vom Supermarktbesuch bis zum Haarewaschen kann plötzlich alles glücklich machen. Woher kenne ich noch mal dieses berauschende Gefühl? Ah ja, vom Verliebtsein. Nur, nach einer Trennung braucht es dazu keinen Partner. Gab es vorher keinen Ort mehr auf der Welt, an dem man mit der Familie noch Urlaub machen konnte, ohne dass vor allem die Defizite dieser Konstellation im gleißenden Sonnenlicht exponiert würden, so erscheint die Welt plötzlich wieder voller Versprechungen und Entdeckungen. Nach dem Aussitzen, das mit Liebe verwechselt wurde, nach den Jahren, in denen man dachte, dass Sex nicht so wichtig sei, nach den unnötigen Stunden im Büro, die mit »Arbeit« verplempert wurden, nur um nicht nach Hause gehen zu müssen, winkt nun die Verheißung auf ein neues Erleben, auf eine wunderliche Wachheit. Post-Trennungs-Empfindungen können rauschhaft wirken: Töne, Farben, Bewegungen werden feiner, spitzer und mit klareren Konturen wahrgenommen.

Am Ende einer Beziehung müssen wir Angst und Konventionen überwinden. Und gleichzeitig Verantwortung übernehmen. Auch für die eigenen Unzulänglichkeiten, denn nur dann kann es wirklich weitergehen und besser werden. Dafür braucht es mehr Zuspruch und Unterstützung. Fordern wir sie ein. Weg mit der Scham! Dieses Buch ist für alle, die sich trennen wollen und sollten. Und für die, die sich nicht sicher sind. Wir wollen Beziehungen endlich vom Ende her erzählen. Denn diese Geschichten verraten etwas über den Stand unserer Zivilisation, sie rücken die persönlichen Erfahrungen in einen größeren Zusammenhang. Und es gibt noch einiges zu tun. Alleine und zu zweit. Davon handelt dieses Buch.

2

Gehen oder Bleiben?

Kira und Nils

In fünf Stunden und auf beengten Verhältnissen« — das ist Kiras Antwort auf die Frage, wie Nils und sie sich kennengelernt haben. »Wenig Raum und wenig Zeit am Anfang.« Acht Jahre sind die beiden zusammen, ohne dass sie je groß darüber gesprochen haben. Was schon mal das erste Problem ist: wenig sprechen. »Ich kann aggressiv schweigen«, sagt Kira.

An besagtem Kennlernabend war das anders. Kira hockte auf einem winzigen Stück Rasen, das den Namen kaum verdiente. Hinter ihrem Rücken feierte eine Kollegin ihren Geburtstag auf einem brachliegenden Grundstück in einem zu einer Bar umfunktionierten Geräteschuppen. Dort verbrüderten sich unter Gelächter Leute, die sonst nur übereinander lästerten, während Kira überlegte, ab wann es nicht mehr unhöflich sein würde, nach Hause zu gehen.

Was sie an Nils als Erstes mochte, als er ihr entgegenlief, war seine gute Laune. Er war ein alter Freund der Gastgeberin, kannte kaum jemanden und reichte ihr seinen Wodka Red Bull wie ein Geschenk — ein Getränk, das sie verabscheute und nicht nur, weil es ihr nicht schmeckte, sondern auch, weil sie es als alkoholische Niveaulosigkeit verachtete. Dicht gefolgt von der Weißweinschorle. Sie trank ihn trotzdem und in für ihre Verhältnisse ungebührlichen Mengen.

Als die Sonne aufging, war neben Kira eine tiefe, halbrunde Rille in der staubigen Erde, weil sie die ganze Zeit mit einem Stöckchen im Boden hin und her gekratzt hatte. Sie hatte lauter gelacht als sonst. Sie hatte Nils von ihrem Onkel erzählt, an den sie seit zwanzig Jahren nicht gedacht hatte und der beim Tauchen auf der Suche nach einem versunkenen Schatz im Mittelmeer ertrunken war.

Nils hatte die richtigen Fragen gestellt und Pointen gesetzt. Und er betonte ihren Namen auf der zweiten Silbe, was verwegen und französisch klang. Sie erfuhr, dass er in einem Architekturbüro als Modellbauer arbeitete, dass er Dosenravioli liebte und dass seine verstaubten schwarzen Lederschuhe rahmengenäht waren. Kira gefiel diese Mischung aus Nachlässigkeit und Noblesse, wobei sie heute sagen würde, dass ihr jemand, der auf gutes Essen Wert legt und alte Turnschuhe trägt, lieber wäre. Jedenfalls hatte er graublaue Augen, die sie an schillerndes Geschenkpapier erinnerten, mit jeder Menge Lachfalten. »Lachfalten«, sagt Kira und lacht nicht. »Zeig mir die Frau, bei der auf der Liste der begehrten Eigenschaften bei einem Mann nicht ›Humor‹ ganz weit oben steht.«

Sie waren die letzten Gäste, und da der Geräteschuppen nicht abgeschlossen war, hatten sie dort ungelenken und nervösen Sex. Kira kam nicht, ratschte sich aber den Po an einem gesprungenen Weinglas auf. Das benutzte Kondom steckte sie verknotet in ihre Handtasche. Es lief trotzdem aus und verklebte den Reißverschluss ihres Portemonnaies.

Nils kam mit zu ihr nach Hause, und drei Tage später fuhren sie in seinem vollgemüllten Mercedes Kombi nach Frankreich. Wie es genau dazu kam, kann Kira nicht mehr sagen. Sie weiß auch nicht mehr so genau, ob es schön war oder nicht. Oft schliefen sie im Auto am Strand. Es war ein Urlaub, wie Kira ihn zuletzt als Teenager unternommen hatte. Eigentlich hätte sie es gerne anders gehabt — eine kleine Pension in der Bretagne, abends in ein nettes Restaurant. Nils schien auf solche Dinge nicht viel Wert zu legen. Seine Haare rochen nach Seetang. Ihre verfilzten im Nacken zu Kletten, die sie nur mit den Fingern auseinanderreißen konnte.

Nach dem Urlaub fuhren sie zurück in die Stadt, und sie trennte sich noch im Auto von ihm. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, als moderne Nouvelle-Vague-Romanze konnte sie Gefallen an der Geschichte mit ihm finden, die sie doch bis jetzt zu keinem Zeitpunkt überwältigt hatte. Sie sah sich aus seinem Kombi aussteigen, die Treppen zu ihrer Wohnung nach oben gehen, ihr Rollkoffer fühlte sich fast leicht an. »Fin« oder »The End«. Das hätte es gewesen sein sollen.

Der Sommer jedoch hatte andere Pläne und blieb bis in den Oktober. Ihre Stadt spielte für ein paar Wochen Neapel: Kira hing Wäsche auf dem Balkon auf und verbrachte die Abende in den Restaurants und Cafés der Umgebung, deren Besitzer angesichts der nicht enden wollenden lauen Nächte mit ihrem Mobiliar auf den Bürgersteigen um jeden Quadratzentimeter Umsatz kämpften. Und Nils, so schien es, gehörte zur Einrichtung. Wo immer sie auftauchte — er war schon da. Zwinkerte ihr zu, steckte ihr salzige Karamellbonbons aus ihrem Urlaub zu, kämmte ihre Locken mit den Fingern durch, brachte ihr unaufgefordert Getränke, die sie mochte, und komplimentierte den Schnitt ihres Kleides charmant, aber anzüglich. Nach dem vierten zufälligen Treffen nahm sie ihn mit nach Hause.

Danach zog er bei ihr ein. Es passierte einfach. Fand sie es schön? Sie war doch gar nicht verliebt. Oder? »Na ja, es störte mich nicht, weil er viel unterwegs war. Ich hatte so lange alleine gewohnt, es war wie ein Abenteuer oder eine Versuchsanordnung.«

Wenn Nils, wie er jetzt sagte, »nach Hause« kam, brachte er manchmal seltsame Dinge mit, wie den Arm einer Statue, den er in einem Park gefunden hatte, oder alte Badarmaturen von einer Baustelle. Seine eigene Wohnung, die er behalten hatte, weil niemand mehr eine Wohnung aufgibt, egal wie verliebt er ist, glich ohnehin mehr einer Werkstatt.

In ihrer Wohnung kümmerte er sich um handwerkliche Dinge. Immerhin. Manchmal kaufte er ein, aber es war immer nur sein Single-Fraß. Ihre Wünsche ignorierte er. Und so begannen sie zu streiten. Zu der Zeit saß Kira in der Agentur, in der sie angestellt war, an einem Projekt, das sie zwölf Stunden und mehr am Tag in Anspruch nahm. Sie bat Nils, abends für sie zu kochen, denn seine Arbeitszeiten waren unregelmäßig. Sie bat ihn, Obst einzukaufen. Er versprach es, doch nichts passierte. Manchmal kam er gar nicht nach Hause. Manchmal ging er nicht ans Telefon. Wenn sie ihn darauf ansprach, sagte er, er hätte in seiner Wohnung gearbeitet und die Zeit vergessen.

Sie fühlte sich vor den Kopf gestoßen, es konnte nur ein Verständigungsproblem sein. So als müsste sie eine andere Sprache lernen oder er die ihre, damit er verstünde, was sie brauchte, um zufrieden zu sein. Wenn sie es schaffen würde, die passenden Codewörter zu finden, würden die Zahnräder in seinem Kopf einrasten, und die Tür zu einer besseren Welt würde sich öffnen. Eine Welt, in der er sie fragte, ob er sie von der Arbeit abholen könnte. Eine Welt, in der sie sich beim Sex von ihm begehrt fühlte. Der Sex war funktional und technisch einwandfrei, und trotzdem schloss sie sich danach manchmal auf dem Klo ein und masturbierte. Schließlich gewöhnte sie sich daran, dabei an andere Männer zu denken. Groschenromanwürdige Fantasien, die sie beschämend und lächerlich fand, sobald der Akt vorbei war. Trotz allem hatte sich etwas verändert: Sie fand Nils inzwischen interessant und geheimnisvoll, einfach weil sie ihn nicht verstand, weil sie zusammen lachen konnten, er ihr zärtlich in den Hals biss — und sich danach einfach umdrehte und sie vergaß. So zumindest fühlte es sich an. Gleichzeitig hatte sie Freiheit, Raum für eigene Gedanken. Pärchen, die alles gemeinsam erlebten, eine gemeinsame Firma gründeten, die gleichen Bücher lasen, verachtete sie traurig.

Vierzehn Monate später hatte sie einen neuen Schrank in der Küche. Sonst war alles beim Alten. Dann, an Weihnachten, trennte sie sich erneut von Nils: »Ich bin nicht glücklich. Ich wünsche mir, dass dich meine Bedürfnisse ähnlich interessieren wie die winzigen, streichholzgroßen Teilchen, die du als Balkone an deine Architekturmodelle klebst. Aber ich glaube, dass wird nie passieren. Deshalb müssen wir uns trennen.« Es klang auswendig gelernt, und das war es auch. Denn insgeheim hatte Kira diesen (wie sie selber fand) »pathetischen Termin« gewählt, weil sie hoffte, dass er einlenken, aufwachen oder wenigstens Reue zeigen würde ob seines nachlässigen Verhaltens. Oder sie wollte erzwingen, dass er ihr sagte, dass er sie liebe oder eben nicht.

Und tatsächlich, nachdem sie ihren Text wie ein Weihnachtsgedicht eilig runtergeleiert hatte, kam es zu Tränen — aber zur Abwechslung nicht von ihr. Aus seinen Geschenkpapier-Augen tropften Tränen auf die eingepackten Päckchen. Es täte ihm alles so wahnsinnig leid: seine Distanziertheit, sein uneindeutiges Verhalten. Und dann folgte ein Redeschwall: über Frauke. Frauke, die Frau, mit der er jahrelang eine On-off-Affäre gehabt hatte. Dass er sie eigentlich hasste, aber lange nicht von ihr loskam. Dass er ihr viel Geld geliehen hatte, dass sie nicht zurückzahlte und er deshalb immer noch in Kontakt mit ihr stand. Und dass er sich aber gerade vor ein paar Wochen entschieden hätte: Scheiß auf das Geld, weg mit Frauke, Kira sei die Frau, um die es ab jetzt in seinem Leben gehen sollte.

Schöne Bescherung: Das Nils-Geheimnis war gelüftet, und es machte nichts besser, sondern alles komplizierter. Sie wollte und sollte ihn rausschmeißen, jetzt an Weihnachten, sofort. Er hatte sie hintergangen, es war eine Farce.

Trotzdem stand sie von ihrem Stuhl auf, lief den lächerlich dekorierten Tisch entlang, vorbei an dem Teller mit dem Schneemannmotiv, auf dem die Ränder der Lachsscheiben langsam trocken wurden. Sie setzte sich auf Nils’ Schoß, umarmte ihn, genau genommen tröstete sie ihn. Sie sagte ihm, dass sie es gut finde, dass er jetzt wenigstens ehrlich zu ihr war, dass sie ihn auch liebe, dass jetzt alles vielleicht nicht gut, aber besser werden würde, denn sie hätten sich jetzt wirklich füreinander entschieden. Doch je tränenreicher diese seltsame Versöhnung wurde, desto mehr loderte in ihr Wut und Selbstekel. Aber das passierte in ihrem Innern und fand keinen Weg nach außen.

Nils war danach nicht gerade wie ausgewechselt. Der Kühlschrank glich unter seiner Kuratel immer noch einer Whitecube-Galerie, in den sich eine Andy-Warhol-Dosensuppen-Ausstellung verirrt hatte. Aber: Er sah nicht mehr durch Kira hindurch. Im Gegenteil, fast hatte sie das Gefühl, als beobachtete er sie oder würde versuchen, sie einzuschätzen. Wie ein besonderes Angebot, das attraktiv war, aber bei dem man einen geheimen Haken vermutete, aber nicht herausfinden konnte, was es genau war.

Kira jedoch wusste, was der Haken war: dass es von Anfang an nicht wirklich gepasst hatte mit ihnen, dass sie ihn insgeheim schwach fand. Er sie nicht kannte. Aber sie selbst fühlte sich noch schwächer. War es mit Nils nicht besser als ohne ihn? Sie verbrachte schließlich immer noch gerne Zeit mit ihm. Passend dazu festigten sie ihre Beziehung nach außen hin. Abendessen mit anderen Pärchen, Kira nahm Nils mit zu ihren Agentur-Partys, er sie zu den Richtfesten seines Architekturbüros. Sie galten als Paar, mit dem andere Leute sich gerne umgaben, und Kira genoss es, durch diese Events zu surfen mit Nils als Rettungsring im Schlepptau. Sie sagte sich, dass sie es sicher irgendwann bereuen würde, wenn sie sich nun gegen ihn entscheiden würde.

Nur wenn die Tür abends hinter ihnen ins Schloss fiel und Nils dann mit den Fingern ihre Locken durchkämmen wollte, pikste es, und sie stieß ihn meist sanft, aber bestimmt von sich. Sie versuchte sich auf die Geschenkpapier-Augen zu konzentrieren und auf die Lachfalten, aber dann wurde sie wütend, weil sie dachte, dass er glaubte, dass alles mit ein paar Tränen an Heiligabend erledigt wäre. Wer war dieser Mann überhaupt, der in ihrem Leben Platz genommen hatte, als wäre es ein Ohrensessel? Aber anstatt ihn zu fragen, zog sie sich zurück, verlor sich in »Projekten« oder verbrachte mit ihren Freundinnen, die Nils allesamt beneidenswert »lieb« und »entspannt« fanden, ausgedehnte Wochenenden. Irgendwann wäre das Konto ausgeglichen, und dann könnten sie sich bei null wieder begegnen, dachte sie. Und schämte sich, dass es nur der falsche Joghurt sein könnte, der sie an Flucht denken ließ. Innerlich ermahnte ihre Mutter sie, dass sie vielleicht einfach immer zu viel wolle. Das sei ja schon damals so gewesen, als sie geweint hatte, weil der Junge aus ihrer Klasse, bei dem sie zum Spielen zu Hause war, einen Swimmingpool im Keller hatte und hochflorigen Teppich in Lachsfarben auf den Treppenstufen.

Und dann war Kira auf einmal schwanger. Es war ein Schock und gleichzeitig wenig verwunderlich, denn sie hatten schlampig verhütet. Nils war außer sich, er wollte kein Kind. Sie weinte, denn sie wollte es unbedingt. Da entschuldigte er sich und sagte, dass sie es natürlich entscheiden dürfe. Aber Kira wollte sich nicht entscheiden müssen. Sie wollte, dass es nichts zu entscheiden gäbe. Sie empfand das erste Mal Hass auf ihn, weil er die Verantwortung auf sie abwälzte. In ihren Tagträumen schmiss sie ihn raus und sah sich tapfer und madonnenhaft mit ihrem Baby ihren weiteren Lebensweg bestreiten. Genug verdiente sie ja. Es würde sich irgendwann ein Patchworkpapa finden, mit dem sie dann noch zwei Kinder bekam und der ihr jetzt noch ungeborenes annehmen würde wie sein eigenes. Viele Freundinnen und eine Therapeutin wurden konsultiert, dann entschied sie sich, das Kind zu bekommen. Nils schien erleichtert. Kira hatte Ablenkung und endlich jemanden, der ausschließlich auf sie fixiert war. Natürlich war Nils ein guter Vater. Sein Sohn war schließlich sein Sohn. Sie waren gute Eltern, wenn sie gemeinsam vor der Badewanne saßen. Wenn sie zu dritt im Bett aufwachten. Und sie waren ein schlechtes Pärchen, weil sie kaum noch miteinander schliefen, nicht mehr gemeinsam ausgingen, nur noch über das Kind sprachen.

Nils traute sich nicht mehr, Kira anzufassen, sie machte es sich gemütlich. Beide verpassten es, nach einem Babysitter zu suchen. Kira fuhr manchmal auf Geschäftsreisen, trank immer ein Glas zu viel, schlief mit einem jüngeren Mann, dessen Namen sie nicht wissen wollte, küsste einen hässlichen und erfolglosen Künstler. Dachte über ein zweites Kind nach und wusste plötzlich, dass es ihre Beziehung auch nicht besser machen würde. Die Erkenntnis kam ihr, als sie einen zweiten Weißwein bestellte, im Flugzeug, in dreitausend Meter Höhe. Sie weinte. Fuhr nach Hause. Küsste ihren Sohn. Und trennte sich nicht.

Die Qual der Wahl

Werden Ehepaare in Frankreich zu einer Dinnerparty geladen, gebietet es die Etikette, sie ab dem zweiten Jahr nach der Trauung möglichst weit weg voneinander am Tisch zu platzieren. Es gilt, was in Paarbeziehungen verpönt ist: Nur die stetige Durchmischung der Protagonisten garantiert einen anhaltenden Unterhaltungswert. Stillschweigend geht man davon aus, dass sich die Vermählten spätestens ab Jahr zwei nichts mehr zu erzählen haben, was irgendjemanden sonst am Tisch interessieren könnte. Oder schlimmer: Wer möchte schon danebensitzen, wenn sie sich anschweigen oder gar streiten?

Beziehungen bieten ein Gefühl von Sicherheit, aber doch selten reine Freude. Als Betroffener muss man sich erst mal wenig Sorgen machen, wenn der Alltag zuschlägt. Es handelt sich um eine Art Naturgesetz. Vermutlich denkt jeder fest Liierte darüber nach, dass es doch eigentlich schöner wäre, morgens auf dem Klo zu sitzen, ohne dass vor der Tür jemand auch Bedürfnisse hat. Allerdings: Wenn die Frage »Gehen oder bleiben?« mehr Platz im Kopf beansprucht als die Planung des nächsten Sommerurlaubs, sollte man sich nicht zu lange vor der Antwort drücken.

Viele Menschen legen in dieser Situation Pro-und-Kontra-Listen an. Und es gibt sogar einen »Beziehungscoach«, der online dazu rät, diese Listen sicherheitshalber schon im Stadium der Verliebtheit auszufüllen: »Sie können diese Übung für sich selbst machen oder gemeinsam mit Ihrem Partner«, heißt es dort dem Thema entsprechend unentschlossen. Aber die Warnung kommt gleich hinterher: »Wenn Sie sich entscheiden, das zu zweit zu machen, bedenken Sie, dass es danach zu einem Streit kommen kann.« Und dann? Könnte man zumindest auf der Kontra-Seite verbuchen, dass der Partner sich nicht zum gemeinsamen Pro-und-Kontra-Listen-Schreiben eignet.

Das Internet hilft einem auch gerne auf die Sprünge, falls man es vor lauter Aufregung nicht mehr schaffen sollte, Pro und Kontra seinen Ärger in Worte zu fassen. Da liest man zum Beispiel unter Pro: »Hilft im Haushalt, ohne zu meckern und auf Anfrage«. Und bei Kontra: »Er kann nur reden, wenn er trinkt«. Wobei Letzteres unter Umständen auch ein Vorteil sein könnte.

Ob diese Art von Listen sinnvoll ist, wurde sogar an der Universität von Virginia untersucht. Ergebnis: eher nicht so. Mag es unter Umständen beim Autokauf etwas bringen, Benzinverbrauch und Leasingraten gegeneinander aufzurechnen, neigt der Mensch dazu, nur noch verwirrter zu werden, wenn er versucht, eine komplexe emotionale Situation zu systematisieren und zu gewichten. Spätestens wenn sich auf der Kontra-Seite das Profil eines Psychopathen befindet, auf der Pro-Seite jedoch nur der Satz »ich liebe ihn« steht, wird deutlich, dass man so nicht weiterkommt.

So mancher chronisch Unentschiedene neigt deswegen zur Zwischenlösung. Vielleicht muss man sich ja nicht gleich trennen, aber mal auseinanderziehen? Oder zusammen ins Schweigekloster gehen und das Problem als Konzept betrachten? Alles immerhin besser als jahrelange Bewegungslosigkeit. Ängstliche Schockstarre. Aushalten. Dauerzustände, die in der langfristigen Paarbeziehung keine Seltenheit sind, was unter anderem daran liegt, dass diese Form des Zusammenlebens recht gute PR-Berater hat, die die guten Seiten glänzen lassen und so von den desaströsen Begleiterscheinungen ablenken — wie die Marketingabteilung bei Apple.

Dabei ist die Ehe auch nur eine Möglichkeit und kein unumstößliches Versprechen mehr: Mehr als ein Drittel aller Ehen werden heute innerhalb von fünfundzwanzig Jahren geschieden. Das Liebesleben insgesamt ist agiler geworden: Fetische gelten als ansehnliches Hobby, Prostitution heißt jetzt Sexarbeit, und Dating-Apps versprechen uns unendliche Möglichkeiten und kommen der Idee der klassenlosen Liebe vielleicht erstmals ein klein bisschen nahe. Die meisten Menschen entscheiden sich im Laufe ihres Lebens also mehrmals für einen neuen Partner.

Die Suche nach ihm läuft heute nach dem Trial-and-Error-Prinzip. Eine 2015 verfasste Studie, für die knapp sechstausend Menschen aus sechsundneunzig Ländern befragt wurden, kommt zu dem Ergebnis, dass drei Viertel aller Befragten schon einmal eine Trennung erlebt haben, drei Viertel von diesen mehrere. Und trotzdem wandeln auf der Welt nicht mehrheitlich gebrochene Menschen mit ebensolchen Herzen: Kaum jemand trauert seiner ersten oder zweiten Liebe dauerhaft hinterher. Selbst wenn sie einst mit dem Attribut »groß« versehen war.

Auch in der Sprache finden sich Hinweise auf die Veränderungen der Paarkonzepte. Laut dem »Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart« taucht das Wort »Lebensabschnittgefährte« erstmals 1990 auf. Aber die sperrige Umschreibung von wechselnden Partnern in wechselnden Lebensphasen wird selbst von den offensichtlichen Anhängern dieses Modells nur halb ironisch verwendet, als wäre es etwas, von dem man sich distanzieren müsse. An seiner Realität jedoch zweifelt dabei hinter vorgehaltener Pralinenschachtel noch nicht mal die Valentinstag-Branche.