Über Peter Tremayne

Peter Tremayne ist das Pseudonym eines anerkannten Historikers, der sich auf die versunkene Kultur der Kelten spezialisiert hat. In seinen im 7. Jahrhundert spielenden historischen Romanen löst Schwester Fidelma, eine irische Nonne von königlichem Geblüt und gleichzeitig Anwältin bei Gericht, auf kluge und selbstbewußte Art die schwierigsten Fälle. Wegen des großen internationalen Erfolgs seiner Serie um Schwester Fidelma wurde Peter Tremayne 2002 zum Ehrenmitglied der Irish Literary Society auf Lebenszeit ernannt.

Im Aufbau Verlag erschienen bisher seine Romane Die Tote im Klosterbrunnen (2000) Tod im Skriptorium (2000),
Tod in der Königsburg (2002), Tod auf dem Pilgerschiff (2002), Nur der Tod bringt Vergebung (2003), Ein Totenhemd für den Erzbischof (2003), Vor dem Tod sind alle gleich (2003), Das Kloster der toten Seelen (2004), Verneig dich vor dem Tod
(2005), Tod bei Vollmond (2005), Tod im Tal der Heiden (2006), Der Tod soll auf euch kommen (2006), Tod vor der Morgenmesse (2007), Ein Gebet für die Verdammten (2007), Das Flüstern der verlorenen Seelen (2007), Tod den alten Göttern (2008), Das Konzil der Verdammten (2008), Eine Taube bringt den Tod (2010) und Der falsche Apostel (2010).

Informationen zum Buch

Ein neuer Kelten-Krimi mit Schwester Fidelma. Wer die Mönchskrimis von Ellis Peters mag, wird von Schwester Fidelma, einer irischen Nonne königlichen Geblüts, nicht lassen können. Als man sie nach Araglin ruft, um den Mord am dortigen Stammesoberhaupt und dessen Schwester aufzuklären, scheint über die Schuldigen kein Zweifel zu bestehen. Doch Fidelma deckt eine Vielzahl von Widersprüchen auf. – Ein historischer Kriminalroman, der im Irland des 7. Jahrhunderts spielt, als eine Frau von derHerkunft und Bildung Schwester Fidelmas noch über Macht und Einfluss verfügte.

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Peter Tremayne

Der Tote am Steinkreuz

Historischer Kriminalroman

Aus dem Englischen von Friedrich Baadke

Inhaltsübersicht

Über Peter Tremayne

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Historische Anmerkung

Hauptpersonen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Impressum

Für meinen guten Freund Terence,

den Mac Carthy Mór, Fürst von Desmond,

in direkter ununterbrochener männlicher Linie in der 51. Generation ein Nachkomme des Königs Eoghan Mór von Cashel (gest. 192 n. Chr.),

der Schwester Fidelma freundlich in die Familie seiner Vorfahren aufgenommen hat!

Gesetze sind wie Spinnennetze: Wenn ein armes schwaches Geschöpf dagegenfliegt, verfängt es sich darin, doch ein größeres kann es durchstoßen und entkommen.

Solon von Athen
(geb. um 640 v. Chr. – gest. nach 561 v. Chr.)

Historische Anmerkung

Diese Geschichte ereignete sich in dem Monat, den die Iren des siebenten Jahrhunderts als Cét-Soman kannten und der später Beltaine oder Mai genannt wurde. Sie spielt im Jahre 666.

Leser früherer Abenteuer der Schwester Fidelma kennen bereits die Unterschiede zwischen der irischen Kirche des siebenten Jahrhunderts, die man jetzt gewöhnlich die keltische Kirche nennt, und der römischen Kirche. In vielem wich die irische Liturgie und Philosophie von der römischen ab. Ich habe schon erläutert, daß der Begriff des Zölibats bei Mönchen und Nonnen zu der Zeit nicht populär war, weder in der keltischen Kirche noch in der römischen. Man muß sich vor Augen halten, daß in Fidelmas Tagen viele Klöster häufig beide Geschlechter beherbergten und Mönche und Nonnen oft heirateten und ihre Kinder zum Dienst im Glauben erzogen. Sogar Äbte und Bischöfe durften damals heiraten und taten es auch. Das muß man bedenken, wenn man Fidelmas Welt verstehen will.

Da den meisten Lesern das Irland des siebenten Jahrhunderts recht wenig vertraut sein wird, habe ich eine Skizze des Königreichs Muman beigegeben. Ich habe lieber diesen Namen beibehalten, als die anachronistische Bezeichnung zu benutzen, die dadurch entstand, daß man im neunten Jahrhundert die nordische Endung stadr (Ort) an Muman anhängte, woraus der moderne Name Munster wurde. Weil auch viele irische Eigennamen des siebenten Jahrhunderts unbekannt sein werden, habe ich eine Liste der Hauptpersonen als Hilfsmittel beigefügt.

Zum besseren Verständnis des Lesers erwähne ich noch, daß die Währungseinheit cumal einen Wert von drei Milchkühen besaß. Als Einheit der Ackergröße entsprach ein cumal etwa 13,85 Hektar.

Schließlich muß der Leser wissen, daß Fidelma im Rahmen des alten irischen Gesellschaftssystems agiert, dessen Gesetze der Fénechus besser unter der Bezeichnung Gesetze der Brehons (von breaitheamh = Richter) bekannt sind. Sie ist als Anwalt bei Gericht zugelassen, eine Stellung, die Frauen im Irland jener Zeit häufig bekleideten.

Hauptpersonen

Schwester Fidelma von Kildare, eine dálaigh oder Anwältin bei Gericht im Irland des siebenten Jahrhunderts

Bruder Eadulf von Seaxmund's Ham, ein angelsächsischer Mönch aus dem Lande des Südvolks

Cathal, Abt von Lios Mhór

Bruder Donnán, ein Gerichtsschreiber

Colgú von Cashel, König von Muman und Fidelmas Bruder

Beccan, Oberrichter der Corco Loígde

Bressal, ein Herbergswirt

Morna, Bressals Bruder

Eber, Fürst von Araglin

Cranat, Ebers Ehefrau

Crón, Ebers Tochter und seine Tanist, seine designierte Nachfolgerin

Teafa, Ebers Schwester

Móen, ein blinder Taubstummer

Dubán, Kommandeur der Leibwache Ebers

Crítán, ein junger Krieger

Menma, oberster Pferdewärter im rath von Araglin

Dignait, die Hausverwalterin

Grella, eine Dienerin

Pater Gormán von Cill Uird

Archú, ein junger Bauer aus Araglin

Scoth, seine Verlobte

Muadnat vom Schwarzen Moor, sein Vetter

Agdae, Muadnats Oberhirt und Neffe

Gadra, ein Einsiedler

Clídna, eine Bordellwirtin

Kapitel 1

Der Donner grollte um die hohen kahlen Gipfel der Berge, die den Maoldomhnach umgaben und nach ihm genannt wurden. Gelegentlich erhellte ein Blitz die runde Kuppe und ließ die Schatten schnell über das Tal von Araglin gleiten, das inmitten seiner nördlichen Vorberge lag. Es war eine dunkle Nacht, in der sich die Gewitterwolken zusammenballten und über den Himmel jagten, als würden sie vom mächtigen Atem der alten Götter durcheinandergewirbelt.

Auf den hochgelegenen Weiden drängten sich die zottigen Rinder zusammen, manchmal aufgeregt brüllend, nicht nur, um sich vor dem drohenden Gewitter zu schützen, sondern auch, um einander vor dem allgegenwärtigen Geruch hungriger Wolfsrudel zu warnen, die durch die dichten Wälder am Rande der Bergwiesen streiften. In einer weit von den Rindern entfernten Ecke der Weiden stand ein majestätischer Hirsch und bewachte besorgt seine Hirschkühe und ihre Kälber. Ab und zu warf er den Kopf mit dem weitverzweigten Geweih hoch und sog mit zitternden Nüstern die Luft ein. Trotz der Dunkelheit, der schweren Wolken und des nahen Gewitters spürte er die heraufziehende Dämmerung hinter den fernen Gipfeln im Osten.

Unten im Tal, an dem düsteren, murmelnden Fluß, lag eine Gruppe unbefestigter Gebäude in völliger Finsternis. Kein Hund rührte sich um diese Zeit, und es war noch zu früh für die Hähne, den Anbruch eines neuen Tages zu verkünden. Selbst die Vögel hatten ihren Morgengesang noch nicht begonnen und hockten schläfrig in den Bäumen ringsum.

Doch ein menschliches Wesen regte sich bereits in dieser finsteren Stunde, ein Mann erwachte in dieser Zeit der Stille, in der die Welt wie tot und verlassen wirkte.

Menma, der oberste Pferdewärter Ebers, des Fürsten von Araglin, ein großer, schwerfälliger Mann mit einem buschigen roten Bart und einem Hang zum Trinken, blinzelte, warf das Schaffell ab und erhob sich von der Strohmatratze seines Bettes. Ab und zu erhellte ein Blitz seine einsame Hütte. Menma stöhnte und schüttelte den Kopf, als würde ihn das von den Nachwirkungen des Besäufnisses vom Vorabend befreien. Er langte zum Tisch, suchte mit zitternden Händen nach Feuerstein und Zunder und steckte die Talgkerze auf dem Tisch an. Dann reckte er seine verkrampften Glieder. Obwohl er soff, besaß Menma ein eigentümliches angeborenes Zeitgefühl. Sein ganzes Leben lang war er in der dunklen Stunde vor dem Morgengrauen aufgestanden, wie spät er auch sinnlos betrunken auf sein Bett gefallen sein mochte.

Sein Morgenritual bestand darin, die gesamte Schöpfung zu verfluchen. Menma fluchte gern. Manche Leute begannen den Tag mit einem Gebet, andere mit ihrer Morgenwäsche. Menma von Araglin begann den Tag damit, daß er seinen Herrn, den Fürsten Eber, verfluchte und ihm alle möglichen Todesarten wünschte: Ersticken, Krämpfe, Zerfleischen, Ruhr, Gift, Ertrinken, Erdrosseln und noch ein paar andere, so weit seine dürftige Phantasie reichte. Nachdem er seinen Herrn nach allen Regeln der Kunst verwünscht hatte, ging Menma dazu über, seine eigene Existenz zu verfluchen und seine Eltern, weil sie nicht reich und mächtig waren, sondern einfache Bauern, und ihn dadurch zu einem Leben als gewöhnlicher Pferdewärter verurteilt hatten.

Seine Eltern hatten als arme Landarbeiter auf den Höfen ihrer reicheren Vettern gelebt. Sie hatten keinen Erfolg im Leben, und daraus hatte sich Menmas eigene untergeordnete Lebensstellung ergeben. Menma war neidisch und verbittert und mit seinem Schicksal unzufrieden.

Dennoch erhob er sich automatisch in der Dunkelheit des frühen Morgens und zog sich an. Er machte sich nie die Mühe, sich zu waschen oder die verfilzte Masse seines schulterlangen roten Haares und seines großen buschigen Bartes zu kämmen. Ein langer Zug aus dem Krug mit corma, dem ekelhaften Met, der immer neben seinem Bett stand, war die ganze Säuberung, die er für den Tag brauchte. Der Gestank seines Körpers und seiner Kleidung verriet allen, die ihm nahe genug kamen, um den üblen Geruch einzuatmen, daß Menma und Sauberkeit nicht zueinander paßten.

Er schlurfte zur Tür seiner Hütte und spähte hinauf zum dunklen Himmel. Der Donner grollte noch, aber er wußte instinktiv, daß es an dem Tag im Tal nicht regnen würde. Das Gewitter zog auf der anderen Seite der Berge von Osten nach Westen, also parallel zum Tal von Araglin. Es würde nicht nach Norden über die Berge gelangen. Nein, der Tag würde trocken bleiben, wenn auch bewölkt und kühl. Die Wolken verdeckten die Sterne, so daß er die Zeit nicht genau bestimmen konnte, doch er ahnte mehr als er es sah, daß die blasse Linie der Morgendämmerung nur knapp hinter den Gipfeln der Berge im Osten lag.

Der rath des Fürsten von Araglin ruhte noch still in der Dunkelheit. Es war nur ein unbefestigtes Dorf, doch die Höflichkeit gebot, den Sitz eines Fürsten als rath oder Burg zu bezeichnen.

Menma stand in der Tür und begann nun leise den Tag selbst zu verfluchen. Es ärgerte ihn, daß alle noch schlafen konnten, er aber als erster aufstehen mußte. Als er mit dem Tag fertig war, konnte er immer noch über das ganze Araglin herziehen und tat das mit dem vollen Einsatz seines bescheidenen Vokabulars.

Er wandte sich kurz zurück in seine Hütte und blies die Kerze aus, dann schlurfte er den Weg entlang, der zwischen den friedlichen Gebäuden zu den Ställen des Fürsten führte. Dazu brauchte er keine Kerze, denn diesen Weg war er oft genug gegangen. Seine erste Aufgabe war es, die Pferde auf die Weide zu treiben, die Jagdhunde des Fürsten zu füttern und dann das Melken der Kühe des Fürsten zu beaufsichtigen. Wenn die Pferde auf der Weide und die Hunde gefüttert waren, dann wurden die Frauen in der Wirtschaft wach und kamen zum Melken. Das war keine Männerarbeit, und Menma ließ sich nicht dazu herab. Aber kürzlich waren in dem Tal Rinder geraubt worden, und Fürst Eber hatte ihn angewiesen, vor jedem Melken die Herde zu kontrollieren. Es kränkte die Ehre eines Fürsten, wenn jemand es wagte, auch nur ein Kalb aus seiner Herde zu stehlen, und Eber war außerdem wütend darüber, daß Rinderdiebe den Frieden seines Landes störten. Seine Krieger hatten die ganze Gegend nach den Räubern abgesucht, doch ohne Erfolg.

Menma näherte sich der mächtigen dunklen Festhalle, einem der wenigen großen Steingebäude innerhalb des alten rath. Das andere steinerne Gebäude war Pater Gormáns Kapelle. Die Ställe lagen auf der anderen Seite des Runddorfs gleich hinter dem Gästehaus. Menma mußte dorthin im Halbkreis hinter den hölzernen Anbauten an der steinernen Halle entlanggehen, in denen sich die Privatzimmer des Fürsten und seiner Familie befanden. Menma blickte sie neiderfüllt an. Eber würde noch den ganzen Morgen schnarchend im Bett liegen.

Menmas Bart verbarg sein lüsternes Grinsen. Er fragte sich, ob wohl in dieser Nacht jemand Ebers Lager teilte. Dann runzelte er ärgerlich die Stirn. Warum Eber und nicht er selbst? Was war so Besonderes an Eber, daß er Reichtum und Macht besaß und Frauen in sein Bett locken konnte? Welches Schicksal hatte ihn selbst zum Pferdewärter bestimmt? Warum …?

Plötzlich blieb er stehen und hielt den Kopf schief.

Die Dunkelheit schien ohne jeden Laut. Der rath lag noch im Schlummer. Von hoch oben in den Bergen durchbrach das langgezogene Heulen eines Wolfs die Stille. Doch das war es nicht, was ihn den Schritt verhalten ließ. Es war ein anderes Geräusch. Ein Ton, den er nicht einordnen konnte.

Er wartete einen Moment, aber es blieb still. Er wollte das nur halb vernommene Geräusch schon als ein Spiel des Windes abtun, als er es wieder hörte.

Ein leises, klagendes Stöhnen.

War das wirklich der Wind?

Menma bekreuzigte sich plötzlich und erschauerte. Gott wende alles Übel von mir ab! War es etwa einer von denen, die im Berge wohnten? Von den sídh-Leuten, den Zwergen, die nach Seelen suchten und sie in ihre dunklen Höhlen schleppten?

Da ertönte ein plötzlicher Schrei, nicht laut, aber durchdringend genug, um Menma zusammenfahren zu lassen. Sein Herz schlug schneller. Dann hörte er wieder das leise Stöhnen, diesmal etwas lauter und länger.

Menma schaute sich um. Nichts regte sich zwischen den dunklen Schatten der Gebäude. Niemand anders schien den Laut vernommen zu haben. Er versuchte ihn zu orten. Er kam aus der Richtung von Ebers Zimmern. Er klang zwar geisterhaft, doch Menma erkannte nun, daß es eine Menschenstimme war. Erleichtert atmete er auf, denn so grob seine Sicht auf die Welt auch war, er hielt es nicht für geraten, sich mit den sídh-Leuten anzulegen, wenn sie darauf ausgingen, Seelen zu stehlen. Rasch sah er sich um. Das Gebäude schien dunkel und still. War Eber krank? Unschlüssig runzelte er die Stirn. Eber war sein Fürst, und was auch kam, Menma hatte eine Verpflichtung gegenüber seinem Fürsten. Diese Verpflichtung ließ ihn selbst seine Verbitterung nicht vergessen.

Vorsichtig ging er zur Tür von Ebers Wohnung und klopfte leicht an.

»Eber? Bist du krank? Brauchst du Hilfe?« rief er leise.

Es kam keine Antwort. Er klopfte noch einmal an, diesmal etwas stärker. Als er wieder keine Antwort erhielt, nahm er seinen Mut zusammen und hob die Klinke an. Die Tür war nicht verschlossen, was er auch erwartet hatte. Niemand verschloß seine Tür im rath des Fürsten von Araglin. Er trat ein. Ohne Mühe gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Das Zimmer war leer. Er wußte, daß Ebers Wohnung aus zwei Zimmern bestand. Das erste, in dem er sich befand, hieß das »Gesprächszimmer« und war das private Empfangszimmer des Fürsten, in dem er besondere Gäste vertraulich bewirtete, fern von der Öffentlichkeit der Festhalle. Dahinter lag das Schlafzimmer des Fürsten.

Nachdem Menma festgestellt hatte, daß das erste Zimmer leer war, wandte er sich dem zweiten zu.

Sogleich bemerkte er einen Lichtstreifen unter der Tür. Dann fiel ihm ein anschwellendes Stöhnen auf, das aus dem Zimmer drang.

»Eber!« rief er laut. »Fehlt dir etwas? Ich bin's, Menma der Pferdewärter.«

Es kam keine Antwort, und das Stöhnen wurde nicht leiser.

Er ging zur Tür und klopfte heftig an.

Nach kurzem Zögern trat er ein.

Auf dem Tisch brannte eine kleine Lampe. Menma blinzelte rasch, um die Augen an das Licht zu gewöhnen. Er spürte, daß jemand zusammengekauert neben dem Bett hockte, hin und her schaukelte und wimmerte. Das war das Stöhnen, das er vernommen hatte. Er bemerkte dunkle Flecken auf der Kleidung der Gestalt. Dann weiteten sich seine Augen. Es waren Blutflecke, und etwas blinkte und funkelte im Lampenlicht, etwas in den Händen der Gestalt. Es war ein langes Messer.

Einen Augenblick stand Menma unbeweglich da, gebannt von dem Anblick.

Dann erkannte er eine zweite Gestalt in dem Zimmer. Jemand lag auf dem Bett, neben dem die stöhnende Gestalt kniete.

Menma trat einen Schritt vor.

Auf dem Bett, nackt bis auf die verrutschte Zudecke, lag der blutverschmierte Leichnam des Fürsten Eber. Eine Hand ruhte locker hinter dem Kopf. Die Augen waren starr und weit offen und wirkten in dem flackernden Lampenlicht wie lebendig. Die Brust war voller blutiger Wunden. Menma hatte oft genug das Schlachten von Tieren gesehen und erkannte sofort die Wunden von Messerstichen. Jemand mußte voller Wut das Messer immer wieder in die Brust des Fürsten von Araglin gestoßen haben.

Menma hob die Hand, um sich zu bekreuzigen, ließ sie aber sofort wieder sinken.

»Ist er tot?« fragte er mit hohler Stimme.

Die Gestalt neben dem Bett wiegte sich weiter hin und her und stöhnte. Sie blickte nicht auf.

Menma trat noch einen Schritt vor und schaute ungerührt auf den Liegenden. Dann ging er dichter heran, ließ sich auf ein Knie nieder und suchte den Puls am Hals des Fürsten. Der Leichnam fühlte sich bereits kalt an. Als er ihm nun näher in die Augen schaute und das Lampenlicht ihn nicht mehr täuschte, sah er, daß sie starr und glasig waren.

Menma richtete sich auf und starrte angeekelt auf das Bett. Er zögerte und spürte, daß er sichergehen mußte, daß Eber tot war. Er hob den Fuß und stieß die Leiche mit den Zehen an. Keine Reaktion. Dann holte er aus und trat dem Leichnam kräftig in die Seite. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Fürst Eber war tot.

Menma wandte den Blick auf die immer noch stöhnende Gestalt, die das Messer umklammerte. Er stieß ein rauhes Lachen aus. Plötzlich wurde ihm klar, daß er, der Pferdewärter Menma, so reich und mächtig werden würde wie die Vettern, die er sein ganzes Leben lang beneidet hatte.

Er kicherte noch vor sich hin, als er die Wohnung des Fürsten verließ und sich auf die Suche nach Dubán machte, dem Kommandeur von Ebers Leibwache.

Kapitel 2

Die tiefklingende Glocke der Abtei verkündete das neuerliche Zusammentreten des Gerichts. Es war am frühen Nachmittag, doch die Luft war nicht warm. Die kühlen grauen Granitmauern des Gebäudes schützten sein Inneres vor der Sonne. Die kleine Seitenkapelle der Abtei, die der Gerichtsverhandlung diente, war fast leer. Nur wenige Leute hatten auf den Holzbänken Platz genommen. Dabei hatte sich die Kapelle am Vortag bis zum Bersten gefüllt mit Klägern, Beklagten und Zeugen. Doch an diesem Nachmittag stand nur noch der letzte Fall, der vor diesem Gericht verhandelt wurde, zur Entscheidung an. In den zahlreichen anderen Fällen war bereits das Urteil gesprochen worden.

Die Teilnehmer an dieser letzten Verhandlung, etwa ein halbes Dutzend, erhoben sich respektvoll, als der Brehon, der Richter, eintrat und seinen Platz am oberen Ende des Raumes einnahm. Es war eine Richterin, Mitte bis Ende zwanzig, und sie trug das Gewand einer Nonne. Sie war hochgewachsen, hatte ein hübsches Gesicht und rotes Haar, das sich unter ihrer Kopfbedeckung hervordrängte. Die Farbe ihrer Augen war schwer zu bestimmen, denn sie konnten je nach ihrer Stimmung in eisigem Blau leuchten oder in feurigem Grün funkeln. Ihre jugendliche Erscheinung entsprach nicht der allgemeinen Vorstellung von einem erfahrenen, weisen und gelehrten Richter, aber als sie in den letzten Tagen die Beweislage in verschiedenen Rechtsstreitigkeiten prüfte und abwog, hatte diese so jung wirkende Frau die Parteien vor ihr mit ihren Kenntnissen, ihrer Logik und ihrem Mitgefühl beeindruckt.

Schwester Fidelma war tatsächlich eine ausgebildete dálaigh, eine Anwältin an den Gerichten der fünf Königreiche von Éireann. Sie besaß den Rang eines anruth, was bedeutete, daß sie nicht nur Fälle vor dem Richter vertreten, sondern auch, wenn sie dazu berufen wurde, selbst Fälle verhandeln und entscheiden durfte, die nicht die Anwesenheit eines Richters höheren Ranges erforderten. Fidelma war ausgewählt worden, als Richter dem Gericht vorzustehen, das in der Abtei von Lios Mhór tagte. Die Abtei lag außerhalb der »großen Befestigung«, die ihr den Namen gab. Lios Mhór stand am Ufer des ansehnlichen Flusses, der einfach Abhainn Mór, »der große Fluß«, genannt wurde, südlich von Cashel im Königreich Muman.

Der Sekretär der Abtei, der als Gerichtsschreiber fungierte und die Verhandlungen protokollierte, blieb stehen, als Fidelma und die anderen sich setzten. Er hatte eine melancholische Stimme und würde, dachte Fidelma, sich als berufsmäßiger Totenkläger sehr gut machen.

»Die Verhandlung ist hiermit eröffnet. Die Klage von Archú, Sohn der Suanach, gegen Muadnat vom Schwarzen Moor wird fortgesetzt.«

Er ließ sich nieder und warf Fidelma einen erwartungsvollen Blick zu. In der Hand hielt er seinen Schreibgriffel, denn das Protokoll wurde zunächst auf feuchten Ton in einem Holzrahmen geschrieben und nach Beendigung der Gerichtssitzungen auf das dauerhaftere Pergament übertragen.

Fidelma saß hinter einem großen reichgeschnitzten Eichentisch, auf dem ihre Hände mit den Flächen nach unten ruhten. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah die Beteiligten auf den Bänken vor ihr fest an.

»Archú und Muadnat, bitte tretet vor und stellt euch vor mir auf.«

Ein junger Mann erhob sich eilig. Er war gerade erst siebzehn Jahre alt und kam mit eifriger Miene nach vorn, wie ein Hund, dachte Fidelma, der eine Gunst von seinem Herrn erbetteln will. Der andere Mann stand in mittlerem Alter und hätte fast der Vater des Jungen sein können. Er hatte ein ernstes Gesicht und machte eine beinahe finstere Miene. Von Humor war bei ihm wenig zu spüren.

»Ich habe mir die Argumente angehört, die in diesem Fall vorgebracht wurden«, begann Fidelma und blickte von einem zum anderen. »Ich möchte sehen, ob ich die Tatsachen gerecht formulieren kann. Du, Archú, hast gerade die Volljährigkeit erreicht, das Alter der Entscheidung. Ist das richtig?«

Der Jüngling nickte. Siebzehn Jahre war das Alter, in dem nach dem Gesetz ein Junge ein Mann wurde und seine eigenen Entscheidungen treffen konnte.

»Du bist das einzige Kind von Suanach, die vor einem Jahr starb? Suanach war die Tochter von Muadnats Onkel?«

»Sie war die einzige Tochter des Bruders meines Vaters«, bestätigte Muadnat barsch und ungerührt.

»Ach ja. Dann seid ihr also Vettern?«

Es gab keine Antwort. Offensichtlich mochten sich die beiden nicht, auch wenn sie verwandt waren.

»Solche engen Verwandten sollten eigentlich nicht das Gericht bemühen, um ihre Streitigkeiten beizulegen«, ermahnte sie Fidelma. »Besteht ihr immer noch auf einem Urteil dieses Gerichts?«

Muadnat schnaubte verächtlich.

»Ich hatte kein Verlangen danach.«

Der junge Mann errötete vor Zorn.

»Ich auch nicht. Es wäre weit besser gewesen, wenn mein Vetter getan hätte, was Recht und Moral erfordern, bevor es so weit kam.«

»Ich bin im Recht«, fuhr Muadnat auf. »Du hast keinen Anspruch auf das Land.«

Schwester Fidelma zog spöttisch die Brauen hoch.

»Anscheinend muß nun doch das Gesetz entscheiden, da ihr beide euch nicht einigen könnt. Ihr habt den Fall vor Gericht gebracht, damit es ein Urteil fällt. Das Urteil dieses Gerichts ist dann bindend für euch beide.«

Sie lehnte sich zurück, faltete die Hände im Schoß und sah beide prüfend an. Zorn stand in ihren erregten Gesichtern.

»Nun gut«, meinte sie schließlich. »Wenn ich es recht verstanden habe, erbte Suanach Land von ihrem Vater. Verbessert mich, wenn ich mich irre. Später heiratete sie einen Mann von jenseits des Meeres, einen Briten namens Artgal, der als Ausländer keinen Grundbesitz mit in die Ehe bringen konnte.«

»Einen mittellosen Ausländer!« knurrte Muadnat.

Fidelma ignorierte ihn.

»Artgal, Archús Vater, starb vor einigen Jahren. Ist das richtig?«

»Mein Vater fiel im Kampf gegen die Uí Fidgente, im Dienst des Königs von Cashel«, ergänzte Archú voller Stolz.

»Als Söldner«, höhnte Muadnat.

»Dieses Gericht hat nicht die Aufgabe, über die Persönlichkeit Artgals zu befinden«, antwortete Schwester Fidelma spitz. »Es hat nach dem Gesetz zu urteilen. Also Artgal und Suanach hatten geheiratet …«

»Gegen den Willen ihrer Familie«, warf Muadnat wieder ein.

»Das habe ich schon gehört«, erwiderte Fidelma ruhig. »Geheiratet haben sie jedenfalls. Nach dem Tode Artgals bewirtschaftete Suanach weiter ihr Land und zog ihren Sohn Archú auf. Vor einem Jahr starb Suanach.«

»Und dann kam mein sogenannter Vetter und behauptete, das ganze Land gehöre ihm«, berichtete Archú in bitterem Ton.

»So bestimmt es das Gesetz«, entgegnete Muadnat selbstgefällig. »Das Land hatte Suanach gehört. Als Ausländer besaß ihr Mann kein Land. Als Suanach starb, fiel ihr Land an die Familie zurück, und in dieser Familie bin ich ihr nächster Verwandter. So lautet das Gesetz.«

»Er nahm sich alles«, beklagte sich der junge Mann empört.

»Ich hatte das Recht dazu. Im übrigen warst du noch nicht im Alter der Wahl.«

»Das stimmt«, erklärte Fidelma. »In diesem letzten Jahr war Muadnat als ältestes Mitglied der Familie nach dem Gesetz dein Vormund, Archú.«

»Vormund? Sklavenhalter meinst du«, knurrte der junge Mann. »Ich mußte auf meinem eigenen Land arbeiten und bekam nur meinen Lebensunterhalt. Ich wurde schlechter behandelt als ein Tagelöhner und mußte in den Rinderställen essen und schlafen. Die Familie meiner Mutter sorgte nicht einmal so gut für mich wie für ihre Landarbeiter.«

»Diese Tatsachen habe ich bereits registriert«, seufzte Fidelma geduldig.

»Wir haben keine gesetzliche Verpflichtung dem Jungen gegenüber«, brummte Muadnat. »Wir geben ihm seinen Lebensunterhalt. Dafür sollte er uns dankbar sein.«

»Dazu äußere ich mich nicht«, antwortete Fidelma kühl. »Die Forderung Archús an dich, Muadnat, richtet sich darauf, daß er einen Teil des Landes, das seiner Mutter gehörte, erben sollte. Ist das so?«

»Das Land seiner Mutter fällt an ihre Familie zurück. Er kann nur das erben, was seinem Vater gehörte, und als Ausländer besaß sein Vater kein Land, das er ihm vererben konnte. Soll er doch in die Heimat seines Vaters gehen, wenn er Land haben will.«

Fidelma lehnte sich in ihren Sessel zurück, streckte die Hände aus und richtete ihren Blick nun fest auf Muadnat. Ihre feurigen Augen verschleierten sich leicht, ihr Gesicht blieb ausdruckslos.

»Wenn ein Kleinbauer, ein ocáire, stirbt, dann fällt ein Siebentel seines Landes als Steuer an den Fürsten zum Erhalt des Stammesgebiets. Ist das eingetreten?«

»Ja«, warf der Gerichtsschreiber ein und blickte von seinen Protokollnotizen auf. »Die Bestätigung des Fürsten Eber von Araglin liegt vor, Schwester.«

»Gut. Dann ist die Entscheidung, die dieses Gericht zu treffen hat, klar.«

Fidelma wandte sich langsam Archú zu.

»Deine Mutter war die Tochter und das einzige Kind eines Kleinbauern, eines ocáire. Bei seinem Tode war sie die weibliche Erbin und besaß ein lebenslanges Nutzungsrecht an dem Land ihres Vaters. Normalerweise kann sie dieses Land nicht ihrem Ehemann oder ihren Söhnen vererben, sondern es fällt bei ihrem Tode an die nächsten Verwandten innerhalb ihrer Sippe zurück.«

Muadnat richtete sich auf, und zum ersten Mal lockerte sich seine finstere Miene und wich einem zufriedenen Ausdruck. Triumphierend sah er den jüngeren Mann an.

»Aber«, fuhr Fidelmas Stimme plötzlich in eisigem Ton durch die Halle, »wenn ihr Ehemann ein Ausländer war, und in diesem Fall war er ein Brite, dann besaß er kein Land im Stammesgebiet. Deshalb konnte er seinem Sohn nichts vererben. Unter diesen Umständen ist das Gesetz eindeutig, und es war unser großer Richter Bríg Briugaid, der das Urteil fällte, auf das sich das Gesetz gründet. Es lautet, daß unter diesen Umständen die Mutter das Land ihrem Sohn vererben kann, allerdings mit einer Einschränkung. Von ihrem Land kann sie ihm nur soviel vererben, wie der Gegenwert von sieben cumals beträgt, der die Mindestgröße an Land darstellt, von der an jemand als ocáire oder Kleinbauer gilt.«

Es trat ein Schweigen ein, in dem Kläger und Beklagter versuchten, das Urteil zu begreifen. Fidelma hatte Mitleid mit ihren ratlosen Gesichtern.

»Das Urteil fällt zu deinen Gunsten aus, Archú«, lächelte sie dem jungen Mann zu. »Dein Vetter hat das Land zu Unrecht inne, da du nun das Alter der Wahl erreicht hast. Er muß dir Land im Gegenwert von sieben cumals abtreten.«

Muadnat zog ein langes Gesicht.

»Aber … aber das Land, um das es geht, ist ja kaum größer als sieben cumals. Wenn er sieben cumals bekommt, bleibt nichts davon für mich übrig.«

Fidelma redete mit ihm wie eine Lehrerin mit einem Schüler.

»Nach dem alten Gesetz Críth Gablach bilden sieben cumals den Grundbesitz eines ocáire, auf den Archú Anspruch hat«, belehrte sie ihn. »Da du insoweit gegen das Gesetz verstoßen hast, als Archú keine andere Wahl blieb, als seinen Anspruch hier vor Gericht vorzubringen, mußt du diesem Gericht eine Gebühr von einem cumal zahlen.«

Muadnats Gesicht wurde kreidebleich vor Zorn.

»Das ist eine Ungerechtigkeit!« murrte er.

Fidelma ließ sich von seiner Wut nicht erschüttern.

»Rede mir nicht von Ungerechtigkeit, Muadnat. Du bist mit diesem jungen Mann verwandt. Als seine Mutter starb, wäre es deine Pflicht gewesen, für ihn zu sorgen und ihn zu beschützen. Du hast versucht, ihm das zu nehmen, was ihm nach dem Gesetz zustand, hast ihn ohne Bezahlung für dich arbeiten lassen und ihn gezwungen, schlechter zu leben als ein Sklave. Ich bin nicht sicher, ob du überhaupt weißt, was Gerechtigkeit ist. Es wäre gerecht, wenn ich dich verurteilte, ihm eine Entschädigung für das zu zahlen, was du ihm angetan hast. Mein Urteil ist noch gnädig ausgefallen.«

Die kalten Worte Fidelmas ließen den Mann zusammenzucken, als habe ihn der Strom ihrer Verachtung körperlich getroffen.

Er schluckte schwer.

»Ich werde bei meinem Fürsten Eber von Araglin Einspruch gegen dieses Urteil erheben. Das Land gehört mir! Du wirst noch von mir hören.«

»Ein Einspruch kann nur beim Obersten Richter des Königs von Cashel eingelegt werden«, unterbrach ihn der Gerichtsschreiber trocken, während er das Urteil ausfertigte. Er legte seinen Schreibgriffel beiseite und bemühte sich, es dem verärgerten Beklagten zu erklären. »Wenn ein Brehon ein Urteil fällt, gehört es sich nicht für dich, den Brehon zu beschimpfen. Falls du Einspruch einlegen willst, mußt du das in gebührender Form tun. Inzwischen, Muadnat vom Schwarzen Moor, bist du an das Urteil gebunden und mußt das Land deinem Vetter Archú überlassen. Kommst du dem nicht binnen neun Tagen nach, kannst du mit Gewalt davon vertrieben werden. Ist dir das klar? Und deine Strafe von einem cumal muß bis zum Aufgang des nächsten Vollmonds entrichtet sein.«

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Muadnat ab und schritt rasch und schweigend aus der Kapelle. Ein kleiner muskulöser Mann mit einer kastanienbraunen Mähne erhob sich und folgte ihm verlegen.

Archús Miene zeigte, daß er dem Urteil kaum glauben konnte. Er beugte sich über den Tisch vor, ergriff Fidelmas Hand und schüttelte sie kräftig.

»Gott segne dich, Schwester. Du hast mir das Leben gerettet.«

Fidelma schenkte dem begeisterten jungen Mann ein dünnes Lächeln.

»Ich habe lediglich ein Urteil nach dem Gesetz gefällt. Hätte das Gesetz anders gelautet, hätte ich gegen dich urteilen müssen. Im Gericht spricht das Gesetz, nicht ich.«

Sie entzog ihm ihre Hand. Der junge Mann schien ihr kaum zugehört zu haben, denn jetzt wandte er sich, immer noch freudig lächelnd, ab und lief in den Hintergrund der Kapelle, wo ein junges Mädchen sich erhob und ihm fast in die Arme stürzte. Fidelma lächelte wehmütig, als sie sah, wie die beiden jungen Menschen sich an den Händen hielten und anschauten.

Dann wandte sie sich rasch ihrem Gerichtsschreiber zu.

»Ich glaube, das war der letzte Fall, den wir zu verhandeln hatten, nicht wahr, Bruder Donnán?«

»Ja. Ich trage die Urteile heute noch ein und sorge dafür, daß sie in gebührender Form bekanntgemacht werden.« Der Gerichtsschreiber hielt inne, räusperte sich und senkte die Stimme. »Ich glaube, der Abt steht an der Tür und möchte dich sprechen.«

Mit einer nervösen Kopfbewegung wies er auf die Tür der Kapelle. Fidelma wandte sich um. Tatsächlich wartete der breitschultrige Abt Cathal dort an der Tür. Fidelma stand sofort auf und ging zu ihm hin.

»Suchst du mich, Pater Abt?«

Abt Cathal war ein wohlgebauter, kräftiger Mann in mittlerem Alter mit einer militärischen Haltung, denn in seiner Jugend war er zum Krieger ausgebildet worden. Er stammte aus dieser Gegend und hatte die militärische Laufbahn aufgegeben, sich unter der Leitung des heiligen Cáthach in Lios Mhór religiös unterweisen lassen und war zu einem anerkannten und hervorragenden Lehrer und Abt aufgestiegen. Cathal war der Sohn eines großen Kriegsfürsten, aber er hatte seinen ganzen Reichtum unter den Armen seines Stammes aufgeteilt und lebte in der bescheidenen Armut seines Ordens. Sein einfaches und direktes Handeln schuf ihm auch Feinde. Einmal hatte ein Fürst dieser Gegend, Maelochtrid, ihn gefangengesetzt unter der vorgeblichen Beschuldigung, er betreibe Zauberei. Doch nach seiner Freilassung hatte Cathal ihm vergeben. Ein solcher Mensch war er.

Fidelma mochte Cathal, weil er so sanftmütig und frei von jeder Eitelkeit war. Damit stand er in einem erfreulichen Gegensatz zu dem Hochmut im Amt, dem sie so oft begegnete. Cathal war einer der wenigen Kirchenmänner, den sie ohne Zögern als »heilig« bezeichnen würde.

»Ich suche dich tatsächlich, Schwester Fidelma«, antwortete der Abt mit einem raschen, warmen Lächeln. »Hat das Gericht seine Verhandlungen beendet?«

Seine Stimme klang weich, beinahe ausdruckslos, doch Fidelma spürte, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein mußte.

»Wir haben gerade beim letzten Fall das Urteil gesprochen, Pater Abt. Gibt es ein Problem?«

Abt Cathal zögerte.

»Zwei Reiter sind in der Abtei eingetroffen. Einer davon ist ein Ausländer. Sie kommen aus Cashel und suchen dich.«

»Ist meinem Bruder etwas passiert?« fragte Fidelma sofort, denn das war ihr erster Gedanke. War ihrem Bruder Colgú etwas zugestoßen, dem jüngst eingesetzten König von Muman, dem größten der fünf Königreiche in Éireann?

»Nein, nein. Dein Bruder, der König, ist wohlauf«, versicherte ihr der Abt. »Entschuldige meine ungeschickte Ausdrucksweise. Komm mit mir in mein Zimmer, dort wirst du erwartet.«

Neugierig gemacht, eilte Fidelma jetzt so schnell neben der höheren Gestalt des Abts her, wie es ihre Würde gestattete.

Einst ein kleiner verschlafener Winkel, war Lios Mhór, das große Haus, wie es genannt wurde, plötzlich berühmt geworden, als erst vor einer Generation der heilige Cáthach von Rathan dorthin gezogen war und ein neues Kloster gegründet hatte. In kurzer Zeit hatte sich Lios Mhór zu einem der führenden Zentren theologischer Ausbildung entwickelt. Wie die meisten großen Abteien in Irland war es ein gemischtes Haus, ein conhospitae, in dem Mönche und Nonnen gemeinsam wohnten, arbeiteten und ihre Kinder im Dienste Christi erzogen.

Während sie die Kreuzgänge des Klosters durchschritten, machten die Studenten, Mönche und Nonnen dem Abt ehrfürchtig Platz und verbeugten sich höflich. Die Studierenden waren junge Männer und Frauen aus vielen Ländern, die zur Ausbildung in die fünf Königreiche kamen. An der Tür zu den Gemächern des Abts blieb Cathal stehen, öffnete sie und ließ Fidelma den Vortritt.

Ein großer älterer Mann von imponierender Erscheinung stand hinter dem Tisch des Abts. Er wandte sich mit einem breiten Lächeln um, als Fidelma eintrat. Trotz seines silbergrauen Haares und seines offenkundigen Alters sah er noch gut aus und wirkte energisch. Er trug eine goldene Amtskette über dem Mantel. Hätte ihn nicht schon sein Äußeres ausgezeichnet, so verriet die Amtskette seinen hohen Rang.

Fidelma erkannte ihn sofort.

»Beccan! Wie schön, dich wiederzusehen.«

Der Oberrichter erwiderte ihr Lächeln. Er trat auf sie zu und ergriff ihre beiden Hände.

»Es freut mich immer, Fidelma, jemanden zu sehen, der Zuneigung ebenso wie berufliche Achtung verdient.«

Seine Worte und seine warme Begrüßung entsprangen nicht dem Protokoll, sondern echtem Gefühl.

Fidelma hörte ein Hüsteln in ihrem Rücken und wandte sich forschend um. Dort stand ein Mönch, die Hände in seine grobgesponnenen braunen Wollgewänder gewickelt. Seine Tonsur war anders als die des heiligen Johannes, wie sie von den Mönchen der fünf Königreiche von Éireann getragen wurde. Es war eine römische Tonsur. Sein Gesicht war ernst, aber seine dunkelbraunen Augen funkelten vor Vergnügen, als er sich grüßend vor ihr verneigte.

»Bruder Eadulf!« flüsterte Fidelma überrascht. »Ich dachte, du wärst in Cashel und dientest meinem Bruder?«

»Das tat ich auch. Aber es gab wenig zu tun in Cashel, und als ich hörte, daß Beccan dich hier aufsuchen wollte, erbot ich mich, ihn zu begleiten.«

»Mich hier aufsuchen?« Fidelma erinnerte sich plötzlich an die Worte des Abts. »Was ist denn los?«

»Es gibt einige beunruhigende Nachrichten, Schwester«, begann Beccan ernst. Dann zuckte er die Achseln und lächelte entschuldigend. »Verzeih, erst sollte ich dir sagen, daß es deinem Bruder gut geht in seiner Hauptstadt Cashel. Er sendet dir die herzlichsten Grüße.«

Fidelma machte sich nicht die Mühe, ihm zu erklären, daß Abt Cathal ihr schon mitgeteilt hatte, daß mit ihrem Bruder alles in Ordnung war.

»Was ist dann also die beunruhigende Nachricht?«

Beccan zögerte einen Moment, wie um seine Gedanken zu ordnen.

»Gestern abend kam ein Bote des Stammes von Eber von Araglin nach Cashel.«

Der Name war Fidelma sofort vertraut, sie erinnerte sich sogleich daran, daß er in dem letzten Fall vorkam, in dem sie an diesem Nachmittag das Urteil gesprochen hatte. Eber war der Fürst des Gebiets, aus dem Archú und sein mitleidsloser Vetter gekommen waren, um ihr Gericht anzurufen.

»Sprich weiter«, sagte sie schuldbewußt, denn Beccan hatte wieder innegehalten, als er merkte, daß ihre Gedanken abschweiften.

»Der Bote berichtete, daß Eber und eine seiner Verwandten ermordet worden seien. Jemand wurde am Tatort gefaßt.«

»Was hat das mit mir zu tun?« fragte Fidelma.

Beccan machte eine entschuldigende Geste.

»Ich bin im Auftrage deines Bruders auf dem Wege nach Ros Ailithir. Es ist eine dringende Angelegenheit, und ich kann mir nicht die Zeit nehmen, nach Araglin zu gehen und eine ordentliche Untersuchung anzustellen. Dein Bruder, der König, legt Wert darauf, daß der Fall sofort untersucht und Recht gesprochen wird. Eber von Araglin war immer ein guter Freund von Cashel, und dein Bruder hält es für angebracht …«

Den Rest konnte sich Fidelma denken.

»Daß ich nach Araglin gehe«, schloß sie den Satz mit einem Seufzer. »Nun, hier bin ich fertig. Morgen wollte ich zu meinem Bruder nach Cashel. Es spielt wohl keine große Rolle, ob ich dort ein oder zwei Tage später ankomme. Aber ich verstehe nicht so ganz, was es in Araglin noch zu untersuchen gibt, wenn der Schuldige schon gefaßt ist, wie du sagst. Bestehen denn Zweifel an seiner Schuld?«

Beccan schüttelte nachdrücklich den Kopf.

»Nicht, daß ich wüßte«, versicherte er ihr. »Mir wurde berichtet, der Mörder sei mit einem Dolch in der Hand und in blutbefleckter Kleidung gefaßt worden, wie er sich über die Leiche Ebers beugte. Dein Bruder jedoch …«

Fidelma schnitt eine Grimasse.

»Ich weiß. Eber war ein Freund Cashels, und Gerechtigkeit muß fair geübt werden.«

»Es gibt keinen Brehon in Araglin«, warf Abt Cathal ein, um die Situation zu erklären. »Es geht mehr darum, für ein ordentliches Gerichtsverfahren zu sorgen.«

»Gibt es Grund zu der Annahme, daß es das nicht geben könnte?«

Abt Cathal breitete die Hände aus, als hielte er die Frage für nicht so eindeutig zu beantworten.

»Nach allem, was man hört, war Eber ein sehr beliebter Fürst und stand im Rufe der Freundlichkeit und Großzügigkeit. Anscheinend mochten ihn seine Leute. Es könnte die Neigung bestehen, den Schuldigen zu bestrafen, ohne sich genau an das Recht und den Buchstaben des Gesetzes zu halten.«

Fidelma begegnete einen Moment seinem besorgten Blick. Cathal kannte die Bergbewohner rings um Lios Mhór besser als andere, denn er gehörte zu ihnen. Sie nickte kurz zum Zeichen, daß sie seine Besorgnis verstand.

»Ich habe bei meiner Gerichtsverhandlung erlebt, daß zumindest ein Mann vom Stamme Araglin wenig Achtung vor dem Gesetz besitzt«, erinnerte sie sich. »Erzähl mir mehr von den Menschen von Araglin, Pater Abt.«

»Da gibt es wenig zu berichten. Sie sind ein eng verbundenes Volk, das im allgemeinen für Außenstehende nicht viel übrig hat. Ebers Stamm lebt hauptsächlich in den Bergen um eine Ansiedlung herum, die der rath des Fürsten von Araglin genannt wird. Seine Ländereien erstrecken sich nach Osten am Fluß Araglin, der das Tal durchzieht. Es ist reiches Ackerland. Ebers Stamm hält zusammen und mißtraut allen Fremden. Es wird für dich keine leichte Aufgabe sein.«

»Du sagtest, sie haben keinen Brehon? Haben sie wenigstens einen Priester?«

»Ja, Pater Gormán wohnt im rath. Dort gibt es eine Kapelle, die Cill Uird genannt wird, die Kirche des Rituals. Er lebt seit zwanzig Jahren unter den Leuten von Araglin. Ausgebildet wurde er hier in Lios Mhór. Er wird dir sicher wertvolle Hilfe leisten können, obgleich er gewisse dogmatische Ansichten über die Verbreitung des Glaubens hat, über die du wahrscheinlich anderer Ansicht bist.«

»Wie das?« erkundigte sich Fidelma interessiert.

Cathal antwortete mit einem entwaffnenden Lächeln.

»Ich meine, es ist besser, wenn du das selbst herausfindest, damit ich dich nicht beeinflusse.«

»Ich vermute, er befürwortet die römischen Gebräuche«, seufzte Fidelma.

Abt Cathal verzog das Gesicht.

»Du besitzt viel Scharfblick, Schwester. Ja, Pater Gormán gibt den römischen Sitten den Vorzug vor unseren einheimischen. Er erhält dabei einige Unterstützung, denn er hat in Ard Mór eine römische Kapelle erbaut, die durch ihre Pracht Berühmtheit erlangt. Pater Gormán scheint über reiche Anhänger zu verfügen.«

»Dennoch wohnt er immer noch an einem so einsamen Ort wie Cill Uird«, bemerkte Fidelma. »Das ist eigenartig.«

»Suche nicht nach Geheimnissen, die es gar nicht gibt«, tadelte sie Abt Cathal, doch mit einem Lächeln. »Pater Gormán stammt aus Araglin, aber er meint, er müsse auch seine Interpretation des Glaubens verbreiten.«

Beccan betrachtete amüsiert ihre trübsinnige Miene. Er schüttelte neckend den Kopf.

»Dein Problem, Fidelma von Kildare, besteht darin, daß du zu gut bist in deinem Beruf. Deine Weisheit ist schon sprichwörtlich geworden in allen fünf Königreichen von Éireann.«

»Die Vorstellung gefällt mir überhaupt nicht«, brummte Fidelma. »Ich diene dem Gesetz nicht zu meinem persönlichen Ruhm. Ich diene ihm, um den Menschen Gerechtigkeit zu bringen.«

»Und dadurch, daß du das tust, Fidelma, wirst du bekannt als ein gerechter Mensch mit der Fähigkeit, umstrittene Probleme zu lösen. Aus deinen Erfolgen erwächst dein Ruf. Damit mußt du dich abfinden. Doch jetzt …«

Er wandte sich entschlossen zu Abt Cathal um.

»Muß ich mich auf den Weg machen, wenn ich vor Tagesende noch nach Ard Mór kommen will. Vive valeque, Cathal von Lios Mhór.«

»Vive, vale, Beccan.«

Mit einem raschen Lächeln für Fidelma und einem Nicken zu Eadulf hin verschwand er und hatte den Raum verlassen, fast ehe sie es wahrnahmen.

Fidelma wandte sich neugierig an Bruder Eadulf.

»Begleitest du Beccan nicht? Wohin gehst du von hier, Eadulf?«

Der dunkeläugige Mönch, der viele ihrer Abenteuer mit ihr bestanden hatte, blieb ungerührt.

»Ich dachte, ich gehe mit dir nach Araglin, das heißt, wenn du nichts dagegen hast. Ich würde gern diesen Teil des Landes kennenlernen, ich habe ihn noch nie gesehen.«

Fidelmas Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Lächeln bei dieser diplomatischen Antwort Eadulfs, die offenkundig so formuliert war, um jeden neugierigen Gedanken abzuwenden, den der Abt hegen mochte.

Eadulf war durch Erbfolge in das Amt eines gerefa oder Friedensrichters bei seinem Volke, den Angelsachsen, gelangt. Der irische Missionar Fursa hatte ihn zum Christentum bekehrt und zur Ausbildung an die großen Hochschulen in Éireann geschickt. Zuerst hatte er am Kloster Durrow studiert und dann die berühmte medizinische Hochschule in Tuaim Brecain besucht. Danach war Eadulf von der Kirche Colmcilles zur Kirche von Rom übergewechselt. Er wurde der Sekretär Theodores, des von Rom ernannten neuen Erzbischofs von Canterbury. Theodore schickte ihn wieder nach Irland als seinen Gesandten bei Fidelmas Bruder Colgú von Cashel. Eadulf war in den fünf Königreichen völlig zu Hause und sprach fließend Irisch.

»Du kannst mich gern begleiten, Eadulf«, antwortete sie leise und fügte hinzu: »Hast du ein Pferd?«

»Dein Bruder hat mir freundlicherweise eines für die Reise zur Verfügung gestellt.«

Normalerweise ritten Mönche und Nonnen nicht, wenn sie reisten. Daß Fidelma ein Pferd besaß, hatte seine Ursache in ihrem Rang und ihrem Amt als Brehon bei Gericht.

»Ausgezeichnet. Vielleicht können wir sogleich unsere Reise antreten. Wir haben noch mehrere Stunden Tageslicht.«

»Wäre es nicht besser, bis morgen früh zu warten?« meinte Abt Cathal. »Vor Einbruch der Nacht kommt ihr nicht mehr bis Araglin.«

»Irgendwo am Wege wird es schon eine Herberge geben«, antwortete Fidelma mit sicherer Überzeugung. »Wenn zu befürchten ist, daß Ebers Leute vorschnell etwas gegen den Beschuldigten unternehmen, ohne sich an das Gesetz zu halten, dann sollte ich mich so schnell wie möglich nach Araglin begeben.«

Cathal stimmte zögernd zu.

»Wie du meinst, Fidelma. Doch in den Bergen ist es nicht gut, ohne Obdach von der Nacht überrascht zu werden.« Dem Abt war aber wohl bewußt, daß er nicht mit einer einfachen Nonne sprach, sondern mit der Schwester seines Königs. Was sie beschloß, das konnte er mit seiner Machtbefugnis nicht ändern. »Ich werde einen Bruder anweisen, euch mit Essen und Trinken für die Reise zu versorgen und eure Pferde tränken und satteln zu lassen.«

Abt Cathal erhob sich und verließ das Zimmer.