Sophienlust (ab 300) – 392 – Im Schatten der Vergangenheit

Sophienlust (ab 300)
– 392–

Im Schatten der Vergangenheit

Dabei liebe ich den Vita doch so sehr!

Marisa Frank

Impressum:

Epub-Version © 2018 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-939-7

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Eilig hastete Karin Schwegler durch die Fußgängerzone von Stuttgart. Sie schenkte den Schaufenstern keine Beachtung mehr. Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr hatte sie sich davon überzeugt, daß Heidi, ihre zehnjährige Tochter, sicher bereits auf sie wartete.

Unwillkürlich seufzte Karin. Sie hatte nicht alles bekommen, was sie gewollt hatte. Das bedeutete, daß sie sich am nächsten Tag nochmals in die Innenstadt begeben mußte.

Fast im Laufschritt eilte Karin über den kleinen Schloßplatz. Sie haßte Unpünktlichkeit. Also drängte sie sich hastig zwischen zwei Autos durch, um gleich darauf nervös in ihrer Tasche nach ihrem Autoschlüssel zu suchen. Mit einigen Päckchen und Tragtaschen in der Hand war dies kein leichtes Unterfangen. ­Endlich klappte es. Sie spürte den Schlüssel zwischen ihren Fingern, zog ihn aus der Tasche und sperrte auf. Aufatmend warf sie das Ein­gekaufte auf den Rücksitz. Als sie sich wieder aufrichtete, fiel ihr Blick auf einen kleinen Jungen. Die Hände in den Hosentaschen, schlenderte er zwischen den Autos hindurch. Und dann stockte Karin Schwegler der Atem. Der Kleine lief einfach auf die Fahrbahn. Einem Autofahrer gelang es gerade noch auszuweichen.

Karin war blaß geworden, aber den Jungen schien das Geschehene nicht berührt zu haben. Mit einem Fuß auf dem Gehweg, mit dem anderen auf der Fahrbahn, hüpfte er munter weiter. Offensichtlich war er sich der Gefahr nicht bewußt.

Karin schlug ihre Autotür zu und lief zu dem Jungen. Der Schreck saß ihr noch in den Gliedern. Deshalb fuhr sie den Kleinen an: »Was fällt dir denn ein? Kannst du nicht aufpassen? Wo ist deine Mami?«

Der Junge hob den Kopf. Mit großen Augen und unschuldigem Gesicht sah er Karin an. »Weiß nicht.« Er zuckte die Achseln. Dann lächelte er.

Unwillkürlich erwiderte Karin das Lächeln. Der Kleine, sie schätzte ihn auf etwa fünf Jahre, war ein reizendes Kind. »Du bist einfach über die Straße gelaufen«, meinte sie wesentlich ruhiger und beugte sich zu ihm hinab. »Das ist gefährlich.«

»Hm«, machte er, wobei auf seiner Stirn eine Falte erschien. »Warum fahren da wieder Autos?« Er zeigte mit der Hand hinter sich. »Dort waren keine Autos. Dort hat man überall laufen können.«

»Das ist eine Fußgängerzone«, erläuterte Karin. »Wohin willst du denn?«

»Weiß nicht.« Wieder zuckte der Kleine die Achseln.

»Komm, ich bringe dich wieder in die Fußgängerzone.« Karin ergriff die Hand des Kleinen, die er ihr willig überließ. »Siehst du, jetzt müssen wir zuerst nach links und dann nach rechts schauen«, erklärte sie, ehe sie mit ihrem kleinen Begleiter die Fahrbahn überquerte.

»Da gehen wieder alle auf der Straße«, stellte der Junge fest.

»Ja«, bestätigte Karin. »Deswegen nennt man diese Straße auch Fußgängerzone. Hier darf kein Auto fahren. Da kann man kreuz und quer laufen.«

»Fein! Läufst du mit mir mit?« Fester umspannte der Kleine Karins Hand. Er hob den Kopf und lächelte.

Karin wurde es warm ums Herz. Sie liebte Kinder sehr. Wäre sie nicht so früh Witwe geworden, hätte sie sicher mehrere Kinder gehabt. So war es nur bei Heidi geblieben.

»Ich bringe dich zu deiner Mami«, sagte Karin entschlossen.

»Oh«, enttäuscht verzog sich das Gesicht des Jungen. »Dorthin ist es viel zu weit.«

Karin stutzte. »Wo ist deine Mami?«

»Zu Hause.« Der Kleine strahlte sie wieder an.

Da stimmte doch etwas nicht! Karin bückte sich und nahm den Kleinen auf ihren Arm. »So, und nun erzählst du mir, was du hier machst«, forderte sie.

»Ich gehe spazieren. Aber allein ist es langweilig. Da kann man mit niemandem sprechen.«

»Bist du etwa ganz allein hier?« Erstaunt hielt Karin den Jungen etwas von sich ab, um ihm ins Gesicht zu sehen.

Dieser nickte ernsthaft. »Ich bin ganz weit gegangen. Ich glaube, jetzt bin ich müde.« Ohne Scheu legte er seinen Kopf an Karins Schulter.

»Du bist von daheim ausgerissen«, stellte Karin fest.

»Nein.« Der Kopf des Jungen fuhr wieder hoch. »Ich bin nur weggegangen.«

»Deine Mami wird dich aber suchen. Es ist höchste Zeit, daß du wieder nach Hause gehst.«

»Kann nicht.« Der Kleine zuckte die Achseln. Sein Zeigefinger schob sich in den Mund. Dann gestand er: »Weiß nicht, wo ich wohne.«

Karin wunderte sich. Der Junge sah aufgeweckt aus. Er war auch weder schüchtern, noch verklemmt.

»Aber du weißt doch, wie du heißt?« fragte sie.

»Klar! Thorsten… Thorsten Knoll.« Wie aus der Pistole geschossen war der Name aus dem Munde des Kleinen gekommen. Doch jetzt schob sich sein Zeigefinger wieder zwischen die Lippen. Leise gestand er: »So habe ich einmal geheißen.«

Karin schüttelte den Kopf. Sie wurde aus dem Kleinen immer weniger klug. Aber ehe sie fragen konnte, erklärte der Junge bereits. »Meine Mami und ich haben Knoll geheißen. Dann kam der Mann. Zuerst sagte ich Onkel zu ihm, dann Papi. Meine Mami hat ihn geheiratet. Jetzt heißen wir so wie er, und das weiß ich nicht mehr.«

»Ach so.« Unwillkürlich nagte Karin an ihrer Unterlippe. Dann probierte sie es noch einmal. »Du bist sicher sehr klug«, begann sie, wurde aber sofort von dem Kleinen unterbrochen.

Mit einem strahlenden Lächeln erklärte er: »Ich bin schon fünf Jahre alt.«

»Na, siehst du! Wenn du nachdenkst, kannst du mir sicher sagen, wo du wohnst. Wenn du nicht weißt, wie die Straße heißt, dann kannst du mir vielleicht erzählen, wie es dort aussieht.«

Thorsten nickte ernsthaft. »Es gibt viele Häuser. Sie stehen ganz dicht beisammen. Ganz anders, als dort, wo wir vorher wohnten. Wir wohnen erst ganz wenige Tage hier. Der neue Papi hat das Haus gekauft, und meine Mami ist noch mit dem Einrichten beschäftigt. Daher hat sie nicht viel Zeit. So bin ich allein losgegangen. Zuerst habe ich auch auf die Autos aufgepaßt, wenn ich über die Straße gegangen bin.«

Karin strich Thorsten über das Haar. »Ja, was machen wir nun? Wollen wir zusammen versuchen, den Weg zurückzugehen? Du mußt mir zeigen, wo du die Straße überquert hast. Wir werden den Weg schon finden. Du hast dir sicher einiges gemerkt.«

Doch Thorsten schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich bin ganz, ganz weit gegangen. Du, ich habe Hunger.« Er legte seinen Kopf wieder an Karins Schulter.

»Gut.« In diesem Moment hatte Karin ihre Tochter völlig vergessen. »Du bekommst Pommes frites oder eine Wurst. Ich kaufe dir, was du willst, und dann zeigst du mir, woher du gekommen bist.«

»Aber ich weiß es doch nicht mehr.« Thorstens Gesicht verzog sich kläglich. »Wirklich nicht! So lange wohne ich doch noch nicht da. Ich bin einfach gegangen und gegangen.« Sein Kopf sank auf die Brust.

Karin bekam Mitleid mit dem Kleinen. Sie war sicher, daß er nicht log. Heftig saugte er nun wieder an seinem Zeigefinger.

»Ja, aber was machen wir denn da?« überlegte sie laut. »Deine Mami wird dich wahrscheinlich schon suchen.«

»Schon«, gab Thorsten zu, um dann hinzuzufügen: »Aber das ist nicht so schlimm. Sie hat ja jetzt einen Mann.«

»Moment, kleiner Mann. Bist du eifersüchtig? Bist du etwa doch ausgerissen?«

Heftig schüttelte Thorsten den Kopf. »Ich bin nur gegangen, immer weiter. Über viele Straßen. Auch viele Straßenbahnen habe ich gesehen. Ich habe aber immer aufgepaßt, wenn ich über die Schienen gegangen bin.« Er wurde wieder eifrig. »Sogar zu einem Park bin ich gekommen. Einmal bin ich unter der Straße durchgegangen. Da war eine Rolltreppe. Damit bin ich ein paarmal gefahren.«

»Und du hast gar keine Angst gehabt?«

»Nein. Ich bin doch schon groß. Ich weiß, daß ich mich von fremden Männern nicht ansprechen lassen darf. Da war auch einer, der hat mit mir zusammen die Auslage angeschaut. Als er mich gefragt hat, was ich mir wünsche, da bin ich schnell weitergelaufen.«

Karin mußte lächeln, doch dann wurde ihr der Ernst der Lage wieder bewußt. »Wann bist du denn zu Hause weggegangen?« fragte sie.

»Gleich nachdem wir gegessen hatten.« Auf der Stirn des Jungen erschien eine Falte. Er dachte nach. »Papi ist heute nicht zum Essen gekommen«, berichtete er. »Mami hat daher Spaghetti gemacht mit viel Tomatensoße. Als im Radio die Nachrichten kamen, hatte ich meinen Teller schon leer gegessen.«

»Du meinst um zwölf Uhr?«

»Richtig.« Thorsten strahlte wieder. »Der im Radio hat gesagt: mit dem nächsten Gongschlag ist es zwölf Uhr.«

»Und dann?« forschte Karin weiter.

»Mami hat das Geschirr gleich abwaschen wollen. Die Küche soll doch sauber sein, wenn Papi kommt. Da bin ich vor das Haus gegangen und dann immer weiter.« Seine Unterlippe schob sich nach vorn. »Meinst du, ich hätte Mami fragen müssen?«

Karin begriff, daß sie den Kleinen hätte schelten müssen, aber das brachte sie nicht übers Herz. Er sah sie so treuherzig an, daß ihr die Worte im Hals steckenblieben.

»Was mache ich jetzt nur mit dir?« sagte sie und strich ihm über das Haar.

»Oh, es wird dir schon etwas einfallen. Du darfst nur nicht vergessen, daß ich Hunger habe. Und müde bin ich auch.«

Karin sah auf die Uhr und erschrak. Es war schon fast siebzehn Uhr. Was sollte sie nur tun? Sie konnte den Kleinen doch nicht einfach hier stehenlassen.

»Du mußt dir keine Sorgen machen.« Thorsten lachte sie an. »Wenn du mich mitnimmst, dann werde ich brav sein.«

»Ich kann dich doch nicht mitnehmen. Deine Mami wird dich sicher schon suchen.« Ratlos schüttelte Karin den Kopf. Sie konnte sich die Ängste dieser Frau vorstellen. Wenn das, was der Kleine ihr erzählt hatte, stimmte, war er bereits über vier Stunden von zu Hause weg.

»Ja«, stimmte Thorsten ihr zu. »So lange wäscht Mami sicher nicht das Geschirr ab. Sie wollte mir dann auch vorlesen. Ich muß mich beeilen. Bitte, bring mich zu meiner Mami.«

»Thorsten, das kann ich nicht. Da müßte ich wissen, wo du wohnst und wie deine Mami heißt.«

»Mami! Meine Mami ist die Mami.«

»Sicher.« Jetzt lächelte Karin doch. »Aber sie hat auch einen Namen. Ich bin auch eine Mami. Ich bin die Mami von Heidi, aber ich heiße auch Karin Schwegler. Mein Gott, ich habe Heidi ganz vergessen. Sie wartet sicher schon vor der Wohnungstür auf mich.«

»Du hast aber gesagt, daß meine Mami auch wartet«, meinte Thorsten. »Ich will nicht, daß Mami auf mich böse ist.«

»Dann müssen wir eben ganz schnell zu dir nach Hause gehen. Du mußt mir nur zeigen, wo du wohnst«, versuchte Karin es noch einmal.

»Ich weiß es nicht.« Um Thorstens Mundwinkel begann es verdächtig zu zucken. »Bin ich jetzt dumm? Der neue Papi würde jetzt sicher wieder glauben, daß ich dumm bin. Aber ich kann sogar schon zählen. Auch kann ich ein K schreiben. So fing mein alter Name an. Soll ich es dir zeigen?«

»Später, Thorsten! Jetzt müssen wir überlegen, was wir machen.«

Thorsten nickte. Das sah er ein.

»Von deinem neuen Papi kannst du mir nichts erzählen?« fragte Karin.

»Er ist lieb. Vor allem zu Mami ist er lieb. Er hilft ihr, wenn sie schwere Sachen tragen muß. Er liest ihr aus der Zeitung vor, bringt ihr immer etwas zu trinken, und wenn er daheim ist, dann setzt er sich immer ganz dicht zu ihr.« Thorsten seufzte.

»Wie nennt deine Mami den Papi?« fragte Karin weiter.

»Weiß nicht. Oft sagt sie auch Schatz.« Seine Unterlippe schob sich wieder nach vorn. »Bevor der Papi kam, war ich ihr Schätzchen.«

Diesmal seufzte Karin. Bisher wußte sie nur, daß der kleine Junge erst kürzlich einen Stiefvater bekommen hatte. Es war nur natürlich, daß er auf diesen eifersüchtig war.

Thorsten schmiegte sich an Karin. »Du, ich habe Hunger. Müssen wir noch lange da stehen?«

»Nein.« Ein entschlossener Zug trat auf Karins Gesicht. »Jetzt fahren wir zuerst einmal zu mir, sonst läuft Heidi am Ende auch noch weg.«

»Gibt es bei dir etwas zu essen?« fragte Thorsten.

»Natürlich!«

»Dann komme ich mit.« Thorsten zappelte in Karins Armen, hielt dann aber plötzlich wieder still. »Weit kann ich aber nicht mehr laufen.«

»Du mußt nicht laufen. Wir fahren mit dem Auto.« Karin trug Thorsten zu ihrem Auto.

Zufrieden stellte der Junge fest: »Mamis Auto ist auch rot. Papis ist groß und blau. Er hat gesagt, jetzt kauft er einen Sportwagen. Weißt du, wie ein Sportwagen aussieht?«

»Ja«, sagte Karin automatisch. Während sie Thorsten auf den Rücksitz setzte, überlegte sie, daß sein Stiefvater sicher kein kleiner Angestellter war. Aber diese Überlegung half ihr auch nicht weiter. So ermahnte sie den Jungen nur: »Bleib brav sitzen. Wir haben es nicht weit.«

»Ja.« Thorsten nickte. »Du kannst Mami fragen. Ich kann ein ganz braver Junge sein.«

Jedenfalls bist du ein süßer kleiner Kerl, dachte Karin. Sie lächelte Thorsten nochmals zu, dann setzte sie sich hinter das Steuer.

*

Zum x-ten Male lief Heidi Schweger die Treppe hoch und drückte auf den Klingelknopf. Noch immer rührte sich nichts in der Wohnung. Ärgerlich verzog sich das Gesicht der Zehnjährigen. Sie war doch kein Baby mehr. In Zukunft würde sie darauf bestehen, einen eigenen Wohnungsschlüssel zu bekommen. Ihre Freundin hatte schon lange einen. Was dachte die Mutter sich eigentlich? Nun wartete sie bereits eine halbe Stunde.

Heidi hob den rechten Fuß und wollte in ihrem Zorn gegen die Tür treten. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Ihr war eingefallen, daß ihre Mutter sonst immer pünktlich gewesen war. Von ihr selbst konnte man das aber nicht gerade behaupten. Bei ihr kam es schon vor, daß sie zu sehr in irgendein Spiel vertieft war und dabei völlig die Zeit vergaß. Aber was war mit Mami?

Mit gesenktem Kopf begann Heidi die Treppe wieder hinabzusteigen. Sie hatte eine rege Fantasie. Ihre Gedanken überstürzten sich deshalb. War sie nun vielleicht schon Vollwaise?

Aus Mitleid mit sich selbst stiegen dem Mädchen sogleich Tränen in die Augen. Allein und verlassen würde sie nun für immer vor der Wohnungstür sitzen. Nie wieder würde sie zu ihrem Spielzeug kommen.

Völlig geistesabwesend stieß Heidi die Haustür auf. Plötzlich fühlte sie ein starkes Hungergefühl. Sicher würde sie nun verhungern. Erschrocken preßte sie ihre Hände auf den Mund. Bevor sie sich aber ihren Tränen ganz hingab, fuhr ihre Mutter vor dem Haus mit dem Auto vor. Sie hielt direkt vor ihr.

Zuerst starrte Heidi nur mit offenem Mund auf das Auto. So schnell konnte sie sich nicht von ihren Vorstellungen lösen.

Karin Schwegler beugte sich über den Sitz und öffnete die Autotür. »Was ist los, Heidi?« fragte sie.

»Nichts. Ich habe auf dich gewartet. Toll, daß du da bist!« Sie stürzte auf das Auto zu und fiel der Mutter um den Hals.