cover
Titelseite

INHALT

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Epilog

Glossar

Danksagung

FÜR LUKE, DER MICH KENNENLERNTE, ALS DIESE GESCHICHTE FLÜGGE WURDE.

UND FÜR ORI, DESSEN GESCHICHTE GERADE ERST BEGINNT.

vign

PROLOG

Vor langer Zeit lebten am Südhang des Berges Olymp, mit nichts als dem Himmel als Dach über dem Kopf, die drei Moiren. Ununterbrochen waren sie damit beschäftigt, die Lebensfäden der Sterblichen zu spinnen, zu messen und zu trennen, und doch hatten sie stets genug Zeit zum Plaudern. Am liebsten zankten sie sich.

„Macht!“, keifte Atropos und fuchtelte mit ihrer Schere in der Luft herum. „Macht ist stärker als Liebe. Je stärker der Faden, desto besser.“

„Liebe!“, behauptete Lachesis steif und fest und schlug mit ihrem Maßstab auf den Boden. „Liebe ist stärker als Macht! Und zwei Fäden sind besser als einer.“

„Mist“, grummelte Klotho leise und hob vorsichtig ihre Spindel auf. Der Faden, den sie gesponnen hatte, war gerissen.

Es regnete. Atropos und Lachesis waren zu sehr mit ihrem Streit beschäftigt, um das Malheur zu bemerken. Schnell, bevor ihre Schwestern es sahen und bevor sie selbst ihre Meinung ändern konnte, verknotete sie die beiden Enden. Sie hasste es, wenn Fäden einfach rissen, bevor man sie durchschneiden konnte.

Natürlich hätte sie einen kaputten Faden nicht reparieren dürfen. Einmischen war verboten. Aber wo blieb da der Spaß?

Immerhin war sie eine Schicksalsgöttin.

vign

 

Das Gewitter hatte Magie in sich. Pippas Haut kribbelte. Wie das Donnern Hunderter Hufe trommelte der Regen auf das Ziegeldach des Stalls und durch das Fenster sah sie in der Ferne Blitze über den Himmel zucken. Zeus, Herr über den Olymp, Gott des Himmels, hatte etwas zu sagen. Nur was?

Hinter ihr scharrte eine alte Stute in ihrem Verschlag unruhig mit den Hufen über den Boden und unterbrach Pippas Gedanken. Der Stallbursche Alcaeus, der für die Pferde zuständig war, musste jeden Moment kommen und sich um die Tiere kümmern – und der Stall war noch nicht sauber.

Seit mehr als einem Jahr arbeitete Pippa nun schon hier. Die Stallungen am Stadtrand von Athen waren die größten, die sie kannte. Hier waren die Pferde von reisenden Händlern untergebracht, aber auch einige, die dem Herrn des Hauses und dessen Sohn gehörten.

Ich sollte besser weiterarbeiten, dachte Pippa, wurde jedoch erneut gestört – von einem weiteren Blitz. Allerdings war es kein Gewitterblitz, sondern etwas anderes, das über den Himmel zuckte. Ein riesiger silberner Flügel voller Federn tauchte wie ein Segel aus den Wolken auf – in einem Moment war er da, im nächsten verschwunden.

Pippa riss den Mund auf.

Nur ein Tier hatte solch gewaltige Schwingen: ein geflügeltes Pferd.

Sie konnte nicht anders. Pippa rannte aus dem Stall, hinaus ins Unwetter, und hoffte, einen weiteren Blick zu erhaschen. Augenblicklich war sie nass bis auf die Knochen, aber das war ihr egal. Gespannt schaute sie hoch zu den Wolken und wartete.

Konnte das wirklich sein? Hatte sie Nikomedes, das edle Pferd von Zeus gesehen? Seit Pegasus sich vor langer Zeit im Himmel als Sternbild zur Ruhe gesetzt hatte, hatte Zeus viele Pferde gehabt. Pippa achtete stets darauf, ihre Namen nicht durcheinanderzubringen. Sie hatte Geschichten über Nikomedes’ silberne Flügel und goldene Hufe gehört, aber natürlich hatte sie ihn noch nie gesehen. Soweit sie wusste, hatte das niemand.

Pippa rannte weiter, den Weg entlang und über den Oikos, das Anwesen des Herrn, bis zu der gewundenen Pflasterstraße, die zum Marktplatz, zur Agora, führte – dem Herzen Athens.

Obwohl hier für gewöhnlich zahlreiche Händler und Karren, Arbeiter und Boten (und gelegentlich ein Dieb) unterwegs waren, lag die Straße verlassen da. Alle hatten Schutz vor dem Wetter gesucht.

Alle, außer Pippa. Der raue Stoff ihrer Tunika klebte an ihrer Haut. Ihre nackten Füße und Beine waren voller Matsch. Trotzdem lief sie weiter – vorbei an dem Gasthaus aus Lehmziegeln, in dem die Reisenden übernachteten. Vorbei an den Olivenbäumen, die gierig den Regen aufsaugten. Pippa jagte den Wolken nach, die dahinsausten … bis sie über einen Stein stolperte und mit lautem Klatschen in einer Pfütze landete.

Triefend nass krabbelte sie aus dem Loch, blieb am Boden sitzen und schlang die Arme um die angezogenen Beine. Ein Knie hatte sie sich aufgeschlagen, beide Beine waren voller Schlamm. Ihr großer Zeh, mit dem sie gegen den Stein gestoßen war, pochte. Was habe ich mir nur dabei gedacht?! Sie war nur ein Findelkind, ohne Eltern, ohne ein Zuhause. Findelkinder hatten nicht das Privileg, die Pferde der Götter zu erspähen. Eine solche Ehre wurde anderen zuteil, wie dem hellsehenden Orakel, Priestern, Priesterinnen und …

… Liedstickerinnen? Vor Pippas Gesicht erschien ein Stab. Es war der reich mit Schnitzereien verzierte Wanderstab einer Rhapsode – einer Liedermacherin. Einer Bardin, Sängerin von Mythen und Erzählerin von Geschichten. Pippa wusste das, denn als kleines Kind hatte sich eine von ihnen um sie gekümmert – eine alte Frau namens Zosime. Zosime hatte sie als Baby gefunden und für sie gesorgt, bis sie alt genug war, auf eigenen Beinen zu stehen.

Allerdings war Zosime immer gesund und gepflegt gewesen. Diese Rhapsode war das genaue Gegenteil: Ihr Gesicht war schmal, die wettergegerbte Haut spannte sich über kantigen Knochen, ihre Augen waren tief in die Höhlen eingesunken und dunkel wie die Kerne zweier Oliven. Sie trug ein Himation, das sie sich um die gebeugten Schultern gewickelt und als Schutz gegen den Regen wie eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Auf den Rücken hatte sie eine Leier geschnallt. Einige der Saiten waren gerissen. Selbst ihr Stab war voller Kerben und Schnitze, sodass die Symbole darauf schwer zu erkennen waren.

Die Zeichen auf dem Stock einer Rhapsode – ebenso wie der Rhythmus, den sie damit klopfte – halfen ihr dabei, sich an ihre Geschichten zu erinnern. Den Stab dieser Rhapsode hatte Pippa allerdings nicht kommen hören.

Woher war sie so plötzlich aufgetaucht?

„Hast du dir wehgetan, Kind?“ Die Frau streckte ihr den Stab entgegen. „Halt dich fest.“

Pippa griff zu und ließ sich auf die Füße helfen. Dabei fiel ihr das Symbol auf, das ins obere Ende des Stocks eingraviert war: drei ineinander verwobene Federn.

„Wofür steht das da?“, fragte Pippa.

„Ah.“ Die Frau hob die Augenbrauen. „Das da wird bald eine neue Geschichte zu erzählen haben.“

Pippa war verwirrt. Waren die Geschichten einer Rhapsode nicht alle alt? Erzählungen über Götter und Göttinnen aus weit entfernten Zeiten? Oder war es möglich, dass diese Frau im Gewitter ebenfalls etwas gesehen hatte? Hatte sie Nikomedes bemerkt?

Die dunklen Augen der Bardin nahmen einen verklärten Ausdruck an, während sie im Rhythmus ihrer Worte mit dem Stab auf den Boden schlug. „Federn fliegen, Schwingen schlagen, hört die Himmelspferde traben!“

Also hatte sie auch etwas gesehen! Oder redete die Alte nur in Rätseln, wie es die Art der Rhapsoden war?

„Aus welcher Geschichte stammt das?“, wollte Pippa wissen. „Erzähl mir mehr.“

„Ich wünschte, ich könnte. Doch diese Geschichte darf nicht erzählt werden – noch ist sie nicht reif. Aber ich kann dir eine andere erzählen, eine voller Heimtücke und Spielchen.“

Obwohl es verlockend war, schüttelte Pippa den Kopf. „Ich muss zurück.“ Eigentlich war sie schon viel zu lange fort. Die Stute und ihr Fohlen fürchteten sich vor Gewittern, daher wollte Pippa sie nicht zu lange allein lassen. Abgesehen davon würde Alcaeus außer sich sein vor Wut. Die Pferde ließ er nicht allzu oft die Peitsche spüren, aber bei Pippa kannte er da weniger Skrupel.

Plötzlich packte die Rhapsode Pippa am Arm. Wie Schlangen wanden sich ihre Finger um Pippas Handgelenk.

„Geh nicht!“ Ihre Stimme brach. „Ich kenne so viele Geschichten. Ich kenne die Wahrheit über die Götter. Ich habe Dinge gesehen, die niemand sehen sollte.“

Pippa hatte von Rhapsoden wie dieser gehört – von solchen, die von ihren eigenen Geschichten in den Wahnsinn getrieben worden waren. Oft hockten sie auf Märkten zusammengekauert in irgendeiner Ecke und schaukelten vor und zurück. Murmelten wirr vor sich hin. Manche behaupteten, die Götter hätten sie bestraft – weil die Rhapsoden in Ungnade gefallen waren oder weil in ihren Geschichten zu viele Wahrheiten von der Sorte steckten, die den Göttern nicht gefielen.

Die Bardin brabbelte weiter. „Teilst du wenigstens dein Essen mit mir? Aber du hast gar nichts, oder? Dein Schicksal hing am seidenen Faden und du wurdest gerettet … nur zu welchem Zweck? Es wird sich zeigen …“

Pippa riss sich los und rannte davon. Die Wahnsinnige hatte ins Blaue geredet und aus reinem Glück einen Treffer gelandet. Pippa drehte sich ein letztes Mal um. Die Rhapsode schlug noch immer mit ihrem Stock auf den Boden. Arme Frau. Doch Pippa würde selbst in Schwierigkeiten geraten, wenn der Stallbursche merkte, dass sie ihre Arbeit hatte liegen lassen.

Schon waren die Gewitterwolken weitergezogen und ballten sich nun in weiter Ferne. Der Regen war so gut wie vergessen.

Der Zauber war vorbei.

vign

 

Als Pippa den Stall betrat, war Alcaeus da. Gebeugt und doch stattlich stand er bei der Stute. „Alter Klepper“, redete er beruhigend auf sie ein. „Reg dich nicht so auf. Ist ja nur ein Gewitter.“

Das Fohlen der Stute im Verschlag gegenüber legte die Ohren an. Wie seine Mutter hatte der kleine Hengst Angst vor Unwettern.

Pippa legte tröstend eine Hand auf seinen Hals und seine Ohren entspannten sich. Zaghaft schlug er mit dem Schwanz. Seine Wimpern waren beinahe so lang wie die eines Esels. Er gehörte zu Pippas Lieblingen. Leise wiehernd wandte er ihr den Kopf zu, wobei das Stroh unter seinen Hufen raschelte.

Der Stallbursche drehte sich um. Als er Pippa erspähte, runzelte er mürrisch die Stirn.

„Da steckst du, du Taugenichts! Wo warst du?“

„Ich … habe das Gewitter gesehen …“, stammelte Pippa.

„Ja, ja, die ganze Stadt hat das gesehen!“, grollte Alcaeus. Sein Blick wanderte zu ihren schlammbesudelten Beinen und der triefend nassen Tunika. „Aber was wolltest du draußen, mitten in dem Mistwetter?“

„Ich sah …“, setzte sie noch einmal an.

Er ließ sie nicht ausreden. „Gar nichts siehst du!“, fuhr er sie an. Mit den Pferden sprach er nie in diesem Ton. „Und machen tust du auch nie was! Weder ist der Stall sauber noch die Stute gefüttert.“

Der Stallbursche ging auf und ab, ballte die Fäuste, als hielte er eine unsichtbare Peitsche in der Hand. „Ich hätte dich nie einstellen sollen! Ein Mädchen, das mit Pferden arbeitet. Pah!“

„Aber … ich habe einen Flügel gesehen – im Gewitter. Den Flügel eines Pferds.“

Wieder runzelte er die Stirn. „Glaubst du, Zeus würde dir einen Blick auf sein Pferd erlauben?“

„Ich …“, stotterte sie. „Ich … dachte nicht …“

„Denken! Das ist dein Problem! Du denkst zu viel!“ Sein Atem stank nach Wein und Sardinen. Nun blieb er stehen und beugte sich zu ihr. „Immer denkst du. Willst mir erzählen, welches Pferd einen lahmen Huf hat. Als hätte ich den Stein nicht selbst gesehen! Natürlich war mir das aufgefallen. Mein Urgroßvater ist auf den Pferden der Götter geritten!“

Der Stallbursche prahlte gerne mit seiner Familie. Allerdings wusste Pippa nie, wann aus ihm der Wein und wann die Wahrheit sprach. Dafür wusste sie genau, dass sie ihm einen Gefallen getan hatte, indem sie ihm gesagt hatte, was mit seiner Stute nicht stimmte. Wenn er selbst den Stein im Huf des Pferdes bemerkt hatte, warum hatte er ihn dann nicht entfernt?

„Mag ja sein, dass du gut mit Pferden umgehen kannst. Aber ab morgen hast du hier keine Stelle mehr!“, fuhr er sie an.

„Ist mir doch egal!“ Die Worte waren aus Pippa herausgeplatzt, bevor sie sich auf die Zunge beißen konnte.

„Was?“, keifte Alcaeus. Ein Stück Sardine flog aus seinem Mund. „Interessant zu hören, dass du so denkst. Denn jetzt will ich, dass du sofort verschwindest! Ein leerer Magen bringt dir vielleicht Manieren bei. Glaub mir, hier warten bestimmt keine Ställe oder Betten mehr auf dich – nicht, wenn ich meinen Freunden erst erzählt habe, was ich von dir halte.“

„Aber …“

„Ha! Jetzt lässt dich dein freches Mundwerk im Stich, was?“

Pippa wurde das Herz schwer. Sie war gut im Umgang mit Pferden. Das hatte er selbst zugegeben – er würde den Leuten doch nichts anderes erzählen …? Andererseits … es ging Alcaeus nur um sich selbst. Sie schluckte. Diese Stelle zu verlieren, war eine Sache. Nie mehr mit Pferden arbeiten zu können, eine ganz andere …

„Wie ich sehe, hat’s dir die Sprache verschlagen.“

„Ich wollte nicht …“, fing Pippa an.

„Steh nicht dumm rum und halte Ölgötzen feil! Wenn ich vom Abendessen zurückkomme, bist du verschwunden! Nicht, dass du viel zum Packen hättest, oder, Findling? Leb wohl. – Und ich muss jetzt auch noch Ersatz für dich finden! Zu dumm …“, grunzte er und ging, während er leise vor sich hin fluchte.

Die Stute wieherte sanft. Pippa ging zu ihr. Obwohl sie wie üblich den Kopf hängen ließ, sah man das Weiß ihrer Augen und ihre Ohren waren gespitzt. Das Tier war daran gewöhnt, dass der Stallbursche Pippa anbrüllte, daher musste es wohl das Unwetter gewesen sein, das es erschreckt hatte. Pippa kraulte der Stute den Hals. „Alles gut“, beruhigte sie sie.

Das Geschrei von Alcaeus würde Pippa nicht vermissen. Genauso wenig den Stall und erst recht nicht das karge Essen – nicht, dass man ihr je viel davon abgegeben hatte. Doch die Pferde, die würden ihr fehlen. Sie liebte Pferde über alles – ihren warmen, feuchten Atem; die nachdenklichen Augen; wie stolz sie die Köpfe schüttelten.

„Keine Angst“, murmelte Pippa. „Das Gewitter ist vorbei.“

Es stimmte. Der Nachthimmel war klar und übersät von Sternen.

Während Pippa notgedrungen eine Handvoll Getreide aß – wer konnte schon sagen, wann sie wieder etwas zu essen bekommen würde? –, kletterte sie ein letztes Mal aufs Stalldach. Die Ziegel waren glitschig, also bewegte sie sich vorsichtig. Angst hatte sie jedoch keine.

Das Dach war ihr Lieblingsplatz. Von hier aus konnte sie die ganze Stadt und in der Ferne den großen Tempel, das Parthenon, sehen. Dem Mond und den Sternen so nah und mit den Pferden im Stall unten, kam Pippa sich manchmal vor wie eine Göttin des Olymps. Obwohl man einer Göttin wohl kaum jemals Pferdefutter servieren würde.

Pippa betrachtete den Himmel. Anders als die anderen Sternbilder schien Pegasus regelrecht aus der Finsternis hervorzutreten, so hell strahlten seine Gestirne heute Nacht.

Wie oft hatte sie sich schon gewünscht, zwischen den glitzernden Sternen ein geflügeltes Pferd zu erspähen? Hatte sie heute tatsächlich eines gesehen? Das Gewitter schien bereits eine Ewigkeit entfernt.

Pippa holte tief Luft. Sie hätte nicht vom Stall weglaufen dürfen, aber nun war es zu spät für Reue. Alcaeus hatte ein Herz wie eine verschrumpelte Feige, nur kein bisschen süß. Ihr blieb nichts anderes übrig, als morgen zum Betteln in die Innenstadt Athens zu gehen. Jetzt, da sie fast zwölf war, würde es schwieriger werden. Bestimmt wären die Menschen nicht mehr so freigiebig wie damals, als sie klein war. Außerdem trieben inzwischen Sklavenhändler ihr Unwesen, die immer auf der Suche nach Waisenkindern waren.

Um sich selbst zu trösten, griff Pippa nach der Münze in ihrer Tasche. Sie war schmal, schmaler als ein gewöhnliches Geldstück, und das Symbol darauf war kaum mehr zu erkennen, weil Pippa so oft darübergestrichen hatte: ein geflügeltes Pferd. Oft fuhr sie die Umrisse mit den Fingern nach.

Ein Stalljunge, mit dem sie einmal zusammengearbeitet hatte, hatte ihr erklärt, dass die Münze ein Obolos war: ein besonderes Zahlungsmittel, um den Fährmann zu entlohnen, der die Verstorbenen über den Fluss Styx in die Unterwelt brachte. Vielleicht stimmte das. Immerhin hatten ihre Eltern sie als Baby neben einer Quelle abgelegt, mit nichts weiter als dieser Münze.

Viele Babys wurden ausgesetzt – manchmal war die Familie einfach zu arm, manchmal gab es schon zu viele Mädchen. Aus welchem Grund auch immer, als Baby war sie nicht willkommen gewesen. Warum genau ihre Eltern sie im Stich gelassen hatten, wusste Pippa nicht. Doch da sie ihr einen Obolos gegeben hatten, waren sie wohl davon ausgegangen, dass sie nicht überleben würde.

Obwohl der Gedanke daran weh tat, gab ihr das Geldstück Kraft. Denn trotz allem hatte sie überlebt.

Zwar war das Leben nicht leicht, aber es schien sich stets jemand zu finden, der sie bei sich aufnahm. Teilweise monatelang – andere Male nur für einige Wochen. Ihr Talent im Umgang mit Pferden hatte ihr gute Dienste geleistet. Dadurch hatte sie immer wieder eine Anstellung bekommen: vom Stallmädchen bis zur Gehilfin eines Zaumzeugmachers. Aber wenn Alcaeus seine Drohung wahr machte, würde sie dann jemals wieder mit Pferden arbeiten können? Müsste sie vielleicht in den Minen schuften … oder Steine für den Bau von Gräben sammeln … Hunde hüten …? Ihr Magen verkrampfte sich.

Pippa schluckte, schluckte noch einmal und musste schließlich gähnen. Die Nacht war irgendwie so schwer, wie eine Wolldecke. Es war Zeit zu gehen. Zeit, sich einen Schlafplatz zu suchen – auch wenn sie keine Ahnung hatte, wo. Pippa wollte gerade vom Dach klettern, als sie unten eine Stimme hörte und verharrte.

„Heute Nacht ist es so weit“, sagte Alcaeus. „Die Zeichen stehen alle richtig. Es ist schon fast hundert Jahre her. Das Unwetter war Nikomedes’ Abschied. Schon bald werden die Götter und Göttinnen herabsteigen und ihre auserwählten Kinder holen kommen.“

Kinder? Hatte Pippa richtig gehört?

„Hmpf“, antwortete der Freund des Stallburschen. „Sie wären besser dran, solche auszusuchen, die reiten können – wie mich.“

„Die besten Reiter sind leicht und klein. Kinder eben. Hab ich dir doch schon oft genug erklärt, Gurgos. Mein Großvater ist mit zehn geritten. Besser, er hätte es bleiben lassen, dann wäre ich nicht verflucht.“

„Du kannst dein glückloses Leben nicht darauf schieben.“

„Ach nein?“, erwiderte Alcaeus. „Hätte er gewonnen, sähe die Sache anders aus. Aber er hat verloren … Hätte ich doch bloß Gelegenheit dazu gehabt. Ich hätte gewonnen, ganz sicher!“

Gurgos grunzte.

„Was soll’s? Zeit, dass wir beide uns aufs Ohr hauen“, sagte Alcaeus. „Es wird sich ja zeigen, wer von uns beiden recht hat, schon bald. Bekannt gegeben wird es …“

Seine Stimme wurde leiser. Pippa beugte sich weiter vor, bis – ihr Fuß verlor den Halt. Sie schlitterte über die glitschigen Ziegel und purzelte vom Dach.

Rumms! Der nasse Dreck federte ihren Aufprall ab. Knapp neben der Holzbank, auf der die beiden Stallburschen hockten, war sie im Matsch gelandet.

„Du?“ Alcaeus verzog das Gesicht.

Sein Freund neben ihm runzelte die Stirn. „Ist das nicht dein Schützling? Das Findelkind?“

„Nicht mehr“, sagte Alcaeus, funkelte Pippa an und packte sie am Arm. „Hab ich nicht gesagt, du sollst verschwinden?“

Pippa rappelte sich auf, während Alcaeus sie in Richtung Tor bugsierte.

„Raus hier!“ Er schubste sie über den Hof. Sie stolperte, konnte sich aber auf den Beinen halten. Pippa trollte sich und drehte sich nicht wieder um, obwohl sie die Stimme des Stallburschen noch deutlich hören konnte. „Geschieht mir recht, mit so einer Mitleid gehabt zu haben!“

„Du bist einfach zu nett“, sagte Gurgos in seinen buschigen Bart. „Meinst du, sie hat alles belauscht?“

„Na und wenn schon?!“ Sie lachten und zogen sich nach drinnen zurück, sodass ihr Gelächter bald nicht mehr zu hören war.

Was genau hatte sie denn belauscht? Während sie die dunkle Straße hinabstolperte, überlegte Pippa. Das Zirpen der Zikaden erfüllte die Luft. Was würde bald bekannt gegeben?

Pferde hatten keine Geheimnisse – das war nur eine der vielen Eigenschaften, die sie so an ihnen liebte. Nicht, dass es wichtig wäre, wie der Stallknecht schon ganz richtig bemerkt hatte. Heute zählte nur noch, einen Platz zum Schlafen zu finden. Mit jedem Schritt kam es Pippa immer mehr so vor, als würde sie durch Honig waten. Hatte Morpheus, der Gott der Träume, die Nacht verzaubert? Zumindest fühlte es sich so an. Pippa kam nicht mehr weit, bevor die Erschöpfung sie überwältigte. Im Schutz eines wilden Rosenbusches rollte sie sich am Straßenrand zusammen, zu müde, um sich Gedanken über die spitzen Dornen zu machen. Sie dachte nur noch daran, die Augen zu schließen und diesen ganzen Tag zu vergessen. Und davon zu träumen, dass irgendwann alles anders werden würde.

vign

 

Eine weiche Schnauze kitzelte sie an der Wange, begleitet von einem freundlichen Wiehern. Sie blinzelte. Stand da ein Pferd über ihr? Ja. Mit Augen, so schwarz wie der Raum zwischen den Sternen – und ebenso voller Träume. Dann ein Gesicht, diesmal das einer Frau. Es war so liebenswürdig und gutherzig, dass sie es zunächst für das ihrer Mutter hielt. Doch es schimmerte golden. Eine Göttin! Die Göttin beugte sich zu dem Pferd und murmelte: „Wie du wünschst, mein Kleiner.“

Ein schrilles Geräusch wie von einem hohen, durchdringenden Wiehern zerriss die Luft. Mit einem Mal zerplatzte der Traum. Pippa setzte sich ruckartig auf. Doch obwohl ihre Augen nun offen waren, überlegte sie noch, ob sie tatsächlich wach war.

Statt auf ihrem üblichen Strohlager lag sie auf glatten bemalten Fliesen. Der Duft von Lorbeeren hing in der Luft. Hatte sie sich letzte Nacht aus Versehen hierher verirrt? Sie war so ungeheuer müde gewesen … Doch dann fiel ihr ein, dass sie sich unter einem Rosenstrauch schlafen gelegt hatte. Nicht auf Fliesen. Vor allem nicht auf so edel verzierten. Langsam rieb sie sich die Augen und schaute sich um.

Sie befand sich mitten im außergewöhnlichsten, gewaltigsten Innenhof, den sie je gesehen hatte. Über ihr strahlte die frühe Morgensonne, die von den Wänden des Hofs reflektiert wurde. Sie waren nicht aus sonnengetrockneten Lehmziegeln gebaut – sondern aus Gold! Neben einer Wendeltreppe plätscherte ein Brunnen. Der Lorbeergeruch wurde von hohen Bäumen verströmt, die in jeder Ecke wuchsen: Lorbeerbäume, die Bäume des Sieges.

Doch am seltsamsten überhaupt war, dass Pippa von fast einem Dutzend anderer Kinder umgeben war. Alle schienen in ihrem Alter zu sein. Nur war die Haut der anderen eingeölt, das Haar gekämmt und sie steckten in sauberer Kleidung – einer besonderen Tunika, allein zum Schlafen. Pippa hatte nur eine einzige Tunika – die noch dazu voller Schlamm war, wie ihr gerade wieder einfiel. Und nicht nur ihre Kleidung war schmutzig. Der Matsch an ihren Beinen und Füßen war inzwischen fest angetrocknet. Es juckte. Pippa zupfte sich etwas Heu aus ihrem wirren Haar und sah zu, wie es zu Boden segelte.

Zu ihren Füßen fand sie einen zusammengelegten rotblauen Chiton aus leichtem Leinen. Dazu gab es einen passenden Gürtel. Auf der hübschen Tunika lag eine Brosche aus Gold in Form von drei ineinander verwobenen Federn, die so fein wie ein Blatt gearbeitet war. Behutsam, als könnte sie unter ihren Fingern zerfallen, berührte Pippa die Kostbarkeit.

Fiiieps! Das schrille Geräusch erklang erneut und ließ Pippa aufschrecken. „Aufstehen! Anziehen!“, dröhnte eine Stimme. „Hoch mit euch!“

Vor ihnen stand ein Mann, der so riesig war, dass er den Eingang zum Hof komplett ausfüllte. Er war dreimal so groß wie der gewaltigste Mensch, den Pippa bisher gesehen hatte. Sein Gesicht war voller Falten und er stützte sich auf einen Stock, doch seine muskulösen Schultern und Arme waren die eines Helden. Die silberne Schnalle seines roten Umhangs trug dasselbe merkwürdige Symbol wie die Brosche vor Pippa: drei verschlungene Federn. Sämtliche Kinder standen nun auf und starrten den Mann ehrfürchtig an.

„Wer