3Helmuth Plessner

Philosophische Anthropologie

Göttinger Vorlesung
vom Sommersemester 1961

Herausgegeben von
Julia Gruevska,
Hans-Ulrich Lessing und
Kevin Liggieri

Suhrkamp

5Inhalt

Helmuth Plessner: Philosophische Anthropologie
Sommersemester 1961

1. Vorlesung: Begrenzung des Begriffs und des Problems der Philosophischen Anthropologie

2. Vorlesung: Problem und Standort der Philosophischen Anthropologie

3. Vorlesung: Philosophische Anthropologie als Erkenntnistheorie der Wissenschaften vom Menschen

4. Vorlesung: Das Problem der Sprache I

5. Vorlesung: Das Problem der Sprache II

6. Vorlesung: Das Problem der Sprache III.
Das Strukturprinzip der Vertikalität

7. Vorlesung: Das Problem der Umwelt

8. Vorlesung: Das Welt-Umweltverhältnis des Menschen

9. Vorlesung: Die Horizontstruktur des menschlichen Umfeldes

10. Vorlesung: Zur Utopie der verlorenen Wildform des Menschen

11. Vorlesung: Der Begriff der Person

12. Vorlesung: Der anthropologische und der theatralische Rollenbegriff

13. Vorlesung: Der funktionale Rollenbegriff

14. Vorlesung: Rückblick auf den Rollenbegriff.
Die Ausdrucksbewegungen des Menschen

15. Vorlesung: Lachen, Weinen, Lächeln

16. Vorlesung: Lachen und Weinen als menschliche Monopole

17. Vorlesung: Das Problem der Entkörperung – das Problem des Todes

18. Vorlesung: Zur Aktualität der Philosophischen Anthropologie

Anhang

1. Helmuth Plessner: Zur Geschichte der Anthropologie.
Vorlesung Sommersemester 1956
(Nachschriften Dr. Christian von Ferber)

2. Helmuth Plessner: Lehrveranstaltungen an der Universität Göttingen 1951/52–1962

Editorisches Nachwort

Personenregister

9[1. Stunde], Dienstag, 17. Mai 19611

[Begrenzung des Begriffs und des Problems der Philosophischen Anthropologie]

Und zwar gehe ich noch einmal auf die Bestimmung der doppelten Natur des Menschen hier zurück. Was heißt das eigentlich? Die Doppelnatur stellt sich, wie gesagt, traditionell in der Entwicklung verschiedener Wissenschaften vom Menschen dar, die offenbar alle 10ihr Zentrum haben eben in dem lebendigen, voll lebendigen Menschen, in dem aktiven Menschen, der sowohl sich geistig-kulturell manifestiert, aber eben auch andererseits typisch rein in seinen Lebensäußerungen offenbar der biologischen Welt, um es mal so auszudrücken, angehört.

Was ist da das Problem? In der Zeit der Loslösung der Psychologie als selbständiger empirischer Wissenschaft von, wie man sich damals ausdrückte, den »Bewußtseinserscheinungen«, also von dem, was der Mensch nur für sich selbst erlebt, was er zwar mitteilen, aber doch nur bedingt mitteilen kann, was aber im Grunde genommen nur einem jeden selbst für sich selbst faßbar wird, also die Wissenschaft von den Vorstellungen, den Empfindungen, den Gedanken, Wünschen, den Erinnerungen usw., ich sage: in dem Maß, in dem sich diese Wissenschaft als solche, als eine Wissenschaft von dem »Innern« des Menschen in diesem Sinne entwickelte, wurde sofort der Wunsch laut, die Verbindung mit dem, was äußerlich wahrnehmbar an ihm geschieht, zu sichern. Und das war damals der Gedanke von Gustav Theodor Fechner (übrigens einem Zeitgenossen von Darwin, Professor der Philosophie in Leipzig), der Gedanke der Psychophysik.2 Man wollte also sozusagen eine Parallelwissenschaft aufbauen und die strengen Abhängigkeiten zwischen den äußeren Vorgängen und den inneren Vorgängen auf diese Weise festmachen und in dieser Hinsicht weiter vordringen. Die Psychophysik versucht also, die Doppelnatur des Menschen wissenschaftlich in den Griff zu bekommen.

Um ein Beispiel zu geben: Wenn Sie z. B. eine Geschmacksempfindung haben, dann beruht sie, wie auch immer, auf einem äußeren Reiz. Die Abhängigkeit einer bestimmten Empfindung, einer Süßempfindung oder einer Sauerempfindung etwa von einem bestimmten Reiz, der auf die Zunge ausgeübt wird, läßt sich (das war der Gedanke von G. Th. Fechner), muß sich in irgendeinem Sinne wissenschaftlich exakt fassen lassen. Nach dem strengen Exaktheitsideal suchte er auch eine Größenordnung hierfür zu fixieren, eine größenmäßige Abhängigkeit der Stärke, auch der Art der Empfindung von der Stärke und der Art des Reizes.

Wir wollen auf diese Sache zunächst nicht näher eingehen, so interessant sie ist, es soll uns hier nur als Beispiel dafür dienen, 11daß man die Doppelnatur des Menschen als ein Problem empfindet. Und man glaubt, man kann dieses Problem durch eine gewissermaßen Zwei-Seiten-Wissenschaft streng lösen. Angenommen, diese Wissenschaft ließe sich nun wirklich so exakt durchhalten und ausbauen, wie das Fechner gemeint hat, muß man sich dann doch noch fragen, wie kommt denn das eigentlich, daß bestimmte auf uns, das heißt, auf unseren Körper, auf seine Sinnesorgane und das Gehirn einwirkende Reize den merkwürdigen empfindungsmäßigen Effekt auslösen? Das hat wiederum Fechner von vornherein dazu bewogen, ein viel älteres Modell, ein Modell des philosophischen Denkens gewissermaßen, als Grundlage für diese Wissenschaft aktuell zu machen: Dieses Modell, das man den psychophysischen Parallelismus oder Monismus seit dem 17. Jahrhundert genannt hat. D. h., man sagt, dasjenige, was uns äußerlich als Gehirn, als Körper, faßbar wird, was wir messen können, wiegen können, untersuchen können, anatomisch und physiologisch, das ist im Grunde genommen dasselbe, was wir für uns selbst empfindungsmäßig, wunschmäßig, gedankenmäßig usw. sind.

Vielleicht ein bißchen dunkel ausgedrückt, aber ich will Ihnen das noch etwas näher erörtern. Das Gehirn, wissen wir, hat entscheidende Bedeutung für das Zustandekommen von Gedankenverbindungen, von Empfindungen und Wahrnehmungen, vom Vermögen des Sprechens, weiterhin für unser Gefühlsleben. Mit anderen Worten, ohne die ungestörte Tätigkeit des Gehirns ist ein ungestörtes psychisches Leben nicht möglich. Wie und warum das ist, wissen wir zunächst gar nicht. Aber wir können es ziemlich genau nachprüfen, d. h., wir können die einzelnen Stellen sogar aufweisen, die für das Zustandekommen etwa des Sprachvermögens und gewisser Eigentümlichkeiten des Sprechens, des Denkens, der Gedankenverbindung, der Assoziation, des Gedächtnisses, dann weiterhin der einzelnen Wahrnehmung, Gehörsempfindung, Gehörswahrnehmung, Gesichtsempfindung, Gesichtswahrnehmung etc. nötig sind.

In neuerer Zeit weiß man auch sehr genau über die Abhängigkeit des Zustandekommens von Sympathien und Antipathien, von Affekten, von Emotionen, von Stimmungen, von bestimmten Funktionen des sogenannten »Hirnstamms« Bescheid. Wie man diese Abhängigkeiten im einzelnen festgestellt hat, im Laufe der Entwicklung der Anatomie und Physiologie und vor allem nicht zu 12vergessen der Psychiatrie – einen bedeutenden Fortschritt machte gerade diese Wissenschaft durch die Erfahrung an Gehirnverletzten im 1. Weltkrieg –, da haben Goldstein und Gelb in Frankfurt und verschiedene andere Psychiater in dieser Richtung bedeutende Einsichten der Wissenschaft vermittelt, also der Krieg hat hier wie ein gewaltiger Experimentator gewirkt.

Ich sage, nachdem man einmal in dieser Richtung weitergekommen war, als sich Fechner damals noch vorstellen konnte, gewann der Gedanke mehr und mehr an Plausibilität, daß Gehirn und Seele, Körper und Geist gewissermaßen zwei Seiten eines und desselben seien. Und dieser psychophysische Monismus oder Parallelismus war ja schon von Spinoza und seinen Nachfolgern im 17. Jahrhundert vorausgesehen worden.

Es hat nun zweifellos diese Theorie von der der Zwillingsnatur des Menschen zugrundeliegenden Einheit, also diese Zweiseiten-Konzeption, hat wiederum eine interessante Vorgeschichte, die aber rein philosophisch ist und die auch von vornherein Schwierigkeiten bereitet hat. Hier steht nun einmal der berühmte Name von Descartes sozusagen am Eingang dieser Überlegungen und der weiteren Entwicklung dieser Beobachtungen sowohl auf psychologischer als auf physiologischer Seite. Von Descartes stammt ja diese wiederum selbst schon auf scholastische Vorstellungen zurückreichende Idee – Descartes ist ein Mann, der in seiner Bildung noch dem 16. Jahrhundert, aber im wesentlichen schon dem 17. Jahrhundert angehört –, Descartes hat den Gedanken zugespitzt, nämlich den Gedanken von der Zwienatur des Menschen. Nicht in dem ganz allgemeinen Sinne, daß der Mensch zwei Welten angehört, das ist eine alte christliche Auffassung, die dem Mittelalter völlig vertraut ist, sondern er hat ihr gewissermaßen eine moderne Wendung dadurch gegeben, daß er sagt: Der Mensch ist ein ausgedehntes Wesen als Körper; er ist zugleich aber als Bewußtsein, als Denken ein Unausgedehntes, ein rein eben in die Kategorien oder in die Begriffe der Physik und Mathematik nicht zu übersetzendes – eben: geistiges Wesen. Und diese Merkwürdigkeit faßt er in der berühmten Zweisubstanzenlehre zusammen, d. h. daß in dem Menschen (er sagt, in diesem compositum, in diesem Zusammengesetzten) zwei Substanzen, eine denkende und eine ausgedehnte Substanz auf eine rätselvolle Weise miteinander in Kommunikation stehen. Sie können eigentlich gar nicht in Kommunikation 13stehen, das ist eigentlich etwas sehr Seltsames, was dem Menschen vorbehalten ist. Sonst ist die Welt im übrigen [in] die Welt der cogitatio, die Welt des Bewußtseins, die Welt des Denkens und eben die Welt der Ausdehnung voneinander völlig getrennt. Sie können nicht miteinander kommunizieren, weil man etwas spezifisch Geistiges, einen Gedanken mit einem Körper nicht in irgendeine Beziehung setzen kann, [in] eine Beziehung des Wirkens aufeinander.

Dagegen wendet sich schon Spinoza, wie ich sagte, weil aus diesen Konsequenzen von Descartes erstaunliche Umständlichkeiten und man kann fast sagen: Ungereimtheiten eben für unser Denken, für unsere Vorstellungswelt sich ergeben. Denn wenn das so ist, daß die äußere Welt auf die innere Welt überhaupt nicht wirken kann und die innere Welt auf die äußere Welt, also wenn, um es mal so auszudrücken, ein Gedanke, den ich fasse, im Grunde genommen niemals einen Willensentschluß herbeiführen kann, und umgekehrt, wenn eben ein Sinneseindruck, den mein Auge bekommt, indem einfach Licht darauf fällt, kein bildhaftes Resultat in meiner Wahrnehmung hervorrufen kann, das ist ja schließlich dann die Extremkonsequenz dieses Auseinanderreißens dieser beiden Bereiche, dann muß eben ein Deus ex machina erfunden werden, der dieses beides zusammenbringt.

Descartes hatte sich hier sehr vorsichtig ausgedrückt und gesagt: Beim Menschen muß das irgendwie durch Vermittlung möglich sein. Aber sonst ist es an sich unmöglich. Seine Nachfolger haben das aber strikt bestritten und gesagt: Die Zuordnung, daß das klappt sozusagen, daß zum richtigen Einfall eines Lichtstrahls auf meine Netzhaut auch die entsprechende richtige Wahrnehmung in meinem Bewußtsein entsteht, das danken wir allein dem Eingreifen Gottes. Und so wurde ständig Gott bemüht, sowohl Wahrnehmung, wie Denken, wie Wollen, wie Willensentschlüsse, mit anderen Worten, das gesamte menschliche Leben zu garantieren. Aber nicht nur sozusagen in der Form einer Generalgarantie, einer Präventivgarantie, sondern er mußte sozusagen bei jedem einzelnen Lebensakt bemüht werden. Und das ist nun zwar eine vielleicht sehr fromme, aber vielleicht zu fromme Auffassung, die denn doch von vornherein dem philosophischen Denken eigentlich unzumutbar erschien.

Und die berühmte Geschichte mit dem Uhrengleichnis, wo man sich vorstellen muß, daß Gott als ein großer Uhrmacher alle 14die Uhren des äußeren Lebens und die Uhren des inneren Lebens synchron gestellt hat (das ist ein Beispiel des sehr mechanikfreundlichen 17. Jahrhunderts), dieser Gedanke ist sehr früh von Spinoza schon durch den anderen Gedanken von der ursprünglichen Einheit und der Zweiseitennatur der Welt wie Deus sive natura wie beim Menschen ersetzt worden. Das ist kein Materialismus, sondern, ich möchte sagen, ein sehr merkwürdiger Immaterialismus, wobei die Materie eine Seite des Geistes, der Geist eine Seite der Materie ist. Beide sind eigentlich Aspekte einer nicht mehr in ihrem Wesen selbst weiter zu definierenden Substanz. Die Attribute sind hierbei eben letzten Endes irreduzible Aspekte dieses Einen.

Dieser Gedanke hat dann eine weitere philosophische Geschichte gehabt, aber wie gesagt, er wurde im 19. Jahrhundert aus den Gründen, die ich Ihnen hier entwickelt habe, auf einmal wieder aktuell. Nun werden Sie sagen, also gut, jetzt versteht man, aus diesen Impulsen, daß da so etwas entsteht wie ein philosophisches Problem des Menschen. Ja, das hat es immer gegeben. Das haben die Griechen gehabt, das hat jede Zeit in unserer geistigen Geschichte gehabt. Der Mensch als ein großes Problem. Aber hier handelt es sich, wie Sie sehen, um etwas anderes. Hier handelt es sich darum, dass sich an die Entwicklung bestimmter Disziplinen der Wissenschaft eine philosophische Frage gleichsam ankristallisiert und die Existenz dieser Wissenschaft allmählich abhängig wird von bestimmten philosophischen Überlegungen oder besser gesagt, daß sie von sich aus fordern eine philosophische Überlegung. Ich will das schließen mit noch einem ganz kurzen Hinweis.

Man hat natürlich gesagt, was ist denn das Problem der Philosophischen Anthropologie? Da kann man ruhig sagen: Die Wesensbestimmung des Menschen. Aber was heißt das, was versteht man unter Wesen, was versteht man unter diesem anspruchsvollen Wort? Soll eine philosophische Überlegung so weit gehen, sagen zu können, das und das ist des Menschen Bestimmung? Unsere Sprache ist ja so reizvoll zweideutig. Be-stimmung heißt einmal höchst nüchtern: ich suche etwas zu bestimmen, d. h. ich suche seine Kriterien, seine Merkmale zu fixieren. Insofern tut das der brave Botaniker etwa des alten Stils, der bestimmt eine Art, eine Gattung, eine Familie, das tut der Zoologe alten Stils mit Botanisiertrommel auch. Be-stimmen, nun gut, das muß ja nun auch einmal gemacht werden. Was sind also die Bestimmungsmerkmale des Menschen? 15Das, würde man sagen, das muß nun aber die Anatomie oder das muß die Physiologie, das muß die doch leisten können. Ja, kann sie auch, bis zu einem gewissen Grade. Bis genau zu dem Grade, wo der andere Aspekt aktuell wird, der Innenaspekt oder gar der kulturelle Aspekt, der geistige, der geschichtliche Aspekt. Dann wird die Sache aber wieder schwierig. Denn wenn Sie sich erinnern an das, was ich Ihnen über die Probleme des Historismus gesagt habe, ja, kann man das denn außerhalb der geschichtlichen Variabilität so ohne weiteres machen? Bleibt dann nicht einfach furchtbar wenig übrig? Gewiß, mit den paar Merkmalen, ja dann sind wir sozusagen wieder an einer Ausgangslage. Dann können wir sagen: der Mensch ist ein aufrecht stehendes Wesen, ein aufrecht gehendes Wesen, das sprechen kann und gewisse andere Fähigkeiten hat. Aus. Damit ist doch natürlich nur sozusagen eine Art Rahmenbestimmung gegeben. Soll das etwa die Wesensbestimmung des Menschen sein? Die trifft doch nur gewissermaßen irgendein sehr Äußerliches, ein Minimum, alles andere bleibt dann dem Wechsel der konkreten Einsichten in der Biologie und in der Geschichte und in der Geistesgeschichte überlassen und in der Psychologie.

Sie sehen also, die Bestimmung des Menschen, sein Merkmal ist offenbar nur eine Seite der Sache. Höchst wichtig, aber wie soll sie’s machen? Wie soll sie bei der Fülle der Aspekte, bei der Relativität ihres Objektes, wie soll sie da das Konstante herausheben? Und ist dieses Konstante nicht etwas mehr oder weniger rein Formales und insofern auch mehr oder weniger rein Äußerliches, sondern ist vielmehr nicht etwas anderes noch im Spiele, wenn man sagt, ich will den Menschen bestimmen in seinem Wesen? Damit zeigt sich aber noch eine ganz andere Dimension, von der wir heute noch gar nicht gesprochen haben, wir würden sagen, die ethisch-moralische Dimension der menschlichen Existenz. Die gehört ja irgendwie zu dieser Realität dazu.

Meine Damen und Herren, ich schließe damit, daß ich sage, das ist zunächst einmal ein Versuch gewesen, Ihnen zu zeigen, daß der Begriff Philosophische Anthropologie denn doch nicht ohne weiteres gleichzustellen ist mit dem Begriff der Philosophischen Mineralogie oder der Philosophischen Chemie oder der Philosophie des Maulwurfs oder der Philosophie irgendeines anderen Lebewesens, sondern daß da offensichtlich mehr im Spiele ist. Daß aber diese Problematik ganz wesentlich offensichtlich bestimmt ist 16durch die Entwicklung unserer Wissenschaften und ein Ausdruck ist der hohen Komplikation unseres wissenschaftlichen Systems in der Gegenwart.

17[2. Stunde], Donnerstag, 19. Mai 1961

[Problem und Standort der Philosophischen Anthropologie]

Meine Damen und Herren! Wir haben in der Eröffnung zu dieser Vorlesung im wesentlichen von Wissenschaften gesprochen, indem wir den Begriff der Philosophischen Anthropologie zunächst einmal von dem heute gebräuchlichen Begriff der Physischen Anthropologie, der Biologischen Anthropologie abgegrenzt haben, und wir haben dann das Problem der Philosophischen Anthropologie zunächst einmal ganz äußerlich entstehen lassen im Hinblick auf einige durch die verschiedenen Wissenschaften vom Menschen aufgeworfenen Fragen. Einmal der Frage des Verhältnisses, der Stellung des Menschen im Rahmen der Organismen, Problem der Abstammungslehre. Zum zweiten des Verhältnisses von Körper und Seele oder physisch-physiologischen u[nd] psychologischen Prozessen im Rahmen der Physiologischen Psychologie bzw. des Verhältnisses dieser beiden ja doch sehr modernen Wissenschaften, der Physiologie und der Psychologie. Und dann schließlich das Problem der Konstanz einer menschlichen Natur, wie es aufgeworfen wird einmal durch die Ethnologie, die ja im angelsächsischen Kultur-Bereich auch gern als Anthropology bezeichnet wird, und der Geschichtswissenschaft. Von Soziologie ist noch gar nicht die Rede gewesen. Das wird erst heute der Fall sein.

Nun können Sie sagen, ja, sehr schön, also da entstehen bestimmte Fragen, die offensichtlich von den einzelnen Wissenschaften selber nicht gelöst werden können. Die Frage nämlich nach der Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen, also vor allem des Verhältnisses von Mensch und Tier, ist eine Frage nach den Kriterien, nach den Kriterien, die wir dabei zugrunde legen. Denn Sie wissen, daß ja durch die biologische Wissenschaft an der tierischen Natur des Menschen in gar keiner Weise gezweifelt werden kann. D. h. an der prinzipiellen Vergleichbarkeit des Menschen als Körper, als körperliches Lebewesen und der Tiere.

Der Mensch ist, rein vital gesehen, biologisch gesehen, sicherlich ein durch besondere Eigentümlichkeiten, besondere Merkmale, besondere Kriterien charakterisierte Tierart. So wird ja auch in der Tat er von der Zoologie, von der vergleichenden Anatomie, 18von der vergleichenden Physiologie, von der Abstammungslehre eingeordnet. Daran kann gar kein Zweifel sein. Auf der anderen Seite muß man doch die Sonderstellung von vornherein betonen. Daran wird ja auch nie gezweifelt. Hier also entsteht ein merkwürdiges Problem. Das Problem nach den spezifischen Merkmalen des Menschen im Rahmen der Organismen.

Das ist die eine Frage nach den Kriterien1 – Sie erinnern sich, die Frage der Philosophischen Anthropologie ist, wenn man sie rein formal nimmt, was ist der Mensch? –, damit ja auch schon in der Hinsicht auf die biologischen Probleme ganz klar angegeben. Dann weiterhin: das physiologisch-psychologische Problem, das psycho-physische Problem, das Problem des Verhältnisses von Körper und Seele, Körper und Geist, meinetwegen Körper und Bewußtsein. Also die alte, berühmte, durch Descartes aufgeworfene Frage, die dann eine bestimmte Antwort durch Spinoza bekommen hat. Die Frage der Einheit des Menschen,2 d. h. der Einheit mit Rücksicht auf die Doppel- oder Zwillingsnatur des Menschen, daß er sowohl das eine als auch das andere ist. Dann die Frage nach der Konstanz.3 Die Frage, die sowohl aufgeworfen wird durch die Vielheit der Völker und ihrer Kulturen und durch ihre Geschichte, das Verhältnis von Konstanz und Variabilität beim Menschen. Wir zweifeln nicht daran, daß sie alle Menschen sind, obwohl sicher frühe Kulturen diesen Begriff noch gar nicht kannten. Wir kennen auch eine frühbezeugte Tatsache, daß sich ja Völker, gerade auch primitive Völker, selbst auch schon mit diesem generellen Ausdruck bezeichnen. Daß sie für sich selber unter Umständen keinen privaten Namen haben. Das, was uns heute in der Differenzierung der Nationen selbstverständlich ist, daß wir sagen: wir sind Deutsche im Unterschied zu den Franzosen, im Unterschied zu usw., das ist ja etwas, was sich mit der anderen Bezeichnung verträgt für uns, was sich aber in der Geschichte und in der Vielfalt nicht ohne weiteres überall belegen läßt.

Dieses Konstanz-Variabilität-Problem, das uns also durch die Vielfalt der Völker und ihrer Geschichte und vor allen Dingen, wie ich am Dienstag sagte,4 durch die Entwicklung der Geschichtswis19senschaft, durch die Verfeinerung der historischen, aber auch der ethnologischen Methoden uns mehr und mehr deutlich wird als ein echtes Problem, das verlangt ebenfalls offensichtlich eine philosophische Überlegung. Denn Konstanz und Variabilität bezieht sich ja hier nicht auf etwas pur Äußeres, sodaß man sagen könnte, das ist genau dasselbe Problem, wie es etwa die Botaniker haben, da gibt es die große Gruppe der Koniferen, und da gibt es nun also Tannen und Fichten und Pinien usw. usw., also Nadelhölzer in allen Varietäten. So einfach ist das Problem ja nicht, sondern es ist zugleich ein Wertproblem, ein Normenproblem, ein Problem der Maßstäbe.

Ich bin auf diese Fragen nur relativ flüchtig eingegangen, ich möchte da noch etwas sagen, denn es leitet zu der heutigen Betrachtung über. Sehen Sie, wir sind davon überzeugt, daß wir den richtigen Aug-Punkt haben, den richtigen Gesichtspunkt zur Beurteilung der Vielfalt der Völker und ihrer Kulturen und ihrer Geschichte. Versetzen Sie sich nun aber in den kulturellen Horizont etwa eines primitiven Volkes, eines naturnahen Volkes, das ein solches Geschichtsverständnis nicht besitzt, auch gar keine Gelegenheit hat, konfrontiert zu sein mit der Vielfalt der historischen Welt und der sonstigen ethnologischen Vielfalt. Können wir nun einfach sagen, wir stehen drüber, wir haben den richtigen Aspekt, wir sehen die Sachen richtig, wie sie in der Tat sind, während die anderen nur in einem beschränkten Gesichtskreis leben. Überlegen Sie etwa, daß das Problem oder der Begriff ›Mensch‹ in diesem Sinne, wie wir ihn haben, selber schon das Produkt einer langen geistigen Geschichte ist, in welche antike Vorstellungen und christliche Vorstellungen eingemündet sind. Und daß, sagen wir einmal, Völker, auch Hochkulturvölker, die außerhalb dieses Kulturkreises gelebt haben, daß die einen solchen Begriff vom Menschen und Menschheit nicht gekannt haben.

Was ist das für eine Frage? Ich sagte vorhin, viele Völker (primitive Völker) bezeichnen sich selbst als Menschen und werden sich auch ohne weiteres mit Fremden so verstehen. Aber ihnen fehlt die Differenzierung zwischen dem, was sie sind in ihrer Sonderart[,] und dem Allgemeinen, was in diesem Menschenbegriff sozusagen mitgemeint ist. Das ist erst bewußt geworden durch eine lange geistige Geschichte. Wenn Sie sich einmal die Sache unter dem Aspekt ansehen, dann sehen Sie, daß in dem Problem Konstanz und Va20riabilität viel mehr drinsteckt als man aufs erste meint. Es ist eben nicht so, daß man sagt, das ist ein pures Klassifikationsproblem, sondern es ist ein Wertproblem zugleich und ein Wertproblem, an dem die ganzen Schwierigkeiten eben von Relativität des Standortes, des Horizontes mithängen, von dem ich das letzte Mal bereits gesprochen habe und was uns besonders natürlich durch unsere historische Bildung allmählich bewußt geworden ist.

Mit diesen Fragen sind wir also konfrontiert, und das sind offensichtlich Fragen, die von den betreffenden Wissenschaften nicht gelöst werden. Nun verstehen Sie auch, warum in einem relativ späten und hochentwickelten wissenschaftlichen Stadium, eben des 20. Jahrhunderts, in dem alle diese genannten Wissenschaften sich entfaltet haben, das Bedürfnis nach einer solchen philosophischen Besinnung unter dem Titel ›Philosophische Anthropologie‹ entstanden ist.

Es ist mit einer solchen Disziplin oder einer solchen Wendung in der Philosophie – wenn Sie es so nennen wollen, das lasse ich zunächst mal ganz offen – genau so bestellt wie mit der Soziologie, die ja auch eine sehr späte Wissenschaft ist und von der wir hier kurz etwas sagen müssen. Denn die Soziologie als die Wissenschaft von den gesellschaftlichen Gebilden und den Vorgängen, von dem Menschen als einem spezifisch in sozialen Verbänden lebenden Wesen ist ja auch ein sehr spätes Gebilde. Eine Soziologie hat es ja keinesfalls etwa in der Antike gegeben oder im Mittelalter. Sondern das ist ein Produkt, und zwar ein Spätprodukt der entfalteten bürgerlichen Welt. In dem Maße, in dem sie anfängt, sich zu industrialisieren, und in dem sie der Probleme, welche die Industrialisierung ihr stellt, Herr zu werden versucht. Sie ist also durchaus ein geschichtlicher Spätling in der ganzen Gruppe der genannten Wissenschaften, aber sie hat ein besonderes Interesse eben an der Philosophischen Anthropologie, weil ihr Begriff vom Menschen als gesellschaftlichem Wesen ja ganz offensichtlich nichts beginnen kann mit den Begriffen vom Menschen, die die älteren Wissenschaften – die medizinischen und die naturwissenschaftlichen, die psychologischen und die historischen Wissenschaften, ethnologischen Wissenschaften [–] so mehr oder weniger gebraucht haben und mit denen sie arbeiten. Denn gerade die Soziologie will offensichtlich ja noch mehr oder etwas anderes als die genannten [Wissenschaften].

21Diese Schwierigkeiten spürt sie vor allem, seitdem sie mehr und mehr darauf aus ist, eine selbständige Wissenschaft mit eigenen Methoden zu werden. So ist es kein Zufall, daß ungefähr in dem Maße, in dem sich die Soziologie als Disziplin konsolidiert, wir können sagen, das geschieht erst im späten 19. Jahrhundert und eigentlich mit wirklichem Nachdruck erst in diesem Jahrhundert, daß dieser Prozeß, dies Interesse, eine selbständige Wissenschaft vom Menschen als einem gesellschaftlichen Wesen zu werden, parallel läuft mit dem allmählichen Interesse an einer philosophischen Überprüfung des Menschenbegriffs. Das alles sind nun rein wissenschaftliche Interessen, und Sie können auch sagen, wir haben zunächst einmal die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie gesehen unter methodologischen Interessen, unter erkenntnistheoretischem Interesse, wie es durch verschiedene Wissenschaften relativ jungen Datums – Biologie, Psychologie, Ethnologie und Geschichtswissenschaft –, man kann praktisch sagen, erst seit dem 18.-19. Jahrhundert, entstanden ist.

Sie werden sagen, das ist aber ein sehr enger Aspekt, unter dem wir die Sache bisher sehen, und das ist von mir auch ganz bewußt so in seiner Enge gewählt. Denn wenn Sie sagen, über den Menschen hat man doch immer nachgedacht. Gut, meinetwegen, man hat nicht immer wissenschaftlich über ihn nachgedacht, aber man hat noch immer sich darüber Sorgen gemacht, was der Mensch ist. Man kann bis ins Alte Testament zurückgehen an die berühmte Formulierung: »Was ist der Mensch, daß Du seiner gedenkest?«5 Und wenn man an das Neue Testament denkt, wenn man an die alten Kulturen denkt – sie haben doch alle Vorstellungen von dem Wesen des Menschen gehabt. Natürlich, keine Religion, keine Sitte, keine sittliche Ordnung, kein Moralkodex, keine Rechtsordnung, die nicht irgendwie eine explizite oder implizite Vorstellung vom Menschen hat. Aber darf man dann ohne weiteres von einer Anthropologie des Apostel Paulus sprechen? Oder von einer Anthropologie der Inkas?

Man kann sagen: gut, Vorstellungen vom Menschen. Das gehört aber offenbar zum Menschen mit dazu. Der Mensch kann nicht leben, ohne ein Leben zu führen, d. h. ohne mit dieser seiner Existenz sich auseinanderzusetzen und sie nach irgendwelchen Vor22stellungen, Normen, Idealen, Werten, Auffassungen zu gestalten. Und das zeigt sich eben in der Fülle der Kulturen, in der Fülle des geschichtlichen Wandels, das zeigt sich in der gesellschaftlichen Existenz, die ja nichts anderes letzten Endes sein kann als die Realisierung dieser Aufgabe.

Sie sehen, von daher betrachtet, auf diesem großen Hintergrund, muß sich die Philosophische Anthropologie also als etwas Besonderes etablieren, um nicht von vornherein mit all den anderen Aussagen belastet zu werden, die sich im Lauf der geistigen Geschichte über den Menschen überhaupt finden. Genau dasselbe Problem, dieselbe Schwierigkeit haben wir auch bei der zuletzt genannten Wissenschaft, der Soziologie, in gewisser Weise auch bei der Psychologie. Sie werden sehr oft in der Literatur etwa dem Gedanken begegnen, die Psychologie Platos oder die Psychologie des Aristoteles oder die Psychologie des Thomas von Aquin und ähnliche Probleme oder: Sie werden finden die Soziologie Platos, die Soziologie des Thomas.

Sie sehen, die Frage ist die, darf man diesen modernen Begriff, der mit einer sehr spät konsolidierten, spät gestifteten Wissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts zusammenhängt, ohne weiteres zurückprojizieren in frühe Zeiten und unsere Vorstellung? Als ob es sich um ein Sonderfach handelte, gleichsam unhistorisch, auf das frühe Mittelalter, die Spätantike, die Frühantike einfach zurückzuversetzen! Natürlich gibt es Aussagen, denken Sie mal an Augustin, die Confessiones des Augustin sind eine Fundgrube, wir würden heute auch sagen, auch psychologischer Urteile und Aussagen. Aber sie sind doch nicht gemeint als Beitrag zu einer Wissenschaft, zu einer Wissenschaft in dem Sinne, wie wir sie heute kennen. Sie enthalten enorm viel Einsicht und fruchtbare Erkenntnis, sie lassen sich von uns gewissermaßen auswerten im Hinblick auf bestimmte Probleme unserer Wissenschaft, zweifellos, aber sie selber sind ja nicht so gemeint gewesen.

Und genau dasselbe, wenn man etwa sagt, der Staat der Athener von Aristoteles, das wäre ein Stück Staatslehre oder das wäre ein Stück Soziologie, die Politeia des Plato wäre sozusagen ein Beitrag zur Soziologie avant la lettre – vollkommen falsch! So ist es nicht gemeint gewesen. Und genau dasselbe gilt, es sei noch einmal unterstrichen, für die Anthropologie, und speziell die Philosophische Anthropologie. Wir müssen also dieses von vornherein festhalten. 23Wir wollen von Philosophischer Anthropologie nicht sprechen in dem Sinne, als ob sie eine Vorgeschichte habe, die bis in die Antike und in alle möglichen anderen frühen Kulturen zurückreicht, sondern wir wollen uns bewußt beschränken und begrenzen darauf, daß sie eine Disziplin ist, die eine relativ sehr kurze Geschichte hat, die allenfalls bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, aber nicht früher, die zweifellos zusammenhängt mit dem Wissenschaftsgewebe, von dem ich Ihnen in der 1. Stunde und auch heute gesprochen habe, und die weiterhin von daher zunächst mal ihre Probleme empfängt.

Nun fragt man sich, wenn das so ist, dann ist zunächst einmal die ganze moralisch-ethische Seite des Problems, die religiöse Seite – gewissermaßen oder scheinbar – abgeschnitten. Das ist sie aber nur aus methodischen Gründen. Wir werden sofort im Verfolg unserer Überlegungen darauf kommen, daß sie mit drin enthalten ist, aber auf eine eigenartige Weise.

Ich sagte schon: die Frage, die die Philosophische Anthropologie stellt, nämlich, was der Mensch ist oder wie wir ihn zu bestimmen haben, scheint eine rein logisch-definitorische Frage zu sein, ist es aber nicht nur. Sie enthält bereits im Hinblick auf die großen Schwierigkeiten des Problems von Konstanz und Variabilität der Werte mehr. Und das ist also nun der Punkt, auf den wir hinzielen müssen.

Es ist eine unverbrüchliche Erfahrung, daß der Mensch so wird oder so ist, wie er sich auffaßt. Die Beurteilung seines Wesens und sein wirkliches Verhalten hängen offensichtlich miteinander zusammen. Was wir also hier tun werden, muß in irgendeinem Sinne eine Rückwirkung haben auf das, was wir sind. Wir können auch sagen, das, was wir sind, hat eine Rückwirkung auf unsere Bestimmung, unsere Auffassung von uns.

Auch hier ist ein merkwürdig neues Problem gegeben, das von eminenter Bedeutung ist, nicht nur, wie Sie sehen, für die Wissenschaften im rein theoretischen Sinne, sondern ein Problem mit moralischen Konsequenzen. Wenn ich den Menschen auffasse als im wesentlichen durch seine Rasse bestimmt etwa – nehmen wir einmal an, dieser Begriff hätte beim Menschen einen zuverlässigen Sinn! –, der Mensch wäre durch seine biologische Sonderbestimmtheit wesentlich definiert, dann muß er sich entsprechend zu sich und seinen Mitmenschen verhalten. D. h., man kann das eine nicht vom anderen lösen, das eine bedingt das andere. Es hat 24Konsequenzen für die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenseins der Menschen, wenn eine solche Lehre, eine solche Idee sich durchsetzt.

Gehen wir noch einmal auf die Frage der Definition des Menschen zurück: Man könnte sagen, warum sollte man denn das eine mit dem anderen verbinden, das ist doch gar nicht nötig. Die Frage nach der Sonderstellung des Menschen unter den lebendigen Organismen ist eine Frage ganz nüchterner Art. Ich will das Menschenhafte feststellen. Dasjenige, was ihn von den nächstverwandten höheren Säugetieren, und in Sonderheit den Anthropoiden, unterscheidet. Da muß man sagen, dazu gehört zu dem Menschenhaften z. B. die Möglichkeit des dauernden Sich-Aufrichtens und aufrechten Ganges, dazu gehört eine ganze Reihe von anatomischen und physiologischen Eigentümlichkeiten, dazu kann man eine bestimmte Zahnformel aufstellen, dazu kann man die Form der Behaarung nennen, dann die Differenzierung von Hand und Fuß, die Ausbildung des Fußes als Stand- und Lauforgan, die Hand als Greiforgan, dazu gehört aber auch, daß er sprechen kann, dazu gehört das, was wir Vernunft nennen, das kann man näher definieren, das kann man auch behavioristisch definieren, so daß der Begriff nichts Dunkles und Metaphysisches an sich hat, Werkzeugherstellung-Fähigkeit usw. usw.

Man würde zunächst einmal sagen, eine solche Definition betrifft das Menschenhafte im Sinne eines Komplexes von Merkmalen, welche den Menschen in der Tierreihe heraushebt, ohne ihn von der Tierreihe völlig falsch zu isolieren. Ja, gut, das Menschenhafte!, zweifellos ist das aber nicht alles! Sondern es gibt ja eben dadurch, daß Wertprobleme hier angerührt werden, wenn wir an die kulturelle Seite der menschlichen Existenz denken, ja auch noch das Problem des Menschlichen.

Werner Sombart hat in seinem Buch über den Menschen6 – ein Spätwerk von ihm, er war ja ein Nationalökonom von Haus aus, er hat, wie das oft bei alternden Gelehrten zu geschehen pflegt, angefangen zu philosophieren, er hat das aber sehr gut gemacht, indem er nicht über seine Kompetenzen hinausgegriffen hat, er hat eben als Nationalökonom und als Soziologe die Bedeutung der Anthropologie für seine eigenen Wissenschaften sehr tief erkannt. W. 25Sombart hat das so getrennt, daß er sagte: Es gibt auf der einen Seite die Frage nach dem Menschenhaften, d. h. nach dem Hominen, und es gibt die Frage nach dem Menschlichen, das, was den Menschen zum Menschen macht, d. h., dasjenige, was dem Menschen auferlegt ist, aus sich zu machen, damit er ein Mensch im wahren Sinne des Wortes ist, und das ist das Problem des Humanen. Wie immer, W. Sombart war ein eleganter Schriftsteller, nicht zuletzt wahrscheinlich durch die französische Tradition in seiner Familie, [und] sagt also so: Wir müssen bei dem anthropologischen Problem zwei Dinge unterscheiden, nämlich einmal das Problem, die Fragestellung des Hominen[,] und die Frage nach dem Humanen.

Aber so hübsch das ist als erste Unterscheidung, das eine hängt natürlich mit dem andern zusammen. Der berühmte Heidegger hat in der Einleitung oder in den ersten Paragraphen seines Buches Sein und Zeit die hübsche Formel gebraucht, daß der Mensch (er spricht aber nicht so gern vom Mensch[en], sondern er spricht immer vom ›Dasein‹), das Da-sein ein Sein ist, das um sein Sein weiß. Oder, um es noch etwas akademischer auszudrücken, ein »On« (griechisch) ist, das von sich aus ontologisch ist.7 Das hat merkwürdigerweise den Leuten fürchterliche Schwierigkeiten gemacht, ist aber, möchte ich sagen, eine sehr einfache und unwidersprechliche Feststellung. Es ist ein Sein, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, es ist daran interessiert, es ist sozusagen ständig mit sich befasst. Oder die Selbstdeutung des Menschen gehört zu seiner Existenz. Der ganze Existenzbegriff der Moderne ist ja nichts anderes, als daß darauf der Finger gelegt wird. Wenn man also das Homine von dem Humanen trennen zu können glaubte, irrt man sich, das hängt natürlich miteinander zusammen, das ist miteinander verhakelt.

Und hier in dem kleinen Buch, bei Göschen erschienen, was ich Ihnen durchaus empfehlen kann als Lektüre neben dieser Vorlesung, das Buch von dem Berliner Philosophen Michael Landmann, Philosophische Anthropologie, Sammlung Göschen erschienen, vor 5 Jahren erschienen, das eine vorzügliche Übersicht gibt,8 sagt Land26mann mit folgenden Worten genau das, was wir hier im Auge haben: Daß der Mensch nicht nur dies andere Seiende einfach ist, sondern nach sich selbst fragt und sich selbst deutet, daß der Anthropos einen Anthropologen einschließt. Das ist nicht theoretische Spielerei, die auch fehlen könnte, sondern es entspringt der tiefsten Notwendigkeit desjenigen Wesens, das sich selbst schaffen muß und das daher eines Leitbildes bedarf, auf das hin es sich schaffen soll. Beides greift ineinander.

Nun kann man sagen, der Anthropos hat einen Anthropologen in sich. Ja, ich will es durchaus in diesem allgemeinen Sinne unterschreiben. Trotzdem würde ich sagen, wir gebrauchten diesen Begriff der Anthropologie in der späteren Form. Es ist wohl in unserer Sicht richtig, daß zu allen Zeiten der Mensch, indem er über sich nachdenkt, was soll ich, was soll aus mir …, wozu muß ich, was ist der Sinn dieser ganzen Existenz, wie muß ich mich verhalten, welche Rolle muß ich spielen, was habe ich zu tun?, daß das irgendwie Überlegungen des Menschen über sich sind und insofern anthropologische Überlegungen sind. Aber ich möchte hier doch als historisch erzogener Mensch zugleich sagen, bitte, diesen Begriff nur in Anführungszeichen. Dieses Nachdenken hat die Funktion, daß es zugleich einen Beitrag liefert für eine anthropologische Besinnung. Aber eine anthropologische Besinnung im offenen Sinne des Wortes gibt es, wie gesagt, erst seit dem 19. und dem 20. Jahrhundert.

Selbstdeutung ist ein Ausdruck, hat man gesagt, der Unvollendetheit des Menschen. Sie können auch sagen, seiner Freiheit. Einerseits muß er sich zu dem machen, was er schon ist, und andererseits macht er sich immer wieder zu etwas, was er noch nicht ist. Die création de soi par soi, wie das Bergson ausdrückt,9 die im Menschen sich vollzieht, ist also ganz offenbar etwas, was sich über eine reine biologische Existenz hinaushebt. Dabei brauchen wir ihn noch gar nicht einmal für frei zu erklären in etwa dem Sinne, der für Kant maßgebend war oder für die großen Freiheitsproblematiker des 17., 18. und 19. Jahrhunderts, die immer fragten, ist der Mensch durch den Naturlauf determiniert oder ist er unabhängig von den Naturgesetzen, ist er nicht determiniert. Angenommen, er wäre determiniert, so würde ihm das nichts helfen, sich in der 27Situation, in der er eben Mensch ist, sich mit sich auseinanderzusetzen und etwas aus sich machen zu müssen, was ihm niemand anderes abnimmt.

Diese Seite der Frage hat nun, wie viele von Ihnen wissen werden, und sei es auch nur aus der Zeitung oder aus dem Rundfunk, das Zentralproblem der modernen Existenzphilosophie gebildet. Dabei darf ich etwas über die Entstehungszeit der Philosophischen Anthropologie in diesem Sinne, wie wir es hier jetzt allmählich entwickeln wollen, und der Existenzphilosophie sagen. Es ist kein Zufall, daß beide etwa in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts entstanden sind, und zwar gleichzeitig. Die ersten Arbeiten zur Philosophischen Anthropologie, wenn ich jetzt einmal nicht [an] die Vorgänger im 19. Jahrhundert, die es in der Tat gibt, vor allem an Feuerbach, denke, liegen nach dem 1. Weltkrieg, also im Anfang der 20er Jahre. Dort hat sich das Problem entwickelt. Es ist interessant, daß fast zur gleichen Zeit die Existenzphilosophie entsteht, die nun durch ihren anderen Anspruch, durch ihren geringeren Anspruch[,] sozusagen sich mit den Naturwissenschaften, mit der Psychologie, mit der Soziologie usw. auseinanderzusetzen, aber einen viel stärkeren unmittelbaren metaphysischen Anspruch hat und sich sehr stark ursprünglich an theologischen Thesen orientierte; daß sie in einer solchen Welt der Erschütterung der Wertmaßstäbe nach dem 1. Weltkrieg eine viel tiefere Resonanz haben mußte als etwa die Philosophische Anthropologie. Hier schien, und das sagt ja Heidegger auch gleich am Anfang seines hier eben schon genannten Werkes, hier schien die Philosophische Anthropologie schon von vornherein überspielt zu werden oder überspielt zu sein. Man hatte den Eindruck, daß eine Frage nach dem Sein des Menschen als einem Zugang zur Frage nach dem Sein schlechthin viel tiefer und viel zentraler auf das Wesentliche gerichtet sei als eine so relativ nüchterne Exposition von verschiedenen Wissenschaften her, wie wir sie hier gaben und wie wir sie auch damals in den 20er Jahren in meinen Sachen und bei Scheler, zunächst mal bei diesen beiden, finden.

Die Existenzphilosophie hat also einen unmittelbaren Anspruch gleich angemeldet auf die moralisch-religiöse Problematik und glaubte von hier aus die Wesensbestimmung des Menschen mit dem vollen Anspruch, daß es sich um eine Bestimmung seiner Essenz handelt, anmelden zu können, und zwar in der Hinsicht, man 28sagte, hier handelt es sich im Letzten um ein spezifisch ontologisches Problem. Indem wir den Menschen in seinem Sein, in seiner besonderen Seinsstruktur bestimmen, treffen wir gewissermaßen zwei Dinge mit einem Schlag: Einmal die theoretische Frage wird gelöst nach der Sonderstellung des Menschen in der Welt, rein theoretisch, also seine Abgrenzung als ein eigentümlicher Seinsbereich gegenüber der Natur, der biologischen Natur, die ganze Frage von Körper und Seele, Körper und Geist als Einheit, die Frage nach der Konstanz und Variabilität – alles wird zusammen mit einem Griff hier zusammengenommen –, und auf der anderen Seite die Frage nach seiner Bestimmung in dem Sinne des Verhältnisses dieser Struktur zu der eigentlichen Frage, was soll der Mensch in dieser Welt, was ist die ihm zugeworfene sittlich-moralische Aufgabe, was ist die Frage also des Verhältnisses seiner Natur zu seiner Bestimmung. Indem die Existenzphilosophie von vornherein dieses in den Griff bekam oder in den Griff zu nehmen suchte, hatte sie von vornherein das zentrale philosophische Interesse auf sich gezogen. Die Philosophische Anthropologie bestand als eine mehr oder weniger für einzelne Wissenschaften interessante, gleichsam noch im Vorläufigen steckengebliebene Spezialuntersuchung an der Peripherie.