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Max Brod

Franz Kafkas Glauben und Lehre

Kafka und Tolstoi
Eine Studie

Mit einem Text von Felix Weltsch
„Religiöser Humor bei Franz Kafka“

onomato verlag

 

Impressum

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der

Rechteinhaberin Frau Eva Hoffe.

© onomato Verlag 2014

Satz und editorische Bearbeitung: Silke Kramer

Register: Katharina Müller

ISBN 978-3-944891-32-3

www.onomato.de

Inhalt


Franz Kafkas Glauben und Lehre‘‘ von Max Brod


Einleitung (11)

I. Kein System Kafkas, aber wachsende Klärung seiner Ansichten in seiner letzten Lebenszeit (17), Kafka und Tolstoi (17), Weltbedeutung der Lehre Kafkas (17), Notwendige Mängel der systematischen Darstellung (18), Das beispielhafte Leben Kafkas (21), Uneitelkeit (21), Intensität der Arbeit (23), Ein Bild Voltaires (23), „Flickarbeit“ (24), Das Streben nach dem Vollkommenen (24), Flauberts „Gueuloir“ (26)

II. Der zentrale Satz der Lehre Kafkas: die These vom „Unzerstörbaren“ (29), Es gibt nur das Ziel; Weg ist Ausrede (30), Dennoch: der Kampf um den richtigen Weg (30), Blick auf die Gemeinschaft, „die beispiellos untrennbare Verbindung der Menschen“ (37)

III. Kafka weder dem Individualismus, noch dem Kollektiv verfallen: Er steht an dem Punkt, wo die Scheinbarkeit dieses Gegensatzes aufleuchtet (38), Das „Junggesellentum“ als Symbol alles Negativen (39), „Beamtenlaster“ (39), „Une confluence du Judaisme et du Christianisme“, Zurückweisung dieser Auffassung Klossowskis (40), Den Tod widerlegen (42), Der Würgegriff der Kausalität (42), „Hinausspringen aus der Totschlägerreihe“ (43), Der Messias (44)

IV. Begegnung mit der Gemeinschaft (45), Westjudentum, Ostjudentum bei Kafka (45), Interpretation des Satzes „Keine Hoffnung für uns“ (46), Der Vater (46), Im Widerstreit gegen den Vater festere Bindung an die jüdische Gemeinschaft (47), Tolstoi und das russische Volk (48), Parallele bei Kafka (und das Unterscheidende) (49), Josefine, die Sängerin (51), Das Mäusevolk (51), Die „Verwandlung“ und der Typus Raban (54), Sondere dich nicht von der Gemeinschaft ab (54), „Der Prozeß“ (56), Die tatsächliche Schuld des Josef K. (56), Das sich steigernde Schuldgefühl in den drei Romanen (56), Ein Kommentator, der Josef K. zuredet, dieses Schuldgefühl als bloß neurotische Einbildung zu betrachten (60), Widerstand gegen die versittlichende Wirkung der Schriften Kafkas (61)

V. Monotheismus in seiner reinsten Form (62), Das Motiv des Richterlichen bei Kafka und Ibsen (63)

VI. (Intermezzo) Einige Kommentatoren Kafkas (67)

VII. Kafka als Repräsentant einer jüdischen Religionserneuerung (71), Christliche Auffassung dieses Faktums (74), Hinweis auf Aldous Huxley (75), Kafkas Skepsis gegen alle Theorien (78), Er stellt sich in die Gemeinschaft ein. Dokumente für diese Behauptung (81), Kafkas positive Haltung zum Zionismus (82), Seine Ablehnung der deutsch-jüdischen Assimilation, auch in der Literatur (84), Seine Haltung in diesem Punkt radikaler als die meine (86), Seine Stellung zu Karl Kraus (88)

VIII. Einstellung zu den Werten des Lebens und zur christlichen Negation dieser Werte (97), Über Askese (99), Das Schöne. Plotin (100), Geometrisches Radien-Gleichnis (102), Kafkas „Traurigkeit“ (104), Ehe und Volksgemeinschaft (106), Novalis über die Ehe (107), Der haarfeine Unterschied zwischen der Haltung Kafkas und der Verneinung der sinnlichen Welt (108), Für sich selbst stellt Kafka eine ungünstige Prognose (108), Dennoch positiver Bezug zu allem Guten der Menschheitsentwicklung (110), Kabbala und Zionismus (113), „So ist doch was Gefährliches in mir.“ (114), Anekdoten (118), Das Wort der Liebe (121), Sozialistische Pläne (122), Der sogenannte alltägliche Mensch (123)


Religiöser Humor bei Franz Kafka“ von Felix Weltsch


I. Die Kafka-Welt (126)

II. Die Frage der Deutung (129)

III. Die religiöse Thematik (132)

IV. Hoffnungslose Verzweiflung (137)

V. Die Hoffnung auf das Vollkommene ist nicht sinnlos (140)

VI. Die Ungeduld (142)

VII. Religiöser Humor (145)

VIII. Die Mittel des Kafkaschen Humors (146)



Anhang


Editorische Notiz (153)

Personenregister (155)

Sachregister (156)

Werkverzeichnis (159)

Einleitung

Der Grundgedanke meiner hier folgenden Schrift geht dahin, daß eine richtige Deutung Kafkas nicht möglich ist, solange man nicht zwei Strömungen in seinem Werk unterscheidet: 1. die Aphorismen und 2. die erzählenden Schriften (Romane, Novellen, Fragmente).

1. Der Kafka der Aphorismen hat das ,,Unzerstörbare“ im Menschen erkannt, er hat zu dem metaphysischen Kern der Welt ein positives gläubiges Verhältnis. Er ist ein religiöser Held vom Rang eines Propheten, der um seinen Glauben unter tausend Anfechtungen ringt, wobei er aber des Himmels, des Transzendenten im Wesentlichen gewiß ist.

2. Der Kafka der Romane und Novellen zeigt den irrenden Menschen in all seinem Schrecken, seiner Verlassenheit, den Menschen, der den Zusammenhang mit eben jenem „Unzerstörbaren“, von dem die Aphorismen und oft auch die Tagebücher melden, verloren hat, den Menschen, der im Glauben unsicher geworden gestört ist, den halt- und ratlosen Menschen, zu dem hin jener Urglaube nur noch von ferne, fast unerreichbar, fast unverständlich, wie eine dunkle Ahnung erklingt. (Aber trotz allem: doch noch irgendwie erklingt.)

Diese beiden Strömungen sind Gegensätze. Sie mischen sich in mancher Schöpfung Kafkas, gradweise gestuft. In anderen treten sie mit polarer Scheidung hervor. Man kann aber Kafka niemals verstehen, wenn man nicht beide Strömungen in ihm erkennt und berücksichtigt. In den Aphorismen gibt Kafka (in großen Umrissen gesehen) das positive Wort, das er der Menschheit zu sagen hat, einen Glauben, eine strenge Aufforderung, das persönliche Leben jedes Einzelnen zu ändern – mit der Lehre Tolstois eng verwandt. In den Romanen und Erzählungen schildert er die grauenhaften Strafsanktionen, die eintreten, wenn man das Wort nicht hört, den rechten Weg verläßt. Das negative Wort ertönt hier, das Urteil, das Gericht.

Diese beiden Massen in Kafkas Werk, die Aphorismen und das erzählende Werk, gehören zusammen und ergänzen einander, wie eine Farbe und ihre Komplementärfarbe zueinander gehören. –

Der große Ruhm, der Kafka jetzt posthum zuteil wird, steht in seltsamem Mißverhältnis zu dem Minimum an echter Wirkung, das seiner reinen Gestalt vorläufig beschieden ward. Um hierin Wandlung zu schaffen, um ein richtigeres Verständnis dieser reinen Gestalt anzubahnen, ist die folgende Studie geschrieben und als Ergänzung zu meiner Kafka-Biographie gedacht. Sie richtet sich vor allem gegen die nihilistische Auffassung Kafkas, die heute das große Wort führt. Es ist einfach absurd und nichts als ein Zeichen für die geistige Verworrenheit unserer Zeit, wenn man einen Denker und Gestalter, der tief wie kaum ein anderer im Metaphysischen verwurzelt war, heute in die Linie des französischen Existenzialismus (Sartre) einreihen will, der nach dem Vorbild Heideg­gers die Welt ihrer metaphysischen Valenz zu entleeren sucht, der also geradezu die Gegenlinie Kafkas ist. Eine weitere Mißdeutung, allerdings keine so grobe, liegt in der katholischen Interpretation. Die Grenzlinie ist hier eine zartere, sie erscheint in äußerst komplizierten Formen. Ich habe mich bemüht, sie im folgenden da und dort aufzuzeigen. Die katholische Interpretation wird im allgemeinen wohl dem metaphysischen Gehalt, nicht aber den von Kafka im sublimsten Sinn verehrten positiven Diesseitskräften gerecht, deren Reinheit Kafka bei all seiner scharfen Lebenskritik nie aus dem Blick verliert (vgl. vor allem seine Einstellung zur Ehe oder zur aufbauenden Arbeit des Alltags).

Zusammengefaßt also: Die nihilistische Deutung möchte Kafka seiner Verwurzelung im Transzendenten entkleiden. Die katholische (und überhaupt radikal christliche) Deutung will ihn auf das Transzendente allein reduzieren. Beides ist unrichtig. – Doch unter den unrichtigen Deutungen Kafkas, die ja Legion sind, nehmen sich diese beiden noch anständig aus. Daneben, welch eine Galerie bizarrer Irrtümer! So, wenn eine kommunistische Revue in Frankreich eine Rundfrage veranstaltet: „Soll man Kafkas Schriften verbrennen?“ Und wenn dann unter denen, die antworten, kein einziger darauf hinweist, daß in Kafkas Weltschau (wiederum ähnlich wie bei Tolstoi) so starke Verbindungsfäden zu einer im menschlichsten und persönlichsten Sinne gemeinten sozialen Befreiung hinleiten. – Es haben sich auch Autoren gefunden, die Kafka auf einige neurotische Symptome, die er mit Millionen teilt, festlegen wollen; als sei dies Natural-Selbstverständliche sein eigentliches Geheimnis. An diesen und manchen anderen mit dem Blick vorbeizugehen, den Dante von Vergil gelernt hat (Inferno III 51), schiene mir das Angemessenste und Ratsamste, hätte ich nicht gerade von Kafka den anderen Blick, an nichts achtlos vorbeizugehen, ein Leben lang zu lernen Gelegenheit gehabt.

In der „Biographie“ habe ich den Lebenslauf meines Freundes erzählt, wobei ich selbstverständlich bei einigen Gelegenheiten darstellen mußte, wie er selbst über sein Werk dachte und wie es unter Zugrundelegung der Intentionen des Autors gedeutet werden muß. – In dem Band, den ich jetzt vorlege, steht Deutung und Bedeutung des Werkes von Franz Kafka an erster Stelle, wobei aber doch auch wieder auf bisher unbekannte Tatsachen seines Lebens Bezug genommen wird. So sind die beiden Bücher über Kafka als ein zusammenhängendes Ganzes aufzufassen, dessen Teile einander wechselseitig erhellen sollen, sofern meine Absicht gelungen ist.

In dem beträchtlichen Zeitraum zwischen den Erscheinungsdaten meiner zwei Bücher ist Kafkas Name weltberühmt geworden. Das hat eine Unzahl von Fehldeutungen auf den Plan gerufen. Einige, die mir typisch schienen, habe ich hier zurückgewiesen, doch durchaus nicht alle. Das ist auch gar nicht nötig, da sie mit der Zeit, als Modeerscheinungen erkannt, verschwinden werden, während Kafkas Werk bleibt und an Gewicht noch zunehmen wird. Zu den vielen psychoanalytischen Transkriptionen, die unter den Kommentatoren im Schwange sind, bemerke ich hier noch, daß sie meist nur das Selbstverständliche sagen, wenn sie den Schatten hervorheben, den Kafkas respektabler und elementarisch schöpferischer Vater, ohne es zu wollen, über das Leben des empfindungsreichen Sohnes warf. Damit aber, daß man diesen Schatten sieht, wie Kafka selbst es tat (und ich mit ihm, noch zu seinen Lebzeiten wie auch nachher), ist noch gar nichts von der besonderen Genialität Kafkas erklärt, nichts auch von den individuellen Reaktionen und geistigen Ergebnissen, zu denen Kafka im Kampf mit dem lastenden Schatten emporwuchs. Das Allgemeine dieser Entwicklung, das, was Kafkas Lebenslauf mit den Lebensläufen von Millionen Söhnen gemeinsam hat, gehört der Psychoanalyse an; doch erst dort, wo dieses Allgemeine überwunden ist und Kafkas spezielle Lebenssituation sich formt, beginnt das geistig Relevante und Einzige des Dichters sich abzuzeichnen.

Hier und da warf man mir ein, ich hätte Kafkas großen Brief an den Vater nur deshalb stückweise, mit Auslassungen und nicht in extenso in meiner Biographie veröffentlicht, weil ich die psychoanalytisch deutbaren Tatsachen seines Daseins verdunkeln wollte. Nichts lag mir ferner. Ich habe in meiner Kafka-Biographie diese Tatsachen selbst ausführlich dargelegt, ihre Bedeutung nie bestritten, nur ihre im Letzten entscheidende Kraft für die Formung von Kafkas Leben und Werk in Abrede gestellt. Sämtliche Fortlassungen aus dem Brief hatten den einen Grund: das Gefühl lebender Personen, insbesondere der Schwestern Kafkas, nicht zu verletzen. Leider ist dieser Grund weggefallen. Alle drei Schwestern sind Opfer der Nazis geworden. Der erwähnte Brief an den Vater wird nun mehr im Wesentlichen ungekürzt in der Gesamtausgabe seinen Platz finden.

Öfters las ich die Aufforderung, meine Kafka-Biographie als Vorarbeit zu betrachten und nun das eigentliche Werk einer systematischen Evokation zu unternehmen. Diesen Erwartungen einiger Leser kann ich aus mancherlei Gründen nicht entsprechen. Ich betrachte meine beiden Bücher als eine Darstellung, die, im Rahmen meiner Kraft, und natürlich erst dann, wenn man sie mit dem Werk Kafkas, insbesondere mit seinen Briefen und Tagebüchern, sowie mit meinen Nachworten und Anmerkungen zu seinen Büchern zusammennimmt, jenen Einblick in die Organisation dieses außerordentlichen Lebens und Schaffens gewährt, die es dem befähigt Mitschauenden und Mitdenkenden gestattet, an den Bemühungen Kafkas aktiv teilzunehmen und sein eigen Seelenheil wie den Frieden der Welt mit verstärkter Kraft anzustreben. Und darauf allein kommt es wesentlich an – wobei ich nicht übersehen will, daß der systematischen Sichtung und Ordnung des biographischen und autobiographischen Materials sowie der Erschließung neuer Daten noch manche Aufgabe in der Zukunft gestellt sein mag.

„Hauptsächlich tut es not, zu wissen, daß, wenn in mir Nicht-Liebe ist, ich schon deshalb, weil diese Nicht-Liebe in mir ist, schuldig bin.“ (Leo Tolstoi, Tagebuch, November 1896)