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Westend Verlag

Ebook Edition

Mathias Bröckers

Newtons Gespenst und Goethes Polaroid

Über die Natur

Westend Verlag

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ISBN 978-3-86489-729-0

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2019

Umschlaggestaltung: www.pleasantnet.de

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Fragment über die Natur
Eine Art Lebensprogramm
Gaia – Ein Poet entdeckt die Autopoiesis
Die »Chymie« von Geist und Materie
Die große Kette der Lebewesen
Newtons Gespenst
Goethes Polaroid
Kein Lebendiges ist eins
Vor allen Göttern war Gaia
Anhang
Goethe an Kanzler Müller, 24. Mai 1828
Rudolf Steiner: Zu dem »Fragment« über die Natur

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© privat

Mathias Bröckers ist freier Journalist, der unter anderem für die taz und Telepolis schreibt. Neben Artikeln, Radiosendungen und Beiträgen für Anthologien veröffentlichte er zahlreiche Bücher. Seine Werke Die Wiederentdeckung der Nutzpflanze Hanf (1993), Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9. (2002) und Wir sind die Guten (2014, zusammen mit Paul Schreyer) wurden internationale Bestseller.

Fragment über die Natur

(Erstveröffentlicht 1782 im Tiefurter Journal, J. W. v. Goethe: Naturwissenschaftliche Schriften, Bd. 1)

Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen.

Sie schafft ewig neue Gestalten, was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder – alles ist neu, und doch immer das Alte.

Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie.

Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich.

Sie lebt in lauter Kindern, und die Mutter, wo ist sie? – Sie ist die einzige Künstlerin: aus dem simpelsten Stoff zu den größten Kontrasten; ohne Schein der Anstrengung zu der größten Vollendung – zur genausten Bestimmtheit, immer mit etwas Weichem überzogen.

Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff, und doch macht alles eins aus.

Sie spielt ein Schauspiel: ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht, und doch spielt sie’s für uns, die wir in der Ecke stehen.

Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie ans Stillestehen gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar.

Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Sie hat sich einen eigenen allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann.

Die Menschen sind alle in ihr und sie in allen. Mit allen treibt sie ein freundliches Spiel und freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Sie treibt’s mit vielen so im Verborgenen, dass sie’s zu Ende spielt, ehe sie’s merken.

Auch das Unnatürlichste ist Natur, auch die plumpste Philisterei hat etwas von ihrem Genie. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht.

Sie liebt sich selber und haftet ewig mit Augen und Herzen ohne Zahl an sich selbst. Sie hat sich auseinandergesetzt, um sich selbst zu genießen. Immer lässt sie neue Genießer erwachsen, unersättlich sich mitzuteilen.

Sie freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört, den straft sie als der strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den drückt sie wie ein Kind an ihr Herz.

Ihre Kinder sind ohne Zahl. Keinem ist sie überall karg, aber sie hat Lieblinge, an die sie viel verschwendet und denen sie viel aufopfert. Ans Große hat sie ihren Schutz geknüpft.

Sie hat wenige Triebfedern, aber, nie abgenutzte, immer wirksam, immer mannigfaltig.

Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor und sagt ihnen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen. Sie sollen nur laufen; die Bahn kennt sie.

Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft.

Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben.

Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum Lichte. Sie macht ihn abhängig zur Erde, träg und schwer, und schüttelt ihn immer wieder auf.

Sie gibt Bedürfnisse, weil sie Bewegung liebt. Wunder, dass sie alle diese Bewegung mit so wenigem erreicht.

Jedes Bedürfnis ist Wohltat; schnell befriedigt, schnell wieder erwachsend. Gibt sie eins mehr, so ist’s ein neuer Quell der Lust; aber sie kommt bald ins Gleichgewicht.

Sie setzt alle Augenblicke zum längsten Lauf an, und ist alle Augenblicke am Ziele.

Sie ist die Eitelkeit selbst, aber nicht für uns, denen sie sich zur größten Wichtigkeit gemacht hat.

Sie lässt jedes Kind an sich künsteln, jeden Toren über sich richten, Tausende stumpf über sich hingehen und nichts sehen, und hat an allen ihre Freude und findet bei allen ihre Rechnung.

Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will.

Sie macht alles, was sie gibt, zur Wohltat, denn sie macht es erst unentbehrlich. Sie säumet, dass man sie verlange; sie eilet, dass man sie nicht satt werde.

Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht.

Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie macht Klüfte zwischen allen Wesen, und alles will sich verschlingen. Sie hat alles isoliert, um alles zusammenzuziehen. Durch ein paar Züge aus dem Becher der Liebe hält sie für ein Leben voll Mühe schadlos.

Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut und quält sich selbst. Sie ist rau und gelinde, lieblich und schrecklich, kraftlos und allgewaltig. Alles ist immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihr Ewigkeit. Sie ist gütig. Ich preise sie mit allen ihren Werken. Sie ist weise und still. Man reißt ihr keine Erklärung vom Leibe, trutzt ihr kein Geschenk ab, das sie nicht freiwillig gibt. Sie ist listig, aber zu gutem Ziele, und am besten ist’s, ihre List nicht zu merken.

Sie ist ganz, und doch immer unvollendet. So wie sie’s treibt, kann sie’s immer treiben.

Jedem erscheint sie in einer eignen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Termen, und ist immer dieselbe.

Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht hassen.Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen.

Alles ist ihre Schuld, alles ihr Verdienst.

Für Nora, Juri, Clara und Hugo

Gaia – Ein Poet entdeckt die Autopoiesis

Müsset im Naturbetrachten Immer eins wie alles achten Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: Denn was innen das ist außen. So ergreifet ohne Säumnis Heilig öffentlich Geheimnis Freuet Euch des wahren Scheins. Euch des Ernsts des Spieles Kein Lebendiges ist Eins Immer ist’s ein Vieles.

In seinem Gedichtband Gott und Welt (1827) stellt Goethe diese Zeilen zwischen die Metamorphose der Pflanzen und der Metamorphose der Tiere, gleichsam als Betriebsanleitung für die Wahrnehmung der Natur. So spielerisch und locker diese Reime fließen – Epirrhema (griechisch: »das Dazugesprochene«) lautet ihr Titel –, so tief berühren sie nicht nur den Kern der Naturauffassung und Weltanschauung Goethes, sondern sind auch zwei Jahrhunderte später von erstaunlicher Aktualität. Zu Goethes Zeit wusste man noch nichts von den 400 Arten von Kleinstlebewesen, die in Magen und Darm unsere Verdauung regeln und nichts von den Milliarden Bakterien, die in jeder Mundhöhle leben. Heute aber sprechen die Mikrobiologen, wenn sie Lebewesen erklären wollen, nicht mehr von »Individuen«, sondern von »Holobionten«, auch »Gesamtlebewesen« genannt. Nur in der Symbiose mit Einzellern und zahlreichen Bakterien erwacht die Koralle zum Leben, nur das symbiotische Zusammenleben mit »niederen« Organismen machte die Evolution »höheren« Lebens möglich: »Kein Lebendiges ist Eins, immer ist’s ein Vieles.«

Mit der Forderung »eins wie alles« zu achten, also nie nur das Einzelphänomen, sondern stets das Ganze, die Ökologie, das Netzwerk der Biosphäre im Auge zu haben, scheint der dichtende Naturforscher Goethe seiner Zeit ebenso voraus gewesen zu sein wie mit seiner skeptischen Vorahnung eines »Beobachterproblems« zwischen Innen und Außen, wie es 100 Jahre nach ihm die Quantenphysik formulieren wird. »Die Bahn eines Elektrons entsteht erst dadurch, dass man sie beobachtet«, lautete der unerhörte Satz von Werner Heisenberg, den die Physiker bis heute nur halbwegs verdaut haben, von Philosophen und Erkenntnistheoretikern ganz zu schweigen. Mit Goethe statt von einer objektiven Realität von »wahrem Schein« und »Ernst des Spiels« zu sprechen scheint auf quantenphysikalischer Ebene also durchaus angemessen.

Paradox wie die subatomare Wirklichkeit ist auch Goethes Forderung, »ohne Säumnis heilig öffentlich Geheimnis« zu ergreifen. Sie mutet an wie die aus dem Zen-Buddhismus zu Meditationszwecken bekannte Anweisung, mit einer Hand zu klatschen. In der Regel wird sie von Mönchen praktiziert, die ihre tiefe Meditation als Verschmelzung von Subjekt und Objekt, Ich und Welt, Innen und Außen beschreiben – und als Zustand höchster Beglückung: »Freuet Euch des wahren Scheins« und »des Ernsts des Spieles«.

Was aber ist das »Geheimnis«, das keines ist, weil »öffentlich« und dennoch »heilig«? Es liegt in der Anschauung und dem Erstaunen vor dem Wunderwerk der Natur, vor der Schönheit einer Blüte, der Eleganz eines Vogels und der Perfektion eines Bienenvolks, ebenso wie vor den überirdischen Farbschleiern der Abend- und Morgendämmerung. Nicht nur als ästhetische Empfindung und Zuneigung, nicht in wild-romantischer Öko-Idylle, sondern im staunenden Wissen über die noch immer kaum ergründete Komplexität der Biosphäre, einer Welt von Kooperationen und Symbiosen all der »Vielen«, die nur zusammen das schaffen, was wir »lebendig« nennen.

Im Mai 1806, nach der Rückkehr von seiner Forschungsreise durch Südamerika, schreibt Alexander von Humboldt an Caroline von Wolzogen, die Schwägerin Schillers: »[…] und in den Wäldern des Amazonenflusses wie auf dem Rücken der hohen Anden erkannte ich, wie von einem Hauche beseelt, von Pol zu Pol nur ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen und Tieren und in des Menschen schwellender Brust. Überall ward ich von dem Gefühl durchdrungen, wie mächtig jene Jenaer Verhältnisse auf mich gewirkt, wie ich, durch Goethes Naturansichten gehoben, gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet worden war!«

Mit welchen »neuen Organen« der Geheimrat Goethe den 20 Jahre jüngeren Oberbergrat Humboldt ausgestattet hatte, nachdem sie 1797 in Jena mehrere Monate redend, forschend und diskutierend verbracht hatten, lässt sich aus dem Fragment über die Natur unschwer erkennen. Es ist der Sinn für das Netzwerk, die Ganzheit, die Dynamik der Natur, das Gespür, dass die Erkundung der Einzelteile allein nicht ausreicht, um zu verstehen, was Leben ist und wie es sich entwickelt hat. »Holismus heißt jene Philosophie, für die die ganze Natur – physisch, organismisch und seelisch – eine lebendige Ganzheit bildet […]«, wird Humboldt später über die Denkart und Vorstellungsweise schreiben, auf die er durch Goethes Naturansichten »gehoben« wurde.

Goethe seinerseits fühlte sich von Humboldt inspiriert und animiert, seine Arbeiten zur Formenbildung, zur Morphologie der Pflanzen und Tiere, und die Suche nach der Einheit in der Vielfalt, den »Urphänomenen«, fortzusetzen und weiterzutreiben. In seinem Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790) hatte er seine Überzeugung dargelegt, dass der gesamten Pflanzenwelt eine ursprüngliche, archetypische Form zugrunde liegen müsse und jede Pflanze eine Spielart sei, die sich aus dieser Urform entwickelt habe. Diese identifiziert er als Blatt: »Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt.« Klassifizierungen, wie sie Carl von Linné vorgelegt hatte und wie sie bis heute als Nomenklatur in der Botanik Verwendung finden, fand Goethe zwar nützlich, aber für seine Forschungen weder ausreichend noch zielführend. Ihn interessierten die Kräfte, von denen die Gestalten der Pflanzen- und Tierwelt geformt und gebildet werden. Der Zoologe und Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach, bei dem Humboldt studiert hatte und den Goethe ebenfalls kannte, nannte als Unterscheidungsmerkmal der organischen von der anorganischen Welt »Lebenskräfte« und »Bildungstrieb« – und während Humboldt im Anatomieturm in Jena der Lebenskraft in Form der jüngst entdeckten Elektrizität auf der Spur war und mit Goethe (Tagebucheintrag: »Früh am Morgen Gedichte corrigiert, mittags Anatomie der Frösche«) galvanische Experimente an Froschschenkeln durchführte, wandte jener den »Bildungstrieb« auf die Idee der Urformen an, aus denen sich »vorwärts und rückwärts« die Gestalten der Dinge entwickeln.

In den abendlichen Runden, meist im Hause Friedrich Schillers und oft auch gemeinsam mit Alexanders Bruder Wilhelm von Humboldt, der zu dieser Zeit in Jena lebte, kamen dann nicht nur Gedichte und Literatur, sondern auch anatomische, physiologische, geologische und naturgeschichtliche Dinge zur Sprache. Die Erfindung der Natur nannte die Historikern Andrea Wulf ihr 2015 erschienenes Werk über die Abenteuer Alexander von Humboldts und wenn es einen »genius loci« dieser »Erfindung« gab, dann diese Monate in Jena und Weimar, in denen der Blick des auf Sammeln und Messen versessenen Humboldt (»Freilich kann ich nicht existieren ohne zu experimentieren«) von Goethe für das große Gesamtbild geschärft wurde.

»Da Ihre Beobachtungen vom Element, die meinigen aber von der Gestalt ausgehen, so können wir nicht genug eilen, uns in der Mitte zu begegnen«, hatte Goethe an Humboldt geschrieben und tatsächlich entwickelten die beiden während ihrer Zusammenarbeit in Jena eine Rastlosigkeit und Produktivität, die ihre Umgebung erstaunte. Der in den vergangenen Jahren schon ziemlich saturierte, mit einem stattlichen Schmer-bauch ausgestattete Geheimrat (Charlotte von Stein: »Goethe wird immer dicker!«), fühlte seine naturwissenschaftlichen Interessen von dem »Wirbelwind« Humboldt aus »dem Winterschlaf geweckt«, während jener durch den Geist Goethes angeregt wurde, seine manisch gesammelten Daten, Fakten und »Elemente« zu verbinden und in eine Form, einen Gesamtzusammenhang, eine »Gestalt« zu bringen.

Ohne diese Inspiration wäre Humboldts fünfbändiges Monumentalwerk Kosmos nicht entstanden, das zwischen 1845 und 1862 weltweit zum Bestseller wurde und Alexander von Humboldt nach seinem Tod den Nimbus des »letzten Universalgelehrten« und später als Entdecker des ökologischen Denkens einbringen sollte. Tatsächlich waren er und Goethe in Sachen Naturforschung nicht die Letzten, sondern die Ersten ihrer Art, Pioniere einer neuartigen Wissenschaftskonzeption und Erkenntnisweise, deren Wert und Bedeutung erst zwei Jahrhunderte später deutlich wird.

Goethes »zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird«, dieses Primat der Anschauung und des intuitiven Hineinversetzens in die Komplexität und Dynamik des Beobachteten kombinierte sich mit Humboldts Akribie des Isolierens, Zerlegens und Quantifizierens »harter« Fakten. Der im Naturschönen schwelgende Ästhet wird von den gemessenen und gesammelten Daten geerdet, wie auch der datensammelnde Empiriker durch den Formen und Ähnlichkeiten beobachtenden Poeten auf die Zusammenhänge hingeführt wird. Beide distanzieren sich mit dieser Herangehensweise von den unlängst durch Descartes und Newton geprägten und landläufig werdenden Vorstellungen eines Dualismus von Geist und Materie und eines Naturgeschehens als gigantischer Maschine, deren Mechanik durch die Zerlegung in die Einzelteile erklärbar ist. »Diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt«, seien zwar notwendig, aber, so Goethe, »bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben.« Kurzum: »Die Natur verstummt auf der Folter.«

Es geht Goethe nicht um das Zerlegen und intellektuelle Begreifen, sondern um das forschende und fühlende Erleben und Erfahren der Natur. Ihn interessieren die Phänomene, nicht ihre Bestandteile, er beobachtet das Bühnengeschehen und nicht die Mechanik hinter den Kulissen. Die Natur erscheint ihm weder als seelenlose, nach rein mechanischen Gesetzmäßigkeiten operierende Maschine, noch als letztlich vollkommene und harmonische Instanz göttlicher Moral und Tugend. Goethes Natur, wie sie uns in dem Fragment von 1782 erstmals entgegentritt, hat keine moralischen, religiösen oder metaphysischen Attribute mehr, sie ist ein lebender, wachsender Organismus – weder rein gut noch rein böse, weder ausschließlich Schönes und Wahres produzierend noch nur Übles und Falsches, sondern stets beides, denn sie ist alles: Quelle und Grenze zugleich, des Lebens und des Erkennens – »Die Natur hat kein System, sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht erkennbaren Grenze.«

Dass es in der Welt, wie schon im Natur