Heilkräuter

und Zauberpflanzen

Wolf-Dieter Storl

Heilkräuter

und Zauberpflanzen

zwischen Haustür
und Gartentor

Inhalt

Zum Geleit

Brennnessel

Beifuß

Gundermann

Geißfuß

Wegerich

Ackerschachtelhalm

Gänseblümchen

Vogelmiere

Löwenzahn

Literatur

Stichwortverzeichnis

Der Göttin Chamunda gewidmet

Die weisen Pflanzen mögen hier erscheinen. Sie verstehen, wovon ich spreche, und wir können gemeinsam diesem Menschen seine Gesundheit wiedergeben.

Sie sind die Güte des Feuers, die Kinder des Wassers, sie wachsen und wachsen wieder nach, starke heilende Pflanzen mit tausend Namen, die alle hier zusammengetragen sind.

Aus der Atharvaveda

Zum Geleit

 

 

Dreimal drei Zauberpflanzen nahm der altheidnische Kräuterkundige gegen Gift und Ansteckung zur Hand. Mit dieser »grünen Neune« besiegte er die unheimlichen »Würmlein klein, ohne Haut und Bein«, die sich in den dunklen Tiefen des Körpers einnisten und einem die Kraft nehmen. Er folgte damit dem Vorbild des schamanistischen Zaubergottes Odin-Wotan. Dieser lehrte ihn die Lieder und Runen, mit denen Leid besungen und gebannt werden konnte. Im angelsächsischen Kräutersegen (niedergeschrieben in Wessex im 11. Jh.) heißt es von Odin: »Neun wundersame Zweige nahm er und schlug den giftigen Wurm, der da geschlichen kam, um einen Menschen zu zerreißen.«

Der alte Pflanzensegen schließt mit folgenden Bannworten:

»Nun haben diese neun Kräuter Macht

gegen neun böse Geister

gegen neun ansteckende Krankheiten

gegen das stinkende Gift

gegen das wütende Gift

gegen das gelbe Gift

gegen das grüne Gift

gegen das dunkle Gift

gegen das braune Gift

gegen das purpurne Gift

gegen Wurmblattern

gegen Giftblattern

wenn irgendein Gift kommt von Osten geflogen

oder irgendeins von Norden kommt

oder irgendeins von Westen über die Menschheit.«

Sicherlich, so könnte man meinen, handelte es sich bei diesen Heil- und Zauberpflanzen um irgendwelche seltenen, exotischen oder sonst ungewöhnlichen Gewächse. Aber die im angelsächsischen Kräutersegen angegebenen Pflanzen sind ganz gewöhnliche Kräuter wie etwa Beifuß, Wegerich, Kamille, Brennnessel, Kerbel oder wilder Fenchel, die wir eher als Unkraut bezeichnen würden.

»Negenderlei« (neunerlei) Kräuter wurden noch immer von den frommen Christenleut im Mittelalter verwendet. Es waren nicht immer dieselben; die Zusammensetzung des Kräuterbündels war von Gegend zu Gegend so verschieden wie die Mundarten, aber es waren immer einfache, gewöhnliche Wildkräuter. In Böhmen waren es zum Beispiel Quendel (Thymian), Wegerich, Löwenzahn, Schafgarbe, Butterblume, Eisenkraut, Ochsenzunge, Brennnessel und Odermennig. Mit dieser Zusammenstellung wurde geheilt, gezaubert, Blitz und Teufel gebannt; man trug die Kräuter als Kranz auf dem Haupt, goss ihre Abkochungen mit ins Badewasser, rührte sie in Salben hinein und räucherte mit ihnen. Oft wurden sie an besonders heiligen Tagen gesammelt, vor allem zu Johanni oder zu Mariä Himmelfahrt. Auch aß man die neun grünen Kräuter als eine Art Kultspeise am Gründonnerstag, um sich ihre Kraft einzuverleiben und um das ganze Jahr über gesund zu bleiben.

Es gibt heutzutage viele Kräuterbücher mit pharmakologisch genaustens analysierten Pflanzen. Leider werden die in diesen Werken aufgelisteten Exemplare praktisch nur als »Behälter« chemischer Wirkstoffe angesehen. Man ordnet die Pflanzen nach den in ihnen enthaltenen Alkaloiden, schwefelhaltigen Heterosiden, Glykosiden, Flavoniden, Bitterstoffen, Saponinen und so weiter. Den traditionellen Kräuterkundigen lässt das jedoch kalt, denn er weiß: Eine Pflanze ist mehr als nur die Summe der toten Stoffe, die sie enthält. Er sieht die Pflanze als ein Lebewesen, das sich auf recht intelligente Art und Weise jene Stoffe auswählt, welche sie zur Aufrechterhaltung ihres Lebens braucht. Er erlebt die Pflanze als Persönlichkeit, ein Wesen mit langer Geschichte hier auf Erden. Er redet und kommuniziert mit ihr, denn er empfindet, dass sie nicht nur einen Leib hat, sondern auch so etwas wie einen Geist und eine Seele, nur dass diese sich ganz anders ausdrücken als beim Menschen.

Der Pflanzenfreund vermag kaum jede einzelne Pflanzenpersönlichkeit kennen zu lernen und sich mit ihr zu befreunden. Bei den Menschen ist es auch nicht möglich, mit jedem Einzelnen in der Stadt, ja nicht einmal in der Nachbarschaft per Du zu sein. Aber man hat seine Freunde, die man gut kennt und auf die man sich verlassen kann. In Frage kommen da nur eine Handvoll. Das sind, wie die Indianer sagen würden, unsere pflanzlichen Verbündeten.

Auch Maria Treben, die erfolgreichste unter den wirklich kräuterkundigen weisen Frauen heutzutage, nimmt vor allem diejenigen Kräuter, denen der Normalverbraucher am liebsten mit dem Unkrautvertilger oder dem elektrischen Trimmer zu Leibe rückt. Huflattich, Hirtentäschel, Johanniskraut, Labkraut, Löwenzahn, Sauerklee, Schafgarbe und so weiter heißen die besten Gehilfen dieser Kräuterfrau. Auch sie vertritt die Anschauung, dass man nur eine Handvoll braucht – sieben oder acht genügen, um sämtliche Leiden heilen zu können. Wesentlich aber ist, dass man diese Pflanzen durch und durch kennt und liebt, man muss sie als Persönlichkeiten begreifen können: Dann werden sie regelrechte Wunder vollbringen.

Neun solche Pflanzen, willkürlich ausgewählt, werden wir uns hier genauer anschauen. Es sind gewöhnliche Wildkräuter, die bei mir – und sicherlich auch bei Ihnen – auf dem Rasen, am Gartenweg, am Zaun und in der Hecke wachsen. Wir wollen eine Ahnung davon bekommen, was für zauberhafte Persönlichkeiten sich im schlichten Grün verbergen, hören, was für Geschichten sie uns zu erzählen vermögen und welche Heilkräfte sie in sich bergen.

DANK

Ehe wir uns in das ethnobotanische Abenteuer begeben, möchte ich meinen beiden Lehrmeistern danken, deren Inspirationen mich beim Schreiben begleiteten. Zuerst dem Bergbauern Arthur Hermes (1890–1986), dessen Einsiedlerhof sich auf einer Megalithkultstätte im Waadtländer Jura befindet. Arthur Hermes sprach mit den Devas und Elementarwesen und rief seine Kühe durch Gedankenübertragung von der Weide. Hermes, der sein Leben dem kosmischen Christus und der Mutter Erde weihte, kam mir vor wie ein wiederverkörperter Druide oder ein Hierophant aus megalithischen Zeiten. Sein Blick konnte bannen, seine Stimme verzaubern.

Hermes erblickte unter einem Strohdach der norddeutschen Heide das Licht der Welt. In dem abgelegenen Dorf gab es weder Maschinen noch Strom; es gab Pflanzen, Tiere und die stillen Weiten der Heide. So ist es kein Wunder, dass ihm die Besinnlichkeit eigen wurde und sein geistiges Auge bis in das alteuropäische Neolithikum spähen konnte.

Mit Schule und Krieg brach das 20. Jahrhundert wie ein Alptraum über ihn herein. Der Lehrer mit dem hochgezwirbelten Schnurrbart ließ ihn die Lieblosigkeit der Menschen gegenüber den Mitgeschöpfen erfahren, als er zwecks »wissenschaftlichen Experiments« eine wunderschöne Eidechse in ein Glas mit Formaldehyd fallen ließ. In den schlammigen Schützengräben des Ersten Weltkriegs lernte er den institutionalisierten Hass gegenüber den Mitmenschen kennen. Er wurde fahrender Künstler, Kräuterheiler und Sozialpädagoge. In den Dreißigerjahren – sein Heimatdorf war inzwischen Truppenübungsplatz geworden – wandte er sich lautstark gegen die seichte Germanenromantik und den ideologischen Missbrauch der Tradition, die ihm heilig war. Sein Protest endete damit, dass er vor ein Erschießungskommando gestellt wurde. Seine geistige Kraft war jedoch so stark, dass es der Kommandant nicht über sich brachte, den Befehl auszuführen. Er ließ ihn entkommen. Das Schicksal führte ihn schließlich in die Schweiz. Und da er mehr von Kühen und dem Ackerbau verstand als alle anderen, wurde er zum Ratgeber und Freund einer Gruppe von Emmentaler Bauern. Diese vermachten ihm den »Michaelshof« im Jura (STORL 1990:82).

Die neun Pflanzen, mit denen wir uns hier befassen, gehören zur einheimischen Flora Nord-, Mittel- und Westeuropas. Sie hatten ihren festen Platz nicht nur in den Wäldern und Feldern dieser Region, sondern auch in den Riten, den Zeremonien, den Sagen und der Heilkunde der hier ansäßigen megalithischen und später keltischen und germanischen Stämme. Dieser Arthur Hermes, der seine spirituellen Visionen in die Sprache eines Rudolf Steiner kleidete, nahm mich mit auf seine spirituellen Reisen und führte mir jene längst vergangenen Welten vors innere Auge. Diese Welten, obwohl längst vergangen, wirken noch mächtig in unser heutiges Dasein hinein.

Mein anderer Lehrmeister ist der Tsistsistas (Cheyenne) Sonnentanzpriester und Pflanzenschamane Bill Tallbull. Als Erbe der Großwildjäger, die einst vor vielen tausend Jahren von Sibirien aus die Neue Welt besiedelten, schenkte er mir die großartige Vision einer freilebenden paläolithischen Menschheit. Er half mir, den Blick über das Neolithikum hinaus und jenseits der großen Fruchtbarkeits- und Vegetationsgötter und -göttinnen zu richten. So befreite er mich von den übermächtigen Bildern des Arthur Hermes, von der bindenden Magie des sesshaften Bauern- und Hirtentums. Er offenbarte mir ein anderes, ursprünglicheres Verständnis des »grünen Volks«.

Bill Tallbull stammt von einer Familie ab, die bis über die Jahrhundertwende hinaus in der Wildnis der Big Horn Mountains in Freiheit lebte, ehe dann Hungersnot und Polizeigewalt des Staates sie in das vorgesehene Reservat zwang. Wie alle Cheyenne-Kinder wurde Tallbull den Eltern weggenommen und in eine »Boarding school« ges teckt. Dort sollte er »zivilisiert« werden. Das Sprechen seiner Muttersprache wurde ihm unter Prügelstrafe verboten. Als er als junger Mann wieder in das Reservat zurückkehrte, hatte er fast den Anschluss an seine Kultur verloren. Umso intensiver lauschte er den Alten, besonders den Großmüttern, die viel über die Pflanzen wussten. So wurde er allmählich ein »Hüter der Pflanzenmedizin«, zuständig für die Beziehung seines Stammes zu den Pflanzenvölkern. Mit den Häuptlingen des »grünen Volks« raucht er die Friedenspfeife und schenkt ihnen jedes Frühjahr »Decken« (Stoffstreifen) und Tabak.

Auch an Tallbull, mit dem ich ungefähr anderthalb Jahre an den Wochenenden über die Steppe und durch die Big Horn Mountains gewandert bin, gebührlichen Dank.

 

Was brennt ums ganze Haus
und’s Haus verbrennt doch nit?

Alter Rätselspruch